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FRANZ CORNARO

Karl-May-Ähnliches in J. R. R. Tolkiens Dichtung "Der Herr der Ringe"

»Mythos« und »Abenteuer« - das ist ja überhaupt die Formel, auf die man die Reiseerzählungen zurückführen kann.

Claus Roxin in M-KMG Nr. 5, S. 22, 1970



Die mythopoetische Prosadichtung "Der Herr der Ringe"(1), durch die ihr Verfasser J. R. R. Tolkien (1892-1973) Weltruhm erlangt hat, mag schon öfters Kenner Karl Mays an dessen Reiseerzählungen erinnert haben. Tatsächlich hat Peter Marginter nach Erscheinen der deutschen Übersetzung auf Ähnlichkeiten hingewiesen(2) und die Meinung geäußert, »bei uns« sei »der weiße Fleck, der da im englischen Sprachraum vorhanden war, längst und noch immer fest besetzt«, und zwar eben von Karl May. Seither hat diese großartige Dichtung Tolkiens gewiß auch im deutschen Sprachraum stärkere Verbreitung gefunden, aber doch wohl noch nicht so, daß die Bekanntschaft mit ihr bei einer Untersuchung der Frage, was sie mit Mays Reiseerzählungen gemeinsam hat, vorausgesetzt werden kann. Darum sei zunächst der Inhalt des dreibändigen Erzählwerkes skizziert.

Schauplatz der Handlung ist "Mittelerde", eine erdichtete, aber doch irdische Welt, bewohnt von Elben, Menschen, Hobbits, Zwergen, Ents und von allerhand »bösen Wesen, die in der Großen Dunkelheit kamen«, wie Orks, Trollen und noch grauenhafteren Scheusalen. Die Geschichte beginnt in dem zu Ende gehenden Dritten Zeitalter dieser Welt mit Vorzeichen kommenden Unheils, die auch im Auenland, in der von den Zentren der Macht nordwestwärts weit entfernten Heimat der Hobbits bemerkbar werden. Die Hobbits sind ein kleinwüchsiges, friedliches Volk, (wenn sie 122 cm erreichen, gelten sie schon als groß,) heiterem Lebensgenuß zugeneigt, aber überraschend zäh, sobald es gilt, mit schwierigen Lagen fertig zu werden. Einer von ihnen namens Bilbo hat in jüngeren Jahren abenteuerliche Wanderungen unternommen und dabei einmal, vor Orks ins Innere eines Berges fliehend, in einem Gang einen Ring gefunden und ihn dann noch seinem vorigen Besitzer, einem in den Tiefen des Berges lebenden


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entarteten Abkömmling hobbitscher Ahnen, Gollum genannt, in einem Rätselspiel abgewonnen. Am Finger getragen, macht dieser Ring unsichtbar, woraus Bilbos Freund Gandalf, ein großartiger Held und weiser Zauberer, Befürchtungen über Herkunft und Natur des Ringes schöpft. Bilbo verläßt an seinem »einundelfzigsten« Geburtstag die Heimat, um sein geschichtliches Buch ungestört vollenden zu können, und hinterläßt auf Gandalfs Rat mit allen zurückbleibenden Besitztümern auch den Ring, von dem sonst niemand weiß, seinem Neffen und Erben Frodo. Nach etwa 14 ruhig verstrichenen Jahren erfährt Frodo von Gandalf, der auf immer wieder unternommenen Wanderungen rastlos die Weltlage beobachtet und erforscht, er habe feststellen können, daß der Ring nicht irgendein Zauberring sei, sondern der Eine, der Große Ring, Beherrscher aller anderen Ringe der Macht, der von Sauron, dem "Dunklen Herrscher" von Mordor, als Werkzeug zur Unterjochung aller Völker schon im Zweiten Zeitalter erzeugt worden, dann aber durch merkwürdige Schicksale auf andere, ununterrichtete Besitzer übergegangen war. Frodo sei in furchtbarer Gefahr, denn Gollum sei, an den Grenzen Mordors umherschweifend, in die Gewalt Saurons gefallen und habe unter der Folter gestanden, den Ring besessen und an Bilbo, der ihm unglücklicherweise seinen Namen genannt hatte, verloren zu haben. Um völlige Gewißheit zu erlangen, wirft Gandalf den Ring, an dem keine Zeichen zu sehen sind, ins Kaminfeuer, und eine Inschrift kommt zum Vorschein, die jeden Zweifel ausschließt:

Ein Ring, sie zu knechten - sie alle zu finden,
Ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden.

Aufs höchste beunruhigt, erkennt Frodo, daß er, um nicht aufgespürt zu werden und die Heimat zu gefährden, in die Fremde gehen muß. Gandalf billigt diesen Entschluß und verspricht ihm seine Begleitung, muß aber vorher noch zu einer dringenden Erkundung ausziehen. Da Gandalf bei Ablauf der vorgesehenen Frist noch nicht erschienen ist, macht sich Frodo mit seinem treuen Diener Sam und zwei mit ihm eng verbundenen Freunden auf den Weg nach Bruchtal, wo unter der Führung des berühmten Elrond noch viele Elben in bisher ungestörter Sicherheit ansässig sind. Aber zu ihrem Entsetzen bemerken die Wanderer, daß die Straße schon von Saurons neun Schwarzen Reitern überwacht wird. Bei einem Überfall verletzt deren Anführer Frodo durch einen Messerstich schwer. Zum Glück hat sich kurz vorher den vier Hobbits ein geheimnisvoller Fremder angeschlossen, der es versteht, Frodo Linderung zu verschaffen. Sie wissen nicht, daß es Aragorn ist, der nach Ansicht seines Freundes Gandalf »größte Wanderer und Jäger dieses Zeitalters der Welt«. Von einem zur Hilfe ausgesandten Elben auf einen edlen Renner gesetzt, erreicht Frodo knapp vor seinen Verfolgern bei Bruchtal das östliche Flußufer, während Elrond, dessen Macht der Fluß untersteht, über die Schwarzen Reiter tosende Wassermassen hereinbrechen und sie hinwegschwemmen läßt. In Bruchtal bessert sich Frodos Befinden bald. Er trifft dort Gandalf wieder,


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der in die Gefangenschaft eines Verräters, des Zauberers Saruman, gefallen und vom Adler Gwaihir befreit worden war. Zu seiner Freude sieht Frodo auch Bilbo wieder, der hier gastliche Aufnahme gefunden hat und an seinem Buch weiterarbeitet.

An einer entscheidenden Beratung unter Elronds Vorsitz nehmen außer ihnen, Aragorn und einigen hervorragenden Elben auch zwei Persönlichkeiten teil, die in der Hoffnung hierher gekommen sind, Klarheit über die Lage sowie Hilfe oder wenigstens Rat zu erhalten: der Zwerg Glóin und Boromir, der Verteidiger Gondors, des dem Reiche Saurons unmittelbar benachbarten Hauptbollwerkes der freien Völker. Lange wird über das Hauptproblem beraten, was mit dem Ring geschehen soll. Daß es furchtbare Folgen hätte, wenn er wieder in die Hände Saurons fiele, ist allen klar. Ebenso besteht unter den Sachkundigen Übereinstimmung darüber, daß der Ring selbst durch und durch böse ist und seinen Herrn, wer auch immer es sei, böse macht, wenn dieser ihn zur Stärkung seiner Macht verwendet. »Schon der Wunsch nach ihm verdirbt das Herz.« Da sich gezeigt hat, daß er weder auf dem Grund eines Stromes noch im Innern eines Berges vor Auffindung sicher ist, darf man ihn auch nicht nur versenken oder verstecken. Er muß vernichtet werden. Um das zu vollbringen, gibt es eine einzige Möglichkeit: Er muß in die Schicksalsklüfte des Orodruin, des Feurigen Berges in Mordor, wo er erzeugt wurde, geworfen werden. Alle sind sich darüber im klaren, wie gefährlich es ist, den Ring in Saurons Land zu tragen. Man sieht aber eine leichte Verminderung der Gefahr darin, daß der Gedanke, den Ring zu vernichten statt zu gebrauchen, zweifellos so völlig außerhalb der Vorstellungsmöglichkeiten Saurons liegt, daß er ihn und dessen Träger überall eher suchen wird als in seinem eigenen Land.

Frodo erklärt sich opfermutig zur Übernahme der Aufgabe bereit, obwohl er sich ihr ganz und gar nicht gewachsen fühlt. Sein Angebot wird mit Freude angenommen. Acht Gefährten sollen ihn begleiten: Außer den drei Hobbits, die sich keinesfalls von ihm trennen wollen, Gandalf als Führer, Aragorn, Boromir, der Zwerg Gimli (Glóins Sohn) und Legolas, ein Elbe. In der Abenddämmerung eines kalten Tages gegen Ende Dezember beginnen sie ihre Wanderung nach dem Süden.

Die Gefährten werden bald auseinandergerissen. Zuerst fällt Gandalf aus, während sie, mehrmals von Orks angegriffen, die gewaltigen Minen von Moria durchschreiten. In einem Kampf zwischen ihm und der dunklen, Feuer verströmenden Gestalt eines schauerlichen Dämons stürzen beide in einen tiefen Abgrund, und die Gefährten betrauern, von seinem Tod überzeugt, den Verlust ihres Führers sehr schmerzlich. Aragorn tritt an seine Stelle und führt die Gefährten zu den Elben von Lothlórien und dann in Booten, einem Geschenk der Elben, auf dem großen Strom Anduin abwärts bis zu den Wasserfallen von Rauros, wo die Entfernung zum Ziel, dem Berg Orodruin, in der Luftlinie nur mehr etwa 400 km beträgt.

Boromir, der schon in Bruchtal dafür eingetreten war, den Ring im Kampf gegen Sauron zu verwenden, versucht hier, als er einmal mit Frodo allein ist, diesem den Ring zu entreißen. Frodo entkommt, indem er sich


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unsichtbar macht, und will nun allein den Weg nach Mordor antreten, doch gelingt es Sam, sich ihm noch anzuschließen. Boromir bereut sogleich sein Verhalten. Während die Gefährten nach Frodo suchen, überfallen Orks eine Gruppe von ihnen, töten Boromir, der heldenhaft kämpft, und schleppen die Hobbits Merry und Pippin mit sich fort. Die drei übrigen Gefährten nehmen die Verfolgung auf, nachdem sie Boromirs Leichnam, in einem Boot aufgebahrt, dem Strom anvertraut haben.

Die Hobbits erfahren aus den Gesprächen der Orks, daß deren Haupttrupp im Dienst des Zauberers Saruman steht und von diesem den Befehl erhalten hat, sie lebend zu ihm nach Isengart zu bringen. Natürlich steckt die Gier nach dem Ring dahinter, dem er nahe zu sein hofft. Aber seine Pläne schlagen fehl. Während die Orks von Reitern des Königs von Rohan vernichtet werden, gelingt es Merry und Pippin, in die unmittelbar vor ihnen liegenden Wälder zu entkommen, die nahe an Sarumans Residenz in Isengart heranreichen. Im Wald lernen sie den Ent Baumbart kennen. Ents sind sozusagen Hirten der Bäume, selbst baumähnlich, aber gehfähig und mit Vernunft und Sprache begabt. Baumbart ist gegen Saruman wegen dessen Rücksichtslosigkeit bei großen Schlägerungen in den Wäldern ergrimmt und bringt auf einer Versammlung der Ents den Beschluß zustande, Isengart samt seinen Werkstätten, Kasernen und Lagerhäusern zu zerstören. Merry und Pippin nehmen am Kriegszug dorthin auf den Schultern Baumbarts teil und meinen zu ihrem Erstaunen zu sehen, daß sich auch viele Bäume anschließen.(3) Das waldige Heer vernichtet Sarumans Machtbasis in Isengart, ohne ihn selbst zu töten, und verhilft auch König Theoden von Rohan zum Sieg über das dort eingedrungene Heer Sarumans, das völlig aufgerieben wird.

Zu den Gefeierten des Sieges gehört besonders Gandalf, der aus den furchtbaren Erlebnissen in Moria auf einer noch höheren Stufe von Weisheit, Tatkraft und Würde in den Kampf zurückgekehrt ist und Théodens schon erloschenen Widerstandswillen wieder entflammt hat. Dieser hat ihm Schattenfell, das beste und schnellste Pferd seiner Zeit, geschenkt und ihm dadurch ermöglicht, wie im Flug zu den jeweiligen Brennpunkten der Ereignisse zu eilen. Nun ist Minas Tirith, die Hauptstadt von Gondor, am stärksten bedroht, und Gandalf reitet zusammen mit Pippin auf Schattenfell dorthin.

Auch zwei Heerführer machen sich von Rohan aus auf, um Gondor zu Hilfe zu kommen. Der eine von ihnen ist Aragorn, seit der Beratung in Bruchtal als Nachkomme Isildurs und legitimer Anwärter auf den Thron von Gondor bekannt. Eine kleine Reiterschar kommt aus dem Norden, um ihm zu helfen. Es sind Verwandte, Waldläufer, wie er einer war. Auch zwei Söhne Elronds sind bei der Schar. Sie bringen Aragorn die Botschaft ihres Vaters: »Gedenke der Pfade der Toten!« Dieser quer durchs Gebirge nach Gondor führende Weg heißt so, weil an ihm nur mehr menschliche Schatten geistern, Schatten von Männern, die ihren dem König Isildur geleisteten Treueid im Kampf gegen Sauron gebrochen haben und seither mit dem Fluch belastet sind, nie Ruhe zu finden, bis der Eid erfüllt ist. So schlägt


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nun Aragorn, der als 39. Erbe von Isildur abstammt, die Pfade der Toten ein, begleitet von Legolas, Gimli und den neuen Mitstreitern aus dem Norden. Von den Freunden in Rohan werden sie für verloren gehalten. Aragorn ruft die Eidbrecher auf, ihm zu folgen, und Schatten auf Schatten schließen sich der Schar an, bis hinter ihr ein Schattenheer in die Ebene hinausflutet und auf den Anduin zu marschiert. Dort trifft es bei der Hafenstadt Pelargir auf die Flotte der mit Sauron verbündeten Korsaren von Umbar, jagt diese von ihren Schiffen, um Aragorn eine raschere Fahrt zum Schlachtfeld zu ermöglichen, und wird daher von ihm für entsühnt erklärt: »Euer Eid ist erfüllt ... Scheidet dahin und findet Ruhe!«

Das andere Heer, das nach Minas Tirith eilt, ist das des Königs Théoden. Es zählt mehr als 5000 Reiter, denen sich heimlich gegen den Willen des Königs auch seine als Krieger verkleidete Nichte Éowyn und der Hobbit Merry anschließen. Das Heer kommt gerade noch zurecht, um den Fall der Hauptstadt zu verhindern. Saurons Heerkönig, der oberste seiner neun Ringgeister, ist soeben durch das zertrümmerte eherne Tor der Stadt in deren untersten Teil eingedrungen, als völlig überraschend das Reiterheer mit dem greisen Théoden vor der Front gegen die Belagerer heranbraust. Der Herr der Ringgeister besteigt sofort sein Flügelroß, ein vorzeitliches fliegendes Ungeheuer, greift Théoden an und tötet ihn, wird aber gleichfalls samt seiner Bestie von der Heldin Éowyn und Merry vernichtet. Ergrimmt über den Tod ihres Königs stürmen die Reiter aus Rohan unter der Führung seines Nachfolgers Éomer allzu ungestüm gegen Süden weiter, stoßen auf Truppen fremdartiger Bundesgenossen Saurons und fügen ihnen schwere Verluste zu, geraten aber wegen der Übermacht der Feinde und wegen des Scheuens der Pferde vor den Kriegselefanten bald in Bedrängnis. Als auch noch eine den Anduin heraufsegelnde Flotte der Korsaren von Umbar zu landen beginnt, scheint die Niederlage unabwendbar zu werden. Aber da entfaltet sich auf dem ersten Schiff das Banner Aragorns, die Streiter für Gondor jubeln, Saurons Truppen geraten in Verwirrung, und als Aragorn mit seinen Gefährten und mit Truppen, die er in den südlichen Teilen Gondors aufgeboten hat, landet und in die Schlacht eingreift, da ist der Sieg entschieden. Zwar wird bis zum Abend noch erbittert gekämpft, aber beim Untergang der Sonne am 15. März ist der Feind vernichtet.

Nur die Schlacht ist jedoch gewonnen, noch nicht der Krieg. Auch die Streitkräfte Gondors haben schwere Verluste erlitten, und man weiß, daß in Mordor Sauron noch übermächtige Truppenmassen zur Verfügung stehen. Trotzdem beschließt der Kriegsrat der Sieger auf Antrag Gandalfs, mit allen Streitkräften, die zum Schutz von Gondor nicht unbedingt erforderlich sind, zum Paß von Cirith Gorgor zu ziehen, wo gewaltige Festungsanlagen den Haupteingang nach Mordor schützen. Dadurch soll die Aufmerksamkeit Saurons nach außen abgelenkt werden, während Frodo - so hofft man - zur Vernichtung des Ringes schreitet.

Weiß man im Kriegsrat etwas vom Ringträger? Ja. Wir versetzen uns um eine Woche zurück und nach Ithilien, dem der Gewalt Saurons unterworfe-


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nen schönen Land zwischen dem Anduin und dem Gebirgswall an der Westgrenze von Mordor. Dort unternimmt Boromirs Bruder Faramir einen Streifzug, um den Durchmarsch aus dem Süden kommender Hilfstruppen Saurons zu stören, und greift dabei zwei Hobbits auf, Frodo und Sam, und in der Nacht dann auch noch ihren ihm widerwärtigen Führer Gollum, der ihnen angeboten hatte, sie auf einem geheimen Pfad zur Grenze bei Cirith Ungol zu führen, wo es eher als bei Cirith Gorgor möglich sei, nach Mordor zu gelangen. Aus einer unbedachten Äußerung Sams schließt Faramir, daß Frodo im Besitz des Großen Ringes sei, verzichtet jedoch darauf, ihn an sich zu bringen, beherbergt die Hobbits gastlich und bringt sie am Morgen mit Segenswünschen und Warnung vor Gollum samt diesem auf den Weg. Nach Minas Tirith zurückgekehrt, berichtet er darüber seinem Vater Denethor in Anwesenheit Gandalfs.

Wir folgen nun Frodo und Sam auf ihrem gefahrvollen Weg. Kurz vor dem Turm, der die Paßhöhe beherrscht, ist ein von grauenhaftem Gestank erfüllter Gang zu durchschreiten, wo in anschließenden Höhlen eine furchtbare Wächterin haust, in der deutschen Ausgabe Kankra genannt. »Fast wie eine Spinne war sie, aber größer als die großen Raubtiere und entsetzlicher als sie wegen der bösen Entschlossenheit in ihren unbarmherzigen Augen.« Im Gang entrinnen sie ihr, aber auf dem Weg zum Turm greift sie, aus einem Loch in der Felswand kommend, Frodo von hinten an, während Sam erst einen plötzlichen Überfall Gollums abwehren muß, bevor er Frodo zu Hilfe eilen kann. Gollum hat sie an Kankra verraten, da er weiß, daß diese nur an Nahrung interessiert ist und ihm den Ring nicht streitig machen würde. Frodo ist in der Gewalt des Scheusals, das ihn mit starken Spinnfäden gefesselt hat und wegzuschleifen sucht. Sam verletzt Kankra schwer und schlägt sie in die Flucht, kann aber an Frodo kein Lebenszeichen mehr feststellen und hält ihn für tot. Trotz seiner Verzweiflung wird er sich der Verpflichtung bewußt, die Mission Frodos weiterzuführen, nimmt den Ring an sich und geht zur Paßhöhe weiter, hört aber dort plötzlich von vorn und hinten zwei verschiedene Gruppen von Orks marschieren, bei deren Auftauchen er sich mittels des Ringes unsichtbar macht. Aus dem Gespräch der Hauptleute erfahrt er, daß Frodo durch Kankras Gift nur betäubt sei und man ihn in die oberste Kammer des Turmes schaffen werde. Sam gelingt das unmöglich Scheinende, ihn herauszuholen, nachdem die zwei Orkgruppen über ein kostbares Beutestück in blutigen Streit geraten sind, den nur einer der beiden Hauptleute überlebt.

Frodo und Sam legen die Kleidung von Orksoldaten an und beginnen den Abstieg von der Paßhöhe. Es ist der 15. März, der Tag, an dem ihre Freunde im Kampf um Minas Tirith siegen. Sie selbst werden bald verfolgt, können sich aber verbergen und ihre Wanderung auch an den folgenden Tagen immer wieder fortsetzen. Da sie nur wenig Proviant mitnehmen konnten, leiden sie viel Hunger, und da sie selten Wasser finden, viel Durst. Das Schlimmste ist jedoch, daß der Ring seit dem Eindringen nach Mordor immer schwerer und schwerer wird. Frodo entledigt sich aller entbehrli-


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chen Ausrüstungsstücke, und ebenso Sam, da er bereit sein muß, Frodo auf seinem Rücken zu tragen, wenn dieser vor Erschöpfung liegen bleibt. Und an ihrem elften Tag in Mordor ist's so weit. Sie sind am Fuß des Orodruin angelangt und müssen einen Hang überqueren, um die Straße zu erreichen, die sich um den Berg windet und zu einem Eingang ins Innere führt. Sie kriechen auf allen vieren über den Hang, und dann schleppt Sam den Erschöpften auf seinem Rücken weiter. Da werden sie von Gollum überfallen, der, obwohl halb verhungert und am Ende seiner Kräfte, den Ring noch für sich retten will. Er wird abgewehrt und verjagt, folgt ihnen aber heimlich, und als Frodo, nun wieder auf eigenen Füßen, an den Rand der Schicksalsklüfte tritt, aus denen roter Feuerschein dringt, aber plötzlich nicht mehr die Kraft in sich aufbringt, die Trennung vom Ring zu wollen, ja ihn sich sogar an den Finger steckt, springt ihn Gollum neuerlich an. Sam, von Gollum im Vorbeihasten heftig umgerissen, sieht, als er sich mit einer blutenden Wunde am Kopf erhebt, den Verräter am Rande des Abgrunds wie wahnsinnig mit einem unsichtbaren Feind ringen und plötzlich mit den Händen etwas Unsichtbares zum Mund führen und beißen. Frodo schreit auf und ist wieder sichtbar, und Gollum tanzt jubelnd umher, den Ring samt dem abgebissenen Finger im Triumph emporhaltend, tritt aber dabei über den Rand des Abgrunds und stürzt mit einem schrillen Schrei hinunter. Die Wirkung ist ungeheuer. Sam trägt Frodo ins Freie, und sie sehen ein Land im Untergang. Die Erde bebt und birst, Feuer bricht aus dem Gipfel des Berges, Festungen und Türme stürzen ein, und in einem Gewittersturm ohnegleichen gehen die Ringgeister brennend zugrunde. Saurons Truppen, deren Übermacht das an diesem Tag vor Cirith Gorgor aufmarschierte Heer des Westens zu vernichten drohte, geraten in Flucht, als sie das Erlöschen des beherrschenden Willens fühlen, während die Erde bebt und ihre Festung zusammenbricht. Und über Mordor steigt ein riesiges Schattengebilde auf, streckt den Siegern »eine große, drohende Hand entgegen, schreckenerregend, aber machtlos«, und wird »von einem starken Wind erfaßt und ... weggeblasen«. Noch sind Frodo und Sam in der Hölle von Mordor, aber da kommt Gandalf, von Gwaihir getragen, mit noch zwei Adlern zu Hilfe und holt seine, des Heeres und des ganzen freien Westens Retter heraus.

Als solche werden sie auch bei einem großen Fest in Ithilien geehrt, wo das Heer in der Nähe des Stromes lagert. Und am 1. Mai kehrt Aragorn mit dem Heer nach Minas Tirith zurück und wird von Gandalf zum König gekrönt. Und am Tag der Sommersonnenwende schließt er mit Arwen Undomiel, Elronds Tochter, die seit Jahrzehnten ersehnte Ehe. Faramir, seit dem Tod seines Vaters Truchseß von Gondor und nun auch Fürst von Ithilien, heiratet zur Sommerzeit in Rohan die Heldin Éowyn. Danach kehren die Gäste beider Hochzeiten in ihre Heimat zurück, die Hobbits über Bruchtal, wo sie Bilbo besuchen. Er ist zu müde geworden, um sein Buch fertig zu schreiben, und vertraut diese Aufgabe Frodo an. Aber zuerst müssen die Heimkehrer das Auenland von üblen Machthabern säubern, die während ihrer Abwesenheit viel Schaden angerichtet haben. Dann


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widmet sich Frodo der Arbeit an Bilbos Buch und ergänzt es durch die Geschichte des Ringkrieges. Sam heiratet, doch lebt das Ehepaar mit Frodo zusammen in dessen Heim, wo auch für Nachwuchs reichlich Platz ist. Zwei Jahre nach der Rückkehr fordert Frodo Sam auf, ihn zu Bilbo zu begleiten. Sie treffen ihn mit zahlreichen Elben, darunter Elrond, unterwegs nach dem Westen, und Sam wird es klar, daß sie und auch Frodo im Begriff sind, Mittelerde zu verlassen. Im Hafen erwartet sie Gandalf in der gleichen Absicht. Und als die Reisenden beginnen, an Bord eines weißen Schiffes zu gehen, reiten noch Merry und Pippin, von Gandalf verständigt heran, um Abschied zu nehmen, und der Abschied ist schwer und tränenreich, aber die Heimkehr der drei Gefährten ist durch ihre Gemeinschaft erleichtert. Als Sam sein Heim betritt, das ihm Frodo mit seiner ganzen Habe übereignet hat, setzt ihn seine Frau auf einen Stuhl, gibt ihm das Töchterlein auf den Schoß, und er holt tief Luft und sagt: »Ja, ich bin zurück.«

Die Feststellung von Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten zwischen Karl Mays Reiseerzählungen und der oben skizzierten Dichtung J. R. R. Tolkiens muß wohl mit dem Hinweis darauf beginnen, daß auch diese eine Reiseerzählung ist. Zu den Mängeln der obigen Inhaltsangabe zählt das Fehlen einer Landkarte, die die Ortsangaben erst sinnvoll machen würde. Aber die Inhaltsangabe soll ja kein Ersatz für das Originalwerk mit den beigefügten Karten sein, sondern - über ihren Zweck im Rahmen dieser Untersuchung hinaus - ein Anreiz, es zu lesen. Die Karten zeigen, daß es große Strecken sind, die Frodo und seine Gefährten im Laufe des einen Jahres zurücklegen, beträchtlich mehr als 4000 km, eine Reiseleistung, die um so beachtlicher ist, da die Helden auf dem Hinweg nach Mordor und Gondor großenteils zu Fuß wandern.

Diese Reiseerzählungen sind in beiden Fällen überaus reich an spannenden Abenteuern, großenteils solchen des Kampfes, und obwohl die einen im 19. Jahrhundert erlebt werden und die anderen im mythischer Zeit mit gelegentlicher Ausnützung magischer Kräfte und Künste, sind sie einander im allgemeinen doch verblüffend ähnlich. Andere Schußwaffen als Bogen und Pfeil stehen im Dritten Zeitalter von Mittelerde noch nicht zur Verfügung, doch benützen Saurons neun Ringgeister schon den Luftraum zur Aufklärung und zum Kampf, während Gwaihir und andere Adler Gandalf Hilfe leisten. Ausschlaggebend ist jedenfalls der Nahkampf, und der Nimbus, der bei May hervorragende Gewehre umgibt, umstrahlt bei Tolkien wie in den alten Heldensagen meisterhaft geschmiedete


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Schwerter, unter denen das von Frodo namens Stich die magische Fähigkeit hat, die Nähe von Orks durch Verfärbung der Klinge anzuzeigen. Während bei May das größere oder geringere Können in der Handhabung der Waffen ausführlich erörtert wird, berichtet Tolkien kaum etwas darüber, wenn auch z. B. der Elbe Legolas als vorzüglicher Bogenschütze gerühmt wird. Unter den anderen Westmannskünsten spielt bei Tolkien das Anschleichen keine Rolle, werden hingegen Spuren mehrmals gelesen und einmal sogar von einem Orkspezialisten beschnüffelt(4), ohne daß man jedoch etwas von besonderen Meisterleistungen auf diesem Gebiete erfährt. Gefangennahmen und Befreiungen, wie sie sich in ununterbrochener Kette durch jede Reiseerzählung Karl Mays ziehen, nehmen auch bei Tolkien nicht geringen Raum ein. Das Hauptobjekt dabei ist Gollum, der mehrmals gefangen wird und entkommt, aber noch mehr sind Gandalfs Gefangennahme durch Saruman, die Verschleppung der Hobbits Merry und Pippin durch Orks und vor allem die atemberaubend spannende Gefangennahme Frodos bei Cirith Ungol mit der nachfolgenden Befreiung durch Sam unvergeßliche Abenteuer.

Als Feinde, vor denen die Helden ständig auf der Hut sein müssen, sind Indianer gewisser Stämme und Orks einander sehr ähnlich. Auch einen grundlegenden Unterschied gibt es jedoch. Während Karl May das den Indianern zugefügte Unrecht beklagt und verurteilt und von einem so edlen Mann wie Winnetou sagt, er sei ein echter Typus der Rasse, welcher er entstammte(5), gewesen, andrerseits es jedoch vom Haß verblendete Bekämpfer der Indianer gegeben hat, die in ihnen nur rote Teufel sahen und die Ansicht vertraten, nur ein toter Indianer sei ein guter Indianer, scheinen die Orks tatsächlich als unabänderlich böse Wesen der mythischen Handlungszeit gedacht zu sein. Man versteht daher zwar die Härte des Kampfes gegen sie in der Geschichte, bedauert aber die Härte des Autors bei deren Erfindung. Denn die Orks sollen Nachkommen unglücklicher Elben sein, die »ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden« der Macht des Bösen vor langer Zeit gelungen sei. Ein furchtbares Schicksal! Ganz anders verhält es sich mit Gollum, obwohl auch er ein schweres Schicksal zu tragen hat: den Ring besessen und verloren zu haben und sich in Sehnsucht nach ihm zu verzehren. Aber Gollum erweisen trotz seiner Gefährlichkeit Gan-


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dalf und dessen Gefährten so große Langmut und Schonung, daß der May-Kenner daran erinnert wird, wie oft auch Old Shatterhand bösartigen Leuten übertriebene Nachsicht gewährt und dadurch seine Freunde und sich großen Gefahren aussetzt.

Eine auffallende Übereinstimmung der verglichenen Erzählwerke besteht in dem Mangel an Erotik. Sie enthalten zwar einige Liebesgeschichten, doch werden diese so dezent erzählt, daß von Erotik kaum die Rede sein kann. Das schließt natürlich keineswegs aus, daß sie Spannung und Teilnahme erregen. Die Geschichte je einer aussichtslosen, ans Herz rührenden Liebe edler Mädchen zu Helden höchster Art wird sich wohl jedem Leser ins Gedächtnis einprägen, nämlich die Geschichte der Liebe Nscho-tschis zu Old Shatterhand und Éowyns zu Aragorn. Jene stirbt in der Überzeugung, daß ihre Liebe erwidert wird, und insoweit glücklich, während Éowyn erkennt, auf Erwiderung ihrer Liebe nicht hoffen zu können, verzweifelt den Tod in der Schlacht sucht, aber nicht findet und schließlich durch die Liebe Faramirs ihrer Schwermut entrissen und seine Gemahlin wird. Auch die Geschichte von der Liebe zwischen Aragorn und der Elbin Arwen, bis zur Hochzeit nur angedeutet und erst in einem Anhang nachträglich vom Anfang bis zum Schluß erzählt, ist schön, eindrucksvoll und am Ende wehmütig, da Arwen, als sie den Tod Aragorns erlebt, sich schmerzlich der Tatsache bewußt wird, daß zu dem von ihr einst gewählten Menschenleben zwangsläufig auch der Tod gehört. Das Fehlen der Erotik ist gewiß kein Fehler der Erzählungen, es paßt vorzüglich zu ihnen. So war es auch kein Fehler der Verfasser. Durch seine Reiseerzählungen ist May berühmt geworden und nicht durch jene anderen Werke, in denen er das Verlangen eines weiten Leserkreises nach Erotik zu befriedigen gesucht hat. Hätte er diese Werke nicht geschrieben, so wären ihm außer einer gewaltigen Arbeitslast auch viel Arger und Kummer erspart geblieben, denn durch die vorübergehende Doppelgleisigkeit seiner literarischen Arbeit hat er sich bekanntlich heftige Angriffe zugezogen, die er nicht überzeugend entkräften konnte. Tolkien erntete für seine Ring-Dichtung neben vielen günstigen Besprechungen auch einige ungünstige, aus deren einer sogleich eine Verspottung seiner "Knabenwelt" zitiert werden soll. Aber dem Mangel an Erotik und solchen spöttischen Kritiken zum Trotz hat "Der Herr der Ringe" seinem Verfasser


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einen von niemand vorhergesehenen ungeheuren Welterfolg beschert. Unter der Überschrift "Eine Knabenwelt" hatte Edwin Muir im "Observer" eine Besprechung veröffentlicht, in der folgende Sätze zu finden sind(6): »Das Erstaunliche ist, daß alle Figuren kleine Jungen sind, die sich als erwachsene Helden maskieren. Die Hobbits oder Halblinge sind gewöhnliche Jungen, die rein menschlichen Helden gehen schon in die Fünfte Klasse, doch kaum Einer weiß Bescheid über Frauen, außer vom Hörensagen. Sogar die Elben und die Zwerge und die Ents sind kleine Jungen, unabänderlich, und werden nie bis zur Pubertät kommen.« Das ist maßlos übertrieben, doch trifft der Hinweis auf Knabenhaftes einen wahren Kern, denn die Hobbits, die sich im Ringkrieg so bewähren, wirken tatsächlich viel jugendlicher, als man nach der Zahl ihrer Jahre erwarten würde. Frodo ist bei seinem Aufbruch zur abenteuerlichen Reise immerhin schon 50 Jahre alt, aber da Hobbits erst bei Vollendung des 33. Lebensjahres mündig wurden, ist anzunehmen, daß sie langsam reiften. Und gewiß ist der knabenhafte Eindruck außer auf ihre geringe Größe auch auf die hobbitsche Art von Humor zurückzuführen, zu der sich auch Tolkien mit den Worten bekannte(7): »Ich bin selber ein Hobbit, in allem bis auf die Größe ... Ich ... habe einen sehr einfachen Humor ...« War nicht übrigens in dieser Hinsicht auch Karl May ein Hobbit?

Als ein anderer Mangel wurde Tolkien das Fehlen von Religiosität in seiner Dichtung vorgehalten. Tatsächlich erfährt man darin nichts von einer Gottesverehrung in Mittelerde und auch nichts über die religiöse Einstellung des Dichters. Erst aus seiner Biographie erfuhr ich, daß er ein gläubiger, sehr frommer und von apostolischem Eifer erfüllter Katholik war. Aber man muß ihm wohl zubilligen, daß er das Gute in mythischer Zeit, wenn auch mit christlicher Ethik übereinstimmend, doch nicht als durch die Lehre Christi motiviert darstellen konnte. Daß die Vorkämpfer der guten Sache an Einen Gott glauben, kommt ein paarmal zum Ausdruck, vor allem im Gespräch, das Aragorn vor seinem Tod mit seiner Gemahlin Arwen führt. Als diese den Tod als »die Gabe des Einen an die Menschen« bezeichnet, die zu empfangen bitter sei, antwortet ihr Aragorn(8): »So scheint es, doch laßt nicht zu, daß wir, die wir einst den Schatten und den Ring zurückwiesen, bei der letzten Prüfung unterliegen. In Kummer müssen wir gehen, aber nicht in


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Verzweiflung. Schaut! Wir sind nicht für immer an die Kreise der Welt gebunden, und jenseits von ihnen ist mehr als nur Erinnerung.« Interessant ist auch, wie Gandalf dem an der Möglichkeit eines Sieges verzweifelnden Denethor ins Gewissen redet, als dieser aus dem Leben scheiden und seinen verwundeten Sohn Faramir ohne dessen Zustimmung in den Tod mitnehmen will(9): »Ihr seid nicht befugt, Truchseß von Gondor, die Stunde Eures Todes zu bestimmen. Und nur die götzendienerischen Könige(10) unter der Herrschaft der Dunklen Macht verfuhren so, töteten sich selbst in Stolz und Verzweiflung, ermordeten ihre Sippe, um ihren eigenen Tod zu erleichtern.« Es gab also Heiden in Mittelerde, aber auch Nichtheiden, denen man heidnisches Verhalten als abschreckendes Beispiel vor Augen halten konnte. Jedenfalls ist der Kampf zwischen Gut und Böse das Grundthema der Ringdichtung und auch das Grundthema der Reiseerzählungen Karl Mays, in "Ardistan und Dschinnistan" schon durch den Titel ausgedrückt. Der Leser lernt die Welt und die Seele jedes einzelnen als Schauplatz dieses Kampfes erkennen und erhält durch das Beispiel sowohl des christlichen Ich-Helden und anderer edler Helden Mays als auch der vorchristlichen Helden des Ringkrieges Impulse, sich für das Gute zu entscheiden. Ich vermute, daß die von Karl May kommenden Impulse stärker sind.

In seinem Vorwort zum "Herrn der Ringe" betont Tolkien(11): »Was irgendwelche tiefere Bedeutung oder "Botschaft" betrifft, so gibt es nach der Absicht des Verfassers keine. Das Buch ist weder allegorisch noch aktuell.« Er bekundet seine »herzliche Abneigung gegen Allegorie in all ihren Erscheinungen« und fährt fort(12): »Wahre oder erfundene Geschichte mit ihrer vielfältigen Anwendbarkeit auf das Denken und die Erfahrung der Leser ist mir sehr viel lieber. Ich glaube, daß viele Leser "Anwendbarkeit" mit "Allegorie" verwechseln; aber die eine ist der Freiheit des Lesers überlassen, die andere wird ihm von der Absicht des Verfassers aufgezwungen.« Auch die "Moral einer Erzählung", die ja wohl unter den Begriff der "Anwendbarkeit" fällt, stellt er in einem Brief an seinen Verleger dem Begriff der "Allegorie" gegenüber, die man in seinem Werk nicht argwöhnen möge, und schreibt(13): »Eine "Moral" gibt es, so glaube ich, in jeder erzählenswerten Geschichte.« May hat manche seiner Gestalten - und die wichtigsten erst im nachhinein - mit


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allegorischer Bedeutung belastet. Das hätte Tolkien gewiß mißfallen. Aber die allegorische Bedeutung, die May in die Handlung später Werke hineingelegt hat, ohne die Leser über die Deutung zu belehren, hätte Tolkien vielleicht als Fälle von ihm zusagender, weil der Freiheit des Lesers überlassener "Anwendbarkeit" anerkannt. Tatsächlich kann es wohl auch beim "Herrn der Ringe" keinen großen Unterschied ausmachen, ob man die sich aus der Erzählung offenkundig ergebende Lehre von der Verderblichkeit schrankenloser Macht und des Strebens danach im Großen Ring und seiner Geschichte allegorisch dargestellt sieht oder diese Lehre einfach als Moral der Erzählung erkennt. Und die Bestreitung der Aktualität dürfte wohl so zu verstehen sein, daß es falsch wäre, in den erdichteten Geschehnissen, vielleicht gar bis in Einzelheiten, aktuelle Entsprechungen zu suchen. Es fiele aber wohl jedem Leser schwer, es für möglich zu halten, daß z. B. in die Schilderung des Dunklen Reiches Mordor nichts von den Vorstellungen eingegangen sein sollte, die sich Tolkien von den totalitären Diktaturen der dreißiger Jahre gemacht hat. Aber das war gewiß auch nicht die Ansicht Tolkiens, der solche Beeinflussungen zugegeben hat, wenn auch mit einer gewissen Modifikation, indem er schrieb(14): »Ein Verfasser kann natürlich nicht völlig unbeeinflußt bleiben von seiner Erfahrung, aber die Art und Weise, wie der Keim einer Darstellung aus dem Boden der Erfahrung Nutzen zieht, ist äußerst verwickelt ...«

Die Doppelrolle des Verfassers der Reiseerzählungen als solcher und als deren Hauptheld finden wir ähnlich auch im "Herrn der Ringe" bei Bilbo, der zum Schriftsteller geworden ist, um seine folgenschweren Abenteuer früherer Jahre für die Nachwelt aufzuzeichnen, und bei Frodo, der das "Rote Buch" seines Onkels mit seinem Bericht über den Ringkrieg fortsetzt, als Bilbo dieser Aufgabe nicht mehr gewachsen ist. Und wie es in den Reiseerzählungen gelegentlich vorkommt, daß an den Erlebnissen des Haupthelden beteiligte Personen der angekündigten Darstellung ihres Verhaltens in den Reiseerzählungen mit Sorge oder Freude entgegensehen, so malt sich auch Sam inmitten der furchtbarsten Gefahren aus, wie einmal über Frodos und seine eigenen Erlebnisse gelesen werden wird, »aus einem großen, dicken Buch mit roten und schwarzen Buchstaben vorgelesen, Jahre und Jahre später. Und die


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Leute werden sagen: "Laß uns von Frodo und dem Ring hören!" Und sie werden sagen: "Das ist eine meiner Lieblingsgeschichten. Frodo war sehr tapfer, nicht wahr, Papa?" - "Ja, mein Junge, der berühmteste der Hobbits, und das sagt viel".«(15)

Merkwürdig ist es, daß beide Dichter, May wie Tolkien, bei ihren Lesern Glauben an die Wahrheit des Erzählten finden wollten, wobei der Verfasser der Reiseerzählungen dies in seiner Renommierperiode uneingeschränkt wünschte, der Mythopoet jedoch selbstverständlich nur »in gewissem Sinne«.(16) Aber in welchem Sinne sollten die Leser seine Erzählung »für wirkliche Geschichte nehmen«? Als Antwort darauf können vielleicht folgende Sätze aus einem Vortrag gelten, den Tolkien im März 1939 über das Thema "Märchen" gehalten hat(17): »Was eigentlich geschieht, ist, daß sich der Erzähler als ein erfolgreicher "Nebenschöpfer" erweist. Er schafft eine Sekundärwelt, die unser Geist betreten kann. Darinnen ist "wahr", was er erzählt: Es stimmt mit den Gesetzen jener Welt überein. Daher glauben wir es, solange wir uns gewissermaßen darinnen befinden. Sobald Unglaube aufkommt, ist der Bann gebrochen; der Zauber, oder vielmehr die Kunst, hat versagt. Und dann sind wir wieder in der Primärwelt und betrachten die kleine, mißlungene Sekundärwelt von außen.« Um das zu verhindern und eine glaubhafte Sekundärwelt zu gestalten, in der alles widerspruchslos zusammenstimmt, arbeitete er nach Karten, die nach seinen Skizzen ausgeführt waren, »stellte endlose Berechnungen über Zeiten und Entfernungen an und arbeitete Tabellen aus, die zu den Ereignissen in der Geschichte Datum, Wochentag und Tageszeit angaben, manchmal auch noch die Windrichtung und die Mondphase«.(18) Auch zwei Elbensprachen und eine Elbenschrift gestaltete er sorgfältig unter Aufbietung großen Wissens, ja mit dieser Tätigkeit hatte sogar sein mythopoetisches Schaffen begonnen. Die Sprachen haben offenbar die sie Sprechenden herbeigerufen. Manchmal hatte Tolkien Einfälle, die er als zwingend empfand, und er fügte sich ihnen, auch wenn sie ihm ungelegen kamen. So erzählte er seinem jüngsten Sohn Christopher von seiner Arbeit am II. Band der Ringdichtung in einem Brief vom 4. Mai 1944(19): »Eine neue Figur ist auf der Szene erschienen (ich bin sicher, ich habe ihn nicht erfunden, ich wollte ihn überhaupt nicht dahaben,


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obwohl ich ihn mag, aber da kam er in die Wälder von Ithilien spaziert): Faramir, Boromirs Bruder ...«

So wie Karl May hat auch Tolkien bei vielen Lesern den gewünschten Glauben gefunden. Aus Briefen, die er von Lesern erhielt, sah er, daß sie tatsächlich, wie er es sich gewünscht hatte, seine Dichtung fast wie ein Geschichtswerk behandelten. Aber anscheinend entsprach etwas daran doch nicht ganz seinen Wünschen, denn er schrieb damals(20): »Ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob diese Geneigtheit, die ganze Sache als eine Art großes Spiel zu betrachten, wirklich gut ist ...« Gewiß bestand diese Geneigtheit ähnlich auch bei vielen May-Lesern, die dem Autor sein Heldenleben nicht glaubten, aber keine Spielverderber sein wollten.

Beiden Dichtern war auch die starke gemüthafte Verbundenheit mit einzelnen Geschöpfen ihrer Phantasie gemeinsam. Besonders nahe standen Tolkien, »selber ein Hobbit«, natürlich die Hobbits Frodo und Sam. Als er die triumphalen Ehrungen schilderte, die nach dem Sieg von dem nun als König von Gondor anerkannten Aragorn, den Heerführern und dem geretteten Heer diesen schlichten Hobbits erwiesen werden, soll er nach eigener Erinnerung »richtig geweint« haben.(21) Und Karl May soll, als er am 3. Band seines "Silbernen Löwen" arbeitete und der Meinung war, er müsse seinen Liebling Halef auf Grund der ihm verliehenen allegorischen Bedeutung sterben lassen, händeringend geklagt haben(22): »Ich bringe es nicht übers Herz, meinen Hadschi Halef sterben zu lassen, es geht über meine Kraft. Ich habe den kleinen Burschen zu lieb, ist er doch ein Teil meines eigenen Ich.« Halef und Sam sind ihren Schöpfern besonders gut gelungene Gestalten, einander sehr ähnlich in der Treue zu ihren Herren und in der Drolligkeit ihrer Einfälle und Aussprüche, insoweit "ebenbürtige Brüder", wie sie Peter Marginter in der eingangs zitierten Besprechung genannt hat, gegensätzlich jedoch in der Prahlsucht Halefs und der Schlichtheit Sams. Diener, die treu und drollig sind, kommen in vielen Literaturwerken vor. Ist es aber nicht auffallend, wenn, wie die folgende Gegenüberstellung zeigt, in den Aussagen über zwei edle Pferde in vier Punkten, die keineswegs Selbstverständlichkeiten betreffen, Übereinstimmung oder wenigstens große Ähnlichkeit besteht ? Es handelt sich um den Rappen Syrr, das Geschenk des Schah-in-Schah an Kara ben Nem-


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si, und um den Grauschimmel Schattenfell, den Gandalf von dem König von Rohan geschenkt erhält.

S y r r

Alle Zitate aus Band XXIX

S c h a t t e n f e l l

Der Herr der Ringe

Jedes der beiden Pferde läßt sich nur von seinem Herrn reiten.

S. 149: »Dieses Pferd ist bisher weder von Dschafar selbst, noch von irgend einem andern verdorben worden. Niemand hat es noch je geritten.«

»Warum?« »Der Grund ist eben so einfach wie unglaublich. Dieses herrlichste aller Vollblute läßt sich nämlich nicht reiten, absolut nicht!«

Auf S. 416 wird erzählt, wie freudig sich Syrr von Kara ben Nemsi beim ersten Zusammentreffen reiten läßt.

I, S. 319: »Schattenfell nannten sie es ... Niemals zuvor hatte ein Mann es geritten, doch ich nahm es und zähmte es, und so geschwind trug es mich, daß ...«

II, S. 146: »Wo ist Schattenfell?« fragte Gandalf. »Er ist auf der Weide und nicht zu bändigen«, antworteten sie. »Von keinem Menschen läßt er sich anrühren. Dort läuft er ... wie ein Schatten zwischen den Weidenbäumen.« Gandalf pfiff und rief laut den Namen des Pferdes, und in weiter Ferne hob es den Kopf und wieherte, wandte sich um und schoß wie ein Pfeil auf das Heer zu.

Ihr Fell schimmert eigenartig.

S. 410: Die Behaarung war seidenweich und biberfein, fast schwärzer noch als schwarz, aber die Spitze jedes einzelnen Haares wie in eine Brillanttinktur, in lichten Fluß getaucht und darum leise aber doch ganz deutlich schimmernd. So Etwas hatte ich noch nie gesehen. I, S. 319: »Bei Tage schimmert sein Fell wie Silber ...«

Sie wollen nicht gezäumt werden.

S. 530: Assil und Bark waren schon gesattelt, Syrr noch nicht. Ich tat es selbst. Sonderbar! Als ich ihm das Mundstück einschieben wollte, weigerte er sich, seine Zähne zu öffnen. Ich bat ihn; er tat es trotzdem nicht; ihn aber zu zwingen, fiel mir gar nicht ein. III, S. 33 f.: »Wo ist sein Geschirr? Es sollte prächtig und schön sein.« »Keins ist prächtig und schön genug für ihn« sagte Pippin. »Er will keins haben. Wenn er bereit ist, Euch zu tragen, dann trägt er Euch; und wenn nicht, dann wird kein Zaum und kein Zügel, keine Peitsche und kein Riemen ihn gefügig machen.«

Das Pferd rast so ruhig dahin, daß der Reiter den Eindruck hat, die Erde rase in entgegengesetzter Richtung.

S. 472: War Syrr jetzt Geist geworden, nur Geist, vollständig ohne Fleisch und II, S. 236: Schattenfell warf den Kopf zurück und wieherte laut ... Dann


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Bein? Er lief nicht mehr; er galoppierte und rannte nicht mehr, und-er flog nicht mehr! Nein! Sondern wir standen still. Aber die Ebene, die ganze Erde um uns war in rasender Bewegung. Sie schoß auf uns zu und rechts und links und unter Syrrs lang ausgestreckten Leib hinweg nach hinten. schnellte er davon. Funken stoben unter seinen Hufen; die Nacht senkte sich auf ihn herab.

Als ihn allmählich der Schlaf übermannte, hatte Pippin ein seltsames Gefühl: er und Gandalf waren still wie Stein und saßen auf dem Standbild eines rennenden Pferdes, während die Welt unter seinen Füßen dahinzog und der Wind heftig brauste.

Diese Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten zwischen den beiden Pferden sind wohl sehr merkwürdig, frappierend vor allem in ihrer Gesamtheit. Aber auch die einzelnen sind es, wenn auch in verschiedenem Maße. Ein Pferd mit so ausschließlicher Bindung an seinen Herrn, daß es keinen anderen Reiter zu tragen bereit ist, mag einem uralten Wunschtraum entsprechen, und wenn sich dies so verhält, ist dieser Ausdruck besonderer Treue wahrscheinlich auch schon vor Syrr und Schattenfell einzelnen edlen Pferden in Sagen oder Märchen nachgerühmt worden. Von der Weigerung der beiden Pferde, sich zäumen zu lassen, ist dies jedoch nicht anzunehmen. Zwar konnten sie trotzdem, wie die Erzählungen zeigen, sei es mit Halfter und Schenkeldruck, sei es durch Worte, auf dem gewünschten Weg zum jeweiligen Ziel gelenkt werden, aber die Unmöglichkeit plötzlicher und präziser Willensübertragungen ist doch ein so schwerer Nachteil, daß man sich nur denken kann: Wie großartig müssen die Vorzüge dieser Pferde gewesen sein, daß sie trotz dieses Nachteils als die besten ihrer Zeit gelten konnten! Und gewiß ist der übereinstimmende Hinweis auf eine so nachteilige Eigenheit zweier berühmter Pferde, die übrigens bei Syrr offenbar auch eine allegorische Bedeutung hat, noch viel erstaunlicher als der Gleichklang in der Rühmung von Vorzügen.

Wie lassen sich diese Übereinstimmungen erklären? Keinesfalls handelt es sich bei den Zitaten über Syrr und Schattenfell um gleichsam in der Luft liegende Gedanken, wie sie oft zwei oder mehreren Schriftstellern gleichzeitig einfallen, sondern um nebensächliche Einzelheiten ohne Aktualität. Wir müssen also zur Erklärung wohl einen Zusammenhang zwischen den Aussagen der beiden Autoren annehmen. Und dieser könnte mittelbar durch eine gemeinsame Quelle mit den gleichen Aussagen über ein Pferd gegeben sein, aber das ist, da uns eine solche Quelle nicht bekannt ist,


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derzeit bloße Theorie. In der Praxis können wir uns nur über einen unmittelbaren Zusammenhang Gedanken machen und müssen dabei mit der Frage beginnen: Ist eine Bekanntschaft J. R. R. Tolkiens mit Reiseerzählungen Karl Mays einigermaßen wahrscheinlich? Da jener sich schon während seiner Gymnasialzeit mit Deutsch beschäftigt hat und von seinen Erziehern wahrscheinlich viel katholische Literatur zu lesen bekam, zu der Mays Reiseerzählungen lange gerechnet wurden, könnte man es wohl für möglich halten, daß er schon damals Karl Mays Werke kennengelernt hat. Um aber Verläßliches darüber zu erfahren, bat ich Christopher Tolkien, den jüngsten Sohn des Dichters und Betreuer seiner Werke, brieflich um Auskunft, ob die erhalten gebliebene Bibliothek seines Vaters May-Bände enthält, wenn ja, welche, und wenn nicht, ob er etwas über eine Bekanntschaft seines Vaters mit Karl Mays Reiseerzählungen wisse. Darauf erhielt ich vom Verlag George Allen & Unwin Ltd., London, ein Schreiben des Verlegers Rayner S. Unwin, vom 3. August 1979, worin er über ein Gespräch mit Christopher Tolkien folgendes berichtete(23): »He tells me that certainly Professor J. R. R. Tolkien's library did not contain any of the works of Karl May, but he would obviously not be able to say for certain that his father was unfamiliar with this author. All he can say is that as far as he knows, the similarities are coincidental.«

Die gestellte Frage bleibt also weiterhin ungeklärt, und wir sind wie bisher auf Vermutungen angewiesen. Der Umstand, daß Christopher Tolkien, der Vertraute seines Vaters bei dessen dichterischem Schaffen, von einer Karl-May-Lektüre nichts weiß, erlaubt es uns wohl nur, eine solche in früheren Zeiten, vor allem in der Jugend des Dichters, zu vermuten. Und das wäre ja auch plausibler, da es erklärbar machen könnte, wieso dieser sich bei der Niederschrift der obigen Stellen über Schattenfell der Übereinstimmungen mit Karl May offenbar nicht bewußt war. Denkbar ist, daß er nach den Jugendjahren, in denen er vielleicht etwas von Karl Mays Reiseerzählungen gelesen hatte, ihn ganz aus den Augen verlor, während Eindrücke, die er aus diesen Erzählungen gewonnen hatte, in einem Winkel des Gedächtnisses erhalten blieben, wobei nicht nur die Erinnerung an den Autor, sondern auch das Bewußtsein einer fremden Urheberschaft überhaupt allmählich verblaßte und schließlich erlosch. Und es mag also - vielleicht neben anderen


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Eindrücken das Bild eines edlen Pferdes mit geheimnisvoll schimmerndem Fell das alles überdauert haben, eines Pferdes, das sich nicht zäumen läßt, nicht einmal von seinem geliebten Herrn, dem allein es jedoch als Renner zu dienen bereit ist, wobei es in höchster Geschwindigkeit mit solcher Ruhe dahingleitet, daß der Reiter das Gefühl hat, ohne Vorwärtsbewegung stillzusitzen und den Erdboden in der Gegenrichtung dahinrasen zu sehen. Die Möglichkeit, daß »Gelesenes, längst Vergessenes« in seiner Dichtung Platz gefunden habe, hat J. R. R. Tolkien selbst anerkannt, als er über die Entstehung einer solchen Geschichte wie "Der Herr der Ringe" gesagt hat, sie wachse »wie ein Same im Dunkeln aus dem Blätter-Humus des Geistes: aus all dem, was man gesehen, gedacht oder gelesen hat, aus längst Vergessenem, das man aus den Tiefen heraufholt.«(24) So will ich, solange es nicht widerlegt wird, vermuten, daß Tolkien aus diesen Tiefen manchmal auch Karl-May-Eindrücke in seine Dichtung heraufgeholt hat.



Zitate aus Tolkiens "Der Herr der Ringe" und aus Karl Mays Reiseerzählungen (Fehsenfeld-Ausgabe) werden belegt durch die Nr. des Bandes in römischen und die Seitenzahl in arabischen Ziffern, Zitate aus "J. R. R. Tolkien - Eine Biographie" von Humphrey Carpenter (Klett-Cotta, Stuttgart 1979) durch den Namen Carpenter und die Seitenzahl.

1 J. R. R. Tolkien: "Der Herr der Ringe". Klett Stuttgart 1969, Kartonierte Ausgabe 1972. Von der englischen Ausgabe waren der I. und II. Teil 1954 erschienen, der III. Teil 1955 bei George Allen & Unwin Ltd., London. Die in der Regel nur mit den Anfangsbuchstaben angeführten Vornamen des Dichters lauten: John Ronald Reuel.

2 "Old Shatterhand im Märchenland" in der Wochenschrift "Die Furche", Nr. 33 vom 15. 8. 1970

3 Laut II, 193, handelt es sich um Huorns, fast ganz zu Bäumen gewordene Ents. Laut Carpenter, 39, erinnerte Tolkien sich in späteren Jahren »der bitteren Enttäuschung und des Widerwillens aus Schultagen gegen den kümmerlichen Sinn, in dem bei Shakespeare "Birnams Wald anrückt auf Dunsinan": Ich hatte Lust, eine Handlung zu erfinden, in der die Bäume wirklich in den Kampf zögen.«

4 III, 226

5 In der Einleitung zu "Winnetou", VII, 5

6 Carpenter, 254

7 Ebd. 202

8 III, 359

9 III, 142

10 Im englischen Text: heathen kings

11 I, 11

12 I, 12

13 Carpenter, 232

14 I, 12


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15 II, 370

16 Carpenter, 223

17 Ebd. 219

18 Ebd. 223

19 Ebd. 227

20 Ebd. 253

21 Ebd. 233

22 Willi Reich: "Karl-May-Wissenschaft" in "Neue Freie Presse". Wien, 7. 1. 1936

23 In deutscher Übersetzung: »Er sagt mir, daß Professor J. R. R. Tolkiens Bibliothek gewiß nichts von Karl Mays Werken enthielt, doch wäre er natürlich nicht in der Lage, mit Sicherheit zu sagen, daß sein Vater mit diesem Autor nicht bekannt war. Alles, was er sagen kann, ist, daß, so viel er weiß, die Ähnlichkeiten zufällig sind.« Zum letzten Satz ist zu bemerken, daß ich in meinem Brief an Christopher Tolkien erwähnt hatte, es seien mir Ähnlichkeiten mit Karl May aufgefallen, aber ohne genauere Angaben darüber.

24 Carpenter, 148


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