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CLAUS ROXIN


Literaturbericht




1.Karl  M a y: Mein Leben und Streben. Fotomechanischer Nachdruck der Erstausgabe, Freiburg o. J. (1910), mit Vorwort, Anmerkungen, Nachwort, Sach-, Personen- und geographischem Namensregister sowie drei Stammtafeln, von Hainer Plaul. Olms-Presse, Hildesheim-New York 1975, XIII, 570 Seiten.
2.Gert  U e d i n g: Traumliteratur. Über literarische Erfahrung und ihre Wirkung, in: Ernst Blochs Wirkung. Ein Arbeitsbuch zum 90. Geburtstag (S. 251-270), Suhrkamp-Verlag, Frankfurt 1975.
3.Peter Uwe  H o h e n d a h l: Von der Rothaut zum Edelmenschen. Karl Mays Amerikaromane, in: Amerika in der deutschen Literatur. Neue Welt. Nordamerika. USA, hsg. von Sigrid Bauschinger, Horst Denkler und Wilfried Malsch (S. 229-245). Philipp Reclam jun., Stuttgart 1975.
4.Erich  L o e s t: Karl-May-Novelle, in: Etappe Rom. Zehn Geschichten (S. 5-38). Verlag Neues Leben, Berlin (Ost) 1975.



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I. Der lang erwartete Nachdruck des vollständigen und unveränderten Textes von Karl Mays Autobiographie, den wir schon im Jahre 1970 angekündigt hatten (Mitt. der KMG, Heft 3, S.26), ist nun endlich erschienen. Das Buch enthält auf den Seiten 1-320 zum erstenmal seit 65 Jahren wieder den ungekürzten Text der Urausgabe, die seinerzeit wenige Wochen nach ihrem Erscheinen gerichtlich verboten worden war und deshalb einer breiteren Öffentlichkeit nie bekannt geworden ist. An diesen Abdruck schließen sich auf den Seiten 323-498 insgesamt 390 Anmerkungen an, die im Reprinttext durch Randnummern gekennzeichnet sind. Auf den Seiten 499-533 folgt ein Nachwort Plauls, das seinerseits noch wieder durch 55 Anmerkungen (S.533-540) ergänzt wird und unter Beifügung von 10 Faksimiles vor allem über die Entstehung der Selbstbiographie und ihre Quellen berichtet. Sodann werden der May-Text und die dazu gehörigen Anmerkungen durch ein Sachregister (S. 541-554), ein Personenregister (S. 555-564) und ein geographisches Namensregister (S. 565-570) aufgeschlüsselt. Den Schluß des Buches bilden drei große zusammengefaltete Stammtafeln der Familien May, Pollmer und Beibler, die an der Innenseite des Rückens eingeheftet sind. Auf die ursprünglich vorgesehene Beigabe einer Bibliographie sämtlicher bis


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1912 erschienen May-Drucke ist verzichtet worden, diese Arbeit hat sich im Laufe der Forschungen so ausgeweitet, daß sie unter der gemeinsamen Verfasserschaft von Bartsch, Plaul und Wollschläger als gesonderte Publikation erscheinen wird.

   II. Die Ausstattung des umfangreichen Werkes erhebt keine bibliophilen Ansprüche. Es handelt sich um eine cellophanierte Paperback-Ausgabe; und der angehängte Text des Herausgebers ist ein faksimiliertes Typoskript, dessen Lesbarkeit allerdings der einer Druckschrift fast gleichkommt. Wir haben also ein Arbeitsbuch von der Art der im Universitätsunterricht heute gebräuchlichen »Studienausgaben« vor uns. Das ist dem Preis zugute gekommen. Gleichwohl sollte erwogen werden, einen Teil der Auflage in Leinen aufzubinden. Die Bibliotheken müssen das Buch ohnehin nachbinden lassen; und wer über May wissenschaftlich arbeitet und diese Ausgabe von nun an täglich benutzen muß, wird für eine größere Strapazierfähigkeit seines Exemplars auch die Mehrkosten eines dauerhaften Einbandes noch zu zahlen bereit sein.

   III. Inhaltlich läßt das Buch keine Wünsche offen, die man an eine kommentierte Textausgabe stellen kann. (Was zur zweiten Auflage von Mays Selbstbiographie etwa noch gesagt werden könnte, hat Bartsch in vorliegendem Jahrbuch nachgetragen). Plaul ist in jahrelanger Arbeit sämtlichen in der Selbstbiographie Mays erwähnten Ereignissen und Personen mit nachgerade detektivischem Spürsinn nachgegangen und hat alle veröffentlichten Quellen bis in die entlegenen Winkel der zeitgenössischen Presse ausgeschöpft, darüber hinaus aber auch noch viel unveröffentlichtes Akten- und Archivmaterial erschlossen. So gelingt es ihm, praktisch sämtliche relevanten Vorgänge exakt zu datieren und die zahlreichen Geschehnisse, auf die May ohne nähere Ausführung nur in wenigen Worten anspielt, in ihren Hintergründen zu erhellen. Das Ergebnis dieser umfassenden Überprüfung wird den überraschen, der mit früheren Beurteilern gewohnt war, Mays Selbstbiographie zwar hohe psychologische Aussagekraft, aber geringen objektiven Quellenwert beizumessen. Natürlich irrte May bei manchen Einzelheiten und Datierungen, namentlich wenn es sich um Ereignisse handelt, die er selbst nur vom Hörensagen kannte. Im übrigen aber kommt Plaul im abschließenden »Versuch einer Wertung« (S. 530-533) zu dem Resümee: »Der so ungeheuer phantasiereiche Schriftsteller hat mit dieser Selbstschilderung im Prinzip ein sehr ehrliches und vom festen Willen zur Wahrhaftigkeit durchdrungenes Bekenntnis abgelegt« (S. 532). Er bescheinigt ihm »die immerhin erstaunliche Tatsache eines durchaus gut funktionie-


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renden Gedächtnisses. Geradezu verblüffend, an wieviele und welche Details aus seiner Kindheit und Jugend sich der Greis noch zu erinnern wußte . . . Im Kern, in der Substanz sind diese Details, zumindest sofern sie sich auf äußere Ereignisse beziehen, unbedingt glaubwürdig. Das gilt auch für alle derartigen Zeugnisse aus der späteren Lebenszeit des Autobiographen« (S. 530/32).

   Man kann es also nach den Untersuchungen Plauls als gesichert ansehen, daß May, der in den neunziger Jahren seine eigene Person bei selbstbiographischen Äußerungen ins Phantastische und Mythische umzustilisieren pflegte und in der ersten Hälfte des nachfolgenden Jahrzehnts seine Vergangenheit aus begreiflicher Furcht vor der bürgerlichen Ächtung zu vertuschen versuchte, in den letzten Lebensjahren ein zuverlässiger Zeuge war, der zumindest in seinen publizierten Äußerungen niemals etwas bewußt Unrichtiges sagte (wenn er auch manches verschwieg, wozu ihm keine Stellungnahme abgefordert worden war). Das ist auch psychologisch durchaus plausibel: nachdem alle seine wirklichen oder vermeintlichen Verfehlungen in oft maßloser Übertreibung durch die Presse gegangen waren, konnte die vergleichsweise harmlosere Wahrheit May nur noch entlasten; auch konnte er es sich gegenüber seinen Gegnern nicht erlauben, sich Unwahrheiten nachweisen zu lassen.

   Für die biographische Forschung folgt daraus die bedeutsame Erkenntnis, daß auch die erstaunlich wenigen Angaben Mays in ›Mein Leben und Streben‹, die sich der Nachprüfung und konkretisierenden Aufklärung bis heute entzogen haben, als wahrscheinlich zutreffend angesehen werden müssen. Das gilt vor allem für die mehrfach bekräftigte Angabe Mays, schon ab 1863 erzgebirgische Dorfgeschichten und Humoresken veröffentlicht zu haben (vgl. S. 113, Anm. 113) (von denen kein vor 1875 liegender Druck bisher hat nachgewiesen werden können). Freilich wird es sich dabei kaum um unbekannte Werke Mays, sondern vermutlich allenfalls um Frühfassungen und Varianten der aus späteren Abdrucken bekannten Heimaterzählungen etwa von der Art gehandelt haben, wie sie Kühne am Beispiel einer »Ur-Wanda« zu rekonstruieren versucht hat (vgl. Mitt. der KMG, Nr. 21, S. 9 ff.). Auch Mays Ausführungen über seine Frühreisen dürften also stimmen, sofern man die Klarstellung Hoffmanns (Jb-KMG 1975, 265 ff.) berücksichtigt, daß nach damaligem Sprachgebrauch alles als »Ausland« galt, was jenseits der sächsischen Grenze lag (zustimmend Plaul, Anm. 137); der Umstand, daß May nirgends von außereuropäischen Reisen spricht, ist sogar ein gewichtiges Indiz  g e g e n  deren auch aus anderen Gründen nicht mehr aufrechtzuerhaltende Annahme. Die


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sonst nach dem Kommentar Plauls noch verbliebenen Wissenslücken sind gering: So ist es immer noch nicht gelungen, jenen »Waschzettel« Pustets aufzufinden, der Mays Bruch mit dem ›Deutschen Hausschatz‹ verursachte (S. 235, Anm. 238); und von den unerlaubten und von May verbotenen Nachdrucken der Reiseerzählungen durch den Benediktinerorden (S. 292, Anm. 355), bei denen es sich vermutlich um eine Übersetzung gehandelt hat, ist bis heute keine Spur entdeckt worden. Gleichwohl werden beide Angaben nach dem Gesagten auf Wahrheit beruhen.

   IV. Der Raum verbietet es, auf die neuen Funde, die Plaul gelungen sind, hier im einzelnen einzugehen. Die wichtigste Entdeckung ist wahrscheinlich der Nachweis zweier wissenschaftlicher Quellen, die May seinen psychiatrischen und kriminalpolitischen Darstellungen zugrundegelegt hat. Durch eine umfangreiche Gegenüberstellung von Zitaten kann Plaul (S. 521-529) überzeugungskräftig dartun, daß die packende Schilderung, die May von seinen »Dämmerzuständen« und von den »Stimmen« gibt, denen er während der Zeit seiner Straftaten unterworfen gewesen sein will, sinngemäß an Ausführungen angelehnt ist, die sich in dem damals führenden Lehrbuch von Griesinger über ›Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten‹ (3. Aufl., 1871) finden. Man wird daraus freilich nicht den Schluß ziehen dürfen, daß May etwa die von ihm behaupteten abnormen Bewußtseinszustände erst nachträglich zum Zwecke seiner Entlastung erfunden und dem Lehrbuch »nachgestaltet« hätte. Dagegen spricht neben der schon erwähnten Glaubwürdigkeit des alten May vor allem sein Werk, dessen Figuren von früh an als widerstreitende »Stimmen«, d. h. als verselbständigte Persönlichkeitszüge der  e i n e n  Person ihres Autors, zu verstehen sind; auch hat May in ›Et in terra pax‹ (1901) und im ›Geldmännle‹ (1903) sehr ähnliche Spaltungserscheinungen zu einer Zeit dichterisch behandelt, als er mit einer Aufdeckung seiner Straftaten noch keineswegs rechnete und an die Abfassung einer Selbstbiographie noch nicht dachte. Man wird also annehmen dürfen, daß May damals wirklich an seelischen Störungen gelitten hat, die den bei Griesinger geschilderten annähernd entsprachen, und daß er die Literatur beigezogen hat, um seine Darstellung auch gegen fachliche Einwände absichern zu können (vgl. auch Plaul, S. 529). In ähnlicher Weise dürfte May in der Reformschrift von Rudolf Quanter über ›Deutsches Zuchthaus- und Gefängniswesen‹ (1904/05), das sich wie das Buch von Griesinger in seiner Bibliothek befand und von ihm benutzt worden ist, nur die Auffassungen bestätigt gefunden haben, die er sich zum guten Teil schon selbst gebildet hatte; denn


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Zuchthausreminiszenzen Mays, die aus sehr früher Zeit stammen (vgl. den verschollenen Text, über den ich im Mitt.-Bl. der KMG, Nr. 15, S. 8/9 berichtet habe), verraten ganz ähnliche Ansichten.

   V. Der von Plaul herausgegebene Band bietet aber nicht nur der Sekundärliteratur wesentlich Neues. Er bringt auch seit 1910 zum erstenmal wieder den Gesamttext von Mays Biographie. Zwar hat die Bamberger Ausgabe sich nach den einschneidenden Bearbeitungen der Vorkriegszeit schrittweise dem Urtext wieder angenähert, aber es fehlen immer noch u. a. die 30 Schriftsatzseiten, die sich mit der Person von Rudolf Lebius beschäftigen (S. 259-290). Es ist gut, daß dieser Text wieder greifbar ist, nachdem nun auch Lebius seit 30 Jahren im Grabe ruht und die juristischen Streitigkeiten, die ursprünglich die Streichung dieser Passage erforderlich gemacht hatten, historisch geworden sind. Denn Lebius hat sich nun einmal recht gewaltsam in die Biographie Mays hineingedrängt und wird als der wirkungsreichste Gegenspieler seines Alters in der Literaturgeschichte fortleben. Die Geschichte vom Leben und Streben dieses Mannes wird noch zu schreiben sein. Wie May ihn sah und seine schwer ergründbaren Motive deutete, wird aber immer wichtig bleiben.

   Die Wiedervorlage der Urausgabe gestattet außerdem einen klareren Blick auf die Gesamtstruktur des Buches. Es enthält eigentlich nur bis zum Schluß des Kapitels ›Bei der Kolportage‹ (S. 207) eine chronologisch fortlaufende Biographie und spielt insoweit auf zwei Ebenen: Der Schilderung der biographischen Fakten, ist ein Deutungsschema im Stil des Spätwerks untergelegt, das das »Karl-May-Problem« als »Menschheitsproblem« (S. 300) verständlich machen soll. Diesem Zweck dienen die fiktiven Bücher vom ›Hakawati‹ (S.22) und von der ›Spaltung des menschlichen Innern‹ (S. 177) ebenso wie die parabolischen Märchenmotive von Ardistan und Dschinnistan, von der Geisterschmiede, von der verlorengegangenen Menschenseele und von Gott, Mensch und Teufel, die das ganze Buch durchziehen und dem traurigen Schicksal Mays jene höhere Rechtfertigung geben sollen, deren er zum Überleben bedurfte. Wer sich mit der Selbstbiographie befaßt, muß sich also darüber klar sein, daß hier von vornherein Wahrheit und Dichtung, Realitätsschilderung und gleichnishaft überhöhende Interpretation absichtsvoll ineinandergreifen. Das »Leben« spielt auf der realen, das »Streben« auf einer ideellen Ebene. Das ändert, wie gesagt, an der relativen Zuverlässigkeit in den sachlichen Angaben durchaus nichts. Man wird aber bei einer Gesamtwürdigung des Buches, die hier nicht gegeben werden kann und die auch Plaul nicht über den Bereich des Biographisch-Fakti-


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schen hinaus versucht, darauf Bedacht nehmen müssen: Wer Deutungselemente für real nimmt, würde von vornherein in die Irre gehen.

   Die vergleichsweise kunstvolle Anlage des Werkes zerbricht jedoch in den letzten drei Kapiteln (S. 208-320), die sich der Form eines zunehmend erregter werdenden Plädoyers nähern und insoweit ganz konsequent den nun wieder eingefügten Prozeßschriftsatz, Rechtsausführungen zu Plagiatsproblemen mit langwierigen Zitaten (S.221 ff.) und einen kämpferisch-apologetischen Zeitschriftenartikel Mays (S. 295 ff.) in sich aufnehmen. Offenbar besaß May zu den Ereignissen seiner späten Jahre noch nicht die Distanz, die ihm eine andere Darstellungsform ermöglicht hätte; auch haben die Auswirkungen des Charlottenburger Prozesses vom 12. 4. 1910 die Konzeption ersichtlich verändert und aus dem Rechenschaftsbericht, der an höhere Instanzen gerichteten Beichte und der Rede an die Nachwelt (vgl. S. 11), eine erbitterte Anschuldigung für die Mitwelt werden lassen. Dieser künstlerische Bruch tut aber der Lebenswahrheit des Buches keinen Abbruch. Man sieht nicht ohne Ergriffenheit, wie May im letzten Kapitel (S. 299 ff.) den Faden der ursprünglichen Konzeption wieder aufzunehmen versucht, ihn aber schon nach wenigen Seiten (S. 302 ff.) unter dem Druck seiner Prozeß- und Pressefehden wieder verliert. Auch an das endlich in Frieden und Liebe erlöste Leben, das ihm sein Märchen von Sitara suggerierte (S. 7), glaubte er wohl am Schlusse nicht mehr, wo er von den unter den Augen der Niedrigkeit, der Armut und der Not geborenen Menschen sagt: Der Widerstand, den sie zu überwinden haben, wird ein grausamer, ein unerbittlicher sein, und ehe sie, da oben angekommen, ihren Siegesruf erschallen lassen können, werden sie ermattet zusammenbrechen, um die Augen für diese Welt zu schließen (S. 301).

   VI. Plaul hält sich an die überprüfbaren Fakten der Biographie, und auf diesem Gebiete verdient seine Arbeit Bewunderung. Sie hat die Leidenschaft für das Dokumentarische, die auch sonst in der Literaturwissenschaft der letzten Jahre wieder einflußreich geworden ist. Eine Kritik kann nicht bei der Leistung Plauls, deren Fleiß und Präzision unbestreitbar sind, einsetzen, sondern allenfalls die Methode selbst, den »infinitesimalen Faktenpositivismus« einer solchen »kriminalistischen Sekundärliteraturs-Akribie« für unfruchtbar erklären (es sind dies Termini, die Florian Fälbel in der Frankfurter Rundschau vom 1. 11. 1975 anläßlich der neuerdings wieder modernen Dichter-Chroniken verwendet, wie wir deren eine auch für das Leben Mays einmal herstellen zu können hoffen). Man müßte sich dann auf den Standpunkt stellen, es »so genau« nicht wissen zu wollen; Jeziorkowski


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hat denn auch (in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 11. 10. 1975) schon bei Besprechung der letzten Jahrbuch-Arbeit Plauls hinsichtlich biographischer Einzelheiten die Frage gestellt, »ob derlei zu wissen sich lohnt«.

   Ein solcher Einwand, der die Gründlichkeit einer Arbeit zu einem Mangel verkehrt, träfe die vorliegende Ausgabe aber nicht zu Recht. Denn abgesehen davon, daß bei May Leben und Werk enger aufeinander bezogen sind als bei Autoren, die mit distanziertem Kunstverstand arbeiten; abgesehen auch davon, daß Mays dramatischer Lebenslauf als ein singulärer und lehrreicher literarisch-psychologischer Grenzfall schon an und für sich hohes menschliches und wissenschaftliches Interesse beansprucht, erfordert Mays außerordentliche Wirkung eine genaue Untersuchung ihrer Entstehungsbedingungen. Die immer noch ausstehende, sozial- und kulturhistorisch umfassend fundierte »große Biographie« Mays, die eines Tages aus der Arbeit der Karl-May-Gesellschaft herauswachsen soll, kann nur auf der Grundlage exakter historischer Detailinformationen entstehen, wie sie Plaul in diesem Kommentar mit unermüdlicher Sorgfalt zusammengetragen hat. Wir schulden ihm und dem Verlage Olms, der dieses Projekt über lange Jahre geduldig und fürsorglich gefördert hat, bedeutenden Dank. Die vorliegende Ausgabe, die künftig für jede Beschäftigung mit Karl May als Standardwerk gelten muß, ist neben der Monographie Hans Wollschlägers (die im Frühjahr 1976 als Neuausgabe im Diogenes-Verlag wieder erscheint) die bisher bedeutendste Leistung der biographischen May-Forschung.


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Gert Ueding, geb. 1942, Schüler und früherer Assistent Ernst Blochs am Philosophischen Seminar der Universität Tübingen, seit 1974 an der Universität Oldenburg als Professor für Literaturgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Literatursoziologie, ist schon im Jahre 1973 mit einer Arbeit über »Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch und Kolportage« hervorgetreten, die der May-Forschung wichtige Impulse gegeben hat (vgl. die Rezension von Stolte, Jb-KMG 1974, 244 ff.). Die Abhandlung, die er jetzt vorlegt, ist nur »der vorgreifend skizzierte Grundriß eines Buches über Traum und Wirklichkeit in der deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts«, an dem Ueding noch arbeitet (S. 251, Anm. 1); auch dieses Projekt, dessen Hauptgedanken hier erstmals vorgetragen werden, ist für die May-Forschung von besonderer Bedeutung.

   Primär geht es Ueding freilich nicht um Karl May, sondern um ein


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viel größeres Thema: um eine »Kunsttheorie aus der Erfahrungsweise des Traums«, für die Ernst Bloch eine philosophische Grundlegung geliefert hat, die aber einer literaturwissenschaftlichen Ausarbeitung noch harrt (S. 252). »Die romantische Auffassung von der Kunst als Traumwerk«, die durch psychologische und psychoanalytische Untersuchungen bestätigt werde, schließt, so lehrt Ueding, »ganz bestimmte Konsequenzen ein, die sowohl jeder ... Nachahmungstheorie wie allen ontologischen Kunstbestimmungen widersprechen. Kunst ist ein Produkt der Phantasietätigkeit, in der die Erfahrung des Subjekts in eine Form gebracht wird, die der vorhandenen Realität widerspricht und einen von den Konventionen, Normen und Gesetzen der Gesellschaft noch nicht total geregelten Modus interpersonaler und Welt-Erfahrung ermöglicht« (S. 251/52). Die Kunst erhebt in einer entfremdeten Welt den »Anspruch, die Wirklichkeit in der Modalität des Traums zu erfahren, ihr so das Bild ihrer eigenen humanen Möglichkeiten vorzuspiegeln« (S. 252). In dem Charakter der »Dichtung als Wunscherfüllung« (um das bekannte Wort Hermann Hesses über das Werk Mays aufzunehmen) sieht Ueding nicht nur, wie es die Psychoanalyse vielfach getan hat, die »Regression auf eine infantile Entwicklungsstufe«, sondern zugleich die »Konstitution eines neuen Weltverhältnisses« (S. 254). »Der literarische Tagtraum ist die Geschichte des Träumenden vom Subjekt, das er sein könnte, unter Bedingungen, die sein könnten. Die Literaturgeschichte ist die unerschöpfliche Schatzkammer solcher Möglichkeiten, von denen keine schlechter ist als die dem Menschen in seiner Geschichte objektiv-sozial eingeräumten. Literatur als Traum erfüllt Sozialisationsaufgaben nicht im Hinblick auf ein bestehendes soziales System, sondern darüber hinaus auf ein mögliches« (S. 260).

   Traumliteratur dieser Art gibt dem einzelnen, der die bestehende Welt als ein »Gefängnis ohne Gitter« empfindet (S. 257), »die Kraft, sich zu behaupten« (S. 261). Ihre Wirkung ist »höchst ambivalent; sie verwandelt die Menschen in Beobachter ihrer selbst, die teilnahmslos betrachten, was ihnen täglich angetan wird, aber sie verhindert auch, daß das Individuum in seiner Totalität zum angepaßten Funktionsteil einer entfremdeten, inhumanen Gesellschaft wird« (S. 257). »Traumlosigkeit . . . in diesem Sinne bedeutet totale psychische Verelendung der Individuen« (S. 261).

   Ein »Traumliterat« par excellence nun ist Karl May, dem somit in dieser Kunsttheorie eine weit größere Bedeutung zukommt, als ihm die Literaturwissenschaft sonst je hat zuerkennen mögen. »Das herausragende Vorbild in der deutschen Literatur dieses Jahrhunderts


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ist der Schriftsteller Karl May insofern, als er es mit einer kaum glaublichen Energie unternahm, Literatur in Leben zu verwandeln, seine Phantasien in der Realität zu verkörpern. Der hämische Witz, mit dem bis heute das Scheitern dieses Experiments verfolgt wird, ist die Kehrseite der enttäuschten Sehnsucht, mit der die meisten das Erbe ihrer Kindheit liquidieren müssen, weil sie sonst nicht in der Lage wären, die ihnen aufgezwungene Pseudoidentität zu ertragen. Das Experiment war sicher von Anfang an zum Scheitern verurteilt, bewertet man seine Leistung nur hinsichtlich der historischen Realität, die keine Bedingungen mehr dafür bereitstellte. Immerhin aber gelang es einem Schriftsteller, seine Selbstidentität zurückzugewinnen, die ihm bereits als Kind ›geraubt‹ worden war (vgl. die Motive von Kindesraub, Kindestausch), und die diesen Prozeß darstellenden Bewußtseinsvorgänge und Erlebnisreihen in ihrer eigenen Modalität sprachlich einzubilden. ›Selbst-Identität ist die Geschichte, die man seinem Selbst darüber erzählt, wer man ist‹ (R. D. Laing). Die Geschichte, die Karl May sich selber und seinem Publikum unermüdlich erzählte, ist also nicht irreal (ein alberner Vorwurf, der schließlich die gesamte Kunst und Literatur träfe), sondern Projektion einer inneren Erfahrung nach außen . . . Der literarische Traum entfaltet eine ganz eigene Art von Wirksamkeit als treibende Kraft in der Lebensgeschichte der Individuen und schlägt als Kritik am gegenwärtigen Leben dessen Änderung vor« (S. 257/58).

   Ob Uedings Konzeption die Seins- und Wirkungsweise von Kunst schlechthin erklären kann, stehe dahin. Vielleicht läßt sich das Gesamtphänomen »Kunst« überhaupt nicht auf eine einheitliche Formel bringen. Daß Uedings Theorie aber der Traumdichtung Mays gerecht wird und die trockenen und etwas hilflosen Bemühungen der bisherigen »Trivialliteraturforschung« um diesen Autor weit hinter sich läßt, scheint mir unbezweifelbar. May selbst hat sich in seinen spätesten Äußerungen über sein Werk im Sinne Uedings ausgesprochen. Er wolle, schreibt er, das Innere seiner Leser vom äußeren Druck befreien ... Sie sollen empfinden und erleben, wie es einem Gefangenen zumute ist, vor dem die Schlösser klirren, weil der Tag gekommen ist, an dem man ihn entläßt . . . Sie sind Gefangene, ich aber will sie befreien. Und indem ich sie zu befreien trachte, befreie ich mich selbst, denn auch ich bin nicht frei, sondern gefangen, seit langer, langer Zeit (Mein Leben und Streben, 317/18). Von seiner Dichtung aber heißt es (vgl. in diesem Bande S. 241): Wir befinden uns über Allem, was uns kränkt und hindert. Unser Blick ist frei geworden . . . Und da, wo die höchsten Berge ragen, ist es, als ob hinter ihnen in


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rosigem Schein die Zukunft des Menschengeschlechts aufsteige, um uns, die ihr Entgegeneilenden, zu begrüßen. Das ist geradezu eine metaphorische Umschreibung jener Ästhetik des Vor-Scheins, für deren Grundlegung Ueding so Bedeutendes geleistet hat. Ich möchte sogar sagen: Die gesamten kunsttheoretischen Äußerungen des alten May enthalten hinter den verfremdenden Formeln idealistischer Schablonen und mystischer Religiosität vor allem  d i e s e n  Gedanken. Die oft belächelten himmlischen Wahrheiten Mays sind nichts als Träume von einer besseren Welt. Und ich denke mir, daß Ueding, der (wie schon sein Lehrer Bloch) noch in »Glanz und Elend« dem Spätwerk Mays sehr reserviert gegenüberstand, bei weiterer Ausarbeitung seiner Ästhetik gerade den großen Romanen des alten May wird Beachtung schenken müssen.

   Natürlich stellt sich die Frage, was aus alledem für die literarische Wertung folgt. Ueding meint: »Mit der einheitlichen Konzeption der Literatur . . . als bestimmte Weise tagträumerischer Produktivität . . . ist die Frage der literarischen Wertung noch nicht entschieden - wenn auch traditionelle Maßstäbe von vornherein entscheidend relativiert werden. Wie sich der linear übersetzte Traum im Fallbericht eines Psychoanalytikers vom kontrollierten Tagtraum eines orientalischen Märchenerzählers unterscheidet, so gibt es auch Unterschiede in der Traumliteratur hinsichtlich der Intensität, Verfeinerung, Vielfalt und Weite, die der literarische Traum unserem Bewußtsein eröffnet«(S. 268/69). Nach einer kurzen Skizze der hier für die Bestimmung und kategoriale Erfassung von Wertunterschieden noch zu leistenden Arbeit schließt er mit den Worten: »Zweifellos wird damit auch manches Stück verachteter Traumliteratur neuer Wertschätzung zugeführt werden können« (S. 269).

   Zusammenfassend wird man sagen dürfen, daß die Arbeit Uedings für die literarische Würdigung Mays wichtige neue Perspektiven eröffnet. Wenn Ueding der Literatur »die Aktivierung potenzieller latenter Bewußtseinsformen durch bestimmte Reizausübung« abverlangt (S. 268), und wenn er in diesem Zusammenhang Prousts Romanwerk, Mays Autobiographie und Arno Schmidts ›Zettels Traum‹ in einem Atemzuge nennt, so geraten Mays »längere Gedankenspiele« (um mit Arno Schmidt zu sprechen) damit in Nachbarschaften, wo man sie früher nicht gesucht hätte. Selbst für die Beurteilung des »Jugendschriftstellers« May vom pädagogischen Standpunkt aus (auf die Ueding nicht eingeht) ergeben sich ganz neue Ansätze. Wenn Lehrer so gern tadelnd bemerkt haben, daß Mays vermeintlich »ungesunde Phantastik« dem Jugendlichen das Hinein-


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wachsen in die Realität und die Erwachsenenwelt erschwere, so verkehrt sich dieses Argument in sein Gegenteil, wenn man die Aufgabe der Literatur gerade darin sieht, konformistische Einpassung zu verhindern, das Bewußtsein für Erfahrungsmöglichkeiten außerhalb der genormten Alltagsrealität zu sensibilisieren, ihm jugendliche Entwicklungsfähigkeit zu erhalten und so schöpferische Kräfte freizusetzen, die ohne den »Traum« verkümmern würden. Daß Mays Werke diese Wirkungen tatsächlich haben können, halte ich nach langer Beobachtung für sicher (vgl. meine Bemerkungen in Jb-KMG 1971, 89, mit S. 107, Anm. 93). Doch das ist ein weites Feld. Wir dürfen seiner Bearbeitung in dem angekündigten Buch Uedings über ›Traum und Wirklichkeit‹ mit größter Spannung entgegensehen.


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Hohendahl, geb. 1936, Direktor der germanistischen Abteilung an der Washington University in St. Louis, hat seine May-Abhandlung auf schmalem Material aufbauen müssen. »Da die älteren Gesamtausgaben nicht zugänglich waren«, mußte er vorwiegend nach Taschenbuchtexten und Ausgaben der Heidelberger Karl-May-Bücherei von 1949/50 zitieren, die vermutlich noch seiner Knabenbibliothek entstammen; selbst ›Winnetou, Bd. IV‹ wird nach der unglücklichen (weil in die Substanz eingreifenden) Bearbeitung angeführt, die der Karl-May-Verlag später aus dem Handel gezogen und seit 1960 durch eine dem Original wieder weitgehend angenäherte Fassung ersetzt hat. An Sekundärliteratur stand neben der letzten Ausgabe des Bandes ›Ich‹ nur die Monografie von Forst-Battaglia und die Dissertation von Willenborg in der Erstfassung des Jahres 1967 zur Verfügung.

   Trotz dieses Handikaps ist dem Verf. eine recht differenzierte Würdigung gelungen. Mit Recht verzichtet er von vornherein auf das weithin übliche, aber dem Gegenstand wenig angemessene Verfahren, Mays Schilderungen und ihren Wert an der amerikanischen Realität des vergangenen Jahrhunderts zu messen. »Die zunehmende Ablösung der Indianergeschichte von der Wirklichkeit ist die Voraussetzung für ihre Internationalisierung . . . Die Enthistorisierung erlaubt dem Autor (der späte May war sich dessen vollkommen bewußt), die Überlieferung nach den Bedürfnissen seiner Leser umzugestalten. So wäre es auch nicht sinnvoll, May die historischen und ethnologischen Irrtümer anzurechnen . . .« (a. a. O. 230)

   Hohendahl deutet Karl Mays Amerika-Romane als eine verschlüsselte Darstellung der sozialen Probleme seiner Zeit. Er kann sich dabei teils auf die Selbstinterpretationen des alten May (die Ereignisse


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spielen sich zu Hause ab, die Fremde ist Imagination), teils auf die in der Germanistik gegenwärtig sehr beliebte Methode berufen, literarische Werke als Widerspiegelung der ökonomischen Verhältnisse ihrer Epoche zu verstehen. Ausgangspunkt Hohendahls ist Mays antikapitalistischer Affekt, wie er in der Tat in seiner Verachtung des »deadly dust« und seiner Abneigung gegen das als profitgierig verstandene Yankeetum (verkörpert etwa in Mays »Ölprinzen«) deutlich genug zum Ausdruck kommt. »Wo immer Geld in der Form von verborgenen Schätzen, Kriegs- oder Eisenbahnkassen sich gehäuft findet, sind die Bösen nicht fern und droht den Unschuldigen Unheil. Geld repräsentiert eine Form von Eigentum, die nicht durch produktive Arbeit erworben ist; daher haftet ihm etwas Fatales an. Wer ihm nachjagt, wird äußerlich wie innerlich entstellt. Bezeichnenderweise streben nur Weiße nach Geld, während die Indianer seinen relativen Wert einzuschätzen wissen« (a. a. O. 232). Demgegenüber sieht Hohendahl in den Indianern »eine Gruppe mit Eigenschaftskomplexen . . ., die auf die Massenauffassung des späten 19. Jahrhunderts verweist . . . Mays Indianer sind nicht nur die Unterdrückten, zur Ausrottung Verurteilten - und als solche verdienen sie die Sympathie des Lesers -, sie sind zugleich potentiell rebellische, in ihrer kämpferischen Leistung und Gewalt bedrohliche Kräfte« (a. a. O. 239). Hohendahl beschreibt dann Mays ambivalente Einstellung gegenüber dieser Schicht: »einerseits ein genuines Verständnis für die Armen, besonders für die verkrüppelnde und niederdrückende Gewalt von Entbehrung, auf der anderen Seite die Abneigung gegen die dunklen Kräfte, das Ungezügelte, Unkontrollierbare der Massen« (a. a. O. 239); ihnen ist deshalb »das idealisierte Autoren-Ich«, Old Shatterhand, mit der Gruppe der Westmänner helfend, erziehend und notfalls auch strafend zur Seite gestellt. Hohendahl sieht also die Wildwest-Welt Mays als »ein Panorama, in das die grundlegenden Konflikte seiner Zeit eingezeichnet werden konnten« (a. a. O. 238).

   Besonders bemerkenswert scheint mir, daß Hohendahl in dieses Deutungsschema gerade auch das Spätwerk Mays einbezieht, vor dem soziologisch orientierte Interpreten sonst oft verständnislos kapitulieren. Für Hohendahl »bietet May im Spätwerk nicht mehr oder weniger an als eine Lösung der sozialen Frage, indem er sie in eine ethische umdeutet« (a. a. O. 240). Und speziell über ›Winnetou IV‹: »Nicht weniger als eine herrschaftsfreie Welt wird in einem neugeschaffenen Mythos vor Augen gestellt« (a. a. O.238). Die utopische Konzeption Mays schildert Hohendahl zusammenfassend so: »Die rebellischen und unberechenbaren Kräfte, deren tiefere Legitimität wiederum


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nicht bestritten wird, unterwerfen sich im Spätwerk einem neuen ethischen Gesetz. Dessen Anwalt ist . . . nicht die herrschende soziale Gruppe, d. h. die profitgierigen Yankees. Diese werden vielmehr ausdrücklich kritisiert. May konstruiert zwischen den wirtschaftlichen Interessen der Bourgeoisie und ihrer Ethik (dem Christentum) einen Gegensatz, dergestalt, daß die vernehmbare Botschaft nicht christliche Duldung der bestehenden Zustände ist, sondern die Konstruktion einer neuen Gemeinschaft, die frei ist von solchen Widersprüchen. Sollen die Massen, d. h. auf der Ebene der Handlung die Wilden, gerettet werden, so ist die Herrschaft der Profitjäger zu beseitigen. Indessen geschieht dies nicht durch deren Liquidation, sondern durch die innere Verwandlung der Massen. Schließlich werden sich dann, wie das Beispiel Santers zeigt, auch die hartherzigen Kapitalisten der neuen Lehre anschließen. Wo alle Menschen sich ändern, entsteht der herrschaftsfreie Raum, von dem der alte May träumt« (a. a. O. 240).

   Das ist eine immerhin umfassende und originelle Deutung. Sie ruht, obwohl dies nicht ausdrücklich ausgesprochen wird, auf marxistischem Grunde, und von daher ergibt sich auch die abschließende Kritik: »Mays Romane tragen das Janusgesicht bürgerlicher Kultur im späten 19. Jahrhundert . . . Die allgemeine Menschlichkeit, die Mays Spätwerk predigt, muß verhüllen, daß es in der realen Gesellschaft die humane Gemeinschaft nicht gibt, und die postulierte Freiheit muß verdecken, daß der Klassengegensatz fortbesteht« (a. a. O. 242). Im übrigen aber ist Hohendahl geneigt, May keineswegs gering einzuschätzen. Im Vergleich mit der »repräsentativen bürgerlichen Literatur« fragt er ausdrücklich, »ob die Zeitgenossenschaft sich nicht als stärker und bedeutsamer erweisen könnte, als die unterstellten Qualitätsunterschiede« (a. a. O. 239). Unter Berufung auf Ernst Bloch, der May bekanntlich einen »der besten deutschen Erzähler« genannt hat (Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt 1962, 170), meint er, daß »die Akten über den Fall Karl May nicht geschlossen« seien. Bloch habe »die eingeschliffenen Vormeinungen über Mays literarischen und ethischen Wert« durchbrochen. Auch hier bahnt sich also ein Wandel in der literarischen Beurteilung Mays an.

   Vergleicht man mit diesem Entwurf die Deutung, die Sehm (in diesem Jahrbuch) den Amerika-Romanen Mays angedeihen läßt, so zeigt sich, über welch erfreulich breites Spektrum von Interpretationsansätzen die May-Forschung inzwischen verfügt. Zur Konzeption Hohendahls wäre, wenn der Raum es gestattete, vieles zu sagen, Zustimmendes, Einschränkendes und Modifizierendes. Wenn man Mays »Botschaft« auf gesellschaftspolitische Aussagen reduziert, so ist


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das wohl ein wenig zu »abstrakt«, d. h. zu sehr abgelöst von den psychischen Grundlagen seiner Vorstellungswelt. May war zeitlebens kaum in der Lage, soziale Zusammenhänge unbefangen zu analysieren, weil ihn die Realität zu sehr leiden ließ, als daß er sie unverzerrt hätte ansehen können. Die seelischen Konflikte freilich, die ihn zum Schreiben zwangen, hatten zum guten Teil angebbare soziale Ursachen, die sich in psychisch vermittelter Form in den Werken Mays wiederfinden lassen; ebenso wie Mays zunehmende Einsicht in den Mikrokosmos seines Inneren und deren literarische Projektion ins Außenweltliche und Menschheitliche soziale Folgerungen zeitigte, die dem alten May durchaus bewußt waren. Mays späte Romane - von ›Friede‹ bis ›Winnetou IV‹ - sind in der Tat (unter anderem) utopische Entwürfe gesellschaftlicher Idealzustände. Auch war die Auseinandersetzung mit dem Problem revolutionärer Gewalt ein Hauptthema Mays. Winnetou (Bd. 7, 497 ff.) wie noch im Spätwerk der Scheik der Aussätzigen (heute Bd. 48, Erz. 9) stehen vor der Frage, ob sie die Unterdrückten in den bewaffneten Aufstand führen sollen. May lehnte diesen Weg ab, weil er ihm nicht zu jener gewalt- und aggressionsfreien Gesellschaft zu führen schien, die ihm als erlösendes Ziel vor Augen stand. Die von ihm statt dessen entwickelte Konzeption des »kampflosen Sieges« und des versöhnenden Friedens, wie sie in ›Babel und Bibel‹, ›Ardistan und Dschinnistan‹ und ›Winnetou IV‹ demonstriert wird, ruht aber auf so vielen (von der May-Forschung bei weitem noch nicht aufgearbeiteten) Einsichten in die menschliche Triebdynamik, daß man sich hüten sollte, sie vorschnell als naive Träumereien zu verwerfen. May hielt sich nicht ganz zu Unrecht für einen »Völkerpsychologen«.

   Diese wenigen Andeutungen sollen zeigen, daß Hohendahls Ansatz nicht ein (wie es auf den ersten Blick vielleicht scheinen möchte) weit hergeholtes ideologisches Deutungsschema ist, sondern durch die Substanz des Mayschen Werkes legitimiert wird. Man wird das Thema noch reicher instrumentieren und die Vermittlung des Gesellschaftlichen durch die individuelle psychische Erfahrung bei May detaillierter herausarbeiten müssen. Dafür gibt die verdienstvolle Studie Hohendahls einen wichtigen Anstoß.


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Erich Loest, geb. 1926, seit 1950 als freischaffender Schriftsteller in der DDR lebend, beschäftigt sich in der Geschichte, die er an den Anfang seines Novellenbandes gestellt hat, mit dem Aufenthalt Mays im Zuchthaus Waldheim, den Hainer Plaul in diesem Jahrbuch


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eingehend beschrieben hat. Das Hauptmotiv der Erzählung ist die »Heilung« Mays durch den Katecheten Kochta, der ihn zum Schreiben anhhielt und es ihm dadurch ermöglichte, seine Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer in sozial zulässiger Weise zu verwirklichen. »Auf dem Papier kann May der große Mann sein, der er sein möchte, ohne daß er stehlen muß« (S. 29). Er kann nach diesem pädagogischen Rezept Kochtas seine »Dämonen aus sich herausschreiben«. Im übrigen läßt Loest Karl May sich an seine Jugend und seine Straftaten erinnern - auf diese Weise die Vorgeschichte nicht ungeschickt einblendend -, er läßt ihn nach Art der Reiseerzählungen fabulieren und zum Schluß durch Vermittlung Kochtas und des Vaters May an den Verleger Münchmeyer geraten, der über seinen neuen Autor entzückt ist: »Solch ein Naturtalent wird nur alle hundert Jahre geboren« (S. 37).

   Die Geschichte ist flüssig und mitfühlend erzählt und im wesentlichen (wenn auch nicht immer im Detail) um historische Richtigkeit bemüht; die Korrekturen der älteren Überlieferung, die wir den Forschungen Plauls verdanken, hat Loest freilich nicht berücksichtigen können. Literarisch ist die Erzählung anspruchslos, psychologisch und in der Milieuschilderung oberflächlich, sprachlich auf journalistischem Niveau. So wäre etwa Mays seelische Verfassung (sowohl bei der Begehung seiner Straftaten als auch im Zuchthaus) ein glänzendes Sujet für eine differenzierte psychologische Novelle, wie sie etwa der frühe Arnold Zweig hätte schreiben können; aber der Verfasser begnügt sich damit, Mays seelische Verstrickungen auf »böse Geister« und »Dämonen« zurückzuführen, die ihn beherrscht hätten und von denen er sich durch das Schreiben habe befreien können. Auch hätte das Zuchthaus Waldheim bei einer exakten Recherchierung der damals dort herrschenden Verhältnisse, wie jeder Leser dieses Jahrbuches leicht sehen kann, dem Autor einer sozialkritischen Novelle Anlaß zu beklemmenden Zustandsschilderungen liefern können. Aber dergleichen hätte wohl die Ambitionen des Autors überstiegen, den an dem Stoff - wie dies bei Schriftstellern auf Grund eigener Erfahrung naheliegen mag - vermutlich in erster Linie die therapeutische Funktion des Schreibens interessierte. Für den westdeutschen Leser bleibt bemerkenswert, daß Karl May, »der berühmt-berüchtigte Schriftsteller« (so die vorsichtige Kennzeichnung des Klappentextes), bei den Autoren der DDR, in der seine Werke nicht aufgelegt werden, auch heute unvergessen ist; der mit Loest gleichaltrige Hermann Kant hat May schon vor Jahren eine kleine Huldigung dargebracht (vgl. Mitt.der KMG Nr. 14, Dez. 1972, S. 32).





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