Der Weg zum Glück - Teil 38

Lieferung 38

Karl May

16. April 1887

Der Weg zum Glück.

Vom Verfasser des »Waldröschen«, »Verlorner Sohn«, »Deutsche Helden« etc.


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Aber der Heiner dachte nicht an das Essen, er dachte nur daran, den kranken Sohn baldigst an seiner eigenen Freude mit Theil nehmen zu lassen.

Wenn fremde Leute sich um einen Tisch versammeln, so pflegt es zunächst etwas still und kühl herzugehen. Hier in der Mühle war es ebenso. Und außerdem wußten Einige, daß der Herr Ludwig kein Anderer als der König sei. Aus diesem Grunde hatte man sich bisher höchst vorsichtig und wortkarg verhalten. Die Jubelscene des Heiner aber brachte Leben in die Versammlung. Besonders gab der Sepp sich Mühe, den Anderen durch sein eigenes Beispiel zu beweisen, daß der König es wünsche, daß Niemand sich Zwang anthue. Aus diesem Grunde wurde die Stimmung im Verlaufe des Mahles eine immer gehobenere.

Am Morgen war für Herrn Ludwig eine Kiste aus der Stadt angekommen. Der Sepp mußte sie öffnen und es stellte sich heraus, daß sie Weinflaschen enthielt. Der König ließ eine Anzahl derselben auf den Tisch stellen, und als nun die wenigen Gläser, welche in der Mühle vorhanden waren, zusammenklangen, da verschwand bald auch der letzte Rest von Scheu, welche man vor den beiden vornehmen Herren gehabt hatte.

Dieser Einfluß machte sich sogar auf die Bürgermeisterin geltend. Sie war eigentlich die Fremdeste hier in der Mühle. Sie hatte still neben dem Lehrer gesessen und nur mit diesem gesprochen. Die Hände der Beiden suchten und fanden sich sehr oft unter dem Tische.

Nun richtete der König wiederholt das Wort an sie. Seine Leutseligkeit öffnete ihr das Herz, und bald zeigte sie sich ebenso unbefangen wie die Anderen. Der König hatte die Absicht gehabt, einmal gute Menschen aus den niederen Kreisen des Volkes um sich zu haben, und diese Absicht war ihm gelungen.

Es ging recht eng her in der kleinen Stube. Der König, der Medicinalrath, der Pfarrer, der Lehrer, dessen Mutter, der Sepp, später kam auch der Heiner wieder. Dazu kam der Müller mit der Liesbeth und der Barbara, welche fleißig hin und her liefen, die Gäste zu bedienen - für so viele Personen wollte der Raum nicht gut ausreichen; aber das erhöhte nur die Gemüthlichkeit, welche sich nach und nach geltend machte.

Es kam unter Anderem auch auf den Elephantenhanns und sein Talent die Rede. Dabei fragte der König den Lehrer, wie viel Zeit er gebraucht habe, das Gedicht zu fertigen, über welches der Hanns das Bild zeichnen solle.

»Keine Zeit,« antwortete Walther. »Ich schrieb es nieder, indem ich es extemporirte.«

»Das sollte man kaum für möglich halten. Extemporiren Sie so leicht?«

»Ich könnte stundenlang ohne alle Anstrengung in Reimen sprechen.«

»Aber der Inhalt leidet gewöhnlich darunter.«

Walther sah vor sich nieder, richtete dann den Blick fast kühn auf den König und sagte:

»Ich möchte niemals etwas Gewöhnliches sagen, selbst wenn ich es extemporirte.«

Der König schüttelte den Kopf.


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»Ist diese Behauptung nicht verwegen?« fragte er.

»Nein. Ich kenne mich.«

»Nun, so besitzen Sie ein bedeutendes Selbstbewußtsein, Herr Walther!«

Der Lehrer erröthete, entgegnete aber freimüthig:

»Ein Mann, welcher mehr von sich hält, als er darf, begeht einen großen Fehler. Einen noch größeren Fehler aber begeht Derjenige, welcher feig verschweigt, was er zu leisten vermag.«

»Wie aber nun, wenn ich Sie beim Worte halte?«

»Ich bin bereit dazu.«

»Declamiren Sie gut?«

»Vielleicht leidlich.«

»Max, Max!« flüsterte ihm seine Mutter warnend zu.

Der König hielt sein Auge ernst auf den jungen Mann gerichtet. Er schien das Innere desselben durchdringen zu wollen. Dann sagte er:

»Ich habe Ihnen mitgetheilt, daß ich Ihr Manuscript gefunden habe. Seitdem habe ich dasselbe nicht wieder erwähnt. Sie wissen nicht, welchen Eindruck es auf mich gemacht hat. Ich will auch jetzt noch darüber schweigen. Da Sie sich so sicher fühlen, möchte ich Sie beim Worte nehmen. Soll ich Ihnen eine Aufgabe ertheilen?«

»Nein, nein!« flüsterte die Bürgermeisterin dem Lehrer zu.

Sie hatte Angst. Es war ihre Absicht gewesen, leise zu sprechen, dennoch aber war sie von Allen gehört worden. Der Lehrer antwortete ihr in herzlichem, aber bestimmtem Tone:

»Warum nicht? Ich weiß, daß ich mich nicht zu fürchten brauche.«

»Noch wissen Sie nicht, welcher Art die Aufgabe sein wird!« warnte der König.

»Verzeihung!« bat Walther. »Ich gehöre keineswegs zu den unbescheidenen, eingebildeten Menschen, deren Vergnügen es ist, überall möglichst hervorzutreten, aber ich beherrsche die Sprache, ich beherrsche den Reim, und wenn der Gegenstand, über welchen ich improvisiren soll, ein mir nicht ganz unbekannter ist, so glaube ich, es wagen zu dürfen, ohne mich ängstigen zu müssen.«

»Auch dann, wenn von dieser Improvisation vielleicht Ihr späteres Schicksal, Ihre Zukunft abhängen würde?«

Diese Frage wurde in ernstem, fast warnendem Tone ausgesprochen. Walther wechselte die Farbe. Das hatte er nicht erwartet. Seine Zukunft sollte davon abhängen? Wieso? Dennoch aber antwortete er beherzt:

»Auch dann, Herr Ludwig.«

»Aber Sie dürfen nicht erwarten, daß ich Ihnen eine sehr leichte Aufgabe ertheile!« sagte dieser. »Das Gedicht, welches ich von Ihnen gelesen habe, läßt mich vermuthen, daß Sie südliche Bilder lieben, vielleicht wie Freiligrath, eine glühende, fließende Sprache wie Ritterhaus -«

»Es ist so,« gestand Walther. »Wie der Elephantenhanns gern orien-


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talische Bilder zeichnet, so nehme auch ich meine Sujets aus dem fernen Süden und Osten.«

»Nun, das freut mich. Ich will Ihnen Gelegenheit geben, zu zeigen, was Sie da leisten können, und -«

Er hielt inne, hielt abermals seinen Blick scharf forschend auf Max gerichtet und fuhr dann fort:

»Und ebenso sollen Sie Gelegenheit finden, Ihre sämmtlichen Anschauungen vor uns entwickeln zu können. Wollen Sie es wirklich wagen?«

»Ja.«

»Gut! Ich führe Sie nach Indien. Denken Sie sich einen indischen Tempel. An der Pforte desselben steht ein Priester Wischnu's, welcher -«

»Also ein Jogui,« bemerkte Walther.

»Ein Jogui, ja. Ich höre da, daß ich Sie auf kein Ihnen unbekanntes Feld führe. Also dieser Priester spricht zu seinen versammelten Gläubigen über die Lehren seiner Religion. Indessen kommt ein Christ, ein Missionär, und beginnt, als der Jogui geendet hat, die hohen Wahrheiten des christlichen Glaubens zu entwickeln. Der Jogui unterbricht ihn. Es beginnt zwischen Beiden ein Kampf, welcher mit der Niederlage des indischen Priesters endet. Wie gefällt Ihnen dieses Thema?«

Sein Auge war eigenthümlich gespannt auf Walther gerichtet, welcher den Blick gesenkt hielt.

»Ganz außerordentlich schwer!« meinte der Medicinalrath. »Selbst wenn ich Dichter wäre, möchte ich mich nicht an diese Aufgabe wagen, weil sie so bedeutende Kenntnisse erfordert, wie nur Wenige sie besitzen.«

Jetzt wagte auch der Pfarrer, ein Wort zu sagen:

»Eine solche Aufgabe kann nur gegeben werden, um abzuschrecken. Sie ist nicht zu lösen, wenigstens durch eine Improvisation nicht.«

Der König nickte lächelnd und schüttelte dann aber auch leise mit dem Kopfe. Jetzt blickte Walther wieder auf. Er entgegnete:

»Hochwürden haben nur halb Recht. Diese Aufgabe kann gegeben werden, entweder um einen Unfähigen sofort und gänzlich abzuschrecken, oder um die Gaben eines Anderen in das hellste Licht zu stellen.«

»Das ists, das!« stimmte der König bei. »Für welchen von Beiden halten Sie sich? Für den Begabten oder Unbegabten?«

Jetzt war es Walther, welcher seine Augen furchtlos forschend auf den König richtete. Welche Gedanken und Absichten wohnten jetzt dort unter der hohen, königlichen Stirn? In den dunklen, tiefen Augen war nichts zu lesen, weder Wohlwollen, noch Aufmunterung. Dennoch antwortete der Lehrer getrost:

»Ich gedenke jetzt des Gleichnisses von den verschiedenen Pfunden. Es soll ein Jeder mit dem seinigen wuchern. Gott gab es ihm, damit er es nach Kräften ausbilde, um möglichst viele und gute Früchte zu erzielen. Ich schäme mich nicht, zeigen zu dürfen, daß auch ein armer, einfacher Volkslehrer im Stillen nächtelang und unter vielen Entbehrungen und Anstrengungen an seiner Weiterbildung gearbeitet hat.«


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»Nun wohl,« nickte der König. »Wir wollen sehen, ob Ihre Anstrengungen Früchte getragen haben und ob Sie berechtigt sind, ein solches Selbstvertrauen zu zeigen. Stellen Sie sich dort an die Wand und beginnen Sie!«

Walther erhob sich von seinem Sitze und stellte sich an den Punkt, welchen der König ihm durch einen Wink bezeichnet hatte. Sein ruhig-heiteres Angesicht zeigte keine Spur von Befangenheit oder gar ängstlicher Sorge.

»Mein Gott!« flüsterte seine Mutter, indem sie die Hände faltete. »Er ist so kühn!«

Alle hatten der kurzen Verhandlung mit Spannung gelauscht. Jetzt, als der Vortrag beginnen sollte, setzte sich ein Jedes bequem im Stuhle zurecht. Selbst die Barbara kam mit der Liesbeth aus der Küche. Beide lehnten sich an die Thür derselben, um die Improvisation anzuhören. Jeder der Anwesenden wünschte im Stillen von Herzen, daß der junge, muthige Mann die Probe bestehen möge.

»Also, anfangen!« sagte der König.

»Bitte,« fragte Walther vorher, »darf ich Bilder gebrauchen, wie sie dem indischen Character und der dortigen Scenerie angemessen sind?«

»Das müssen Sie sogar, wenn Sie wahr sein wollen. Sie können die Anschauungen eines indischen Priesters ja nicht in unsere deutschen Umschläge wickeln.«

»Das ist mir eben erwünscht.«

»Schön! Also zunächst spricht der Bramahne!«

Es herrschte eine wahre Todesstille in der kleinen Stube. Selbst diejenigen der Anwesenden, welche nicht wußten, daß der Herr oben am Tische der König sei, hatten ganz das Gefühl, daß die gegenwärtige Stunde für den Lehrer eine wichtige, wohl gar entscheidende sei.

Da erhob dieser langsam die beiden Arme zur Declamation, blickte empor, ganz in der Haltung, in welcher der Bramahne zu seinem Gotte betet, und begann:

»Steig nieder von den heilgen Höhen,
   Wo in Verborgenheit Du thronst;
Laß uns, o Bramah, laß uns sehen,
   Daß Du noch immer bei uns wohnst!
Soll Deines Lichtes Sonne weichen
   Jetzt von Dscholamandela's Höhn,
In Dschalawan Dein Stern erbleichen
   Und im Verschwinden untergehn?

Spreng Deines Grabes Felsenhülle,
   Kalidasa, steig aus der Gruft,
Und komm in alter Macht und Fülle
   Zum Thuda, der Dich sehnend ruft!
Soll der Bramahne schlafen gehen,
   Die Sakundala in der Hand,
Soll er den Zauber nicht verstehen,
   Der ihn an Deine Schöpfung band?


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Des Hymalaja mächtger Rücken
   Steigt aus dem Wolkensaum hervor,
Und der Giganten Häupter blicken
   Zum Ewgen demuthsvoll empor.

Ihn preist des Meers gewaltge Woge,
   Die an Kuratschi's Strand sich bricht
Und in des Kieles lautem Soge
   Von ihm erzählt beim Sternenlicht.

Ihn preist des Kilau Ea Tosen,
   Das jedes Herz mit Graun erfüllt,
Wenn aus dem Schlund, dem bodenlosen,
   Das Feuermeer der Tiefe quillt.

Ihn preiset des Suakrong Stimme,
   Die donnernd aus den Dschungeln schallt,
Wenn er im wilden Siegesgrimme
   Die Pranken um die Beute krallt -«

Bisher waren die Worte des Gedichtes nur dem König, dem Medicinalrathe und dem Pfarrer verständlich gewesen. Walther sollte sich ja in indischen Bildern und Ausdrücken bewegen. Er besaß eine kräftige, sonore, aber zugleich jeder zarten Biegung fähige Stimme. Sein Vortrag hatte etwas Gefangennehmendes, mit sich Fortreißendes.

Hatte das Gesicht des Königs erst eine bedeutende Spannung ausgedrückt, so legte sich jetzt ein Zug der Beruhigung über dasselbe. Der Monarch holte leise aber tief Athem, wendete sich halb ab und schloß die Augen, um diese biegsame, wohlklingende Stimme ganz auf sich einwirken zu lassen.

Walther fuhr in der Verherrlichung Bramah's fort:

»Und ewig war er, eh die Flosse
   Des grausigen Geulodon
Im Urweltmeer der riesengroße
   Ichthyosaurier geflohn.

Und ewig bleibt er und wird wohnen
   In nie geahnten Sonnenhöhn,
Wenn Weltengenerationen
   Durch ihre Urkraft neu erstehn.

Und Herr ist er. Vom Eiseslande,
   Wo träg zum Meer die Lena zieht,
Bis weithin, wo am Felsenstrande
   Der Wilde dem Yahu entflieht.

Und Herr b1eibt er. Im Sternenheere
   Erblickst Du seiner Größe Spur,
Sein Fuß ruht in dem Weltenmeere,
   Und sein Gesetz ist die Natur.«

So verkündete der Priester weiter das Lob und den Preis seines Gottes und erzählte dann, daß andersgläubige Männer in das Land gekommen seien,


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welche sich Missionäre nennen. Im Gefolge dieser Männer kommen fremde Krieger, welche Kampf und Unterjochung bringen:

»Wo die Almeah kaum die Lieder
   Der nächtlichen Bhowannie sang,
Tönt in die stillen Ghauts hernieder
   Der Kriegstrommete heller Klang.

Die duftenden Thanakafelder
   Zerstampft der Rosse Eisenhuf;
Der Phansegar flieht in die Wälder,
   Vor seiner Feinde Siegesruf.

Des Ganges Welle muß sie tragen
   Bis hin zu Shiwa's heilgem Ort,
Und ihre Feuerboote jagen
   Die gottgeweihten Thiere fort.«

Und nun schildert der Priester haßerfüllt das Auftreten der Christen und beschwört seine Anhänger, zum Schwerte zu greifen, um die Fremden zu vernichten und dem finsteren Shiwa zu opfern. Er vergleicht beide Religionen, den Bramahnismus und das Christenthum, und spricht eben davon, daß das Letztere nur Irrlehren enthalte; er weist dies durch Beispiele scheinbar nach, da wird er von dem Missionär unterbrochen, welcher hinter einer Säule des Tempels verborgen, der heidnischen Predigt zugehört hat und nun hervortritt und dem Priester in die Rede fällt:

»Halt ein! Wollt Ihr Gott wahrhaft finden,
   O, so verwischt nicht seine Spur!
Der Zweifel muß und wird verschwinden:
   Den Schöpfer kennt die Creatur.

Sucht ihn im sphärischen Accorde,
   Im großen Weltzusammenhang!
Dort öffnet sich des Himmels Pforte,
   Aus der sein Ruf hernieder klang.

Doch Ihr beschweret Eure Flügel
   Mit Eures Irrthums Tyrannei.
Ihr schäumt und knirschet in die Zügel
   Und glaubt in Ketten Euch noch frei.«

Und nun beginnt er von dem Allmächtigen, Allgerechten, Allweisen und Allliebenden zu sprechen, von der Sündhaftigkeit und Undankbarkeit der Menschen, von dem Sehnen nach Erlösung, von der Weissagung und Verkündigung des Heilandes, von der Geburt, der Lehre, dem Wirken, dem Mittlertode des Erlösers. Seine Worte werden getragen von höchster Begeisterung; sie wirken hinreißend, überzeugend. Die Blicke der Hörer hangen an seinem Munde. Endlich schließt er mit den Worten:


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»Dann einet sich zu einem Strome
   Die Menschheit all von nah und fern
Und kniet anbetend in dem Dome
   Der Schöpfung vor dem einen Herrn.

Dann wird der Glaube triumphiren,
   Der einen Gott und Vater kennt;
Die Namen sinken, und es führen
   Die Wege all zum Firmament!«

Mit, diesen Worten endet der Missionär seine Rede, und von ihrer Gewalt gepackt und erschüttert, fallen die Hörer in die Kniee und begehren, aufgenommen zu werden in die Gemeinschaft der christlichen Kirche. Selbst der Priester, welcher erst gegen das Evangelium der Liebe und Gnade gesprochen hat, ist jetzt so erschüttert, daß er, ein zweiter Saulus, sich jetzt als Paulus zuerst erbittet, getauft zu werden. -

Jetzt war die Improvisation beendet. Sie hatte über eine halbe Stunde in Anspruch genommen. Nicht ein einziges Mal hatte der junge Dichter gestockt oder gezaudert, oder sich versprochen. Es waren ihm die Strophen von den Lippen geflossen, als ob er sie seit langer Zeit auswendig gelernt habe und nun recitire.

Und welch eine Kenntniß indischer Zustände entwickelte er! Wie glanzvoll und mit welchem Scharfsinne ließ er die heiligen Lehren des Christenthums über die heidnischen Satzungen siegen!

Seine Wangen hatten sich geröthet und seine Augen leuchteten. Er war mit seiner ganzen Seele bei der Aufgabe. Er sah nicht Diejenigen, zu welchen er sprach, sondern er sah im Geiste Palmen wehen unter Riesentempeln, und den Hauch der Palmen - er fühlte ihn hier in der niedrigen Stube der kleinen Mühle.

Hatte es, als er begann, den Hörern schwer auf der Seele gelegen, ob er auch bestehen werde, so war ihnen im Verlaufe der Declamation das Herz immer leichter und leichter geworden. Jetzt, als er schloß, war es Allen zu Muthe, als ob sie mit ihm gesiegt hätten, denn selbst Diejenigen, welche die zahlreichen Fremdworte nicht verstanden hatten, waren der festen Ueberzeugung, daß er eine höchst schwierige Aufgabe zufriedenstellend gelöst habe.

Zufriedenstellend nur? Der Medicinalrath hatte sich erhoben. Er trat auf Max zu, reichte ihm die Hand und sagte:

»Herr Walther, Ihre Improvisation war eine meisterhafte. Ich kann Ihnen von ganzem Herzen gratuliren!«

Und auch der Pfarrer trat herbei, drückte ihm die Hand und meinte anerkennend:

»Ich wollte zweifeln, bevor Sie begannen, aber Sie haben meinen Kleinmuth streng bestraft. Ich muß Sie sehr um Verzeihung bitten, denn ich gestehe aufrichtig, daß ich Ihnen so etwas nicht zugetraut habe. Sie müssen Indien ja förmlich studirt haben!«

Die gute, alte Barbara fühlte die Verpflichtung, auch Etwas zu sagen.


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Sie war ja die Wirthin, und als solche mußte sie dem Gaste doch ein Lob spenden. Deshalb kam sie herbei und sagte:

»Ja, das war gar schön gewest, Herr Lehrern. Wissens, das von dera Kriegstrompeten hat mir sehr gefallen, und daß man hinaufi zu denen Sternen springen soll. Ja, das war gar schön! Nicht wahr, Sepp?«

Sie hatte nämlich von der ganzen Declamation nichts weiter verstanden, als diese beiden Stellen. Der Wurzelsepp antwortete:

»Was plauschest da wieder mal! Du bist selberst eine alte Trompeten. Schwing Dich doch hinaus in die Küchen und nicht hinauf zu denen Sternen. Ich möcht gar wohl den Schwung sehen, dent da machen müßtest, bevor Du hinaufi kämst. Ich glaub, Du müßtest Dich unterwegs auf dem Mond erst mal niedersetzen, um auszuruhen und Luft zu schnappen!«

»Nein, was dera Mensch Einem immer anthut!« klagte sie. »Und dabei sagt er stets, daß ich seine Frauen werden soll!«

»Ja, nachhero, wann ich mich auch mit hinaufi schwungen hab zum Mond. Da lassen wir uns da oben zusammenthun. Du ziehst das Mondgesichten, und ich leucht dazu. Da werdens sich herunten auf dera Erden über die Physiognomie gar gewaltig freuen. Jetzt aber geh in die Küchen, und mach den Kaffee fertig!«

Er schob sie zur Thür hinaus.

Auch die Andern zollten dem Lehrer ihre Anerkennung. Zwei nur fehlten, gerade die Hauptpersonen - der König und die Bürgermeisterin.

Der Erstere war, als der Arzt so stürmisch auf Max zugetreten war, um ihm zu gratuliren, von seinem Stuhle aufgestanden und hinausgegangen. Die Mutter Maxens hatte dasselbe gethan, aber ohne ihm zu folgen. Der König war durch die vordere Thür getreten und langsam über den Grasplatz nach dem Waldesrand gegangen, wo er nun in Gedanken auf und niederschritt. Sie aber war durch die Hinterthür in den Garten getreten. Dort gab es in der Nähe des Hauses eine dichte Geisblattlaube, in welche sie sich setzte.

Es wäre ihr unmöglich gewesen, jetzt ein Wort zu sagen. Das Herz war ihr zum Zerspringen voll. Sie war keineswegs eine gelehrte Frau, aber sie hatte doch die feste Ueberzeugung, daß die Leistung ihres Sohnes ein Meisterstück sei. Er hatte Kenntnisse verrathen, wie man sie selten bei einem Lehrer sucht, und eine poetische Begabung, welche eher mit dem Worte genial als mit dem Ausdrucke talentvoll zu bezeichnen war.

Und wie hatte sie sich zu diesem Sohne verhalten? Was hatte sie für ihn gethan? Was hatte er ihr zu verdanken? Das nackte, armselige Leben! Weiter nichts.

Sie saß in der Laube, das Gesicht in die beiden Hände gelegt, und weinte, weinte bitterlich. Sie fühlte jetzt Das, was sie gethan hatte, als eine Sünde, für welche es kaum eine Vergebung geben könne. Selbst alle Reue und Buße schien zu gering und klein zu sein gegenüber dem Verbrechen, das eigene Kind von sich gegeben zu haben.

»Mutter!« erklang es da vom Eingange der Laube her.


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Sie erhob das thränenschwere Angesicht und blickte ihn trostlos an, ohne ein Wort zu sagen.

"Mutter, Du weinst?"

»Mutter! Du weinst!«

»Muß ich nicht!« antwortete sie, laut aufschluchzend.

»Warum sollst Du müssen? Etwa vor Freude?«

»Vor Freude! Ja, ja, das könnte ich! Wie glücklich, wie selig könnte ich sein! Nun aber möchten meine Augen nie wieder trocken werden vor Schmerz über das Leid, welches ich über Dich gebracht habe.«

»Leid? Nie, nie hast Du Leid über mich gebracht!«

»Du willst mir nur keine Vorwürfe machen.«

»Nein, ich sage die Wahrheit. Ich habe zwar auch trübe Stunden gehabt im Waisenhause; aber welches Kind und besonders welcher lebhafte Bube hat nicht Stunden, in denen ihm die wohlverdiente Strafe wie eine große Ungerechtigkeit erschien! Nein. Kindesleid habe ich gehabt, nur Kindesleid, und das hat ein jedes Kind, selbst das Kind eines Fürsten, eines Kaisers. Ich hätte es auch bei Dir gehabt. Nicht das geringste Leid hast Du über mich gebracht. Aber. Du stehst im Begriffe, ein schweres, sehr schweres über mich zu bringen.«

»Da sei Gott vor!« sagte sie ganz erschrocken.

»Und doch thust Du es bereits.«

»Sage mir, wie!«

»Indem Du Dich in einer ganz unnöthigen Reue verzehrst, welche Dir und mir das Leben zu verbittern droht. Willst und magst Du Dich denn nicht darüber freuen, daß wir uns wiedergefunden haben? Es giebt ja gar nicht die mindeste Veranlassung zu Kummer und Klage. Nur wenn Du in dieser Selbstpeinigung fortfährst, wirst Du mir Anlaß zur Traurigkeit geben.«

»Mein Sohn, mein guter Sohn! Wie mild und versöhnlich bist Du!«

Er setzte sich neben sie und nahm sie in seinen Arm.

»Schau, Mutter,« sagte er, »grad daß ich Dich früher missen mußte, das erhöht und verdoppelt jetzt mein Glück. Hätte ich stets die Mutter gehabt, so fühlte ich heut nicht die hohe Seligkeit, Dich gefunden zu haben.«

»Aber welche Freuden und Seligkeiten sind Dir vorher verloren gegangen!«

»Dir doch noch mehrere und größere. Du bist zu beklagen, nicht aber ich. Du hast ja auf alles Mutterglück verzichten müssen.«

»Ja, das ist wahr. Ich will nicht von den gramvollen Vorwürfen sprechen, welche ich mir täglich und stündlich machen mußte; ich hatte sie verdient. Aber wenn ich sah, wie glücklich eine Mutter im Anblicke ihres Kindes war, wenn ich ein kindliches Lallen, ein fröhliches, glückliches Lachen hörte, wenn ich sah, wenn eine Mutter dem Töchterchen die Puppe fertigte oder dem Sohne die Nahrung bot, dann überkam mich eine unendliche Bitterkeit, eine Bitterkeit gegen mich selbst und gegen - - -«

Sie schwieg. Max fuhr an ihrer Stelle fort:

»Und gegen Den, welcher der alleinige Urheber all dieser Leiden war! Nicht wahr?«


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»Konnte ich anders? Mußte ich ihm nicht zürnen?« fragte sie.

»Natürlich! Und mir fällt es gar nicht ein, Dir darüber Vorwürfe zu machen. Ich habe die Pflicht, die Kinder im Christenthume zu unterweisen. Ich stehe vor ihnen und ermahne sie: »Liebet Eure Feinde; thut wohl Denen, die Euch hassen, und bittet für Die, welche Euch beleidigen und verfolgen, auf daß Ihr Kinder Eures himmlischen Vaters seid!« So lehre und ermahne ich, und doch - ich fühle, daß es eine Sünde, eine unnatürliche Regung ist; aber ich - ich - ich hasse meinen Vater, weil er solches Elend über Dich gebracht hat, und ich verachte ihn, weil er als Bube handelte.«

»Was würdest Du thun, wenn wir ihn fänden?«

»Ich würde ihm ganz dasselbe, was ich soeben sagte, in das Gesicht sagen.«

»Nein, das brächtest Du nicht fertig. Dazu bist Du zu gut, zu liebreich.«

Sein Gesicht verfinsterte sich. Es nahm einen strengen, kalten, fast erbarmungslosen Ausdruck an.

»Nein, gegen ihn würde ich nicht die Spur einer Regung von Liebe fühlen. Darum wollen wir gar nicht daran denken, nach ihm zu forschen. Wir haben uns; wir sind uns genug. Wir brauchen ihn nicht, und sein Erscheinen würde uns nur in unserem Glücke stören. Oder hättest Du doch eine Ahnung, wer er ist oder wo er sich befindet?«

»Nein. Zwar habe ich nach ihm gesucht, doch stets vergebens. Jetzt nun will der Wurzelsepp nach ihm forschen.«

»Das mag er nur bleiben lassen! Ich werde es ihm sagen. Schau, da kommt er!«

Der Sepp war auch durch die Hinterthür getreten. Er sah sich um. Er konnte die beiden in der Laube Befindlichen nicht sehen und kam näher. Erst als er fast unter dem Eingange stand, bemerkte er sie und wich rasch zurück.

»Ah, ich hab nicht denkt, daß Jemand da ist,« sagte er. »Nehmts halt nicht übeln!«

Er wollte zurück.

»Halt, Sepp,« sagte Max. »Ich muß Dir eine Bemerkung machen.«

»So werd ichs wohl anhören.«

»Meine Mutter sagte mir soeben, daß Du nach meinem Vater suchen willst.«

»Ja freilich werd ich das! Nun die Muttern und dera Sohn funden worden sind, muß ich auch recht bald den Vatern herbeischaffen.«

»Das ist keineswegs nothwendig.«

»Was? Wie? Der Vatern gehört doch dazu!«

»Nein, wir danken! Hat er erst von uns nichts wissen wollen, so mögen wir nun auch von ihm nichts wissen. Du brauchst also nicht zu suchen.«

»Himmelsakra! Wann ich nun nach ihm bereits schon sucht hätt?«

»Das ist jedenfalls vergeblich gewesen.«

»Aberst wann ich ihn nun funden hätt?«

»Unmöglich!«


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»Ja, unmöglich ists schon, das ist richtig. Es ist in dera Welt eben Alles unmöglich, aberst nur so lang, als bis es halt möglich wird. Ich weiß nun Eure ganze Geschichten. Da kanns doch kommen, daß ich mal ganz unversehens auf den Vatern treff. Wie hab ich mich da gegen ihn zu verhalten?«

»Du schaust ihn gar nicht an.«

»Na, wann ich ihn treff, so hab ich ihn doch bereits angeschaut. Und da muß ich doch mit ihm reden!«

»Aber nicht von uns. Er darf nicht ahnen, daß wir noch vorhanden sind und daß Du uns kennst.«

»Nein, so nicht, Max!« fiel seine Mutter ein. »Wenn er wirklich entdeckt werden sollte, so will ich mich nicht vor ihm verleugnen. Das bin ich Dir schuldig, als meinem Kinde.«

»Wieso mir?«

»Er muß gezwungen werden, Dich anzuerkennen. Jetzt trägst Du einen Namen, welcher Dir nicht gehört. Von ihm sollst Du den bekommen, auf welchen Du ein Recht hast.«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, Mutter. Ich trage meinen gegenwärtigen Namen in Ehren. Den Namen aber, welchen mein Vater durch sein Verhalten verleugnet und beschimpft hat, den mag ich nicht tragen. Ich bleibe Max Walther, wie ich bisher so geheißen habe.«

Der Sepp hörte still zu, machte jetzt ein ganz eigenthümliches Gesicht und fragte:

»Also wie solls sein? Wollt Ihr vom Vatern was wissen oder nix?«

»Nichts!« erklärte Max.

»Das ist halt sehr falsch. Ich thät ihn suchen, und nachhero, wann ich ihn fand, da möcht ich ihm meine Meinung sagen, und was für eine, grad mitten ins Gesichten hinein. Oder etwan nicht?«

»Pah!« antwortete Walther, geringschätzig mit der Achsel zuckend.

»Ja, da stehens und machens Pah! Aberst wissen thuns nicht, warum und weshalb! Vielleichten ist der Vatern ganz froh, daß sich Niemand findet. Vielleichten denkt er gar nicht mehr an die Bertha Hillern und seinen Buben. Er lebt in holdi flori, ist in seinem Herrgott vergnügt und fühlt nicht mal den geringsten Vorwürfen über die Schlechtigkeiten, die er begangen hat. Hat er etwan so ein Leben verdient? Nein und wiedern nein und noch abermals nein!«

»Recht hast Du da!« gab Max zu.

»Nun gut! Also müssen wir ihn aufisuchen, und hernach, wann wir ihn funden haben, so blasen wir ihm einen Marsch, bei dem ihm das Hören und auch das Sehen vergehen soll. Das ist das Richtige. Also, soll ich suchen?«

»Ja,« antwortete die Bürgermeisterin.

»Meinetwegen,« stimmte der Lehrer bei.

»So werd ich sofort beginnen. Vielleichten fang ich ihn noch heut.«

»So wohl wird es Dir nicht werden.«


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»Nun so fangen wir ihn morgen.«

»Auch da nicht.«

»Oho! Wann dera Wurzelsepp mal was beginnt, nachher hat er keine lange Zeiten übrig, nachhero muß es fein schnell gehen, dann er hat auch noch andre Sachen zu thun und andre Sorgen im Kopf. Also bis morgen muß dera saubere Herr Curt von Walther geschafft werden, und wann ich ihn nicht schaff, so sollt Ihr mich kurz nennen oder auch lang, ganz wies gefällig ist. Wollen wir wetten, daß ich ihn morgen bring?«

Er lachte dabei am ganzen Gesicht.

»Hättest Du vielleicht schon eine Spur von ihm gefunden?« fragte Max.

»Nein. Das ist unmöglich,« antwortete seine Mutter. »Ich habe ihm erst gestern Abend eine Beschreibung Deines Vaters gegeben, einen Steckbrief, wie er sich ausdrückte. Heut ist er mit mir hier. Also ist es ganz unmöglich, daß er bis jetzt Etwas entdeckt haben kann. Er hat nur heut wieder einmal seine Feiertagslaune.«

»Ja, Frau Bürgermeistrin, die hab ich freilich, und dazu giebts halt auch die Veranlassungen. Jetzt nun sagens, wanns wiedern nach Steinegg zuruckgehen?«

»Natürlich heut.«

»Ja, aberst wann?«

»Gegen Abend.«

»So gehn wir wiedern mit nander. Ich muß nämlich auch hinüber.«

»Das ist mir lieb. Du kannst wieder bei mir bleiben.«

»Schön! So brauch ich nicht in den Gasthofen zu gehen oder im Freien zu schlafen.«

»Und ich begleite Dich auch, Mutter,« erklärte der Lehrer.

»Du wirst bald ganz bei mir sein, mein Sohn. Aber kannst Du denn für heut mit fort?«

»Ja, Nachmittagskirche giebt es nicht, da der geistliche Herr nach der Filiale geht, und Schule ist auch nicht. Also kann ich recht gut mit Dir gehen. Und wenn es Dir recht ist, so bleibe ich bei Dir. Breche ich früh auf, so treffe ich hier ganz gut zur Zeit ein, in welcher die Schule beginnt.«

»Das wird herrlich, ja, das wird herrlich!« rief der Sepp.

Er nahm seinen Hut vom Kopfe und warf ihn vor Entzücken auf die Erde. Diese Freude war so auffällig, daß der Lehrer fragte:

»Worüber bist Du denn da so aus Rand und Band?«

»Worübern? Hm! Ueber mich!«

»So! Na so gratulire ich Dir. Es giebt nicht viele Leute, welche Veranlassung haben, in dieser Weise über sich selbst entzückt zu sein.«

»Das glaub ich gar wohl. Aberst ich hab stets die Ursach, mich über mich selbern zu freuen. Ich bin ein Himmelsakra, wie's sonst keinen Zweiten giebt. Ich, wann ich ein hübsch jung Dirndl wär von achtzehn Jahren, schön, gesund und mit hunderttausend Markerln im Vermögen, so thät ich gleich denen Wurzelseppen heirathen.«


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»Also Dich selber!« lachte Max.

»Ja, denn wann ich mich nicht selber nehm, so krieg ich keine Andre, nicht mal die Barbara. Die thut auch nur so, als ob sie mich nehmen wollt. Ich will doch gleich mal hinein zu ihr und nachschauen, obs denen Kaffee noch nicht bald fertig hat. Wann ich meine Nasen mit in denen Topf steck, so wird er auch was kräftiger, denn da thut das Bärbel ein paar Bohnerln mehr hinein.«

Er ging.

Als der Lehrer sich drinnen entfernt gehabt hatte, war er der Gegenstand der Unterhaltung gewesen. Alle waren begierig, zu erfahren, welches Urtheil der »Herr Ludwig« fällen werde. Der Pfarrer fragte den Medizinalrath heimlich, aus welchem Grunde der König sich entfernt habe. Der Gefragte antwortete:

»Aus einem für Herrn Walther jedenfalls sehr günstigen Grunde. Daß er still hinausgegangen ist, das ist ein sicheres und untrügliches Zeichen, daß er im tiefsten Herzen ergriffen worden ist. Jetzt nun verarbeitet er den Eindruck innerlich, bis das ruhige Niveau der Seele wieder hergestellt ist. Ich werde aber doch nachschauen, wo er sich befindet.«

Er trat hinaus vor die Mühle. Da erblickte er den König, welcher langsam am Waldesrande hin und herschritt, die Hände auf dem Rücken und den Kopf im Nachdenken gesenkt.

Er trat einige Schritte vor, um von dem Monarchen leichter gesehen zu werden. Dieser hatte ihm bereits verschiedene Mittheilungen über hiesige Personen und Verhältnisse gemacht, und so stand zu erwarten, daß er sich auch über den Lehrer aussprechen werde.

Jetzt erhob er zufällig den Kopf und sah herüber. Er erblickte den Arzt und winkte demselben. Der Letztere folgte dem Befehle und schritt dann langsam an der linken Seite des Königs mit auf und ab. Es wurde zunächst kein Wort gesprochen. Das war so die Art und Weise Ludwigs. Er war dann mit hochgestellten Personen viel kürzer und aphoristischer als mit Tieferstehenden.

»Haben Sie genau zugehört?« fragte er endlich.

»Gewiß, Majestät.«

»Nicht Majestät! Habe es bereits verboten! Haben Sie Alles verstanden, was er sagte und brachte?«

»Wenn ich aufrichtig sein soll, Verschiedenes nicht.«

Der König nickte, und ein kleines, kleines Lächeln zuckte um seine Lippen.

»Glaubs wohl, glaubs wohl!« sagte er. »Wie hat der Vortrag gefallen?«

»Ausgezeichnet.«

»Warum?«

Er sprach diese Frage sehr laut aus, blieb dabei stehen und blickte den Arzt so groß und forschend an, daß dieser beinahe verlegen wurde.

»Weil - hm - weil er zunächst den Stoff vollständig zu beherrschen


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schien und denselben in ein wirklich künstlerisches Gewand zu kleiden verstand.«

»Verstand, verstand - -! Dabei müßte das Urtheil mit thätig sein; das war es aber nicht. Die Reime kamen von selbst, so wie die Schwalben kommen, wenn es Frühling geworden ist. Dieser Walther besitzt erstaunliche Kenntnisse. Nicht?«

»Wohl!« lächelte der Arzt. »Im Indischen ist er mir überlegen.«

»Glaubs! Auch sonst weiß er mehr als man seinem Alter und einem Volksschullehrer zutraut. Muß sehr gearbeitet haben, sehr fleißig gewesen sein. Freut mich sehr! Braver Mensch! Ist aber nicht nur fleißig!«

»Sondern ein Talent!«

»Ja, vielleicht noch mehr. Hat außerordentliche Gaben. Ist in Poesie fast Das, was der Fex für die Violine ist. Dichtet aber trotzdem auch, der Fex. Hm.«

Es trat eine Pause ein, welche der Arzt durch die Bemerkung zu unterbrechen wagte:

»Schade, daß dieser junge, talentvolle Mann so arm ist. Eine Strafstelle!«

»Strafstelle? Ja. Hat sie sich aber selbst ausgesucht.«

»Das wäre ja befremdend.«

»Oh, hm! Wenn ein Talent Etwas thut, so ist das für Andere oft befremdend, oft sogar unsinnig. Aber das Talent ist göttlich instinctiv. Trifft stets das Richtige. Hätte wo anders nicht mich getroffen. Darum mußte er hierher. Und arm? Warum sollte dieser hoffnungsvolle Mann arm sein?«

»Ich denke es mir.«

»So! Ich bin sein König und habe ihn gehört. Da ist er nicht arm. Uebrigens ist er eine Waise. Bin der Vater und Vormund aller Waisen. Habe für sie zu sorgen, für ihn also auch. Soll ausgebildet werden.«

»Diese hohe Gnade wird Gott segnen und lohnen!«

»Gnade? Ist keine Gnade. Ich thue meine Pflicht, folge meinem Herzen. Gott befiehlt es mir durch das Herz. Habe zu gehorchen ohne auf Lohn zu rechnen - bin reichlich belohnt durch die Freude, eins meiner Landeskinder so brav und so begabt zu sehen.«

Wieder schritten sie eine Weile neben einander her. Dann fuhr der König fort:

»Wohin aber mit ihm? Hm!«

Der Arzt antwortete nicht. Er durfte nicht wagen, der Majestät einen Vorschlag zu machen. Ludwig war in dieser Beziehung eben auch souverain.

Nach einer Weile blieb er stehen, nickte fröhlich mit dem Kopfe und sagte:

»Habs gefunden! Passen zusammen! Müssen aber den Elephantenhanns erst untersuchen. Gehen Sie in die Mühle und sagen Sie, daß wir bald wiederkommen. Sollen auf uns warten.«

Der Arzt gehorchte. Als er drin die Weisung ertheilt hatte und wieder herauskam, sah er den König langsam nach dem Wehr hingehen, in der Richtung


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nach dem Dorfe zu. Er eilte ihm nach. Als er sich nun wieder an der Seite Ludwigs befand, sagte dieser:

»Habe Ihnen bereits von dem Silberbauer erzählt. Werden im Vorübergehen bei ihm eintreten und ihn untersuchen. Möchte genau erfahren, welches sein Zustand ist.«

Sie erreichten das Dorf und traten in das Silbergut. Unter der Thür stand der Silberfritz. Als er die Beiden kommen sah, verfinsterten sich seine Züge. Er hatte Ursache, Fremde vom Lager seines Vaters zurückzuhalten.

Der Arzt grüßte einfach und griff dazu an den Hut. Der König sagte nichts und machte auch keine Handbewegung.

"Was wollens?"

»Was wollens?« fragte der Fritz.

»Wer sind Sie?« gegenfragte der Medizinalrath.

»Ich bin dera Sohn!«

»So. Wir wollen zum Silberbauer.«

»Wozu?«

»Ich bin Arzt.«

»Wir brauchen keinen zweiten.«

»Ich muß trotzdem ersuchen, mich zu dem Kranken zu lassen.«

»Das fallt mir gar nimmer ein!«

»Warum?«

»Da könnt jeder Quacksalbern kommen und nach ihm schauen wollen. Mein Vatern bedarf der Ruh. Er soll nicht stört werden.«

»Ich störe ihn nicht.«

»Wanns ihn nicht stören, was wollens dann bei ihm? Er ist kein Wundern und kein Panorama, daß die Leut kommen und ihn anschaun dürfen!«

»Nun, so will ich Ihnen sagen, daß ich im Auftrage der Obrigkeit komme.«

Der Fritz verfärbte sich.

»Ach so!« sagte er. »Nach was sollens denn schauen?«

»Ich will mich überzeugen, welche Verletzungen er erlitten hat.«

»Wozu will das die Obrigkeiten wissen?«

Der König machte eine Bewegung der Ungeduld.

»Kurz machen!« sagte er.

Darum antwortete der Rath dem Bauerssohne:

»Darüber hab ich Ihnen keine Rechenschaft abzulegen.«

»So! Dann beweisens nur erst, daß Sie auch wirklich ein Doctoren sind und von dera Obrigkeiten zu uns gesandt!«

Er stand so unter der Thür, daß Niemand ein- oder austreten konnte.

»Vorwärts!« befahl der König.

Er machte einen Schritt auf die Thür zu.

»Halt! Hier kommt Niemand herein!« rief der Fritz. »Der Vatern ist Polizei im Dorf. Wir wissen auch, was Gesetz ist. Zeigt nur vorher die Legitimationen heraus! Au! Donnerwettern! So schaut doch, wo - au! Kreuzmillionen - au - au! Na, wart!«


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Der König war nicht gewillt, sich mit dem Burschen in lange Verhandlung einzulassen. Er hatte noch einen Schritt vorwärts gethan und war dann dem Fritz mit solcher Kraft auf die Fußzehen getreten, daß der Bursche zurückwich. Als dieser Letztere dann zu schimpfen begann, trat der König, langsam vorwärts schreitend, ihm noch viermal so fest auf die Füße, daß der Sohn des Silberbauers zornig in der Stube verschwand, vielleicht, um Hilfe zu requiriren.

Eine Magd kam zur Treppe herab.

»Wo liegt der Bauer?« fragte der König.

»Da droben,« antwortete sie, nach rückwärts deutend.

»Uns führen!«

Das klang so unwiderstehlich, daß sie sich sofort umdrehte und ihnen voranschritt. Oben öffnete sie die Stubenthür. Der König blickte hinein. Er sah ein Bett, in welchem eine lange Gestalt unbeweglich lag. Er gebot der Magd:

»Mit hineingehen. Dem Herrn Doctor helfen!«

Der Medicinalrath trat in Folge dessen mit dem Mädchen hinein. Ludwig blieb außen stehen. Es zeigte sich auch sogleich, daß er richtig vermuthet hatte, denn jetzt kam der Silberfritz zur Treppe heran, hinter ihm zwei Knechte.

»Was soll das hier heroben!« rief er. »Das duld ich nicht! Das brauch ich nicht zu leiden. Packt Euch hinab, Ihr Lausbu -«

Er hielt inne. Der König war ihm näher getreten. Er sagte kein Wort, aber aus seinem Auge flammte ein solcher Blick auf den Burschen hernieder, daß er sofort schwieg. Der König wendete sich wieder ab, ohne sich nun weiter um die Drei zu kümmern.

»Verdammt!« grollte der Fritz leise. »Hat dera Kerlen Augen!«

»Du,« flüsterte einer der Knechte, »der ist halt was Vornehmes, was ganz Großes. Das schaut man ihm sogleich an dera Nasenspitzen an.«

»Ja,« stimmte der Andre bei, »mit dem möcht ich halt nicht spaßen. Der spiest Einen ja gleich mit denen Augen an!«

»Kommt! Ich steig wieder nunter!« rieth der erste Knecht, indem er zurückkehrte.

»Ja, ich mach mich auch aus dem Staub,« meinte der Zweite, indem er ihm langsam folgte.

»Verdammt!« brummte der Fritz. »Ja, das ist weiß Gott ein Vornehmer! Wann das nicht wär, so wollt ich ihm wohl heimleuchten! Ich steig auch wieder hinab! Besser ist besser!«

Und er verschwand auch nach unten.

Der König hatte das sehr wohl bemerkt. Er hatte gewußt, daß es so kommen werde, denn er kannte die Macht seines Auges über solche Menschen.

Er hatte nicht die Absicht, die Krankenstube zu betreten. Er liebte das Schöne, das Edle, das Erhabene; alles Andere stieß ihn ab und verursachte ihm inneres Wehe. Und wo fände man in einer Krankenstube - wenigstens unter den hiesigen Umständen - etwas Hohes, Erhabenes!


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Nach einiger Zeit kam der Arzt wieder zurück.

Da die Magd ihm folgte, wurde kein Wort gesprochen. An der Hausthür stand der Silberfritz. Er zog jetzt den Hut, als sie an ihm vorüber gingen; sie aber beobachteten es gar nicht.

»Vertori!« schimpfte er, dieses Mal aber sehr leise. »Die thun ja, als ob sie den König und das ganze Ministerium verschluckt hätten! Ich möcht halt nur wissen, was das zu bedeuten hat. Du, Nazi, lauf mal denen nach! Ich muß wissen, wohins nun gehen.«

»Dank sehr schön!« meinte der Knecht. »Das sind zwei Gewichtige. Der Eine, nämlich der Hohe, Breite, sah gar so aus, als wann er ein Generalen wär oder ein Staatsadvocaten! Dem lauf ich schon lang nicht nach! Der, wann er sich umidreht und mich derblickt, ist am End gleich gar im Stand, mich einistecken zu lassen.«

»Hasenfuß! So lauf Du, Wendelin!«

»Ich?« fragte der Andere. »Das sollt mich selber wundern, wann ich gehen thät. Ich bin hier um zu arbeiten aber nicht, um solchen Herren im Weg herum zu laufen. Ich begeb mich halt in keine Gefahren. Wannst wissen willst, wohins mit nander gehen, so spring ihnen nur selber nach!«

Sie entfernten sich. Da es dem Fritz aber auch nicht geheuer erschien, die Aufmerksamkeit der beiden Herren unnöthiger Weise auf sich zu lenken, so zog er es vor, so wie die Knechte zu Hause zu bleiben.

Die Herren schritten nun langsam durch das Dorf, der Flachsdörre zu. Als sie dieselbe erreichten, saß die Feuerbalzerin wieder vor der Thür. Sie erkannte den König und erhob sich sofort von dem Steine, auf welchem sie saß.

»Ach,« sagte sie erfreut, »das ist ja dera gute Herr, der mich so beschenkt hat und mir gar einen Doctorn versprochen für meinen Sohn!«

»Ja,« nickte Ludwig. »Der Doctor ist bereits da. Hier dieser Herr ist es.«

Die Frau betrachtete den Medicinalrath prüfend und sagte dann:

»Ja, so Einen laß ich mir schon gefallen.«

»Warum?« erkundigte sich der Arzt.

»Warum? Sie schaun schon ganz anderst aus als unsere Latwergenkramer. Ihnen sieht mans ja sogleich an, daß Sie die ganze Medizinen gleich bis in den Kopf hinaufi studirt haben.«

»So! Ist Ihr Sohn zu Hause?«

»Ja, der sitzt drinnen und fangt Fliegen. Das thut er gern, weil er sonst nix treiben kann. Wollens mit hereini?«

»Danke!« lehnte der König schnell ab. »Holen Sie ihn einmal heraus!«

Sie ging hinein und brachte den Irren heraus. Als er die Beiden erblickte, sank er sofort auf den Boden nieder und wimmerte:

»Nimms hin! Nimms hin! Ich sag halt nix! Gnade! Gnade!«

Der Sonnenschein fiel hell auf sein Gesicht, so daß der Arzt es in schärfster Beleuchtung sah. Der König hatte ihm einige Mittheilungen gemacht.


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Er bohrte sein Auge in dasjenige des Kranken, ballte die Faust und that, als ob er zum Schlage aushole.

»Nimms hin! Nimms hin!« wimmerte der Balzerbauer so wie vorher. »Ich sag ja nix! Gnade! Gnade!«

Da ergriff der Arzt ihn bei der Hand, hob ihn auf und betrachtete seine Augen. Der Kranke hielt den Blick auf die Augen des Arztes gerichtet. Dieser Blick war verschleiert, ohne Selbstbestimmung, aber doch nicht irr. Es lag Etwas in diesen Augen verborgen, wofür nur der Arzt den richtigen Ausdruck und das Verständniß haben konnte. Nach und nach verlor das Gesicht des Irren den angstvollen Ausdruck. Es wurde sogar freundlich und immer freundlicher. Wie im Wiedererkennen sah er den König an und sagte dann:

»Freund! Guter Freund!«

Der Arzt schüttelte den Kopf.

»Nun?« fragte der König.

»Dieser Mann ist nicht wahnsinnig, nicht irr. Es lastet auf seinem Gesichte irgend ein schweres Gewicht, welches selbst zu entfernen, er die Kraft nicht besitzt.«

»Das war ganz genau auch meine Ansicht. Aber welch eine Last mag das sein?«

»Keine geistige, sondern eine körperliche. Wir müssen ihren Sitz aufzufinden suchen.«

»Vielleicht ists die Verwundung, welche er damals bei dem Feuer erhalten hat oder vielmehr erhalten haben soll.«

»Höchst wahrscheinlich. Ich werde den Kopf untersuchen.«

Er legte dem Kranken, welcher jetzt keine Scheu mehr vor ihm zeigte, die Hände auf den Rücken und begann, mit den Fingerspitzen zu tasten. Als er die Mitte des Schädels berührte, schrie der Patient laut auf und wollte entfliehen. Der Arzt ergriff ihn beim Arme, hielt ihn zurück und sagte:

»Hier ist der Sitz des Uebels. Ich muß diese Stelle genauer untersuchen; aber der Schmerz, welchen er dabei empfindet, wird ihn hindern, still zu halten. Ich brauche einen Mann, oder auch zwei Personen, welche ihn festhalten.«

»Ich werd sogleich zwei holen!« sagte die Alte, welche aufs Aufmerksamste zugeschaut und dem Arzte jedes seiner Worte förmlich von den Lippen abgelesen hatte.

»Halt!« sagte der König, als sie sogleich forteilen wollte. »Bin ich stark genug, Doctor?«

»Sie?« fragte dieser. »Hm! Stark genug jedenfalls. Aber ich meine - - -«

»Sie haben nichts zu meinen! Wir vereinfachen die Prozedur. Ich halte ihn.«

Er trat zu dem Kranken heran, schob ihn an die Mauer, nahm ihn zwischen die Arme und hielt mit den Händen seinen Kopf fest. Der Patient konnte sich bei der Riesenkraft des Königs nicht bewegen. Er wimmerte angst-


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voll, denn er merkte gar wohl, daß man jetzt im Begriff stehe, einen Gewaltact vorzunehmen.

»Nun, beginnen Sie!« gebot der König.

Der Medicinalrath nahm die Untersuchung vor. Der Kranke fiel aus dem Wimmern in ein schmerzvolles Schreien, so daß nicht nur oben an dem Fenster der Kopf von des Heiners Frau erschien, sondern auch aus den benachbarten Häusern die Leute traten, um die Ursache dieses Schreiens kennen zu lernen.

Das währte mehrere Minuten. Endlich war der Arzt fertig.

»Zu Ende,« sagte er, »Sie können ihn los lassen, Herr Ludwig.«

Sobald der König die Hände von dem Balzerbauer nahm, rannte derselbe spornstreichs von dannen, den Kopf mit beiden Händen haltend und ein fast thierisches Jauchzen ausstoßend aus Freude, daß er dem Schmerze nun entronnen war.

Die Bäuerin hatte voller Angst zugeschaut. Es handelte sich ja darum, ob ihr Sohn zu heilen sei oder nicht. Seine Heilung war vielleicht der erste Schritt zu einem besseren, menschenwürdigeren Leben. Sie näherte sich zaghaft dem Arzte und fragte:

»Jetzt, was sagens, Herr Doctorn? Kann er wiedern gesund werden?«

Das Gesicht des Gefragten war von Freude erhellt. Er antwortete:

»Zunächst sage ich, daß die Personen, von denen er bisher untersucht worden ist, wahre Esel - - hm, sich sehr geirrt haben. Von einem Irrsinn ist gar keine Rede.«

Und sich mehr an den König als an die Frau wendend, fuhr er fort:

»Bei seiner damaligen Verletzung hat sich, wie ich für ganz gewiß annehme, ein Knochensplitter nach abwärts in das Gehirn gesenkt. Er ist die Ursache der Geistesstörung, und es ist ein wahres Wunder zu nennen, daß sich nicht mit der Zeit noch schwerere Folgen eingestellt haben.«

»Ist dieser Splitter zu entfernen?« fragte der König.

»Ganz sicher. Vielleicht ist nicht einmal die Trepanation nöthig. Vielleicht ist dem Splitter schon durch einen bloßen Schnitt in die Kopfhaut beizukommen. Ich werde gleich morgen die Operation vornehmen und den in der Stadt wohnenden Collegen assistiren lassen. Wenigstens kann ich bei ihm die Säge zur Trepanation bekommen. Ich habe die meinige nicht mit.«

Die Bäuerin war förmlich athemlos.

»Herrgottl!« rief sie. »Bereits morgen?«

»Ja, gute Frau.«

»Und er wird wiedern gesund?«

»Ich glaube, das garantiren zu können.«

»O Du mein lieber Himmel, wie dank ich Dir, wie dank ich Dir!«

Sie sank in die Kniee nieder, sprang aber sofort wieder auf, ergriff die Hand des Königs, küßte dieselbe inbrünstig und rief:

»Daran sind halt nur Sie ganz allein schuld! Das hab ich nur Ihrer Güten und Barmherzigkeiten zu verdanken.«


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Und dann auch die Hand des Arztes erfassend, fuhr sie fort:

»Thuns, was Sie thun können, mein liebern, mein bestern Herr Doctorn! Rettens mir den Sohn! Der Herrgott wirds zahlen.«

»Haben Sie keine Sorge. Was die Wissenschaft vermag, das wird sicherlich gethan werden.«

»Also er wird nicht nur am Leib gesund werden, sondern auch wiedern denken können?«

»Ja. Auf verschiedenen Erfahrungen fußend, möchte ich sogar behaupten, daß sein Geist nicht langsam zu sich kommen werde. Ich vermuthe vielmehr mit allem Grund, daß in dem Augenblick, an welchem ich den Splitter aus dem Hirn entfernt habe, der Kranke in den vollen Besitz seiner Geisteskräfte gelangen werde.«

»So kann er dann sogleich denken und sprechen?«

»Ja.«

»Mein Heiland! Dann wird er ja doch sagen können, was damals Alles geschehen ist!«

»Ich denke es. Aber, gute Frau, grad aus diesem Grunde ist es sehr gerathen, Niemandem vorher Etwas erfahren zu lassen. Verstanden?«

»O, ich weiß, was Sie meinen. Es soll kein Mensch wissen, daß mein Sohn operirt werden soll.«

»Gut. Sorgen Sie dafür, daß er morgen am Vormittag zu Hause bleibe, damit ich ihn finde, sobald ich komme. Ich freue mich, daß es mir erlaubt war, Ihnen eine so hoffnungsreiche Mittheilung zu machen. Leben Sie wohl!«

»Grüß Gott, mein guter, mein bestern Herr Doctorn!« antwortete sie, vor Entzücken weinend. »Ich hab bisher lange Jahren in dera richtigen Höllen lebt. Nachher, wann mein Sohn wiedern gesund ist, wirds für mich sein wie im Himmeln!«

Sie zitterte förmlich vor Freude.

»Und nun?« fragte der Arzt den König. Dieser deutete nach oben und antwortete:

»Zum Elephantenhanns. Ich promenire einstweilen unten.«

Der Arzt trat in das Haus und stieg die Treppe empor. Der König aber ging seitwärts, wo der Weg hinter dem Dorfe hin führte, und begann, da auf und ab zu gehen. Er hatte sehr lange zu warten, fast eine halbe Stunde, bis der Medicinalrath zurückkehrte.

»Nun?« fragte er diesen, indem sie langsam weiter schritten. »In Beziehung dieses Kranken haben meine verehrten Herren Collegen nicht Unrecht gehabt, wenigstens was die Heilung betrifft. Der Knabe hat im kindlichsten Alter einen großen Jammer durchmachen müssen, und darauf sind arme, entbehrungsreiche Jahre gefolgt. Die Frau, welche eben bei ihm war, gab sich die Schuld, indem sie bitter dabei weinte.«

»Sie ist seine Mutter, welche leichtsinnig ihren Mann und ihre Kinder verlassen hat.«


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»Ah! So sah sie gar nicht aus!«

»Sie ist zur Einkehr und Reue gekommen, und ihr Mann, welcher trotz seiner Armuth und seines niederen Standes ein edler, großherziger Character ist, hat ihr vergeben. Ich weiß, daß der arme Knabe damals über den Verlust seiner Mutter und die Krankheit seines Vaters gar nicht zu trösten gewesen ist. Er besitzt ein ausgezeichnetes Talent für Pinsel und Palette. Hoffen Sie, daß er noch erstarken und gesunden könne?«

»Ich bin überzeugt davon. Aber die Mittel - -«

»Habe ich.«

»Sie werden bedeutend sein!«

»Darnach darf ich nicht fragen. Es ist meine Pflicht, ein solches Talent dem Leben zu erhalten.«

»Er muß nach dem Süden. Wohin, das ist erst nach weiterer Beobachtung zu bestimmen. Der Süden mit seinem Lichte und seiner Wärme wird hier Wunder wirken, denn er findet eine sehr kräftige, geistige Unterstützung in der Sehnsucht des Patienten, dort Hilfe zu suchen. Schon die einfache Nachricht, daß er bald ziehen darf, wird seine Kräfte verdoppeln.«

»So wollen wir ja nicht zögern!«

Der Arzt fuhr sich mit der Hand über die Augen. Er ergriff die Hand des Königs und führte sie, ehe dieser es hindern konnte, an seine Lippen.

»Majestät, ich - - -«

»Pst! Schon wieder dieses Wort!«

»Verzeihung! Hier kann ich unmöglich »Herr Ludwig« sagen. Das wäre eine Entheiligung meiner innigsten Gefühle. Wenn Königliche Hoheit diesem armen Jüngling erlauben, dahin zu ziehen, wo die Schwalben der Härte unseres Winters entgehen, so retten Königliche Hoheit diesen Kranken vom sicheren Tode. Er würde hier binnen der Zeit eines Jahres hinsterben, langsam hinsterben wie eine Blume, welcher man das Tageslicht entzieht, indem man sie in den Keller stellt! So, nun kann ich hohem Befehle zu Folge wieder »Herr Ludwig« sprechen.«

Der König war tief, tief gerührt über den Gefühlsausbruch dieses Mannes, welcher in so vieljährigem Umgange mit dem Elende des Menschenlebens gelernt hatte, sein Gemüth mit eisernem Panzer zu wappnen.

»Und nun der Silberbauer?« fragte er. »Wie steht es mit diesem?«

»Er hat zwei Rippenbrüche. In wie weit sein Kopf beschädigt ist, kann jetzt noch nicht beurtheilt werden, weil er sich in einem traumartigen Zustande befindet und kein Wort, keine Silbe, nicht einmal einen Schmerzenslaut hören läßt. Die Armwunde, so fürchterlich sie beim ersten Anblicke erscheinen mag, ist nicht einmal so gefährlich wie der Bruch der Rippen. Ich wollte, ich könnte bei ihm anwesend sein, wenn er erwacht. Es ist das für den Arzt ein Augenblick, an welchem die wichtigsten Beobachtungen angestellt und nicht weniger wichtige Erfahrungen gemacht werden können.«

»Wird man auf dieses Erwachen lange Zeit noch zu warten haben?«

»Diese Frage läßt sich kaum mit nur einiger Sicherheit beantworten.


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Es fehlt da jeder einigermaßen praktikable Maaßstab. Doch denke ich, daß binnen zweien, höchstens dreien Tagen der Patient eine Aeußerung geistigen Lebens bemerken lassen wird.«

»So sollen Sie dabei sein. So lang ich hier bleibe, bedarf ich doch Ihrer Gegenwart, und binnen dreier Tage reise ich wahrscheinlich nicht ab. Treffen Sie also Ihre Vorbereitungen. Nöthigenfalls soll die Behörde dafür sorgen, daß Ihnen der Zutritt nicht wieder in der Weise wie vorhin erschwert werde.«

Sie sprachen nun noch über die Verhältnisse der Umgegend und der hier wohnenden, dem Könige bereits bekannten Personen. Dabei kamen sie nach der Mühle zurück.

Die Gäste waren dort, den Pfarrer ausgenommen, noch Alle vorhanden. Es hatte noch Wein auf dem Tische gestanden, und dieser Umstand hatte die guten Leute in der Stube festgehalten. Dieselben waren so mit sich selbst beschäftigt, daß sie die Rückkehr der beiden Herren gar nicht bemerkten. Eben als die Letzteren in den Hausflur traten, ertönte die muntere Stimme des alten Sepp. Die Stubenthür stand auf, und so war ein jedes seiner Worte zu vernehmen. Der König ergriff den Arzt bei der Hand, ihn zurückhaltend.

»So, also, Barbara, Du kommst zu ersten dran!« sagte der Wurzelhändler. »Wer ist der beste König auf dera ganzen Erdenwelt?«

Die Alte war sehr schnell mit der Antwort da.

»Dera preusche Fritzen!« rief sie.

»So! Der? Warum sodann?«

»Weil er die Franzosen haut hat bei einem Bach, woraus die Rosse soffen haben.«

»Du meinst Roßbachen. Na, so übel ist's nicht; aberst Du hast läuten hört, jedoch nicht zusammen schlagen. Wer weiß einen noch bessern König?«

»Ich, ich, ich, ich!« riefen mehrere Stimmen.

»Halt! Immer nur Eins nach dem Anderen! Peter, wen meinst halt Du?«

Peter war der uralte Mühlknappe, der fast nicht mehr arbeiten konnte und also das Gnadenbrot aß. Er stack die meiste Zeit droben in einem kleinen Dachkämmerchen und kam nur sehr selten herab. Das lustige Chor hatte ihn überfallen und herunter geschleppt. Er antwortete mit tiefer Baßstimme.

»Der allerbest König ist der alte Derfflinger gewest.«

»Der? Warum?«

»Weil er ein Schneidergesellen war und nachhero König worden ist. Da muß er doch halt ein gar tüchtigern Kerlen west sein!«

»So? In welchem Land war der denn König?«

»In einem Land, das nennt man halt die Luxemburgern Haide.«

»Schafskopfen! Lüneburgern Haide heißts. Dort ist kein Land.«

»Sapristi! Wohl lauter Wassern?«

»Nein, sondern eben Haide. Das ist weder Land noch Wassern, sondern ein Brei von Ziegelsteinen und Kiefernharzen. Dorten hats gar nie einen


// 911 //

König geben. Dera Derfflingern war auch kein König, sondern ein Generalen und Feldmarschallen, und wenn er gegen die Türken fochten hat, so hat er sie nämlich Alle mit dera Ellen massacrirt. Das war also nix, Peter. Also nun Du, Liesbetherl. Wer ist dera allerbest König in dieser Welten?«

»Ganz nur unser gutern Ludwigen!« antwortete das Mädchen.

»Heiner, Du?«

»Ich stimme auch für den Ludwigen. Für den geh ich allsogleich hier meinen letzten Arm und auch mein Leben!«

»Und Du, Müllern!«

»Natürlich, dera Ludewig!«

»Hast Recht. Es giebt nix Schwerers und auch Schmerzhafters als wann Einer aus dera Haut fahren muß. Aberst wann mein König Ludwig zu mir sagen thät: Wurzelsepp, machs möglich und fahr aus der Haut! Könnt Euch drauf verlassen, ich machts möglich. Ich ließ mich schinden, bis die Haut locker wär und führ hinaus, zwölfspännig und mit Trommeln und Trompeteln. Für so einen guten König muß man Alles möglich machen können. Merkts Euch das!«

»Ja, wannst denen Ludewigen meinst, so ist der freilich der best, viel bessern noch als dera alte Fritzen!« rief die Barbara. »Ja,« brummte der alte Knappe, »sogar noch bessern als dera Derfflingern. Das ist richtig!«

»Schön!« sagte der Sepp. »So sind wir also jetzt einig und wollen ihm ein Hurrah und Vivavit bringen. Wein ist ja da. Odern, noch gar viel bessern! Da fällt mir halt was ein. Wir machens wie die Studenten, fein und nobel, wir reiben ihm einen Hilamandern.«

»Was ist das?« fragte Peter.

»Ein Hilamandern ist ein Säugethier, welches halb Vogel und halb Fisch und nachhero auch noch drei Viertel eine Schlangen ist.«

»Und den muß man reiben?«

»Ja, so heißts.«

»Vertorium! Wo nehmen wir aberst da gleich so einen Hilamandern her?«

»Gar nicht nehmen wir ihn her, sondern den denkt man sich blos. Weißt, Eins von uns muß sich hierher setzen, grad in die Mitt; das ist dera Hilamandern. Die Andern stellen sich rund herum, nehmen in die eine Hand Ruß und in die andere das Glas. Nachhero wird die Gesundheiten trunken. jeder trinkt sein Glas aus und reibt dabei dem Hilamandern mit dera andern Hand denen Ruß ins Gesichten, und Alle rufen dabei recht laut: »Vivavit! Smollit und Viducitum!« Wann nachhero das Gesichten recht schwarz ist, so giebts eine große Freuden und Herrlichkeiten. Von diesem Reiben heißt die Sach also einen Hilamandern reiben.«

»O, das wär schön!« brummte der alte Peter mit seinem tiefen Basse.

»Nicht wahr? Also das machen auch wir jetzund. Wir wählen jetzt den Hilamandern!«

»Wer aberst soll das sein?« fragte der Heiner.


// 912 //

»Allemal diejenige Personen, welche die schönst und fetteste Visagen hat. Das ist ja unsre alte Barbara.«

»Dank schön! Dank sehr schön!« kreischte die gute Wirthschafterin. »Das könnt mir halt grad noch gefallen in meinen alten Tagen! Sucht Euch einen Hilamandern, wo Ihr nur wollt. Ich aber laß mir mein Gesicht nicht verschimpfiren!«

»Nicht? Könntst uns aberst doch mal diese Lieb erweisen!«

»Wannst keine andere Lieb von mir willst, so mach Dich nur gleich fort von hier und komme mir nimmer wiedern! So ein Schlangangerl könnt mir gefallen!«

»So! Aberst eine andera Person paßt halt nicht dazu. Also müssen wir auf denen Hilamandern verzichten. Und das ist wohl auch sehr richtig; denn wann wir auf die Gesundheiten unsers guten Königs trinken wollen, so ists besser, wann wir fein ernst und andächtig dabei sind. Wenn ich an ihn denk, so muß ich auch gleich allemal an meine Leni denken. Ihr hättet nur dabei sein sollen, als sie sungen hat:

Als Alle mich verlassen hatten
   In meines Unglücks schwerer Nacht,
Stand ich in meines Königs Schatten;
   Mein König hat an mich gedacht!

Da hat Alles weint, Alles, Alles hat schluchzt und weint und dera König selbern auch mit. Hört, das merkt Euch! Keiner hat so ein Herz für das Unglück wie unsera Ludwigen. Dera Sepp weiß das sehr genau. Und wann er mal hierher kommen thät, so sollt Ihr sehen, wie schnell das Leid ein End nehmen thät bei Denen, die seiner Hilf und Gnaden würdig waren!«

»Herrgott!« meinte der Heiner. »Wann er da meinen armen Hanns sehen thät!«

»Du, Heiner, ich will Dir mal was sagen. Das Glück kommt oft schneller, als man denkt hat. Ich hab hört, daß unser Ludwig bald mal kommen wird. Das versäume ja nicht; da mußt Dich an ihn wenden. Wirst sehen, er hilft dem Hanns. Und dafür wolln wir uns bereits schon vorher bedanken und unsern lieben König hoch leben lassen. Nehmt also die Glaserln in die Hand und haltets rechte hoch! So! Und nun paßt auf! Was ich schrei, das müßt Ihr auch rufen. Also jetzund geht dera Toasten los!«

"König Ludwig lebe hoch!"

Und mit erhobener Stimme fuhr er fort:

»Unsern gutern und bravern Ludwigen, König von Seiner Majestäten Bayern soll unterthänigst hoch leben. Wir bringen ihm ein allergnädigst Vivat - - - so schreit doch!«

»Vivat!« riefen die Andern.

»Abermals Vivavit!«

»Abermals Vivavit!«


Ende der achtunddreißigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der Weg zum Glück

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