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CHRISTOPH F. LORENZ

»Als lyrischen Dichter müssen wir uns Herrn May verbitten«?

Anmerkungen zur Lyrik Karl Mays*



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Wer über einen Schriftsteller spricht oder schreibt, der nahezu vergessen ist, gerät leicht in den Verdacht, bloß auf das Sensationelle einer Neuentdeckung oder Wiederentdeckung aus zu sein; wer sich zum Anwalt bestimmter Werke eines Schriftstellers macht, die entweder weitgehend unbekannt sind oder als unbedeutend gelten, sieht sich oft ähnlichen Vorwürfen ausgesetzt. Darum möchte ich zu Beginn meiner Ausführungen über die Lyrik Karl Mays, die den meisten May-Freunden oder May-Forschern entweder unbekannt oder aber recht suspekt ist, betonen, daß es nicht darum gehen kann, Karl May gegen seine eigenen Werke zu verteidigen. Dies ist auch gar nicht nötig. Manche Gedichte Mays sprechen so unmittelbar für sich selbst, daß ein Kommentar gänzlich überflüssig erscheint. Andererseits kann auch nicht bestritten werden, daß einige Gedichte der im Jahre 1900 erschienenen Gedichtsammlung "Himmelsgedanken" die Grenzen des heute Erträglichen streifen. Davon wird noch die Rede sein müssen; gestatten Sie mir nun aber, einen Blick auf eine Frage zu werfen, die sich dem Unbefangenen im Hinblick auf das Thema meines Vortrages sicherlich stellen wird: warum ist das Thema "Karl May als Lyriker" überhaupt aktuell und interessant? Hat May denn irgendwelche nennenswerten Gedichte geschrieben? Die Frage ist sicherlich berechtigt. Im Gesamtoeuvre Mays nimmt sich der Komplex der Gedichte zahlenmäßig sehr bescheiden aus.

   Frühe Gedichte finden sich hauptsächlich in Kolportageromane und Erzählungen eingeschoben; der junge Schriftsteller May scheint zwar durchaus Iyrisches Talent zu besitzen - selbst ein Cardauns hielt die im "Waldröschen" eingeschobenen Gedichte für »gar nicht übel«(1) -, verspürte aber wenig Lust, sich mit den berühmten Lyrikern seiner Zeit in direkten Wettstreit zu begeben. Wenn ich von »berühmten Lyrikern« spreche, so sind damit durchaus nicht Männer wie Heine ge-

* Vortrag, gehalten auf der Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Berlin am 2. Oktober 1981.


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meint; sicherlich war er, sieht man einmal von der Weimarer Klassik ab, der meistzitierte und wohl auch bekannteste deutsche Lyriker in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Bürgertum liebte, so paradox dies auch klingen mag, Heines romantische Gedichte, insbesondere das "Buch der Lieder", heiß und innig. Insofern ist es nur konsequent, wenn May in seinen Kolportagewerken öfters Heine zitiert; übrigens finden sich bei ihm ja auch Anspielungen auf Lenau, wie Sie unlängst in den Schriften der Karl-May-Gesellschaft nachlesen konnten. Bei Lenau liegt der Fall etwas anders als bei Heine; Lenau dürfte May - dies ist freilich nur eine Hypothese - insbesondere als Amerikafeind interessiert haben, denn er war es ja, der sich in Briefen und anderen Äußerungen gegen die damals grassierende Sucht der Auswanderung in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten wandte. Inwieweit seine Haltung wirklich ehrlich war, ist vor einigen Jahren von einem Literaturwissenschaftler untersucht worden, der sich auch mit Gerstäckers Widerlegung der »Lenau-Legende«, wie dieser Wissenschaftler es nannte, näher beschäftigte.(2) Möglicherweise hat Karl May der Dichter Lenau also nicht so sehr als Lyriker, sondern sozusagen als »Antipode«, was das Amerikabild angeht, interessiert. Wenn aber vorhin von den »berühmten Lyrikern« der damaligen Zeit, also nach 1850, die Rede war, so waren damit vor allem Männer wie Emanuel Geibel und Karl Gerok gemeint. Geibel  w a r  einer der beliebtesten und  g a l t  als einer der bedeutendsten Lyriker seiner Zeit, wobei es unerheblich ist, daß die heutige Literaturwissenschaft und wohl auch die heutigen Leser dieses Urteil durchweg nicht teilen. Geroks "Palmblätter" sind der Prototyp der gefühlsbetonten religiösen Lyrik der damaligen Zeit; wie Geibel hatte auch Gerok eine Vorliebe für exotische Motive, was May sicher sehr interessiert hat. In der "Liebe des Ulanen" wird Geibel, aber auch Gerok zitiert, und Mays frühe Gedichte lassen sich mit denen der beiden berühmten Zeitgenossen, und durchaus nicht zu ihrem Schaden, vergleichen.

   Der größte Teil von Mays Iyrischem Schaffen findet sich aber in seiner Sammlung "Himmelsgedanken", im Jahre 1900 erschienen und im wesentlichen auf der Orientreise 1899/1900 entstanden. Diese Gedichte gehören bereits einer ganz anderen Phase des Mayschen Schaffens an, wie ihr Inhalt - nicht unbedingt ihre Form - sofort erkennen läßt. Es handelt sich ausschließlich um religiöse Gedankenlyrik; Vorbilder dafür gab es in der damaligen Zeit genug. Mays Gedichte unterscheiden sich aber von den meisten vergleichbaren Schöpfungen seiner Zeitgenossen dadurch, daß sie einem klaren gedanklichen Aufbau folgen, ja bisweilen geradezu pedantisch nach didaktischen


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Grundsätzen aufgebaut sind. Dies hat seine Vorzüge: der Dichter gerät nicht so leicht »ins Schwimmen«, wie es etwa einem Schöpfer rein gefühltsbetonter religiöser Lyrik wie Gerok in seinen "Palmblättern" erging. Geroks sentimentale und oftmals nur recht oberflächlich an religiöse Themen gebundenen Gedichte leiden für heutiges Empfinden an einem Übermaß nur »schöner« Verse, während die eigentliche  A u s s a g e  dagegen oft kümmerlich wirkt. Dies wiederum ist bei May ganz anders: man könnte dem Schriftsteller oftmals vorwerfen, seine moralisch-religiösen Absichten nur notdürftig in eine doch oft recht holprige Gedichtform gekleidet zu haben.

   Liest man zeitgenössische und heutige Kritiken über die "Himmelsgedanken", so wird man meist erstaunt feststellen, daß weder die Zeitgenossen noch die heutigen Forscher sich der Mühe unterzogen haben, Mays Gedichte an ihren Vorbildern zu messen. Hätten sie es getan, so hätte sich bald schon herausgestellt, daß May gar keine Vorbilder im engeren Sinne hatte. Vielmehr geht er in den "Himmelsgedanken" schon eigene Pfade, sehr persönliche zum Teil, verarbeitet manche seelische Erschütterung, die er in der Zeit der Orientreise erlebte, in den Gedichten, wobei solche Hintergründe oft recht geschickt unter der Maske einer rein religiösen Lyrik verborgen bleiben. Um Mißverständnissen vorzubeugen: ich halte die "Himmelsgedanken" nicht wie Hans Wollschläger für eine »ziemlich leerlaufende Reim-Maschinerie«(3) und auch nicht für einen religiösen Etikettenschwindel. Bei May ging das religiöse Empfinden wohl doch tiefer als bei manchem oberflächlich-süßlich dahindichtenden religiösen Lyriker seiner Zeit; ein Gedicht wie "Die Menschheitsseele" beweist, daß Religiöses und »private« Seelenkämpfe in seinen Gedichten zu einer durchaus sinnvollen Einheit verschmelzen konnten. Wenn man also Mays »späte« Lyrik mit anderen Iyrischen Ergüssen der damaligen Zeit vergleicht, schneidet sie weitaus besser ab als in den meisten kritischen Beurteilungen von damals bis heute. Daß Wollschläger die "Himmelsgedanken" mit einem so in jeder Hinsicht drittklassigen Werk wie Güldenstubbes "Gedanken der Geister von jenseits des Grabes"(4) vergleichen konnte, zeigt, wie wenig man sich heute mit der religiösen Lyrik der damaligen Zeit beschäftigt. Sicher hat Güldenstubbes religiöses Poesiealbum May auch ein wenig beeinflußt - aber bei Licht besehen stehen die "Himmelsgedanken" recht eigenständig und eigengewichtig da, wie noch zu zeigen sein wird.

   Mit diesen einleitenden Darlegungen will ich keineswegs die Ergebnisse meiner Beobachtungen zu der Mayschen Lyrik vorwegnehmen; vielmehr soll hier der Rahmen für das weitere Vorgehen abgesteckt


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werden. Sicherlich ist die Sammlung "Himmelsgedanken" in sich ungleichgewichtig und auch uneinheitlich. Dies ändert aber nichts an ihrer stark positiv zu vermerkenden Eigengesichtigkeit. Offenbar irren sich auch diejenigen, die mit Mays Gedichten gar nichts anfangen können und die "Himmelsgedanken" für eine reine Brot- und Prestigearbeit halten; es ist nicht wenig bedeutsam, daß Karl May sich mit 58 Jahren noch einmal entschließt, einen ganz neuen Weg zu betreten - immerhin ist es ja auch ein Entschluß besonderer Art, wenn ein Autor von Reise- und Abenteuerromanen, der bislang seine Gedichte nur verschämt in seinen Erzählungen versteckte, beschließt, zum ersten Mal mit einem reinen Gedichtband an die Öffentlichkeit zu treten. Der Sprung über die Vergangenheit ist, wie Wollschläger es schon richtig beobachtet hat(5), ein wahrhaft unheimliches Schauspiel; aber ist es denn gar so unlogisch, wenn May auf der Orientreise mit ihren von uns bestenfalls zu erratenden psychologischen Krisen größten Ausmaßes zunächst einmal seine Zuflucht zu der intimen, oft hermetisch in eine strenge Kunstform eingegossene Literaturgattung des Gedichtes nimmt? Und doch sind diese Gedichte nicht nur Ausdruck eines infantilen Stammelns, eines Rückfalls in die Kinderzeit - das gilt allenfalls für die Mutter- und Großmuttergedichte der "Himmelsgedanken" -, wie Wollschläger in seiner zweiten, um einiges differenzierteren Beurteilung der "Himmelsgedanken" meinte(6); vielmehr richtet May in den besseren dieser lyrischen Schöpfungen seine Augen wirklich zu »den Bergen, von denen ihm die Hilfe kommt«, und damit werden die Berge von Dschinnistan nicht von ungefähr vorgeahnt. In diesem Zusammenhang mag es nicht verwundern, wenn man gleich zu Beginn der "Himmelsgedanken" ein Gedicht findet, das folgendermaßen beginnt:

Ich sehe Berge ragen
Dort an der Steppe Rand.
Es soll mein Fuß mich tragen
Hinauf ins bess're Land.
Dort ladet, wie ich glaube,
Zur Ruhe man mich ein
Und von dem Wanderstaube
Werd ich gereinigt sein.

   Dies ist alles gewissermaßen noch auf einer ganz und gar irdischen Ebene gedacht; die Berge, von denen hier gesprochen wird, sind ganz reale, etwa die Algeriens, von denen May in der "Liebe des Ulanen" schreibt; May beginnt seine geistige Wanderung sehr sinnvoll auf der Stilebene seiner Reiseerzählungen, um sich in den folgenden Strophen ganz allmählich von dieser Ebene zu entfernen und immer mehr in geistigen Gefilden zu »wandern«:


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Ich sehe Berge ragen
Empor zum geistgen Ziel.
Es thürmen sich die Fragen.
Doch frage ich nicht viel.
Es wird ja doch beim Steigen,
Halt ich zuweilen an,
Sich ganz von selber zeigen,
Wie weit ich schauen kann.

   Hier werden die Vorzeichen für den weiteren Gang der Gedanken bereits deutlich gesetzt: das Ziel der Wanderung, auf die sich der Autor begeben hat und auf der wir ihm jetzt folgen wollen, ist nicht ein beliebiger Berggipfel, sondern es ist ein geistiges Ziel. Allerdings weiß May, daß man auf dem Weg in die geistige Welt nicht zu schnell schreiten darf, denn: Es thürmen sich die Fragen. Das gilt etwa auch für die "Himmelsgedanken", bei deren Lektüre sich ja tatsächlich die Fragen türmen: die der Kritiker nach dem literarischen Wert der Gedichte, die der May-Gemeinde, warum denn der Reiseschriftsteller plötzlich zum Lyriker wird, aber auch die des Dichters May, wo sein Weg durch das Leben beginne und wo es ende. Jedoch - im Gegensatz zu den Kritikern und zu einem Teil der May-Gemeinde - May faßt einen mutigen Entschluß: Doch frage ich nicht viel. Es wird ja doch beim Steigen, Halt ich zuweilen an, Sich ganz von selber zeigen, Wie weit ich schauen kann. Wenn ein Künstler erst einmal diesen Entschluß gefaßt hat, sich nicht wie Lots Frau umzuschauen, sondern erst einmal weiterzuschreiten, dann mögen uns Einwände gegen die künstlerische Qualität mancher in die "Himmelsgedanken" aufgenommenen Gedichte und Sprüche belanglos und belächelnswert vorkommen. In der Sammlung gibt es immer wieder Momente, wo man spürt, daß der Dichter gewissermaßen einhält, um zu sehen, wie weit ich schauen kann und wie weit er noch zu gehen hat. Dies sind denn auch die Augenblicke, in denen May ein Gedicht gelingt, das im Vergleich zu den anderen aufhorchen läßt und nachdenklich stimmt. Diese kleinen »Rastpausen« mit darauf folgenden neuen Impulsen sind es, die dem Leser - so ging es jedenfalls mir bei der Lektüre - Mut machen, trotz manchem schwachen Gedicht weiterzulesen in diesem rund 360 Seiten starken Gedichtband.

   In der letzten Strophe des Gedichtes "Ragende Berge" geht May dann noch einen Schritt weiter; nunmehr wird die Metaphorik ragende Berge - einsamer Wanderer eindeutig religiös gedeutet:

Ich sehe Berge ragen
Bis in des Lichtes Reich.
Der glaube wird mir sagen
Den Weg, den rechten Steig.


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Dort find ich offne Thüren;
Mein Engel tritt heraus
Und wird mich weiter fahren
Bis in das Vaterhaus.
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   Jetzt ist die Wanderung vollendet: dreimal hat der Dichter dasselbe Bild auf verschiedene Weise beleuchtet. Sieht man einmal von der ganz nüchternen Deutung ab, die die Metapher des Bergsteigens wörtlich nimmt, so hat May dieses Bild dreimal unterschiedlich verwandt: in der ersten Strophe konnte man die »Wanderung« als ein Bild des Lebensweges jedes Menschen verstehen - wobei Karl Mays Leben als exemplarisch für das des irrenden Menschen dargestellt wird; nicht umsonst bezeichnete May in seiner späten Phase das »Menschheitsproblem« als identisch mit dem »May-Problem«, womit mehr gemeint ist als bloße eitle Selbstbespiegelung. In der zweiten Strophe ist dann schon von der geistigen Wanderung die Rede, auf die der Autor die Leser mitnimmt - auch in den "Erzgebirgischen Dorfgeschichten" spricht er ja davon, er wolle den Leser in die Berge führen - in diesem Sinne kann man jedes Gedicht der "Himmelsgedanken" als ein kleines Wegstück der großen Wanderung ansehen. Schließlich wird dann in der dritten Strophe der Blickwinkel noch einmal vergrößert: nunmehr spricht May konkret von dem himmlischen Ziel, in das die Lebenswanderung des Menschen einmünden soll, und nun steht auch nicht das Schicksal des Menschen Karl May stellvertretend für das aller Menschen da, sondern die letzten Zeilen sind ganz überindividuell losgelöst von dem schweren Kampf mit seiner Vergangenheit, den May damals auszufechten hatte, gehalten: Mein Engel tritt heraus / Und wird mich weiter führen / Bis in das Vaterhaus /, das ist nun ein Satz, den jeder aussprechen kann, und mit Verwunderung konstatiert er mit dem Dichter, daß die Lebenswanderung dort aufhört, von wo sie einmal ausgegangen ist, nämlich im Vaterhaus, in Gottes Reich.

   Die verschiedenen Blickwinkel, aus denen man das Gedicht betrachten kann, der autobiographische, der sozusagen auf das dichterische Werk, die Sammlung "Himmelsgedanken" selbst bezogene, und schließlich der religiös-philosophische Gesichtspunkt, behalten für das gesamte Alterswerk ihre Gültigkeit; im "Silberlöwen" oder in "Ardistan und Dschinnistan" überschneiden sich verschiedene Lese- und Darstellungsebenen, die biographische mit der weltanschaulichen mit der Märchenebene usw. Dabei darf man nicht von der Ansicht ausgehen, als seien diese Ebenen tatsächlich sauber zu trennen, worauf schon Hans Wollschläger in einer gründlichen Studie hingewiesen hat.(8) Man kann etwa die Gestalt des Ahriman Mirza als eine Spiegelung von


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Mays Widersachern in der Zeit des »May-Kampfes« deuten, wobei Fedor Mamroth, der allgemein als das reale Urbild des Ahriman Mirza gilt, sicherlich  k e i n e r  der Hauptfeinde Mays war, was der Deutung Ahriman M. = Fedor M. widerspricht. Man kann in dieser Gestalt aber auch eine verschlüsselte Abrechnung mit Nietzsche erblicken, was allerdings höchstens durch dessen »Übermenschen«-Philosophie zu begründen wäre. Schließlich ist Ahriman Mirza in der letzten »Schicht« ganz einfach der »Fürst der Finsternis«, die ahrimanische Komponente des Bösen - im Gegensatz zu Luzifer, dem Lichtbringer. Diese letzte, gewissermaßen archetypische Schicht, von Wollschläger mit Recht als »Grundschicht« bezeichnet, trägt am meisten zu einer zutreffenden Deutung der Gestalt des Ahriman Mirza bei. Freilich darf man die beiden anderen Schichten auch nicht vernachlässigen.

   In diesem Sinne lassen sich auch in Mays "Himmelsgedanken" mehrere »Schichten« unterscheiden, die nicht ohne Mühe voneinander getrennt werden können. Freilich muß man hier berücksichtigen, daß May in den "Himmelsgedanken" eine weitaus schlichtere literarische Form wählt als in den ungleich komplexeren großen Prosa-Alterswerken. Den »Plan« der Gedichte kann man oft schon aus ihrer äußeren Form erkennen. Mit Vorliebe bedient sich May des Mittels des identischen Anfangs aller Strophen, wodurch nicht nur der innere Zusammenhang des Gedichts gewährleistet ist, sondern dem Autor auch die Möglichkeit gegeben wird, seine Gedanken, wie etwa so eindrucksvoll in "Ragende Berge" geschehen, sukzessiv, Schritt für Schritt zu entwickeln. Dies bringt natürlich auch Gefahren mit sich: nicht ohne Grund fiel schon den zeitgenössischen Kritikern die »didaktische Tendenz« der Mayschen Lyrik auf. Daraus resultierten etliche harte Vorwürfe gegen den Lyriker May; Hermann Cardauns meinte in einer seiner ersten Polemiken gegen May denn auch, »als Iyrischen Dichter« müsse man sich »Hrn. May verbitten«.(9) Mays Reaktionen auf diese Kritik waren entsprechend verbittert; in seiner als Leserreaktion getarnten Streitschrift "Die Wahrheit über Karl May", als "Dankbarer Leser" bekannt geworden, greift er Cardauns scharf an und verteidigt sich auf der anderen Seite auch mit durchaus sachlichen Argumenten: Die »Himmelsgedanken« bieten ( . . . ) etwas ganz anderes als das, was man religiöse Lyrik nennt. Die genannte Zeitung scheint auf dichterischem Gebiete nicht daheim zu sein. ( . . . ) Sie nennt seine » Reiseerzählungen« ganz »eigenartige Schöpfungen«. Warum sucht sie nicht auch bei den Gedichten nach dieser Eigenart? Aber May  d u r f t e  kein Dichter sein, und darum ist er keiner.(10) Einem kritischen Beobachter wie Hans Wollschläger fiel auf, daß dies  k e i n e  stichhaltige Verteidigung sei,


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und er folgerte daraus, May habe gemeint, »dem Kunsturteil« entgehen zu können, »wenn er sich nur religiös genug gebärde«.(11) Dies aber ist ein Irrtum. In der Tat traf May schon das Richtige, als er darauf pochte, die Eigenart seiner Gedichte ins rechte Licht zu setzen. Mays "Himmelsgedanken" unterscheiden sich wahrlich sehr stark von der »religiösen Lyrik« seiner Zeit; der allmähliche Wechsel der »Betrachtungsebene«, wie er in dem analysierten Gedicht beobachtet werden konnte, vom Gegenständlich-Konkreten zum Symbolisch-Abstrakten, unter Beibehaltung eines einheitlichen Formschemas - identischer Anfang der Strophen -, ist Mays ureigene lyrische Manier, wenn man es boshaft formulieren will. Andererseits hebt er sich deutlich von dem Gefühlsschwulst mancher religiös gefärbter Gedichte seiner Zeitgenossen ab. Dies hängt durchaus nicht damit zusammen, daß er eben  k e i n  L y r i k e r  gewesen sei, sondern ein Prosaschriftsteller. Auch dies ist ja ein Bestandteil der Karl-May-Legende, der sich hartnäckig bis heute hält. Dabei muß man bedenken, daß May bereits in seinen frühen Werken, etwa in den Kolportageromanen, die freilich nicht seiner frühesten schriftstellerischen Phase angehören, nachdrücklich als Lyriker auftritt, nur daß eben die Gedichte, auf das Ganze besehen, einen verschwindend kleinen Teil des Gesamtwerkes ausmachen. Deutet dies nicht vielleicht auch darauf hin, daß May ein  v e r h i n d e r t e r  L y r i k e r  war, der Prosawerke schrieb, weil nur große Romane und in geringerem Maße exotische Reiseerzählungen damals erfolgversprechend und geldträchtig waren? Identifizierte sich May nicht vielleicht in einem gewissen Maße mit der Figur eines Robert Bertram aus dem "Verlorenen Sohn", der sich Not, Armut und Unterdrückung in Gedichten von der Seele schreibt und sich so mit Hilfe mächtiger Freunde einen großen Namen in der Welt der Literatur macht? Spürte May nicht, daß die Form des Gedichtes oft wesentlich durchlässiger für die Wiedergabe von Gefühlen, persönlichen Enttäuschungen und Erfahrungen sowie Idiosynkrasien aller Art als die der Erzählprosa ist? Vieles spricht dafür, daß er seine lyrische Begabung - und die besaß er zweifellos - bis zu dem großen seelischen Zusammenbruch auf der Orientreise ebenso systematisch unterdrückte wie alle weicheren, weiblichen Seelenregungen, um das harte, väterliche Erbe rücksichtsloser Egoität um so stärker hervortreten zu lassen. Es ist bezeichnend, daß die großen Reiseerzählungen der Old-Surehand-Zeit mit ihren oft erschreckenden Vernichtungsphantasien für Lyrik keinen Platz bieten, während doch immerhin noch im "Winnetou II" eine so bedeutungsvolle lyrische Einlage wie "Die fürchterlichste Nacht" zu finden ist.

Dieses frühe Gedicht Mays, das er in das "Waldröschen", in den


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"Verlorenen Sohn" und in den "Winnetou II" hineinverwoben hat, ist in mehrerer Hinsicht interessant und aufschlußreich für das lyrische Werk Mays. Besonders bedeutsam ist die Tatsache, daß es noch aus der Haftzeit Mays stammt und daß die Urschrift des Gedichtes erhalten ist. Es sei hier im originalen Wortlaut zitiert(11a):

Kennst du die Nacht, die auf die Erde [nach dem Himmel] sinkt
Bei hohlem Wind und scheuem Regenfall
Die Nacht, in der kein Stern am Himmel blinkt
Kein Aug durchdringt des Nebels dichten Wall?
So finster diese Nacht, sie hat doch einen Morgen
O
[dann] lege dich zur Ruhe und sei ohne Sorgen!

Kennst du die Nacht, die auf das Leben sinkt
Wenn dich der Tod aufs letzte Lager streckt
Und nah der Ruf der Ewigkeit erklingt
Daß dir der Puls in allen Adern schreckt?
So finster diese Nacht, sie hat doch einen Morgen
O lege dich zur Ruhe und sei ohne Sorgen!

Kennst du die Nacht die auf den Geist dir sinkt
Daß er vergebens
[laut] um Erlösung [Hülfe] schreit
Die schlangengleich sich ums
[um das] Gedächtniß schlingt
Und tausend Teufel ins Gehirn dir speit?
O sei vor ihr ja stets in wachen Sorgen
Denn diese Nacht allein hat keinen Morgen!

Dieses frühe May-Gedicht interessiert in mehrfacher Hinsicht. Es ist ein hochinteressantes autobiographisches Dokument, das uns einiges über Mays seelische Verfassung während oder kurz nach seiner Haftzeit, also etwa zwischen 1870 und 1875, eine genaue Datierung ist leider nicht möglich, sagt. Betrachtet man das im Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft faksimilierte Manuskript des Gedichtes, so fällt sofort das Unsichere und Zitterige der Handschrift auf.(12) Dies ist nun für Mays Arbeitsweise wirklich ungewöhnlich, denn die meisten der uns erhaltenen May-Manuskripte haben ausgesprochenen Reinschriftcharakter. Wer diese Manuskripte einmal auch nur auszugsweise vor Augen gehabt hat, dem wird nicht nur die gestochen saubere Schrift, sondern auch der fast völlige Verzicht auf Ausstreichungen und Verbesserungen aufgefallen sein. May aber war ja immer sehr stolz darauf, daß er nie feile oder ändere! Das Gedicht "Die fürchterlichste Nacht", das im Original keinen Titel trägt, ist nun ganz offensichtlich in großer Eile niedergeschrieben worden. Neben einer Reihe von Verbesserungen


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findet sich eine ganze Anzahl von Wörtern wie »und« oder »der« lediglich abgekürzt. Auch dies ist für Mays Schreib- und Arbeitsweise durchaus ungewohnt. Der Befund, den dieses Manuskript ergibt, läßt sich wie folgt zusammenfassen: das Gedicht "Kennst du die Nacht" ist offensichtlich der dichterische Niederschlag einer ungewöhnlichen psychischen Krise, die May während oder unmittelbar im Anschluß an seine Haftzeit durchmachte. Das Unsichere, Flüchtige, ja Geängstigte des Gedichtes kommt nicht nur in seinem Inhalt zum Ausdruck, sondern auch in der äußeren Form der Niederschrift. Offenbar ist das Gedicht wirklich ein  u n m i t t e l b a r e r  Niederschlag der Mayschen Depressionen und Ängste während seiner Haftzeit; vieles macht den Eindruck, als sei es ihm geradezu unwillentlich aus der Feder geflossen. Man wird dem entgegenhalten können, das Gedicht sei streng logisch und konsequent in seiner Dreiteiligkeit aufgebaut. Das ist unbestreitbar richtig, und schon Max Finke hat auf die Tatsache hingewiesen und dies als Beweis dafür gewertet, daß May in dieser Zeit in einer seelischen Krise steckte, nicht aber  g e i s t e s k r a n k  war.(13) Dennoch darf man sich nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Gedicht "Kennst du die Nacht" offenkundig in fieberhafter Eile und unter seelischem Zwang niedergeschrieben wurde. Nur die gröbsten Schnitzer, Verstöße gegen Metrum und Sinn - wie in der ersten Zeile, wo es ursprünglich hieß: Kennst du die Nacht, die nach dem Himmel sinkt, was wenig oder keinen Sinn ergibt - wurden getilgt, anderes, etwa die ungeschickte Metaphorik in der zweiten Zeile, wo von hohlem Wind und scheuem Regenfall die Rede ist, was zwar sehr eindrucksvoll, aber nicht ganz verständlich ist, blieb stehen. Erst als May das Gedicht in den "Scout" übernahm, die Urfassung der ersten Kapitel von "Winnetou II", 1888, unterzog er es einer stilistischen Revision und Glättung. Daß er sich nach fast zwanzig Jahren seines Jugendgedichtes noch erinnerte, zeigt, daß es für ihn, wie auch das Gedicht "Weihnachtsabend", eine Art Schlüsselfunktion in seinem Werk einnahm. Gar nicht einmal so sehr das Gedicht als Gedicht ist hier bedeutsam, sondern seine Funktion als Katalysator in einer schweren seelischen Krise. Allerdings ist es symptomatisch für Mays Verständnis von Lyrik, daß sich diese Ereignisse zunächst einmal in Gedichtform niederschlugen und erst danach das Gedicht in einen kunstvoll konstruierten Erzählzusammenhang gebracht wird. May spürte, daß die Gedichtform durchlässiger für die »Niederschläge der Psyche« ist als die der Prosa, und so wurde er, ganz unkünstlerisch und doch wieder auf eine geheimnisvolle Weise künstlerisch zum Lyriker aus Passion, nicht unbedingt aus einer eigentlichen lyrischen  B e g a b u n g  heraus. Dennoch weist das Gedicht


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"Kennst du die Nacht" bereits jenen kunstvoll dreigliedrigen Aufbau mit dreifachem Wechsel des Bezugspunktes auf, wie wir ihn bei dem Gedicht "Ragende Berge" aus den späten "Himmelsgedanken" beobachten konnten. Dreimal wechselt der Dichter seine Perspektive, dreimal beleuchtet er mit ganz ähnlichen Worten - und hier ist der parallele Aufbau der drei Strophen auch in der Wortwahl noch viel konsequenter vollzogen worden als in den "Ragenden Bergen" - denselben Sachverhalt auf ganz unterschiedliche Weise. In jeder Strophe ist von der Nacht die Rede, doch ist jedesmal eine andere Nacht gemeint. Zunächst einmal handelt es sich um das Naturphänomen »Nacht«, hier in Verbindung mit Wind und Regen gebracht, also wird hier nichts anderes beschrieben als eine stürmische Nacht. In der zweiten Strophe ist dann schon von »Nacht« in einer übertragenen Bedeutung die Rede: nun geht es um die Nacht des Todes, die den Menschen als Gegenstand ständiger Furcht vor Augen steht. Schließlich wird May in der letzten Strophe noch abstrakter: jetzt ist von der Nacht des Wahnsinns die Rede, aus der es kein Erwachen gibt. Die Ängste des Autors vor der drohenden geistigen Zerrüttung, die Klage über die Ausweglosigkeit seiner Situation trägt auch überindividuelle Züge, wird zur Warnung an alle Menschen, sich vor derartigen Verzweiflungszuständen zu hüten.

   Man sieht also, daß der logische Dreischritt, aus dem May seine Gedichte entwickelt, keine Erfindung des alternden Dichters ist, sondern sich als »roter Faden« durch einen großen Teil seines lyrischen Werkes zieht. Das Zwanghafte, autobiographisch Gebundene des Gedichts "Kennst du die Nacht" wurde bereits betont; es kann aber nicht verborgen bleiben, daß der kunstvolle dreigliedrige Aufbau des Gedichtes bereits stark zu einer gewissen Stilisierung beiträgt. Ohne Zweifel nimmt ein solches Schema, wenn es allzuoft wiederkehrt, leicht den Charakter eines zwanghaften »Stützkorsetts« an, dessen die meisten Gedichte Karl Mays eigentlich nicht bedürfen. Auf der anderen Seite gelingt es May, durch das Prinzip der Wiederholung und Variation bestimmter Wendungen in den einzelnen Strophen seiner Gedichte den Eindruck zu erwecken, als sei seine Lyrik schlicht und betont kunstlos gehalten. Aus diesem Widerspruch heraus und durch die nicht nur oberflächlich religiöse, sondern bisweilen sehr tiefgehende Gedankenwelt der späten Gedichte wird das lyrische Werk Mays für den Forscher interessant, lädt zur weiteren Beschäftigung ein.

   Nun darf man allerdings auch nicht übersehen, daß das Gedicht "Kennst du die Nacht" trotz des interessanten Wechsels der »Darstellungsebene« und trotz aller an die späteren "Himmelsgedanken" gemahnenden Züge noch gewisse reißerische, »kolportagehafte« Mo-


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mente, insbesondere im sprachlichen Ausdruck, nicht verleugnen kann - Daß dir der Puls in allen Adern schreckt. May scheint dies selber gespürt zu haben, denn im "Waldröschen" wird dieses Gedicht dazu benutzt, um das Motto für das Kapitel zu bilden, das in der Manier des Schauerromans schildert, wie der alte Graf Rodriganda durch Gasparino Cortejo in einen wahnsinnsähnlichen Zustand versetzt wird. Hier muß Mays durchaus erschütterndes Iyrisches Dokument einer schweren seelischen Krise zur psychologischen Vorbereitung für eine Szene im Stil des romantischen Schauerromans herhalten, was sicherlich eine gewisse Veräußerlichung mit sich bringt. Andererseits ist es auch psychologisch hochinteressant, wie May dieses Gedicht nicht nur mit den erwähnten Wahnsinnsszenen in Verbindung bringt, sondern es auch in die Nähe der Passagen des Romanes "Waldröschen" rückt, in denen die unrechtmäßige Einkerkerung des Dr. Sternau und das von May als "Weihnacht des Gefangenen" bezeichnete, autobiographisch begründete Ereignis der psychischen Befreiung des Gefangenen am Weihnachtsabend(14) geschildert werden. Hierdurch wird ein scheinbar ganz zwangloser Zusammenhang zwischen den Motiven »Gefangenschaft - Befreiung« und »Wahnsinn« gestiftet, der darauf hindeutet, daß der Ursprung des Gedichts "Die fürchterlichste Nacht" in der Haftzeit Mays zu suchen ist.

   Immerhin: Im "Waldröschen" hat das Gedicht noch eine klar bezeichnete Hilfsfunktion; es wird als Motto oder Warnung in den Zusammenhang des von Motiven des Schauerromanes beherrschten Geschehens integriert oder vielmehr nahezu vereinnahmt, ohne als Iyrisches Kunstwerk für sich wirken zu können. Auch im "Scout" ist das noch so; am Anfang von "Winnetou II" hat May den "Scout" in überarbeiteter Form wieder verwertet. Dort kann man die Geschichte des Deutsch-Amerikaners William Ohlert nachlesen. Sie alle dürften den Zusammenhang kennen, darum nur ganz kurz einige Andeutungen: William Ohlert, der Sohn eines reichen Bankiers aus New York, hielt sich selber für einen Dichter. Durch den Erfolg einiger seiner Gedichte, die in eine der deutschen Zeitungen New Yorks(15) aufgenommen worden waren, bestärkt, beschloß er, eine Tragödie über einen wahnsinnigen Dichter zu schreiben und verfiel daraufhin selbst dem Wahnsinn. Von einem Betrüger namens Gibson wird er aus dem väterlichen Hause entführt und kann erst durch Old Shatterhand, der zeitweilig bei einem New Yorker Privatdetektivcorps arbeitet, wieder aufgefunden werden. Das ist, wie Sie zugeben werden, eine schon recht aufregende Geschichte, die sozusagen eine negative Version von Karl Mays eigener Berufung zum Dichter enthält. Interessant wird sie für unse-


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ren Zusammenhang dadurch, daß hier Gedichte eine große, ja ausschlaggebende Rolle spielen. Die Veröffentlichung einiger Gedichte war der Anlaß dafür, daß William Ohlert sich für einen Dichter zu halten begann, ein Gedicht wiederum hilft Old Shatterhand, Ohlert und seinem Verführer Gibson auf die Spur zu kommen. In der "Deutschen Zeitung", die in New Orleans erscheint, entdeckt er nämlich ein Gedicht von William Ohlert bzw. ein mit den Anfangsbuchstaben seines Namens gekennzeichnetes, wie man besser sagen muß, denn zunächst vermutet der Ich-Erzähler Ohlerts Verfasserschaft nur. Es handelt sich um das eben so ausführlich behandelte Gedicht "Kennst du die Nacht". Die Reaktionen Old Shatterhands auf dieses Gedicht sind so interessant, daß hier ein kleines Zitat aus "Winnetou II" angebracht erscheint: Die Ueberschrift glich der Kapitelüberschrift eines Schauerromans. Das stieß mich ab. Sie lautete: "Die fürchterlichste Nacht." Und ein wenig später heißt es: Ich gestehe, daß die Lektüre des Gedichtes mich tief ergriff. Mochte man es für literarisch wertlos erklären, es enthielt doch den Entsetzensschrei eines begabten Menschen, welcher vergebens gegen die finstern Gewalten des Wahnsinns ankämpft und fühlt, daß er ihnen rettungslos verfallen müsse.(16)

   Allein als Selbstinterpretation ist dies interessant genug; der - wenn auch sehr große - Widerspruch zwischen dem nahezu »reißenden« Ton des Gedichtes, der gut in die Schauerromanatmosphäre der ersten Kapitel des "Waldröschen" paßt, und der inneren Angst, die aus diesem Gedicht spricht, wird von dem Ich-Erzähler präzise erfaßt. Zunächst abgestoßen von der Überschrift des Gedichtes, die ihn sofort an reißerische Kolportage erinnerte - hier ist bereits eine deutliche Distanzierung Mays von seinen Kolportagewerken zu erkennen -, fühlt sich Old Shatterhand dann doch vom Inhalt der Zeilen aufs höchste fasziniert. Die Charakterisierung als Entsetzensschrei eines begabten Menschens stimmt völlig mit dem überein, was wir vorhin feststellten. Also kann man festhalten, daß May die Kunstform »Gedicht« hier ausdrücklich in ihrer Durchlässigkeit für Empfindungen und seelische Vorgänge - auch seelische Krisen - anerkennt, wenn er auch, bescheiden und bezeichnend, die Möglichkeit offenläßt, man könne das Gedicht für literarisch wertlos erklären. Hier wird eine Auffassung von Lyrik erkennbar, die der literarischen Gattung »Gedicht« zwar einen gewissen Wert zuerkennt, diesen aber als vor allem in der Möglichkeit der Wiedergabe intimer Seelenvorgänge in kunstvoller oder schlichter Form bestehend bezeichnet. Das Gedicht wird als Medium akzeptiert, ein nachdrückliches Eigengewicht erhält es jedoch nicht, es bleibt eine Beigabe zu der "Winnetou"-Erzählung.


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   Ein weiteres Indiz für die hier erläuterte Beobachtung ist die interessante Funktion, die das Gedicht "Die fürchterlichste Nacht" im weiteren Verlauf der ersten "Winnetou"-Kapitel hat. Nachdem Old Shatterhand William Ohlert ausfindig gemacht hat und feststellen mußte, daß der Betrüger Gibson sich bei allen Banken als William Ohlert ausgab, da Ohlert sein Ichbewußtsein verloren hat, betätigt er sich geradezu psychotherapeutisch. Wieder spielt hier das Gedicht von der Nacht des Wahnsinns eine zentrale Rolle. Old Shatterhand liest William Ohlert die drei Strophen dieses Gedichtes vor, bei der dritten Strophe, die ja ausdrücklich vom Wahnsinn spricht, beginnt Ohlert sich langsam wieder zu erinnern, und auch sein Ichbewußtsein kehrt ganz kurz zurück, um allerdings bald darauf wieder zu verlöschen. Die heilende Wirkung des Gedichtes, auch wenn sie nur von kurzer Dauer ist (für die endgültige Heilung bietet sich dann das romanhaftere und »handfestere« Mittel eines Kolbenschlages an), beruht auf den autobiographischen Bezügen, die der Verfasser - William Ohlert alias Karl May - hineinverwoben hat. Auch hier zeigt sich, daß May noch in der Reiseerzählungsphase den literarischen Wert von Gedichten, oder sagen wir lieber, seiner eigenen Gedichte, recht niedrig veranschlagt und solche Iyrischen Einschiebsel als Mittel zum Zweck bzw. als psychologisch-autobiographische Dokumente betrachtet. Dies änderte sich nach der Orientreise 1899/1900 entscheidend: nun wurde ihm die Kunstform »Gedicht« wesentlich, teils als Prestigeobjekt, als Zeichen eines neuerwachten literarischen Selbstbewußtseins, teils aber auch als Möglichkeit, die Ereignisse dieser Zeit, vor allem die psychischen Umwälzungen, unmittelbar dichterisch zu verarbeiten. Darüber hinaus gewinnt jedes einzelne Gedicht der "Himmelgedanken" einen Eigenwert, der nicht unbedingt mit einem hohen Kunstwert gleichzusetzen wäre. Bevor May zu der Verdichtung und Verschlüsselung seelischer Vorgänge und geistiger Erkenntnisse in Form symbolischer Kunstprosa gelangte, ging er den Weg über die unmittelbare Form des Iyrischen Kunstwerkes mit der ihr eigenen Bilderwelt. Folgen wir ihm ein wenig in diese Welt und beobachten wir ihn bei seiner Bestandsaufnahme des eigenen Ichs!


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In welcher seelischen Verfassung war May, als er die "Himmelsgedanken" schrieb? Bereits ziemlich zu Beginn der Orientreise mehrten sich die Anzeichen, daß in der Heimat ein ausgesprochenes Gewitter im


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Anzug sei: Nach Kairo werden ihm Briefe von Adalbert Fischer nachgeschickt, in denen der unverhüllt damit droht, die Beliebtheit Mays für seinen Geldbeutel auszuschlachten, wie May es später formulierte(17), sprich: die Münchmeyer-Romane unter Mays Namen neu herauszugeben.

   Auch sonst wird er, der gerade begonnen hat, die Ereignisse der Reise, und zwar nicht nur die äußeren, in einem fragmentarischen Tagebuch und insbesondere in Gedichten festzuhalten, durch allerlei Widersachergestalten bedrängt. Im Juni 1899 holte der Feuilletonredakteur der "Frankfurter Zeitung", Fedor Mamroth, zu einem großen Rundumschlag gegen May und insbesondere die »May-Gemeinde« aus. Unter anderem nahm Mamroth Mays "Freuden und Leiden eines Vielgelesenen" förmlich auseinander, indem er Mays durchaus nicht von Selbstbeweihräucherung freie Ironie für Ernst hielt und May vorwarf, »den Kultus der Unwahrheit« in seinen Erzählungen zu betreiben. Mamroths Angriff galt vermutlich, und dies mag absurd erscheinen, wenn man die Folgen bedenkt, gar nicht so sehr Karl May als vielmehr den »Klerikalen«, die der »liberale« Journalist besonders eifrig haßte und für deren Parteigänger er May hielt. Die Presse der damaligen Zeit handelte damals ganz so, wie sie es heute auch getan hätte, und griff das »publicityträchtige« Thema freudig auf. Hermann Cardauns startete im Anschluß an Mamroths Artikel seine noch viel heftigeren Angriffe gegen May in der "Kölnischen Volkszeitung" und meinte, May »möge darauf verzichten, Jules Verne und den Apostel Paulus in einer Person darzustellen«(18), wobei er freilich großzügig davon absah, daß er selbst, Cardauns, ständig versuchte, Sittenapostel, Großinquisitor in Sachen »guter Geschmack« und rasender Reporter in einem zu sein.

   Auf eine weitere Darstellung des »May-Kampfes« muß ich hier natürlich verzichten; es genügt zu wissen, daß May in der Zeit, als sich in Deutschland dunkle Wolken gegen ihn zusammenballten und sich eine beispiellose Hetze gegen May vorbereitete, die ihn zwölf Jahre später förmlich ins Grab treiben sollte, dabei war, mit der Vergangenheit zu brechen und einen neuen Anfang zu machen. Ein neuer Anfang auf allen Gebieten sollte es werden; in Padang, einem Ort auf Sumatra, erlebt er offenbar so etwas wie einen seelischen Zusammenbruch: die Nachrichten darüber sind spärlich, und manches darüber läßt sich nur vermuten. Von da an beginnt eine schonungslose Abrechnung mit dem alten Ich-Ideal der Shatterhand-Zeit, dem vatergebundenen, wie Wollschläger ausgeführt hat(19); gleichzeitig wird sich May wohl auch schonungslos der Tatsache bewußt, daß seine Ehe mit Emma geschei-


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tert ist. Die Reise mit Plöhns führt ihm vor Augen, daß es auch andere weibliche Wesen mit ihm angenehmeren Charaktereigenschaften gibt. Und schließlich wendet er sich der Gedichtform zu, um ganz ungeordnet-naiv das zu Papier zu bringen, was ihn bewegt. Freilich gelingt es ihm aber auch schon, den Schritt von der unbewußten, impulsiv-gefühlsgeleiteten Gedichtproduktion zur bewußten, künstlerischen Verschlüsselung zu tun. Da tut sich dann einiges kund, was May in dieser dunklen, aber doch zunehmend von Hoffnungen getragenen Zeit am Herzen liegt. Unter den Gedichten der Sammlung "Himmelsgedanken", die den Leser aufmerken lassen, befindet sich auch eines, das "Im Alter" betitelt ist:

Ich bin so müd, so herbstesschwer
Und möcht am liebsten scheiden gehn.
Die Blätter fallen rings umher;
Wie lange, Herr, soll ich noch stehn?
Ich bin nur ein bescheiden Gras,
Doch eine Aehre trag auch ich,
Und ob die Sonne mich vergaß,
Ich wuchs in Dankbarkeit für dich.

Ich bin so müd, so herbstesschwer
Und möcht am liebsten scheiden gehn
Doch, brauche ich der Reife mehr,
So laß mich, Herr, noch länger stehn.
Ich will, wenn sich der Schnitter naht
Und sammelt Menschengarben ein,
Nicht unreif zu der Weitersaat
Für dich und deinen Himmel sein.
(20)

   Zunächst läßt man sich einmal einfangen von der zuerst resignierten, dann demütig hoffnungsvollen Stimmung dieses Gedichtes; es zu analysieren, fällt dann schon erheblich schwerer, so eindrucksvoll und einnehmend ist es. Will man nun doch in Einzelheiten gehen, so läßt sich auch hier zeigen, daß der Dichter einen festen Konstruktionsplan hatte; von dem Grundgedanken Ich bin so müd, so herbstesschwer aus entwickelt er einen zweistufigen Gedankengang. In der ersten Strophe bildet May die Assoziationskette Alter - Herbst - fallende Blätter - nahender Tod, die aus vielen romantischen Gedichten bekannt ist - Wilhelm Müllers "Fallende Blätter" ist durch Schuberts Vertonung in der "Winterreise" weltberühmt geworden. An diesen Grundgedanken anschließend stellt der »Sprecher« des Gedichtes die Frage: Wie lange, Herr, soll ich noch stehn? Und nun, unmittelbar darauffolgend, vergleicht sich der Mensch mit einem bescheiden Gras; dies


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erinnert nun nicht von ungefähr an die Prophezeiungen aus dem Trostbuch des Deutero-Isaias, die in einer neueren Übersetzung - bewußt soll hier nicht die bekannte Luther-Übersetzung herangezogen werden - so lauten: »Eine Stimme gebietet: "Verkünde". Da sprach ich: "Was soll ich verkünden?" "Alles Fleisch ist Gras und all seine Schönheit wie die Blume des Feldes. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, wenn Gottes Odem sie anweht. Das Gras verdorrt, die Blume welkt, das Wort unseres Gottes aber bleibt ewig."«(21)

   Soweit das biblische Muster. May hält sich nur teilweise daran, denn er führt den Gedanken der Vergänglichkeit des Fleisches, das abfällt wie Gras, noch weiter aus, indem er den »Sprecher« der Verszeilen sagen läßt, die Sonne habe ihn vergessen und damit die resignative Herbststimmung noch vertieft. Der Trostgedanke an die Unvergänglichkeit des Wortes Gottes - und in neutestamentlicher Sicht könnte man hier bereits einen Hinweis auf die Sendung des Christus-Jesus erblicken - , wie wir ihn bei Isaias finden, wird von May jedoch nicht vergessen; obwohl der in dem Gedicht dargestellte Mensch die Sonne des Glücks kaum kennengelernt hat, gedenkt er doch seines Schöpfers in Dankbarkeit.

   An diesem Punkt hält May nun inne und beginnt einen zweiten gedanklichen Schritt und eine neue Strophe. Ausgangspunkt ist wieder der alte Gedanke Ich bin so müd, so herbstesschwer; identische Strophenanfänge finden sich ja in einem Großteil der Stücke. Im folgenden führen aber die Gedanken des Dichters in eine neue Richtung. Zwar ist der alternde Mensch nahe daran zu resignieren, doch rafft er sich noch einmal zu einer Selbsterkenntnis auf: doch, brauche ich der Reife mehr, so laß mich, Herr, noch länger stehn. May bleibt hier »im Bilde«, denn alle Gedanken dieser zweiten Strophe können auch auf die Bildebene »Gras« bezogen werden, doch wird hier in der zweiten Strophe ausdrücklich die Beziehung zwischen der Metapher und dem eigentlich Gemeinten hergestellt. Wenn in der viertletzten Zeile vom »Schnitter Tod« die Rede ist - in Anlehnung an das alte, auch aus dem Volkslied bekannte Bild - , so betont May gleich ausdrücklich, daß es Menschengarben sind, die hier zur Ernte eingesammelt werden. Entscheidend ist aber der abschließende Gedanke des Gedichts: der alte Mensch will weiterleben, um weiterreifen zu können, denn er möchte nicht unreif zu der Weitersaat in der geistigen Welt sein. Daß mit dem Tode der Reifung des »menschlichen Gewächses«, um im Bild zu bleiben, kein Ende gesetzt ist, daß der Mensch vielmehr in einer anderen Welt »weitergesät« werden soll, ist ein sehr schöner und tiefer Gedanke, der seinen Ursprung in Christus' Gleichnis vom Sämann hat, es aber sozusagen ins Unendliche verlängert.


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   Man sieht also aus dieser Analyse, daß Mays Gedicht trotz seiner formalen Anspruchslosigkeit und Schlichtheit einem anspruchsvollen und klar gegliederten gedanklichen Plan folgt. In der Bilderwelt lehnt sich der Dichter an die Bibel bzw. die der alten Volksdichtung - Volkslied vom »SchnitterTod« - an, schafft aber mit den alten Bildern unzweifelbar ein ganz eigenes Gedankengebäude. Zudem kann man auch dieses kleine Gedicht auf einer allgemein-philosophischen Ebene interpretieren, aber auch als autobiographisches Zeugnis. 58 Jahre alt ist May, als er auf der Orientreise einen neuen Anfang wagt. Ein »alter« Mann war er, der die Lebensmitte noch nicht lange überschritten hatte, eigentlich noch nicht; doch glaubt man ihm schon, daß er sich müd und herbstesschwer fühlte angesichts der immer heftiger werdenden Presseangriffe und der drohenden Verschlimmerung seiner Ehekrise. Der Entschluß, einen neuen Anfang zu wagen - als Dichter und als Mensch -, findet ebenfalls in den 16 Gedichtzeilen seinen Niederschlag. Wenn sich in der zweiten Strophe die innige Bitte findet: So laß mich, Herr, noch länger stehn, ist dies auch in dem Sinne zu verstehen, daß May selbst spürte, er müsse als Mensch und als Künstler noch eine größere Reife erlangen. Die Anstrengungen des Alterswerkes erklären sich aus dieser Erkenntnis; Cardauns' zynische Bemerkung, May möge, »wenn eben möglich, seinen Stil verbessern«(22), entsprach durchaus dem, was May selbst vorhatte. So läßt sich auch das Gedicht "Im Alter" wieder als autobiographisches Dokument interpretieren, obwohl es ja eigentlich ein »Charakterbild« ist. Die Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit der Iyrischen Erzeugnisse Karl Mays beweist, daß diese nicht so ohne weiteres abgetan werden dürfen, wie dies früher und auch heute meistens der Fall war oder ist. Andererseits ist es auch unstatthaft, Mays Lyrik lediglich biographischen Wert zuzugestehen, wie es etwa Max Finke tat, als er in seiner von Hans Wollschläger als ungenügend bezeichneten Edition der in Mays Nachlaß aufgefundenen Skizzenmappen "Scheitana", "Weib" und "Wüste" folgendes bemerkte: »Der literarische Wert der Bruchstücke ist weit geringer als ihre Bedeutung für die Erforschung der Seele und ihrer Krankheiten.«(23) Dies ist teilweise nicht unrichtig; die Tatsache, daß die von Finke für Dramenfragmente gehaltenen Texte zumeist nur aus wenigen Zeilen bestehen, läßt aber keinesfalls die Folgerung zu, daß der künstlerische Wert dieser Skizzen geringer sei als der vergleichbarer Werke Mays aus dieser Periode. Es läßt sich nämlich durchaus nachweisen, daß ein großer Teil der Bruchstücke Iyrischen Charakter hat und insofern mit den "Himmelsgedanken" vergleichbar ist. Summarisch muß man sagen, daß Max Finkes Urteile über Mays schriftlichen Nachlaß


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recht widersprüchlich sind, so wie auch die ganze Edition der Nachlaßtexte sich als erstens unvollständig und zweitens als nicht fehlerfrei erweist. Dennoch bleibt es Finkes Verdienst, wenigstens ein kleines Schlaglicht auf diesen Teil der literarischen Produktion Karl Mays geworfen zu haben, wobei er sowohl "Babel und Bibel" als auch manche Fragmente aus der Zeit der Ehekrise erstaunlich vorurteilsfrei und richtig kommentierte.

   Vorhin habe ich mit "Im Alter" ein relativ bekanntes Stück der "Himmelsgedanken" behandelt, das - soweit ich sehe - von den meisten Forschern durchaus positiv beurteilt wird. Damit nun nicht der Eindruck entsteht, ich würde mich bei meinen Analysen hauptsächlich auf die Mayschen Gedichte stützen, die ohnehin allgemein anerkannt sind, möchte ich mich nun mit einem derjenigen Gedichte beschäftigen, die in der Bamberger Ausgabe der "Lichten Höhen" nicht enthalten sind. An dieser Stelle sei der Hinweis erlaubt, daß diese Edition zwar einerseits recht verdienstvoll ist, weil sie immerhin einen Teil des Mayschen Iyrischen Werkes bringt, andererseits jedoch für wissenschaftliche Zwecke als völlig unbrauchbar angesehen werden muß, da ein großer Teil der "Himmelsgedanken" in diesem Band nicht enthalten ist - und leider muß man sagen, daß einige der besten Stücke dabei fortgefallen sind - und da die meisten Texte oft völlig unnötige stilistische Veränderungen gegenüber der Erstausgabe aufweisen. Ein Urteil über die Iyrischen Werk Karl Mays sollte man also besser nicht auf die "Lichten Höhen" stützen. Unter anderem findet sich in der Erstausgabe der "Himmelsgedanken" ein Gedicht mit dem mehrdeutigen Titel "Entwickelung". Lassen Sie mich Ihnen das kleine Stück zunächst in seiner Gesamtheit vortragen:

Entwickelung.

Kennst du den Stoff? Ich kenne ihn noch nicht;
Ich hab noch kein Atom, kein Molekül gesehen.
Er liegt zwar vor mir, schwer genug und dicht,
Doch sein Entstehn ist leider ohne mich geschehen.
Ich weiß nur, daß er sich verändert, schwindet,
Und frage fleißig mich: Wozu, wohin?
Und wenn dann meine Kraft die Antwort findet,
Erfahr ich nur, daß ich ein Stoff auch bin.

Kennst du die Kraft? Ich kenne sie noch nicht;
Ich hab von ihr bisher die Wirkung nur gesehen.
Zwar hör ich's, daß sie Stuhl und Felsen bricht,
Doch ihr Entstehn ist leider ohne mich geschehen.


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Ich weiß nur, daß sie mir zuweilen schwindet
Und frage forschend mich: Warum, wohin?
Und wenn sodann mein Geist die Antwort findet
Erfahr ich nichts, als daß auch Kraft ich bin.

Kennst du den Geist? Ich kenne ihn noch nicht
Ich habe nur Beweise, daß er wirkt, gesehen.
Zwar hör ich seine Stimme, wenn er spricht.
Doch sein Entstehn ist leider ohne mich geschehen.
Ich weiß nur, daß auch er dem Menschen schwindet
Und frage mich erstaunt: Weshalb, wohin?
Und wenn die Seele dann die Antwort findet,
Erfahr ich nichts, als daß auch Geist ich bin.

Kennst du die Seele? Nein, du kennst sie nicht
Und auch mein Auge hat noch keine je gesehen.
Sie ist zwar meines Daseins Zuversicht
Doch ihr Entstehn ist leider ohne mich geschehen.
Ich weiß nur, daß sie uns nie, niemals schwindet
Schwebt sie auch oft zu ihrem Ursprung hin
Und weil mein glaube mich mit ihm verbindet
Weiß ich von dort, daß ich auch Seele bin.
(24)

Dieses Gedicht zu kritisieren, fällt nicht schwer: es scheint auf den ersten Blick zu »gewollt«, zu konstruiert zu sein. Man merkt förmlich die Anstrengung, die es May gekostet hat, alle vier Strophen nach demselben Schema aufzubauen und die dem Titel angedeutete "Entwickelung" durch den Austausch einzelner Wörter und durch sonstige kleine Veränderungen deutlich zu machen.

   Dieser negative Eindruck bleibt jedoch nur so lange bestehen, bis man sich einmal der Mühe unterzieht, den Gedankengang des Dichters genau nachzuverfolgen. Dann wird deutlich, daß May hier eigentlich etwas ganz Großes geglückt ist, nämlich den allmählichen Weg von der materiellen zur geistigen Welt, diesen Entwicklungsgang, in Verse zu gießen. Das fängt ganz klein und bescheiden an mit der Frage nach der  M a t e r i e. Der Mensch weiß zwar von Atomen und Molekülen, aber deren Aufbau und Entwicklung ist ihm unbekannt; Bohrs Atommodell lag im Jahre 1900 noch in weiter Ferne. Die Frage des Menschen zielt aber nicht auf ein theoretisches Modell ab, sondern auf die Entstehung der Dinge. Diese Frage wiederum kann ihm der Stoff selbst nicht beantworten und auch die menschliche Einsicht läßt ihn hier im Stich. Wohl aber sieht er, daß auch die Materie Metamorphosen und Vernichtung kennt. Die Ahnung, daß hier Kräfte am Werk sind, die er nicht genauer bestimmen kann, führt ihn


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zu der Frage nach der  K r a f t  und damit zu einer neuen gedanklichen Stufe, der die zweite Gedichtsstrophe entspricht.

   Wieder beginnt der gedankliche Aufbau mit einer Frage: Kennst du die Kraft?, und wieder muß der Mensch zugeben, daß er im Grunde genommen auf die Frage nicht antworten kann. Während er den Stoff nur als Ganzes, als kompakte Masse anschauen kann, ist es bei der Kraft so, daß er lediglich in der Lage ist, ihre Wirkung zu beurteilen. Doch die Kraft ist offenbar ebenfalls dem Gesetz der Vergänglichkeit unterworfen; fragte der Mensch bei dem  S t o f f  noch nach dem Zweck dieses Prozesses des Vergehens und der Veränderung, so muß er nun schon nach dem Grund fragen: Warum, wohin? Wiederum bleibt dem Menschen aber nur eine feste Erkenntnis: daß er selber auch Kraft ist, genauso wie er Materie ist.

   Bei der nächsten Strophe wird es nun ganz deutlich, daß die Betrachtungsebene sich bedeutend ändert: nach dem konkreten  S t o f f  und der schon etwas weniger konkreten  K r a f t  ist nun etwas scheinbar ganz Abstraktes Gegenstand der Fragen und Sorgen, nämlich der  G e i s t. Da er ja Dichter ist, kann May - sofern wir einmal nicht ganz unberechtigterweise annehmen, daß hier seine eigenen Gedanken zur Debatte stehen - mit Nachdruck behaupten: Ich habe nur Beweise, daß er wirkt, gesehen, / Zwar hör ich seine Stimme, wenn er spricht; / Doch sein Entstehn ist leider ohne mich geschehen. Nun erlebte er aber gerade in der Zeit der Orientreise geistige und seelische Krisen, deren Ausmaß wir noch gar nicht absehen können, weil uns darüber nur sehr verhüllendes Material vorliegt und die Befunde, die Wollschläger aus der Analyse etwa des großen Romanes "Und Friede auf Erden" gewonnen hat(25), naturgemäß mit Vorsicht zu behandeln sind - was nicht gegen Wollschläger spricht, sondern mit der Struktur und Eigenart von literarischen Texten überhaupt zu tun hat. Daher möchte man es May, dem Verfasser des Gedichtes "Kennst du die Nacht" schon glauben, daß er weiß, wovon er spricht, wenn er bemerkt: Ich weiß nur, daß auch er dem Menschen schwindet. Woher der Geist aber kommt und wohin er geht, das kann May als typischer Mensch des ausgehenden 19. Jahrhunderts nur mit der Seele erfahren.

   Damit ist der Dichter auf der letzten und höchsten Stufe seines Gedankenganges angelangt; nun stellt der Mensch nicht mehr eine unbeantwortete Frage, wenn er fragt: Kennst du die Seele? Hier tritt nun ein anderer an die Seite und gibt die Antwort: der Mensch kennt die Seele nicht, doch weiß er - und dies kann May nun offenbar aus einer bereits gefestigten Position nach seinen psychischen Krisen sagen - daß sie


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uns nie, niemals schwindet, besser gesagt: daß es einen unsterblichen Seelenteil gibt. In dem Augenblick, in dem die »höhere« Seele zu ihrem »Ursprung« zurückkehrt, ist der Dichter mit seinen Gedanken dort angelangt, wo alle Fragen ihre Antwort finden, in der geistigen Welt nämlich.

   Es ist schon ein beeindruckendes Gedankengebäude, das May hier errichtet; der Entwicklungsgang, den er schildert, nimmt wieder einmal die Richtung des gesamten Alterswerkes vorweg: aus dem sumpfigen Ardistan hinaus, unsrem hohen, weiteren Ziele zu(26), wie es in "Ardistan und Dschinnistan" heißt. An dieser Stelle sei vermerkt, daß es vielleicht doch nicht nur die äußeren Hindernisse wie die Prozesse und der ständige Kampf gegen kleine und große Gegner - und der Widerstand der "Hausschatz"-Redaktion - waren, die May daran hinderten, das große Alterswerk "Ardistan und Dschinnistan" nach seinem »alten Plan«(27) zu Ende zu führen. Was dort noch zu kommen hatte, der weitere Aufstieg nach Dschinnistan, die Ankunft in der geistigen Welt, entzog sich der Darstellung in einem Erzählwerk, und es spricht für Mays künstlerische und menschliche Einsicht, daß er vor einer Aufgabe zurückscheute, die zu bewältigen höchstens einem Dante oder einem Goethe im Epilog zu "Faust II" vergönnt waren. Stattdessen begnügt sich May mit einigen Hinweisen, die aber gewichtig genug sind: nachdem der "Dschebel Muchallis", der "Berg der Erlösung", im Abendlicht erstrahlt ist - ein nicht zu übersehender Hinweis auf das Mysterium von Golgatha - , darf Marah Durimeh bereits den »ewigen Frieden« ankündigen. Das Weitere ist unsagbar und bleibt auch ungesagt. In ähnlicher Weise bricht May sein Gedicht "Entwickelung" in einem Moment ab, da er den Weg der Seele bis zu ihrem göttlichen Ursprung verfolgt hat; was nun noch folgt, ist für May eine reine Angelegenheit des Glaubens: Und weil mein Glaube mich mit ihm verbindet, / Weiß ich von dort, daß ich auch Seele bin.

   Gegen dieses und gegen andere Gedichte Karl Mays könnte man nun nicht mit Unrecht einwenden, es handele sich hier doch im Grunde genommen um eine kleine philosophische Abhandlung und nicht um ein Gedicht. Warum hat May seinen mit geradezu didaktischer Behutsamkeit ausgeführten Gedanken nicht in einen Spruch oder gar einen Aufsatz gefaßt? Was soll die Verkleidung eines an und für sich ganz unpoetischen Gegenstandes oder ist er vielleicht doch gar nicht so unpoetisch? - in ein »Iyrisches Gewand«? Mit solchen und ähnlichen Einwänden trifft man freilich nicht nur den Lyriker May, sondern der Vorwurf richtet sich eigentlich gegen die gesamte Gattung der Gedankenlyrik.


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   Erfreulicherweise ermöglicht Karl May es mir, auf die ausgeführten Einwände mit seinen eigenen Worten zu antworten. In dem 1906 geschriebenen zweiten "Brief über Kunst", der an Leopold Gheri in Innsbruck gerichtet ist, heißt es unter anderem über die »Kunst des Vergegenwärtigens«: Aber freilich, wie im  g e w ö h n l i c h e n  Leben Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ohne bemerkbare Scheidestriche ineinander überfließen, so gibt es auch im höheren, im geistigen Dasein zwischen Glauben, Kunst und Wissenschaft keine scharf trennenden Barrieren, und es kann somit die Kunst zu gewisser Zeit entweder dem Glauben oder der Wissenschaft einmal nähertreten, als diese Zeit wohl eigentlich verlangt.(28) Dieses Urteil Mays ist sehr interessant, denn es bedeutet eine grundsätzliche Rechtfertigung dichterischer Werke mit didaktischem, symbolischem, religiösem und philosophischem Hintergrund - und warum sollte es, wenn es symbolische oder philosophische Romane gibt, eigentlich keine Gedichte belehrenden oder religiösen Charakters geben? Die Gattung des Lehrgedichtes läßt sich bis in die Antike zurückverfolgen, und auch in kleineren Iyrischen Schöpfungen kann der Inhalt bisweilen wichtiger sein als die spezifisch Iyrische Form. Man kann auf der anderen Seite kaum leugnen, daß ein Gedankengebäude, wie May es etwa in seinem Gedicht "Entwickelung" aufbaut, an Unmittelbarkeit und Überzeugungskraft gewinnt, wenn es in eine Iyrische Bildersprache gehüllt und in Gedichtform gebracht wird. Dann erst werden die Barrieren zwischen Kunst, Wissenschaft und Glauben langsam abgebaut, verliert der Gedankengang das Abstrakte, Konstruierte, wird zur Dichtung. Das gelingt nun freilich nur in den seltensten Fällen, bedeutet diese Art von Dichtkunst doch eine ständige Gratwanderung. In diesem Sinne sollte man May auch manches nicht gelungene Gedicht in den "Himmelsgedanken" nachsehen und sich dafür an manchen Perlen schadlos halten, die sich in dieser Sammlung finden.

   Daß May diese Zusammenhänge nicht nur erahnt, sondern gewußt hat, belegt eine weitere Stelle aus dem zweiten "Kunstbrief" Mays. Dort führt er sein eigenes Gedicht "Der Herrgottsschnitzer", hier "Der Dorf-Bildschnitzer" genannt, als Beweis dafür an, daß nicht der Stoff das Kunstwerk ausmacht, sondern die Fähigkeit des Künstlers, den individuellen Ausdruck in den Stoff zu bringen, ihn  m i t f ü h l e n d  zu gestalten:

Hab' all mein Lebtag stets gedacht,
Daß man aus Holz die Heilands macht,
Doch nun im Alter
(!) kommt mir's bei,
Daß noch was And'res nötig sei.


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 . . . 

Und wer es gleich so bringen will,
Der greif' zum Holz und warte still,
Bis sich die Träne bei ihm zeigt;
Der Juchezer, der kommt dann leicht!
(29)

May selbst kommentiert das so: Man fühlt es wohl heraus, daß dieser arme, alte, einfache Herrgottsschnitzer, den ich mir da gedacht habe, ein wirklicher Künstler ist. Er läßt den Stoff, das Holz, weinen, und er läßt es jauchzen. Er gibt ihm die Träne und den Juchezer, den Schmerz und die Freude.  D a s  i s t  d a s  I n n e r e.(30) Auf Mays Lyrik übertragen, ließe sich daraus folgendes entnehmen: das Gedicht wird nicht aus Versen allein gemacht, auf das Innere, die Gedichtseele, den oder die Kerngedanken kommt es an. Freilich: es muß dem Dichter auch gelingen, den Stoff, die Gedichtform wirklich mit Inhalt zu erfüllen. Ist der Gedankeninhalt zu gewichtig, die Form des Gedichtes, der Stil, zu ungeschickt und mangelhaft, wirkt das gesamte Gedicht mißglückt. Aus diesem Zusammenhang erklärt sich unser berechtigter Unmut über manches May-Gedicht, in dem diese Harmonie zwischen Form und Gehalt nicht geglückt ist, und unsere Freude über recht viele durchaus glückliche Iyrische Findungen. Man sollte einmal klar sagen, daß Mays Iyrisches Schaffen kein entbehrlicher Teil des literarischen Werkes eines reinen Erzählers ist; vielmehr hat ihn die Gedichtform als eine besonders unmittelbare, auf der anderen Seite aber auch bisweilen besonders verrätselte und kunstvolle Form literarischen Schaffens stets interessiert und bewegt. In der Frühzeit wird die Lyrik in die wilden Prosaträume eingebaut, in der Reiseerzählungsphase meist verdrängt - und wenn sich Iyrische Teile in den großen Reiseerzählungen finden, so handelt es sich zumeist um gefühlsbeladene Eruptionen wie "Kennst du die Nacht" oder um eine Iyrische Ruhepause wie das berühmte "Ave Maria" aus "Winnetou III". Erst in der großen Lebenskrise Karl Mays um 1900 wird die Lyrik als Möglichkeit erkannt, die eigenen inneren Vorgänge und psychischen Krisen in dichterischer Form fast zwanghaft niederzuschreiben. Darum kommt es auf der Orientreise zu einer geradezu inflationären Gedichtproduktion; dies ist nun freilich keine infantile Phase gewesen, kein Rückfall in kindliche Haltungen, wie Wollschläger meint.(31) Dafür sind die meisten der "Himmelsgedanken" gedanklich doch zu klar durchdacht und konstruiert.


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3

Fast bin ich nun am Ende meiner Ausführungen. Ich kann es mir jedoch nicht verwehren, einen kleinen Blick zu werfen auf die im schriftlichen Nachlaß Mays enthaltenen, zum großen Teil noch unveröffentlichten Sammelmappen Mays aus der Zeit der Ehekrise um 1902, die dann zur Scheidung führen sollte. Bekanntlich entstanden in dieser Phase auch die letzten Bände der Tetralogie "Im Reiche des silbernen Löwen", über die ich an anderer Stelle noch Ausführlicheres sagen werde. Die meisten der in diesen Mappen notierten Texte sind bruchstückhaft und dazu noch stark verschlüsselt; manches ist auf Zetteln notiert. Max Finke, der aufgrund eines Personenverzeichnisses, das sich in der Sammelmappe "Wüste" findet und aufgrund anderer Hinweise - in der Sammelmappe "Weib" steht unter anderem eine offenbar szenisch gemeinte Aufstellung der Figuren Schetana und Fakira (Emma und Klara) sowie eine Zettelnotiz mit dem Hinweis Drama zu der Überzeugung kam, es handele sich hier um Dramenfragmente, konstatierte enttäuscht: »Was ich fand, ist nicht aus Leidenschaft geboren. Es sind meist sehr gedämpfte, eine allgemeine Gottergebenheit atmende Zeilen, die sich kaum unterfangen, auch nur eine Ansatzform für die aufschreiende Qual der Kreatur zu finden.«(32) Ein paar Seiten später, wenn er Teile aus den Mappen ediert, kommt Max Finke dann zu ganz anderen, bemerkenswerten Ergebnissen: dort konstatiert er »Verwirrung und krankhafte Züge«(33), oder vermerkt, der Ausdruck Tag der tausend Seeligkeiten finde sich mit einer »krankhaften Häufigkeit«.(34) Was soll man von diesen Widersprüchen halten, in die sich einer der begabtesten Mitarbeiter der alten Karl-May-Jahrbücher verwickelt hat? Vielleicht löst sich das Problem, wenn man von der Hypothese abgeht, es fänden sich in den Mappen nur oder hauptsächlich Dramenentwürfe, und vielmehr feststellt, daß die dort enthaltenen Texte höchst unterschiedlichen Charakters sind, vom reinen Bruchstück über das »versifizierte Gedankenspiel«(35) mit Rollencharakter - »Rollengedichte« könnte man diese Schetana-Fakira-Texte nennen - bis zum rein Iyrischen Text. Es fällt auf, daß Mays Gedanken immer wieder um einen Einfall kreisen: die Frauengestalten, Emma und Klara, die beiden Hauptakteure in dem Psychodrama um Mays Ehe, treten als Personifizierungen des weiblichen Dämons - Schetana/Emma - und des weiblichen Engels - Fakira/Klara - in ständigen Wechselreden gegeneinander an. Und noch eines ist auffällig: die am stärksten verschlüsselten Texte in diesen Mappen, die den autobiographischen Gehalt in eine geradezu hermetische Kunstform eingießen, sind


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-  G e d i c h t e! So findet sich in der Sammelmappe "Weib" folgendes Gedichtbruchstück:

Cobra di capello.

Wer gab mir diesen Leib, den schönen, weichen, glatten?
Und wer gab mir die Seele, die farbenschillernde, die kalte?
Wer gab mir die Begier nach Aas und Fraß?
Und warum gab er's mir? Doch wohl, damit es wirke, wirke, wirke!
Nun wohl, ich schwöre es bei ihm, bei ihm, bei ihm, ich will es wirken lassen!
(36)

Wüßte man es nicht, daß hier nicht eine indische Giftschlange, sondern ein keineswegs indisches, verführerisches Weib spricht, so könnte man den Panzer der fast hermetischen Verschlüsselung in lyrische Bilder kaum aufbrechen. Bemerkenswert ist ferner, daß May immer dann, wenn es ihm förmlich aus innerer Not in diesen Notizen und Gedichtbruchstücken zum Schreiben drängt, zu ganz unkonventionellen Iyrischen Formen - die letzten Zeilen von "Cobra di capello" wirken wie rhythmische Prosa - greift und viel kühner wird als in seinen formal relativ konventionellen "Himmelsgedanken".

   Am schönsten und unmittelbarsten gelangen ihm jedoch die Verse, als es an das endgültige Aufbrechen nach Dschinnistan ging. In seinen Versen für die Gruft, in der 1903 sein Freund Richard Plöhn, später auch er selbst und seine zweite Frau Klara beigesetzt wurden, stehen geistige Erkenntnis und sprachlicher Ausdruck in einem vollkommenen Gleichgewichtsverhältnis:

Sei uns gegrüßt! Wir, deine Erdentaten,
Erwarteten dich hier am Himmelstor,
Du bist die Ernte deiner eignen Saaten.
Und steigst mit uns nun zu dir selbst empor.
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Wenn mit den Worten der Bibel ihre Taten den Menschen nachfolgen, so ist May sicherlich auch dieses Gedicht über die Schwelle nachgefolgt. Ein viel besseres hat er wohl nie geschrieben. Es spricht für sich, und so erübrigen sich nach diesem Zitat alle weiteren Worte über Mays Lyrik. Dieser Vierzeiler sagt genug.



Dem Andenken an meinem geliebten Großvater, Oberstudiendirektor a. D. Max Langerhans (1890- 1981), sind die vorstehenden Ausführungen in Dankbarkeit gewidmet. Ferner sei den Herren Ruprecht Gammler, Bonn, Prof. Dr. Claus Roxin, Stockdorf, und Hansotto Hatzig, Mannheim, ganz herzlich für ihre bewährte Hilfe gedankt.


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1 Hermann Cardauns: Herr Karl May von der anderen Seite. In: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland, Band 129, Hefl 7, 1.4.1902

2 Manfred Durzak: Nach Amerika. Gerstäckers Widerlegung der Lenau-Legende. In: Amerika in der Deutschen Literatur. Stuttgart 1975, S. 135 - 153

3 Hans Wollschläger: Karl May. Zürich 1976 (Neuauflage der Wollschlägerschen May-Biographie von 1965), S. 106

4 Ebd. S. 106 und S. 198, Anm. 189

5 Ebd. S. 106

6 Hans Wollschläger: Die sogenannte Spaltung . . . In: Jb-KMG 1972/73, S. 58ff.

7 Himmelsgedanken. Freiburg 1900, S. 3f.

8 Hans Wollschläger: Erste Annäherung an den "Silbernen Löwen". In: Jb-KMG 1979, S. 99ff.

9 Zitiert nach Wollschläger: Karl May, S. 107

10 Dankbarer Leser. Freiburg 1902, S. 45f.

11 Wollschläger: Karl May, S. 107

11a Streichungen von Karl May (wie im Originalmanuskript wiedergegeben)

12 Hinter den Mauern und andere Fragmente aus der Haftzeit. In: Jb-KMG 1971, S. 122ff. (Gedichtfaksimile auf S. 123)

13 Max Finke: Aus Karl Mays literarischem Nachlaß. In: KM-JB 1920, S. 78f.

14 Im Roman "Waldröschen" im typischen Kolportagestil zu einer äußerlich realen Befreiung aus den Gefängnismauern aus Stein umgemünzt, vgl. "Waldröschen". Dresden (1882), S. 190ff.

15 Winnetou II. Freiburg 1893, S. 12

16 Winnetou II. S. 31f.

17 Vgl. Wollschläger: Karl May, S. 96

18 U. a. zitiert bei Hansotto Hatzig: Mamroth gegen May. In: Jb-KMG 1974, S. 124

19 Wollschläger, in: Jb-KMG 1972/73, S. 56f.

20 Himmelsgedanken, S. 117

21 Isaias (Jesaja) 40, 6-8 (In der Übersetzung der Herder-Bibel von 1965)

22 Wollschläger: Karl May, S. 99

23 Karl-May-Jahrbuch 1922 (Radebeul), S. 41

24 Himmelsgedanken, S. 251f.

25 Jb-KMG 1972/73, insbesondere S. 58 - 82

26 Ardistan und Dschinnistan, 2. Band. Freiburg 1910, S. 651

27 Wollschläger: Karl May, S. 174

28 Zitat nach dem Faksimiledruck der "Briefe über Kunst" in: Magazin für Abenteuer-, Reise- und Unterhaltungsliteratur 15. Braunschweig 1977, S. 50

29 Ebd. S. 51

30 Ebd. S. 51

31 Wollschläger, in: Jb-KMG 1972/73, S. 59f.

32 Karl-May-Jahrbuch 1922 (Radebeul), S. 41

33 Ebd. S. 45

34 Ebd. S. 51

35 Wollschläger: Karl May, S. 123

36 Karl-May-Jahrbuch 1922, S. 45

37 Erstmals zitiert in: Karl May: Mein Leben und Streben. 2. Aufl., hg. von Klara May. Freiburg 1912; später in Karl-May-Jahrbuch 1921, S. 89; heute in: Ges. Werke, Bd. 34 "Ich", 30. Aufl. Bamberg 1976, Bildtafel 27.


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