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ROBERT MÜLLER

Totenstarre der Fantasie



Seit Karl May tot ist, lassen die Neidhammel die Zungen hängen. Diese Enttäuschung war zu groß. Im Grunde ihres Herzens hatten gerade sie an ihn geglaubt und ihre Antagonistenkarriere von seiner Unsterblichkeit abhängig gemacht. Nachdem sich die eine als dichterisch erwiesen hatte, juckte es sie, ihm auch die andere zu nehmen. Sie, die Illusionisten des eigenen Fortkommens, handeln aus Ranküne. Weil sich der Prügelknabe aus purer Bosheit ihrem Dreschflegel entzog und das Geschäft verdarb, werden sie ernstlich böse und prügeln lustig weiter. Es sind Klassiker unter ihnen; für die gibt es keine Scheidewand, sie haben Konnexionen mit dem Orkus und in jedem besseren Grabe Zutritt. Sie zitieren bekanntes Latein und die Schatten, um sich ins rechte Licht zu setzen, sowie andere Dinge, die man schon weiß, aber nun mit Umständlichkeit repetieren muß. Nach vielen redlichen Worten ziehen sie dann einen Schluß, wo man schon längst den seinen gemacht hat. Es sind doch glückliche Menschen, diese Literarhistoriker! Wenn man bedenkt, daß nach 107 Jahren vielleicht einmal Karl May wird seinen Totenschädel ausstellen lassen müssen, der Literarhistoriker aber, der ihm schon bei Lebzeiten auf die Knochen fühlte, trotz dieser Leistung den seinen nicht, dann möchte man lieber sein bißchen Fantasie drangeben und ein Dozent werden statt eines munteren Jungen.

Dieser Dozent, der man vorderhand aber noch nicht sein möchte, ist ein gewisser Herr Doktor Stefan Hock, aus Wien. Er hat im Mai-Heft der Monatsschrift »Der Strom« einen Kolportageartikel flüssig gemacht. Auf seinem Rücken trägt dieser die Literatur dahin. Man sieht wieder, was für eine Nußschale diese Literatur sein muß, wenn sie auf solchen Wassern Platz hat. Sechs Seiten lang schwillt ihm der Strom der Rede; rette sich, wer kann, auf ein Festland essigsaurer Tonerde. Aber ich


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möchte doch zumindest so ehrlich sein, wie Herr Dr. Hock. Denn da die Zeitschrift nur ein kleines Format hat, die Literatur aber doch in ihrer sonoren Vertretung hörbar werden soll, geht alles auf eine kleine Seite und man darf überzeugt sein, ein Dozent ist literarisch gut genährt und hält's nur zurück, man mag also weitere Dammverwicklungen gewärtigen. Das ist auch der Grund, warum auf diese a posteriori-Urteile, diese Hinterteile einer Gesinnung, gleich die Antwort vorweggenommen werden soll. Jener Kolportageartikel ist denn doch zu schwach, um für sich allein zu sprechen; darum spricht er dafür, daß noch mehrere nachfolgen sollen. Mir aber ist es mit diesem einen Male genug, ich brauche keine schwächeren Talentproben, um eine Antwort zu finden. Dieser Artikel ist typisch; es ist das Einzige worauf ich ihm hineinfalle. Für alle Kommenden habe ich einen Kiesel unter der Herzgrube. Ein für allemal, ich stelle eine Batterie von Spuck- und Nachttöpfen zur Verfügung, und wie dann auch gewirtschaftet wird, es ist mir egal, denn der Verkehr ist hinfort geregelt.

Der Artikel besteht aus den unartikulierten Vorwürfen eines überlebenden Prozeßgegners. Am Anfang steht natürlich ein lateinisches Zitat: De mortuis nil nisi bene. Und nun muß man die Verlegenheit sehen, die den Mann ergreift, da er eine alte lateinische Humanitätsregel zu desavouieren hat. Er ist dreist, aber er ist doch nicht ganz sicher vor solchen Gespenstern. Eine reine Zufriedenheit kommt dabei nie heraus, wenn dem Ehrgeiz vor der Verlegenheit Rechnung getragen wird. Es schauert ihn doch ein bißchen, daß er sich mit ein paar Gebeinen konfrontieren muß, bloß weil May ihm den Tort antat und vor der Nase wegstarb. Denn, de mortius nil nisi bene, von den Toten bleibt »nischt als die Gebeene«. Alles andere ist abgeleckt. Aber als die Sargdeckel zuklappten, da gerieten die langen Zungen dazwischen, und oweih, sie können nicht mehr zurück. Sie müssen weiter lecken, so schön rund um den fantastischen Totenschädel herum, ob auch die Zähne klappern, und wenn sie eine Stelle kahl geleckt haben wie ein Bibliothekszimmer, weisen sie mit Triumph darauf hin. Sie zittern, weil sie ein begrabenes Römerwort schänden. Aber kokett sehen sie sich dabei nach allen Seiten um, ob man ihre Frechheit auch genügend würdige. Bitte schön, sagen sie und machen auf den actus gefälligst aufmerksam.

Nun, Herr Hock, Dozent Dr., fährt schweres Geschütz auf, altehr-


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würdige Stücke, moraliscke Katapulte, denn er ist ein Klassiker. Der Henrystutzen liegt ihm nicht. Man kann dem Manne nur Recht und den Hofratstitel geben. Karl May hat ihm nichts gelassen als den Doktor. Auch darin wollte er mit ihm gleich sein. Nein, das geht nicht. Karl May, hast du in Fadigkeit promoviert? Siehst du, was für Einer du bist? Inkonsequent, inkonsequent, mein Lieber, das haben wir ja immer gesagt. Du hast da früher einmal »Das Geheimnis des Buchstaben U« geschrieben, oder den Kolportageroman »Der Schatz der Diphtonge«. Der Schatz, zum Beispiel, das ist sckon zweideutig, das könnte ja ein Mädchen bedeuten. Pornographie aber dulden wir nicht. Überhaupt, bist du je schon bei den Diphtongen gewesen? Na, wird's, zeige mir einen Skalp, einen einzigen wirklichen Skalp, lasse mich den Finger an deine Nase legen und schaue mir gerade in die Augen. Karl May, du lügst; das heißt, es fällt dir vielzuviel ein, und darum konntest du auch niemals Doktor werden. Obwohl wir das natürlich gewünscht hätten, denn hättest du uns statt deiner Reiseerzählungen literarische Fachsimpeleien vorgelegt, dann hättest du dir die andere Schmutzarbeit erspart!

Zu spät! Wir müssen uns von trockenen Schleichern den Genuß deiner Bücher stören lassen. Man neidet dir, daß du Welten im Handumdrehen und ohne Semestralzeugnisse erledigt hast; auch die der Doktoren, auch diese. Aus dem Moder deiner Vitalität blühen ungenießbare Pilze: es sind die Doktorhüte. Wir aber sind in deinen Sombrero verliebt, weil er u n s gut zu Gesicht steht und nicht aus dem Trödelladen der Wirklickkeit kam, sondern frischweg erfunden war. An der volkstümlichen Kraft deiner Fantasie kamen wir zum Bewußtsein der Dekadenz unserer Literaturkollegien. Auf dem Wege von Fichte bis zum Fuchtelmännchen ist ihre Einbildungskraft erloschen; die Einbildung des Professors aber ist geblieben. Jetzt bist du, Niemals-Kanonisierter, das große Ich, das Welt-Ich und Menschheits-Ich; sie aber sind die kleinen, ewig fremden Ers.

Wir habens früher vielleicht gar nicht so recht gewußt, wie bedeutsam ein Mensch für uns ist, der alle Öden zu Feinden hatte; Herr Professor aber treiben seinen Preis in die Höhe. Karl May, du hast prächtig wahrgelogen; Herr Professor aber haben in Ihrer Bescheidenheit ganz recht. Dafür haben auch wir ganz seltsame Wünsche an dero hochlöbliches Kollegium; ich mache darauf aufwerksam, wir sind


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Fantasten; Götz von Berlichingen ist mit uns verglichen nur ein Germanist.

Die Presse hatte diesmal dem Drucke einer öffentlichen Meinung nachgegeben, als sie für May eintrat. Selbst der Bürger hatte wichtigere Sachen zu tun, als einem Schriftsteller sein Vorleben nachzurechnen. Die ganze Welt war dieses einzige Mal in einem gesunden Urteile solidarisch. Da kam die Fachliteratur. Der Kuli, dem ein Hindukusch gebührt hätte, als Massiv an den Kopf geworfen, bekam statt dessen ein ganzes Pundjab, eine Stromlandschaft zugewiesen. Der Strom schwamm mit ihm. Der heulende Wisch war ein Coup! Diese eine Stimme mußte aller Berechnung nach umso lauter gellen, mußte umso mehr durch Mark und Bein dringen, als alle andern sich sichtlich Zurückhaltung auferlegt hatten. Sie mußte donnern - und sie tats. An der Akademielosigkeit unseres Gemütes aber blitzte sie ab. In derselben Nummer des Stroms, in der Herr Doktor Stefan Hock sich mit loyalen Absichten gegenüber der Literatur, die sich ihn verpflichtet hat, trägt, steht auch ein Gedicht von Albert Ehrenstein. Albert Ehrenstein hat sich in einem Briefe, in dem er dem Akademischen Verbande für Literatur und Musik in Wien das von ihm erbetene Urteil über May sagte, begeistert für May ausgesprochen. Dieses Urteil ist mir unverhältnismäßig maßgebender, denn Albert Ehrenstein ist ein blutjunger Denker, Dr. Stefan Hock aber ist ein gereifter Seminarvorstand. Ja, so sind wir nämlich; so gottlos, daß wir nicht nur nichts gegen die Katholiken, sondern auch keine Pflichten vor der Literatur haben. Literatur, das ist ein Titel ohne Mittel. May hatte aber nur diese, auf jenen konnte er verzi~ten. Was aber die Aussprüche der Pädagogen betrifft, so will ich das doch sicher parteilose Arsenal unseres Deutschprofessors um das Urteil Prof. Gurlitts bereichern, das dieser im 2. Aprilheft der Hamburger Halbmonatsschrift »Der Beobachter« veröffentlicht hat. Gurlitt stellt sich sehr freundlich zu May. Er ist geradezu für May. In seinem Artikel sind auch zwei lustige Briefe von Karl May untergebracht. Dort frägt dieser einmal, wo die Fäuste zu lesen sein würden, die Gurlitt für ihn ballen wolle. Ein andermal bezeichnet er das Grab als den drei Ellen langen Gedankenstrich hinter dem Schlußpunkte. Wenn ich nichts anderes von May gelesen hätte als diese zwei Bilder und dazu Herrn Dr. Hocks Artikel, und diesem redlichen Wahrheitsfanatiker auch allen Glauben schenken


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würde, ich wäre doch nie und nimmermehr von der Überzeugung abzubringen, daß May ein größerer Sprachhäuptling sei als der Foliantenschlucker und Schlangenbändiger vom Pundjab. Wo, also, wird die Zunge zu lesen sein, die Herr Professor demnächst hinter May her zu recken gedenken? Es interessiert mich nicht, das ist nur meiner Batterie halber. Ich sehe wohl, Herr Professor sind entzündet. Bitte öffnen Sie das Zündloch. Zeigen Sie die Zunge! Artikulieren Sie A, laut und vernehmlich - so, brav, nun sehen Sie, da hätten wir ja das herrlichste Bild einer seelischen Entzündung. Ja, nun müssen wir aufpassen, daß nicht etwa ein Mumps daraus wird. Diät, nur Diät, keine Kritiken! Also Herr Professor - dreimal täglich Untersuchung über Buchstabe Alpha bis Omega in Karl Mays Werken!

(»Der Brenner«, Heft 24, 15. 5. 1912)


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