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MARTIN LOWSKY

Der kranke Effendi ·
Über das Motiv der Krankheit in Karl Mays Werk



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Es ist ein Gemeinplatz festzustellen, daß die Helden in Karl Mays klassischen Reiseerzählungen kaum einmal krank sind, und ebenso naheliegend sind die Erklärungen dafür. Zum einen ist es für einen Abenteuerhelden ein Charakteristikum, aktiv, stark und gesund zu sein, so wie die Besonderheit einer Abenteuererzählung in ihrem Bewegtsein liegt, in dem raschen Wechsel von Handlungen und Örtlichkeiten. Sodann hat sich May in die Tradition aufklärerischer Schriftsteller einreihen wollen, die den Mythos vom »edlen Wilden« entwickelt und das Bild eines unverdorbenen vorzivilisatorischen Lebensraumes der zeitgenössischen Gesellschaft entgegengesetzt hatten. Freilich war diese sozialkritische Ansicht schon in ihrer Entstehungszeit von den Fakten relativiert worden, und selbst ihr Begründer Rousseau sah sie vorrangig als eine theoretische Konstruktion, deren historische Richtigkeit er selbst anzweifelte, die er aber für die Erziehung der Menschen und für sein persönliches Überleben in einer feindlichen Gesellschaft notwendig fand. Karl May ist bis in diese Einzelheiten hinein sein Nachfahre, auch wenn man bei ihm die distanzierten Reflexionen eines Rousseau vermißt, dessen Lehren aber ihm zumindest aus dem »Emile«, der sicherlich in seiner Lehrerausbildung behandelt wurde, bekannt gewesen sein müssen. Verlegte also May unter dieser Anleitung seine Abenteuer in außereuropäische und überseeische Gebiete, so war es für ihn folgerichtig, daß er seinen Helden dem Zeitgenossen als Vorbild in Gesundheit, Kraft und Ausdauer hinstellte. Daß May schließlich überhaupt den Rousseauschen Mythos aufnahm und durch seine Reiseträume den Rahmen errichtete, in dem er unbehindert Männer mit Muskeln. . . von Eisen und Sehnen von Stahl (1) schaffen konnte, erklärt sich aus der materiellen, psychischen und vor allem,


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damit eng verbunden, physischen Not des blinden Kindes Karl May im Weberelend des letzten Jahrhunderts. Die Gesundheit im Buch ist eine Wunscherfüllung.

Über diese allgemeine Gesundheit der Helden hinaus fällt uns dann etwas auf, das wir nicht mit diesen pauschalen Erklärungen fassen können, nämlich der Umstand, daß Mays Helden ihre Gesundheit und ihr Leistungsvermögen regelmäßig demonstrativ, ja penetrant herausstellen: sie zählen uns vor, mit wie wenigen Stunden Schlaf sie auskommen, sie rühmen sich im absolut unbegrenzten Ertragen körperlicher Schmerzen bei Verwundungen, Fesselungen und Marterungen, und sie zeigen uns, daß sie auch nach höchsten körperlichen Anstrengungen keinen Zustand der Schwäche kennen. Der Eifer, mit dem die Helden ihre grenzenlose Schaffenskraft und nicht zu stoppende Aktionsfreude nicht nur implizit durch ihr Tun, sondern auch verbal vortragen, schickt uns, verräterisch wie jede wortreiche Beteuerung, auf die Suche nach Zeugnissen, die gegen diese Schaffensfreude sprechen. Und in der Tat erweisen sich Mays Reiseerzählungen in ihrer Einstellung zum Tätigsein als ambivalent. Der Held, der im Freiraum kämpft und reitet ohne Unterlaß, schützt und hilft wie kein zweiter, ist derselbe, der hinausgereist ist ohne eigentliches Ziel, der sich seinen Verpflichtungen in der realen Umwelt entzogen hat und damit ein unsoziales Ausreißertum praktiziert. Wir erinnern uns hier, daß May bereits als Kind zu harter Lohnarbeit gezwungen wurde, und zwar nicht nur in der Erkenntnis des eigenen sozialen Status, also durch Einsicht in eine aktuelle Notwendigkeit, sondern darüber hinaus durch einen prügelnden Vater. also unter ödipalen Konflikten.(2) Hatte die Erfahrung der elenden sozialen Lage zu einem Traum vom Ausbrechen geführt, so verursachten die verinnerlichten Forderungen des Vaters Schuldgefühle vor diesem propagierten Ansatz zum Müßiggang. Die Einsatzfreude und Leistungsfähigkeit des Helden im Freiraum ist eine Reaktionsbildung auf die ersehnte Beseitigung des Zwangs zur Arbeit. Der der Arbeit in der Heimat entronnene Held muß in der Fremde pausenlos arbeiten.

Am Rande erwähnen wir, daß die Verbindung von Reisen und Schuldgefühl eine über den Fall May hinaus verbreitete Konstellation ist, für die er allerdings ein extremes Beispiel darstellt.


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Sigmund Freud hat sie an seiner eigenen Person entdeckt und, in dem berühmten Brief an Romain Rolland(3), auch unter Einbeziehung des sozialen Milieus seiner Kinderzeit gedeutet.

Die Ambivalenz in der Einstellung zum Tätigsein zieht sich durch Mays Reiseerzählungswerk und wird auch gerade in den Stellen sichtbar, wo der Held doch einmal eine Krankheit durchmacht und damit hochgradig untätig ist. Die bekannteste dieser Passagen, die als Ausnahmeerscheinungen in den Abenteuererzählungen einer Betrachtung wert sind, ist das wochenlange Krankenlager Old Shatterhands vor der Blutsbrüderschaft im 1. Band von »Winnetou«. Sie paßt nicht in das Bild des gesunden Abenteurers, läßt sich aber gleichwohl rechtfertigen. Denn Old Shatterhand ist hier noch Anfänger, beginnt erst seine Laufbahn als Westmann, und er, der Jüngere, ist auch nicht mit dem Erzähler identisch. May waren diese Bedingungen bewußt, denn er hat - ein Beleg übrigens für sein künstlerisches Vermögen in der ersten Hoch-Zeit seines Schaffens - diese zeitlich letzte Möglichkeit Old Shatterhands, krank zu sein, wirkungsvoll ausgenutzt. Das Krankenlager, auf dem der Ich-Held ohne Bewußtsein liegt, ist die Darstellung des Übergangs zwischen Zivilisation und Wildnis, sie ist Todesschlaf und Genesungsschlaf zugleich. Das Ich entschwindet den Kameraden, die aus dem Osten stammen, und wacht bei Nscho-tschi, dem Indianermädchen, auf. Dieser Schlaf ist damit auch das Zwischenstadium von der Realität zur Fiktion: Old Shatterhands Feldmessertätigkeit meint Alltagsarbeit, Realität, die Aufnahme im Indianerdorf ist Wunschtraum, Phantasie. Ein Held wird geboren. May zog mit diesem Schlaf die Grenze, und wir wundern uns nicht, daß er bis ins hohe Alter behauptet haben soll, als Feldmesser in Amerika gearbeitet zu haben. Dabei hat diese Krankheit auch die Funktion der Beruhigung vor aufkommenden Schuldgefühlen. Das Ich macht den Übergang in die Traumwelt nicht freiwillig, sondern es wird ohnmächtig in das Indianerdorf transportiert, so daß der Vorwurf, die Alltagspflicht - am Eisenbahnbau - liegengelassen zu haben, es nicht treffen kann.

Was diese Passage für die Leserpsyche attraktiv macht, ist ferner die Tatsache, daß May hier archaische Grunderfahrungen der ersten Lebensjahre abbildet, in denen das Kind die unheimliche Diskrepanz erlebt, die der Schlaf mit sich bringt: man kann


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plötzlich nach dem nicht bemerkbaren Einschlafen zeitlich und örtlich verrückt werden; ein Erlebnis übrigens, das May auch in das Motiv des Kolbenhiebes, der den Helden bewußtlos macht, und des anschließenden Erwachens in vorläufiger Desorientierung aufgenommen hat. Dieses Kranksein, das natürlich ohnehin mit den kindheitlichen Motiven Schlaf und mütterliche Pflege verbunden ist, deutet sich also auch als ein Zurückversetzen in die allerfrüheste Kindheit, wie überhaupt das phantasierte Eintauchen in den vorzivilisatorischen Freiraum eine Regression darstellt, allerdings nicht immer wie hier, in den Nscho-tschi-Szenen, auf die vorödipale Zeit.

Ein zweiter wichtiger Krankheitsfall ist das Leiden Winnetous in der zwei Jahre später veröffentlichten Erzählung »Die Jagd auf den Millionendieb« (1895), dem späteren Schlußband der Trilogie »Satan und Ischariot«. Auch dieser drückt die Zäsur beim Eintritt in den Freiraum aus: Gebt ihm seine Prairie, seinen Urwald wieder (4), fordert Winnetou für sich auf dem Krankenbett in England. Doch liegt der Schwerpunkt anders als im vorigen Fall, denn Winnetou wird schon bei der Überfahrt gesund, agiert in New Orleans, wacht also nicht erst im Wilden Westen auf. May gibt uns den weiterführenden Hinweis, wenn er sagt, Winnetou habe unter dem Aufenthalte in Afrika ... gelitten (5); er suggeriert damit, daß Winnetous Reise ein Fehler, und zwar, auf den Schriftsteller bezogen, ein literarischer Fehler war. Gibt man May in diesem Geständnis recht - und manche Kritiker haben es mit gutem Grund getan(6) -, so muß man als literarischen Fehler erst recht die Schilderung von Winnetous Auftreten in der Gesangvereinsrunde in Sachsen kurz vor der Afrikareise angreifen, wo ein Winnetou noch deplazierter ist als unter Beduinen. Spricht also May vom Afrikaaufenthalt, so meint er vor allem den Deutschlandaufenthalt. Nun läßt sich erfassen, welche Beklemmung Mays sich in dieser Krankenepisode äußert: ihn bedrückte die Fülle der heimatlichen Motive in diesem Roman, die Person der Martha und ihre Strumpfwirkerfamilie, die Einblick boten in das soziale Milieu seiner Herkunft. Die heimatliche Umwelt war ihm zu unverhüllt ins Werk hineingeraten, als daß ihm sein Schaffen noch den Genuß des Tagtraums von der Verkleidung und Bewältigung realer Probleme gewährte. Winnetous Krankheit und Genesung bei der Überfahrt ist eine Äußerung der inneren Spannungen, die nach Darstellung drängen und sie in dieser Verschie-


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bung auf die zweite Hauptperson finden. Diese Krankheit ist die Zäsur, in der May die Distanzierung vom heimatlichen Stoffkreis vorläufig gelingt, so daß der innere Aufruhr bewältigt wird. Daß gerade der große Indianerhäuptling erkranken muß, zeigt die Kraft der inneren Konflikte zwischen Freiraum und Realität. Sie sollten fortan bei May, dem von Pustet und Fehsenfeld engagierten, also auf dem Wege des sozialen Aufstiegs befindlichen Schriftsteller, immer mächtiger werden und bis zum öffentlichen Auftritt Mays als Old Shatterhand mit den kuriosen Selbstdarstellungen führen.

Die wichtigste und umfangreichste Krankengeschichte in Mays klassischen Reiseerzählungen enthält der Orient-Zyklus in dem Teil, der in der Zeitschriftenfassung unter dem Titel »Die Todes-Karavane« bereits 1881/82, über ein Jahrzehnt vor den anderen beiden Erkrankungen, erschienen ist. Hier überstürzen sich die Krankheitsfälle: Kara Ben Nemsi wird im Kampf schwer verwundet und von einer Frau gesundgepflegt, er und Halef erkranken danach noch schwerer an der Pest, daneben leidet er unter Depressionen; hinzu kommen der Tod des alten Gefährten Mohammed Emin, Lindsays Beule und seine angenommene Ermordung, ein vermuteter und der wirkliche Tod des Hundes Dojan. Von den späteren Krankengeschichten bekommen wir den Hinweis, auch jetzt das Kranksein als Übergang und Aufarbeitung von vorangegangenen Ereignissen zu sehen. Dazu steht nicht im Widerspruch, daß es hier größeren Umfang einnimmt und in der ursprünglichen Fassung sogar eine ganze Erzählung durchzieht; vielmehr zeigt dies, daß May einerseits besonders viel zu bewältigen hatte und andererseits bei inneren Spannungen den Stau noch ungezügelter entlud als in späteren Jahren. May war sich des Übergangscharakters dieser Handlungsteile klar, denn im späteren Buchtitel »Von Bagdad nach Stambul« unterschlug er den vor Bagdad liegenden Abschnitt, der mehr als ein Drittel des Buchinhaltes ausmacht, und damit den größten Teil dieser Krankheitsepisoden.

Der »Todes-Karavane« geht zeitlich und inhaltlich die Erzählung »Reise-Abenteuer in Kurdistan« voraus, die durch die Einführung der mütterlichen Marah Durimeh eine Sonderstellung in Mays Werk einnimmt. Doch die alte, weise Frau, der Widerpart des männlichen Abenteurertums, und ihr Eintreten für die Armen ist nur ein Motiv in einer ganzen Motivkette, zu der materielle Not,


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räumliche Enge, Bettelei, Einquartierungen, Alkoholgenuß, Willkürherrschaft gehören, und die damit ein Bild der sozialen Lage im Erzgebirge ist. War die Szenerie in »Durch die Wüste« mit ihren ungebundenen Nomaden, weitflächigen Schlachten und ihrer Absenz einer staatlichen Obrigkeit eine Gegenwelt zur Realität gewesen, so fand in Kurdistan der Held auf Schritt und Tritt die vertrauten politischen und sozialen Ungerechtigkeiten vor. Der Wechsel vom Freiraum der »Wüste« zu einem heimatlichen »Kurdistan« war durch den Zuschnitt der katholischen Zeitschrift »Deutscher Hausschatz«, von der sich May als Hausautor gefordert sah, begünstigt worden (nicht zufällig ist Marah Durimeh eine Katholikin), doch sie ist wesentlich ein Produkt der genannten Schuldgefühle Mays bei seinen Fluchtträumen. Diese Schuldgefühle waren natürlicherweise besonders stark zu der Zeit der Niederschrift von »Kurdistan«, als May im Anfangsstadium seiner Arbeit als ich-erzählender Reiseschriftsteller stand und, finanziell noch sehr ungesichert, seinen Helden die erste an Seiten- wie an Meilenzahl weiträumige Reise unternehmen ließ. Das schlechte Gewissen eines Ausreißers treibt den Helden in die kurdisch camouflierte Heimat zurück und hält ihn so weit von der Abenteuerlust ab, daß das Buch mit der Gestalt der Marah Durimeh zu einer »Apotheose des Friedens« (Claus Roxin(7)) wird. Doch so wie später in »Satan und Ischariot« mußte ihm, dem es immer darum ging, zur Realität eine Gegenwelt zu erstellen, der Einbruch des Heimatlichen zur Belastung werden, auch wenn er sich infolge der starken exotischen Verfremdung und deren hervorragender geographischer und ethnologischer Fundierung durch die Vorlage des Layardschen Reiseberichts Hunderte von Seiten lang in diesem Raum bewegen konnte. Immerhin ist an einer Stelle in »Kurdistan« der Erzähler nicht froh darüber, sich unter Marah Durimeh zu stellen: ich gestehe offen daß ich mich schämte, den Namen eines Weibes nennen zu müssen. (8) Das in seiner pazifistischen Tendenz beeindruckende Romanende mit seinen Gesprächen und Friedensschlüssen, wodurch May sein Bild der sozialen Not sehnsuchtsvoll in eine Vision von Frieden und Mütterlichkeit überführte, wurde für ihn zwangsläufig zum Dilemma. Trotz seines Bekenntnisses zu Marah Durimeh zog es ihn in die Phantasiewelt der Abenteuer zurück und mußte er diesen Stoffkreis, nachdem er ihn zu einer geschlossenen Handlung be-


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wältigt hatte, als ein Abseits empfinden. Langsam hat er sich in den Freiraum zurückzutasten, entfernt sich zuerst rein örtlich von den kurdischen Höhen, und je mehr er ihnen entrückt, desto peinlicher wird ihm die Erinnerung an diese Darstellung heimatlicher Verhältnisse, so daß er schließlich die Reminiszenzen an den Kurdistanaufenthalt, das Amulett und den Hund, in trivialer Weise aus der weiteren Erzählung tilgt: Dojan wird nebenbei erschossen, und der Amulettinhalt entpuppt sich als prosaisches, aber für dieses Kurdistan höchst bezeichnendes Geldgeschenk. Bis es jedoch zu diesem Schlußstrich kommt, finden die zahlreichen Krankengeschichten vor und um Bagdad statt. Und daß es dabei nach Erreichen der kurdischen Höhen nur bergab gehen konnte, wird May, der für die Symbolik des räumlichen Oben und Unten besonders empfänglich war, in dem Gefühl der Unsicherheit noch bestärkt haben. Diese abwärts führende Reise ist in ihrem fallenden Verlauf ohne Parallele in Mays Werk(9), sie zeigt in ihrer beklemmenden Düsterkeit(10), wie May, hin- und hergerissen zwischen Freiheitsdrang und Schuldgefühlen, zu seinem Freiraum zurücksucht. Und wenn der Erzähler plötzlich Heimweh empfindet und sich nach Liebe sehnt, so rührt seine wirkliche Traurigkeit von seiner Bindung an das vergangene Werk. Die Zwistigkeiten mit den Gefährten sind Darstellungen des inneren Uneinsseins. So wie später in »Winnetou« möchte er den Genesungsschlaf nach einer Verwundung benutzen, um in die Traumwelt zurückzukehren, ähnlich dem Kind, das in gefährlichen Situationen die Augen verschließt. Doch seine noch von Schuldgefühlen gefesselte Phantasie läßt ihn zunächst in der Enge eines Familienkreises (des Ardschir Mirza) aufwachen, unter Persern, die rein örtlich den Kurden näherstehen als den Beduinen der Wüste und damit eine mögliche Weiterführung der Kurdistan-Reise andeuten.(11) Und wird auch diese Möglichkeit sofort ausgeschaltet, weil Ardschir Mirza ein Flüchtling ist, den es wie Kara Ben Nemsi nur talwärts zieht, so bleiben doch die neuen Bekannten zusammen, also die Bindungen an Kurdistan bestehen. Gleichzeitig entwickelt sich hier der gegenläufige Versuch Mays, von dem Vergangenen loszukommen, indem er das Problem der Flucht in eine zweite Figur verlagert und dadurch seine Ich-Gestalt entlastet, die nun als Beschützer dieses Persers ihre Sicherheit zurückgewinnt und wieder den Abenteurer spielen kann. Im Laufe dieser neuerlichen


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Erprobungen der alten Heldenrolle löst sich der Erzähler von dieser Familie und den heimatlichen Einflüssen. Während er selbst erkrankt, werden die Perser ermordet, bis dann Kara Ben Nemsi und Halef allein erwachen, wobei dieses Alleinsein das Gefühl sowohl des Verlassenseins als auch, und zwar ungleich mächtiger, der Freiheit und Verpflichtungslosigkeit vermittelt. Jetzt sind sie in der Lage, das ungebundene Leben neu zu beginnen, ein Neuanfang übrigens, der sich in interessanter Verschiebung auch in der kurz darauf folgenden Mitteilung von der Geburt des Halef-Sohnes widerspiegelt.

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Die Krankheitsfälle sind im Reiseerzählungswerk die Ausnahmen und bleiben quantitativ wie funktional im Episodenhaften. Ganz anders im Alterswerk. Im 2. Kapitel des 3. Bandes »Im Reiche des silbernen Löwen« (1902) bahnt sich eine Typhus-Erkrankung des Ich-Helden an, deren Verlauf, Ausheilung und Rekonvaleszenzzeit durchgängig die Fabel beherrschen, in Reflexionen und Gesprächen oft thematisiert werden und noch am Ende des 4. Bandes nicht völlig beendet sind. Der 1 300-Seiten-Roman der letzten beiden Bände des »Silberlöwen« läßt sich, so gesehen, als Roman eines Krankheitsverlaufs, als Krankenbericht lesen. Diese intensive Hingabe an das Kranksein ist eines der auffälligsten Zeugnisse für den inneren Wandel Karl Mays um die Jahrhundertwende; sie zeigt, daß May erstens es ablehnte, weiterhin ein Abenteuerschriftsteller zu sein, bei dem körperliche Makellosigkeit und Aktionsfreude des Helden im Vordergrund stehen, und zweitens, damit zusammenhängend, das exotische Kolorit nur mehr als Verkleidung für rein deutsche Begebenheiten(12) verwenden wollte und damit keine Veranlassung mehr hatte, in den fernen Gebieten einen Zustand der Gesundheit zu beschreiben. Die Veränderung in der Behandlung des Krankheitsmotivs läßt sich also zunächst mit diesem bewußten Wollen des Schriftstellers begründen, und ihre Problematik wird dadurch eng mit der Frage verkoppelt, warum May die in der sozialen Not entstandene und bisher sein Werk beharrlich prägende Sehnsucht nach der freiheitlichen Wildnis aufgeben konnte. Der Fall


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wird aber für uns noch komplizierter, wenn wir bedenken, daß die vormalige übergroße Aktivität der Helden aus Mays Schuldgefühl gegenüber dem Vater resultierte. Wieso bringt es May nun doch fertig, sein Roman-lch schwach und tatenlos sein zu lassen?

An anderer Stelle§(13) habe ich Mays wirtschaftlichen Aufstieg als die Hauptursache für den Bruch in seinem Werk bezeichnet. Ich meinte dies freilich weder in dem Sinne, als ob ein gewisses Jahreseinkommen automatisch dazu befähige, Kunstwerke wie »Ardistan und Dschinnistan« zu schaffen, noch ging es mir um die selbstverständliche Feststellung, daß sich der Aufstieg eines Proletariers in die bürgerliche Schicht in seinem schriftstellerischen Werk widerspiegeln wird. (Übrigens enthält auch der »Silberlöwe« reichlich äußere Zeichen dieses Aufstiegs, wie etwa die Bemerkungen zu Malerei, Musik und Literatur(14), in denen May freudig das Bildungsgut des bürgerlichen Standes aufgreift, ohne sie in dieser Freude als aufgepfropftes Beiwerk zu erkennen.) Was jedoch Mays Schicksal in besonderer Weise charakterisiert, ist die Tatsache, daß seine tiefe psychische Beschädigung der Kindheit im Aufstieg zur Wohlhabenheit ihre Therapie und Heilung findet. Das Bild vom Vater, der ihn geschlagen, zur Arbeit gezwungen und ihm - in den Augen des Kindes - Geld verweigert hatte(15), hatte May so lange dazu verpflichtet, seinen Helden fortwährend arbeitsam und gesund sein zu lassen, bis May selbst endlich die verinnerlichten Gebote des Vaters gänzlich erfüllt hatte: nämlich dann, als er realiter durch seinen angestrengten Fleiß als Schriftsteller wohlhabend geworden war. Der Vater ist nun in den Augen seines Kindes zufriedengestellt. Es braucht keine Angst mehr vor ihm zu haben, die erträumte Untätigkeit verursacht keine Schuldgefühle mehr. Ein wichtiges Indiz für diese gewaltige Erleichterung und Beruhigung sehen wir auch darin, daß May nun sogar die Gelassenheit besitzt, im Buch über seinen Vater und dessen materielle Not zu sprechen.(16) Erfassen wir diese Loslösung vom Vater-Ideal zusammen mit der Erkenntnis, daß für May durch seinen finanziellen Aufstieg diese materielle Not endlich völlig geschwunden war und daß er dadurch für sein persönliches Glück auf die Wunschphantasien von außerzivilisatorischen Zuständen, auf den Rousseauschen Mythos nicht mehr angewiesen war, so erweist sich dieser Aufstieg als die entscheidende Voraussetzung für die Veränderung in Mays Psyche und Werk. Er


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entband May von vielen alten Motiven, auch dem der Stärke des Helden, er brachte ihm eine bis dahin nicht gekannte innere Freiheit. Vor allem verschaffte er ihm die Freiheit zur absichtlichen Passivität. Wenn auch in späteren Bänden das Reisen, die Unruhe wieder zunimmt(17), so ist doch bezeichnend, wie May im »Silberlöwen« die Handlungsunfähigkeit seines Helden unterstreicht und ihn in Diskrepanz zu den anderen Personen setzt, die, vom gebietenden Ustad über den jungen Kara bis zu den Schatten-Männern, ausgesprochen geschäftig reiten und reisen, während das Ich kaum beweglich im Tal der Dschamikun zurückbleibt. Dieses Tal gerät May zur Bühne, auf der Diskussionen und Reflexionen stattfinden, während sich das übrige Geschehen durch Botenberichte, Rückblenden, Briefe und Beobachtungen vom Krankenlager auf der Terrasse aus - die, erhöht über dem Tal gelegen, auch optisch als Bühne konzipiert ist - kundtut. In solch wesentlich dramatischen Konstruktionen offenbart sich, wie May aus der frisch erworbenen Distanz zu seinem früheren Werk heraus zwanglos und sicher zu gestalten und sich mitzuteilen vermochte. Mit Recht wird auch immer die von May bewußt geschaffene mehrschichtige Allegorik dieses Romans genannt. Es soll daher im folgenden der Frage nachgegangen werden, was der verwandelte Karl May hier mit seinen Krankheitsschilderungen mitzuteilen gedachte.

So wie früher größtenteils unbewußt, so schafft May jetzt bewußt eine Krankheit des Helden, um einen Übergang darzustellen, der sich übrigens auch im Bild vom »Sprung über die Vergangenheit« als präzise gezogene Zäsur wiederfindet. Dabei knüpft May ausdrücklich an die Motive der Erzählungen von »Kurdistan« und der »Todes-Karawane« an, an die Zeit also, als er in den Freiraum zurückfinden wollte. Nun geht er den umgekehrten Weg, macht den damaligen Abstieg wieder rückgängig. Er verläßt gleich zu Beginn das abenteuerliche Zweistromland und steigt hinauf in die Berge Persiens, dorthin, wo wiederum Marah Durimeh anzutreffen ist und woher Ardschir Mirza stammt. Er tut damit das, was ihm früher, als ihn die Armut äußerlich und innerlich peinigte, psychisch nicht möglich war: er sucht die Heimat auf, im Tal der Dschamikun, das in der Tat, so weltfremd es uns auch anmutet, der Schauplatz für die Lösung realer heimatlicher Probleme werden soll.

Unten in der Ebene, im platten Abenteuerraum, hat sich Kara


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Ben Nemsi angesteckt, oben in den Bergen wird er gerettet. Hieraus ergibt sich eine erste Deutung für die Allegorie des kranken Helden. Das Krankmachende ist zunächst sein früherer Lebensraum, also der Freiraum mit seinen hohlen Abenteuern, seinem zweckfreien Automatismus von Befreien und Gefangennehmen, seinen ziellosen Reisereien, seinem, wie er es im vierten Band von »Winnetou« nennt, Krieger- und Indianer spielen .(18) May sieht nun - wie es das gesamte Spätwerk mit seinem Appell, erwachsen zu werden, bezeugt - in seinen Reiseträumen ein Produkt pubertärer Unreife und jugendlich-männlicher Selbstgefälligkeit. Dieser Standpunkt deutet sich bereits in den vorausgegangenen Bänden an, in den Gesprächen mit Hanneh und Dozorca(19) und den ironischen Bemerkungen über das fortwährende Gefangenenbefreien.(20) Kara Ben Nemsis Krankheit soll die Krise des unreifen, seelisch sich auf einer jugendlichen Stufe befindenden Menschen darstellen, der die Nichtigkeit seiner Gedankenwelt eingesehen hat und nun nach einem erfüllten und gesellschaftlich nutzbringenden Dasein sucht. Die im Roman vorgeschlagenen Wege zur Rettung aus dieser Not lassen sich hier nur mit Stichworten andeuten: dieser Mensch hat sich rückhaltlos von der früheren geistigen und materiellen Lebensweise loszureißen (im »Sprung über die Vergangenheit« ), zu seiner Individualität (dem Ustad) zurückzufinden, sich dem weiblichen Prinzip (einer Schakara) anzuvertrauen, sein Tun zu reflektieren (in dem langen Nachtgespräch) und schließlich, anstatt immer gleich verantwortungslos weiterzureisen, am Ort seiner Bestimmung zu verharren. May hatte natürlich seine eigene Person im Auge, deren Entwicklungsgang er, der Ich-Erzähler, als Exempel für seine Leser verstanden haben wollte. Dieser Beispielcharakter wird überzeugend und plastisch durch eine Dynamik, die den früheren Erzählungen bei aller Bewegtheit fehlt: nicht die Genesung ist der Inhalt der Darstellung, sondern der Weg dahin, nicht im Ich-Helden stellt sich der Autor dar, sondern in der sich langsam entwickelnden Synthese mehrerer Personen, nicht das überlegene Eingreifen des Haupthelden, sondern eine Vielzahl von unerwarteten Umständen außerhalb seiner Verfügung lenken das Geschehen, kurz, nicht das Finden, sondern das Suchen wird geschildert.

Diese erste Deutung des kranken Effendi läßt sich zu einer zweiten modifizieren, die ebenfalls von May bewußt hineingelegt worden


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ist. In einer höheren Stufe der Allegorie, die May, der sein Einzelschicksal als Bild eines allgemeinen Menschheitsdramas ansah, besonders teuer war, ist mit der Krise des Helden eine Krise der Menschheit in ihrem gegenwärtigen Entwicklungsstadium gemeint. Der zivilisierte Mensch ist krank, er ist, wie es May in »Und Friede auf Erden« im Eingehen auf aktuelle politische Ereignisse darstellt, am Ende mit seinem unentwegten Kriegführen, seinem unüberlegten Aktionsdrang, seinem Männlichkeitswahn (im Alterswerk sind nur Männer und niemals Frauen krank!) und seinem überlieferten Wissen. Bezeichnenderweise hat die Ansteckung Kara Ben Nemsis in der Gegend um Basra stattgefunden, die May in der Einleitung ausführlich als kulturträchtige Stätte vorstellt(21) und die sich damit als ebenso schädlich und hinfällig erweist wie die später imposant einstürzende Großruine vergangener Kulte. Das Tal der Dschamikun ist eine Utopie, ein Schritt zum Weg in eine humane, friedvolle, gerechte Gesellschaft, wie sie das Heimatsgefühl (22) ersehnt. Anders als bei der ersten Erklärung der Krankheit als Lebenskrise des Einzelwesens lassen sich bei dieser die Menschheit als Ganzes betreffenden Deutung gemeinsame Ziele zwischen Mays früherem und späterem Schaffen aufzeigen. Es ging May in beiden Werkgruppen darum, seinen Lesern von einer besseren Welt als der gegenwärtigen zu erzählen. War es im Frühwerk das regressive Ausweichen in vorzivilisatorische Verhältnisse, so war es im Alter ein pro-gressives Planen einer besseren Zukunft - Utopie in beiden Fällen(23), doch nun, im Alter, mit der Chance einer Verwirklichung.

Wir begnügen uns bei der Darstellung dieser beiden Deutungsmöglichkeiten der Krankheit mit den knappen Bemerkungen, auch wenn die in diesen Vereinfachungen angegebene Allegorik letzten Endes konventionell wirken muß. Wir verweisen daher auf die einschlägigen Arbeiten, die das umfangreiche Arsenal des Romans mit seinen kunstvollen Verschlüsselungen einbeziehen und dabei im Roman, nach Hans Wollschläger(24), ein vierdimensionales Gebilde von Allegorien entdecken. Doch auch allein am Motiv der Krankheit lassen sich weitere Beobachtungen und Deutungsversuche machen, die für Mays literaturgeschichtliche Einordnung entscheidende Hinweise geben können. Wir wollen dies im folgenden darlegen.


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Zu Beginn des Kapitels »Vor dem Rennen« im letzten »Silberlöwen«-Band läßt Karl May seinen Kara Ben Nemsi, als er beim ersten Spazierritt nach der Erkrankung von einer Horde Knaben bedrängt wird, aus Ungeschicklichkeit vom Pferd fallen. Diese hübsch ausgemalte Kinderszene, mit der May demonstrativ wiederum gegen den Nimbus vom tüchtigen Abenteuerhelden anschreibt, erhält dadurch einen tieferen Sinn, daß May mit Pferden die dichterische Phantasie meint (er spricht in einer bekannten schönen Stelle vom Roß der Himmelsphantasie (25)), also das Reiten als Bild für das Dichten nimmt. Diese Episode von den mangelhaften Reitkünsten des kranken Kara Ben Nemsi soll also besagen, daß der Schriftsteller Karl May das Dichten nur unvollständig beherrscht; und diese Schwäche muß sogar den Kindern, den Laien, den unreifen Lesern auffallen (von denen sich Kara Ben Nemsi gutmütig Spottlieder vorsingen läßt und die es allerdings später auch nicht besser können). May beleuchtet also kritisch sein Leistungsvermögen als Dichter, und zwar recht nuanciert, wenn das Herabfallen vom Pferd deshalb geschieht, weil ich diesem Schwunge trotz meiner Entkräftung oder noch wahrscheinlicher grad wegen derselben zu viel Kraft gegeben hatte.(26) In gleicher Weise schüttelt der Held bei seinem ersten Spaziergang als Patient zwei Pflaumenbäume in Anbetracht rmeiner jetzt noch so geschwächten Kräfte . . . zu energisch (27), daß er den Groll der Verantwortlichen, wiederum zumindest geistiger Kinder, auf sich zieht. Dieses Schütteln der Pflaumenbäume, das bislang als Allegorie für Mays Zuwendung zu seiner zweiten Frau erklärt worden ist, läßt sich auch deuten als die Rechenschaft des Schriftstellers May, der sich einer Fehleinschätzung seines Könnens bewußt wird (zumal Kara Ben Nemsi seinen Schwung beim Schütteln anschließend mit dem beim Reiten vergleicht). Ganz ähnlich wiederum hat der Held Probleme, als sein Pferd Syrr beim Wettrennen zögert. Fast wollte es mir Angst werden (28), heißt es da, auch wenn das Tier, auf den letzten Buchseiten, doch noch rennt wie nie zuvor, angetrieben durch den Wunsch, den Teufel zu besiegen .

Nun wäre es nichts Neues, wenn May lediglich seinen Helden auch als Schriftsteller dem Leser präsentieren wollte, denn schon in den Reiseerzählungen hatte sich der Held mehrfach zu diesem


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Beruf bekannt. Doch da May die Ungeschicklichkeiten nachdrücklich mit der momentanen Krankheit verknüpft, geht es ihm hier nicht um seinen Schriftstellerstand im allgemeinen, sondern um dessen Probleme im Zeitpunkt der erkannten Krise, so wie sie ihm während der Niederschrift dieses Romanes bewußt werden. May bekennt also, indem er den Roman schreibt, gleichzeitig die Unzulänglichkeiten dieses Schreibens. Gewiß findet die literarische Kritik Schwächen im Roman, und nach dem Gesagten fühlen wir uns mit May im Bunde, wenn wir einige auffällige Unebenheiten im Werk nennen: die Verwandlung der Pekala ist, bei aller inneren Wahrhaftigkeit Mays in dieser Problematik um seine erste Frau, nicht widerspruchsfrei durchgeformt, das Bild der Taki , die zum Schluß in Ultra-Taki und andere gespalten sind, weist zu große Sprünge auf(29), der Anschluß an die ersten beiden Bände wird durch Übernahme einiger bekannter Personen in die Schlußbände allzu gewaltsam hergestellt (obwohl gerade das zwangsläufige Auseinanderklaffen zwischen dem früheren und dem späteren Bild von Dschafar, Dozorca, Kepek eine stimmige Illustration des Sprunges über die Vergangenheit ist), das Leben im Dschamikuntal ist zu farblos und unpräzise geschildert, als daß man hierin das konkrete Bild einer neuen Gesellschaft erkennen könnte, die rhythmische Sprache gelingt nicht immer. Dabei hat May sein eigenes Unvermögen gerade jetzt, wo er Wichtiges zu sagen hatte, schmerzlich berührt, so wie er auf seiner Orientreise notiert: ich kann nichts groß, gewaltig und schön genug bekommen und habe doch kein ausgebildetes Kunstverständnis für das Schöne. Goethe würde ganz anders sehen, denken und empfinden als ich. Das ist nun leider hier im Leben nicht mehr nachzuholen .(30) Andererseits fallen in diese Zeit die ersten kategorischen Äußerungen über den vorbereitenden Charakter seiner bisherigen Bücher und sein jetzt beginnendes eigentliches Werk . Dieses Schwanken zwischen Euphorie und Selbstzweifel setzte sich fort in der Arbeit am »Silberlöwen«, bestärkt und wesentlich vermehrt durch die äußeren Anlässe der Kolportageprozesse, der Ehescheidung, der öffentlichen Angriffe, bei denen ihrerseits May schwankende Haltung zeigte und sich zeitweilig trügerischen Hoffnungen auf rasche Erledigung hingab. So trat nach dem Überschwang des geplanten Neuanfangs immer wieder die Verzagtheit ein. May spürte, daß er die selbstgesetzten Ansprüche nicht einlösen


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konnte. Das Motiv des falsch eingeschätzten Schwunges beim Reiten und Bäumeschütteln meint also genau diese Erfahrung des Schriftstellers, die er während der Niederschrift machte und sogleich im Werk darstellte. Damit haben wir das Wesentliche einer Erscheinung erfaßt, die wir nun allgemein formulieren können:

So wie May während seines Schaffens am »Silberlöwen« die Schwierigkeiten überfielen, so entwickelte er den Verlauf der körperlichen Krankheit seiner Hauptgestalt. Das Ich des Romans, aus dieser Perspektive heraus gesehen, ist das Ich Karl Mays in einem ganz speziellen Sinne, es ist in jedem Augenblick der Erzählung das Ich des Autors im Augenblick der Niederschrift. Der kranke Effendi ist fortlaufend die Momentaufnahme des Autors. Der Gang der Handlung und der Vorgang der Niederschrift finden nicht nur gleichzeitig statt, sondern sie sind identisch, zumindest insofern sie das Krankheitsmotiv enthalten. Der »Silberlöwe« beschreibt nicht Ereignisse, sondern sich Ereignendes. Hatte May früher die Sehnsucht nach der Gleichsetzung von Autor und Ich-Held bis zur öffentlichen Maskerade als Romanfigur geführt, so glückte ihm im Alter, als er den Realitätsanspruch auf die geschilderten Reisen nicht mehr erhob, als er den überpersönlichen Sinngehalt seines Roman-Ichs unterstrich, das Einssein seiner Individualität als Dichter mit diesem Roman-lch.

Wir verifizieren diese absolute, zeitliche wie bildliche Kongruenz an zwei Beispielen. Die räuberischen Dinarun, die sich undurchsichtig gegenüber Kara Ben Nemsi verhalten, sind auch für May undurchsichtig. Er hat sie noch gemäß der Rolle eines Abenteuerschriftstellers als die üblichen Feinde in die Handlung eingebracht (und ihnen darüber hinaus, in der biographischen Ebene, das Gebaren unredlicher Verleger beigegeben). Nun will Kara Ben Nemsi nur weg von ihnen und ihrer Abenteurer-Mentalität, verläßt sie auch kurzerhand, ohne, entgegen seiner sonstigen Gepflogenheit, mit ihnen abzurechnen oder Frieden zu schließen; dazu ist Kara Ben Nemsi zu krank, das heißt Karl May in seiner neuen Schaffensperiode zu unsicher und auch zu unzufrieden mit diesem Räubermotiv, von dem er sich in das Tal des Sackes , also buchstäblich in die Sackgasse geführt sieht. Diese Unsicherheit wird noch durch die Fehlleistung »Der falsche Ruf des falschen Fakirs« (Walther llmer(31)) belegt, wonach sich May nicht einmal über den Namen dieser Räu-


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ber klar war. Als zweites Beispiel nennen wir den befürchteten Rückfall in den Typhus (32) nach einem Besuch im Allerheiligsten , wobei May für das Unwohlsein ausdrücklich eine körperliche, keine geistige Ursache annimmt. Nach unserer Deutung der körperlichen Krankheit als schriftstellerische Schwäche überfallt May an dieser Stelle, nicht weit vom Schluß, erneut die Sorge um seinen Roman. »Aber der Aschyk ? Mein Syrr ? Der verborgene Gang, welcher untersucht werden muß?« fragt dementsprechend der erneut bettlägerige Kara Ben Nemsi und nennt damit genau die Probleme, die dem Autor jetzt bevorstehen, die Absolution des zwielichtigen Aschyk, das Wettrennen und die Schatten-Jagd und -Vernichtung, also den siegreich geplanten Roman mit all seinen Motiven zu einem guten Ende zu bringen.

Haben wir vorhin den »Silberlöwen« den Roman eines Krankheitsverlaufs genannt, so können wir ihn konsequenterweise nun als den Roman einer Romanentstehung bezeichnen. Und wenn wir die Dynamik dieses Werkes erwähnten, hinter der sich ein ständiges Suchen verberge, so haben wir jetzt ihre Grundlage aufgedeckt: das tastende Vorwärtsschreiten des am Neubeginn stehenden Schriftstellers erscheint in seinen Vibrationen der Hoffnung und des Zweifels simultan im Werk und überträgt sich auf den Leser. Diese Ursprünglichkeit und Gleichzeitigkeit verleiht dem Roman eine einzigartige Realistik. Die Inkonsequenzen in der Fabel, die man auf einer anderen Ebene tadeln kann, haben die Glaubwürdigkeit des Miterlebten für den Leser, der, sei er sich dessen bewußt oder nicht, zum Augenzeugen der Romanentstehung geworden ist. Charakteristisches Merkmal dieser Augenzeugenschaft, dieser Teilnahme an einem Werden ist der starke Eindruck des Offenseins, den die Lektüre vermittelt: kaum eine Stelle des »Silberlöwen« ermöglicht dem Leser oder veranlaßt ihn gar, die folgende Handlung vorauszusagen - ein bei der ersten Berührung mit diesem Werk durchaus unheimliches Gefühl, das aber in dem fast völligen Fehlen der bei May sonst so beliebten Vorausdeutungen eine meßbare Entsprechung findet.

Mit diesen Überlegungen rücken wir Karl Mays »Silberlöwen« in die Nähe eines zentralen Romans der modernen Literatur, der berühmten »Falschmünzer« von Andre Gide, der, erschienen 1926, als »Roman eines Romans« konzipiert worden ist.(33) Darin läßt Gide


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einen Romancier auftreten, der einen Roman desselben Titels zu schreiben plant und sich in Gesprächen und Aufzeichnungen über das Voranschreiten des Manuskriptes äußert, ansonsten aber fest in das Romangeschehen eingebunden ist. Dieses Geschehen weist nicht nur beiläufig einige Brüche auf, sondern ist mit seinen spannenden und symbolbeladenen Stoffkreisen aus Jugend und Familie absichtlich entgegen den Forderungen der Vernunft, Wahrscheinlichkeit und Chronologie angelegt, um dem Leser, der dadurch in seiner traditionsgemäßen Erwartungshaltung schwer getäuscht wird, die Problematik des Romanschreibens zu erschließen. Gewiß kann man nicht Andre Gides intellektuellem Künstlertum und seinen kühnen Konstruktionen, in denen er, auf der Grundlage hervorragender Kenntnisse der Geschichte des literarischen Genres Roman, das Romanschreiben zum Thema macht und in Frage stellt, Karl Mays Komposition des »Silberlöwen« undifferenziert an die Seite stellen. Denn was May zu sagen hatte, sagte er im bildlichen Ausdruck, das Theoretisieren war ihm fremd. Auch fand May, wenngleich er im Alter eine gewisse innere Freiheit und Distanz seinem Werk gegenüber erwarb, doch längst nicht zu der geistigen Abgeklärtheit des Großbürgers Gide, der übrigens ohne Schmerzen seinen Romancier im Roman mit seinem Plan scheitern lassen konnte, während May getrieben war, einen Sieg zu ersinnen. May ging es darum, seine persönliche Krise und die Krise der Gesellschaft, so wie er sie erlebte und begriff, darzustellen und dadurch überwinden zu helfen, eine akademische Frage nach der »Krise des Romans« hätte ihn nicht interessiert. Doch hat er, außerhalb seines eigentlichen Anliegens, die aktuelle Schwierigkeit des Romanschreibens gesehen und damit auch diese Krise intuitiv erfaßt, die so bei ihm im Zusammenwirken mit seinen individuellen Bedrängnissen in der beeindruckenden Bildhaftigkeit vom kranken Effendi Gestalt angenommen hat. Hat Gide abstrakt formuliert, daß die Entstehungsgeschichte eines Romans interessanter sein kann als der Roman selbst und hierauf seinen Roman eines Romans entwickelt, so hat May, zwei Jahrzehnte zuvor, in den Roman selbst dessen notvolle Entstehungsgeschichte integriert. Hier wie dort wird der Leser durch die Lektüre eines Romans Zeuge seiner Entstehung. Karl Mays »Im Reiche des silbernen Löwen« ist ein moderner Roman.


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1 IX, 357 Römische Zahlen beziehen sich auf unbearbeitete Bände von Karl Mays Gesammelten Reiseerzählungen bzw. Werken, Freiburg bzw. Radebeul

2 Es sei hierzu verwiesen auf Karl Mays Autobiographie (Mein Leben und Streben, Hrsg. v. Hainer Plaul. Hildesheim- New York 1975), die von der Prügelei des Vaters (10f.) und der Kinderarbeit (40) berichtet, sowie auf Hans Wollschläger: Der »Besitzer von vielen Beuteln«. Lesenotizen zu Karl Mays "Am Jenseits". in: Jb-KMG 1974, 153- 171 (160f.), und Martin Lowsky: Problematik des Geldes in Karl Mays Reiseerzählungen, in: Jb-KMG 1978, 111-141 (133ff.)

3 Sigmund Freud: Brief an Romain Rolland (Eine Erinnerungsstörung auf der Akropolis), in: Freud: Gesammelte Werke. London 1940- 52, Bd. 16 (auch in: Studienausgabe, Frankfurt am Main 1969ff., Bd. IV, 283-294)

4 XXII, 2

5 ebd.1

6 Otto Forst-Battaglia (Karl May. Traum eines Lebens - Leben eines Träumers. Bamberg 1966) spricht von dem »verunglückten Afrika - Einschub« (171)

7 in der Einführung zu dem Zeitschriften-Nachdruck Karl May: Giölgeda padishanün. Reise-Abenteuer in Kurdistan. Regensburg (1977) (4)

8 II, 548

9 vgl. Volker Klotz: Durch die Wüste und so weiter, in: Akzente, Zeitschrift für Dichtung, 4 (1962), 356-383 (359f.)

10 Hierzu grundlegend Claus Roxin in der Einführung zu dem Zeitschriften-Nachdruck Karl May: Die Todes-Karavane, In Damaskus und Baalbeck, Stambul, Der letzte Ritt. Regensburg (1978)

11 Diese Deutung wird noch dadurch abgesichert, daß bei May die Familie ausschließlich als Attribut zivilisierter Lebensformen auftritt: sein Abenteuerraum kennt sie nicht. May folgt darin Rousseau, in dessen Naturzustand der Menschheit (vgl. seinen Discours sur l'inégalité) die Familie noch nicht existiert.

12 Karl May: Mein Leben und Streben, 211

13 Martin Lowsky: Alterswerk und »Wilder Westen«, in: M-KMG 36 (1978), 3-16 (6)

14 Als Beispiele seien genannt: XXVIII, 317 (Ich kenne ein Bild, »Die Genesende« unterzeichnet . . . ) , 534f. (Eine musikalische Familie . . . ) , XXIX, 220 (Ich . . . rezitierte in Gedanken Schillers Glocke und noch andere Gedichte) .

15 vgl. Lowsky, wie Anm. 2, 132f., 138. Von fundamentaler Bedeutung in diesem Zusammenhang sind die beiden Arbeiten, die als erste Mays frühe Kindheit in ausschlaggebender Weise (also auf der Grundlage der Psychoanalyse) heranziehen: Wolf-Dieter Bach: Fluchtlandschaften, in: Jb-KMG 1971, 39-73; Hans Wollschläger: »Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt«, in: Jb-KMG 1972/73, 11-92. Überdies ist letztere hier wichtig durch ihre Interpretation der Krankheit Wallers (aus »Und Friede auf Erden«).

16 XXVIII, 624 f.

17 Siehe hierzu Hans Wollschlägers Ausführungen zu Mays »Ruhe- und Rastlosigkeit«. Hans Wollschläger: Das »eigentliche Werk«. Vorläufige Bemerkungen zu »Ardistan und Dschinnistan«. in: Jb-KMG 1977, 58-80 (63f.)

18 XXXIII, 61

19 Zur Bedeutung dieser Gespräche in der Phase des Umbruchs siehe Walther Ilmer: Der Bruch im Bau - kein Bruch im Ich, in: M-KMG 36 (1978), 26-32 (28)

20 Wenn das so fort geht, so hört bis zum jüngsten Tag die Befreiung der Gefangenen nicht auf. (XXVI, 204.) Zit. nach Hansotto Hatzig, Karl-May-Register, Bd. XXVI-XXIX (= Sonderheft der KMG Nr. 11, 21

21 In die Kulturkritik Mays fügt sich die Beschreibung des Verfalls Basras und seiner jetzigen unpoetischen Misere (XXVIII, 3) stimmig ein. Diese Beschreibung schafft (im Gegensatz freilich zu anderen Stellen) die Distanz zu einer literarischen Tradition, zu der die Märchen aus »Tausendundeine Nacht«, aber auch Voltaires »Zadig« gehören, die Basra (Balsora) in seiner Eigenschaft als Welt-und Handelsstadt preisen.


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22 XXIX,640

23 Zu diesem Aspekt des Mayschen Oeuvres - dem durchgängigen Utopiecharakter, der in der Forschung zunehmend an Bedeutung gewinnt, siehe die Arbeiten Gert Uedings (u. a. Gert Ueding: Der Traum des Gefangenen, in: Jb-KMG 1978, 60-86), sowie den in Anm. 17 genannten Aufsatz Hans Wollschlägers, ferner Claus Roxin: Karl Mays »Freistatt«-Artikel, in: Jb-KMG 1976, 215-229 (295f.)

24 siehe Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, 116- 127, sowie die dort in den Anmerkungen genannte Literatur, ferner die erst nach Abfassung des vorliegenden Aufsatzes erschienene Arbeit von Hans Wollschläger: Erste Annäherung an den »Silbernen Löwen«. Zur Symbolik und Entstehung, in: Jb-KMG 1979, 99-136

25 XXIX, 208

26 ebd. 378

27 XXVIII, 346

28 dieses und das folgende Zitat XXIX, 598

29 Die sich daran anknüpfenden kontroversen Interpretationen Arno Schmidts und Hans Wollschlägers einerseits und Franz Cornaros andererseits (vgl. Franz Cornaro: Karl Muth, Karl May und dessen Schlüsselpolemik, in: Jb-KMG 1975, 200-219 (209f.), Hans Wollschläger: Karl May, 121) lassen sich in dem Sinne vereinbaren, daß May selbst im Laufe der Niederschrift seine Haltung geändert hat: die anfangs geübte Kritik am Katholizismus (Wollschläger) wollte er später, aus alten Bindungen heraus, abwenden, indem er sie in eine Kritik an gewissen, in allen Religionen zeitweise vorkommenden Geisteshaltungen (Cornaro) umdeutete. Anders ließe sich auch der Bruch im Taki-Bild schwer erklären.

30 Karl May in seinem Reisetagebuch, 4. 6. 1900, zit. nach Jb-KMG 1971, 199. (Wiedergegeben auch in: Wollschläger: Karl May, 104.)

31 Walther llmer, Annelotte Pielenz: »Kaum merklich geändert« oder Wie »original« sind Radebeuler Ausgaben? (Sonderheft der KMG Nr. 4), 38

32 dieses und die folgenden Zitate XXIX, 503 f.

33 Gert Ueding hat als erster May und Gide zusammen genannt (a.a.O. 71). Zu dieser Frage der »Modernität« des Mayschen Werks siehe ferner den ausgezeichneten Aufsatz von Helmut Schmiedt: Karl May und die Dichter, in: M-KMG 27 und 28 (1976) (speziell zum »Silberlöwen« M-KMG 28, 5)


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