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HELMUT SCHMIEDT

Literaturbericht



Wer heute noch die ältere Sekundärliteratur über Karl May durchsieht, beispielsweise die Jahrbücher der Jahre 1918 bis 1933, der wird eine Fülle von Abhandlungen finden, deren Titel "Karl May und . . . " lautet oder sinngemäß lauten könnte: Karl May und Nietzsche (KMJb 1925), Karl May und Indien (KMJb 1926), Karl May und Cooper (KMJb 1929), Karl May und eine Blindenhundertschaft (KMJb 1931). Man tut den damaligen Autoren, so unterschiedlich ihre Beweggründe und die Ergebnisse der Arbeiten auch gewesen sein mögen, wohl nicht Unrecht, wenn man ihnen ein gemeinsames Ziel unterstellt: durch die Fülle der Vergleiche Mays mit renommierten Literaten und durch eine möglichst große Zahl außerliterarischer Perspektiven auf sein Werk sollte das Ansehen dieses Werkes vor der Öffentlichkeit gehoben werden. Es handelt sich um eine einfache Rechnung: zu einer Zeit, da die Trennungslinie zwischen der "Hochliteratur" und der abgewerteten "Unterhaltungsliteratur" zumindest in der Wissenschaft, aber eben nicht nur dort, noch erheblich schärfer gezogen wurde als heute, mußte die Koppelung des Namens May an allgemein anerkannte Schriftsteller und an unstreitig bedeutsame Fragen des öffentlichen Interesses zwangsläufig einen Rang Mays suggerieren, den man aus der ästhetischen Potenz seiner Werke nicht zu gewinnen erwartete; das Literaturverzeichnis der Stolteschen Dissertation von 1936 verzeichnet denn auch unter der Überschrift "Zur öffentlichen Wirkung Karl Mays" etwa fünfmal soviel Titel wie unter "Ästhetische und literarische Bewertungen". Natürlich entsprang das alles nicht reinem Kalkül; es reflektierte durchaus angemessen die tatsächlichen Inhalte der öffentlichen Beschäftigung mit May, zu denen der künstlerische Aspekt nur in sehr beschränktem Maße gehörte.

   Mittlerweile haben sich die Verhältnisse geändert. Seit den sechziger und siebziger Jahren ist zum einen die Person Karl May, zum anderen aber auch die Beschaffenheit seines Werkes stärker in das Zentrum der Aufmerksamkeit getreten - sagen wir vorsichtshalber: zumindest tendenziell. Nun aber vollzieht sich wieder ein interessanter Umschlag: nachdem wir uns der möglichen Interpretation des Werkes


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wenigstens in Umrissen versichert haben, finden sich seit kurzem erneut mehr Arbeiten, über denen jenes alte "Karl May und . . . " stehen könnte, die aber jetzt natürlich ein erheblich solideres Fundament als die früheren besitzen. Dabei geht es teilweise wieder um die alten Fragestellungen: Karl May im Lichte literarischer Beziehungen und (geistes-)geschichtlicher Verbindungen, teilweise auch um die Dokumentierung und Kommentierung dessen, was eine wendige Kulturindustrie aus dem Phänomen May gemacht hat.

   Auf dieses Feld zielt das Buch "Karl May im Film"(1), ein Sammelwerk, das mittels faksimilierter Filmprogramme aus den Jahren 1920 bis 1974, also von den frühen Ustad-Filmen bis zu Syberbergs "Karl May", eine umfassende - wenn auch nicht ganz vollständige (vgl. Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft 46/1980, 39) - Dokumentation der May-Filme bietet; Claus Roxin hat dazu ein Vorwort geschrieben und Michael Petzel eine Einleitung, die eine knappe Zusammenfassung der Geschichte der May-Verfilmungen liefert. Das Umschlagfoto präsentiert Lex Barker und Pierre Brice, die populären Heldendarsteller der großen Filmwelle aus den sechziger Jahren, die der deutschen Kinoindustrie kurzfristig zu beträchtlichem Aufschwung verhalf; das Bild erinnert daran, daß die Serie Dimensionen besaß, hinter denen die Frage nach einer adäquaten Umsetzung der Stoffe des Schriftstellers zunächst beinahe nebensächlich wirkt.

   Ich erinnere mich an meine Schulzeit: diese Filme, beginnend mit dem "Schatz im Silbersee", trafen mich und die Klassenkameraden in einem Alter, da man sich zumindest in Gedanken vom Elternhaus zu lösen versucht, aber dennoch ein ungewisses Bedürfnis nach Idolen und Leitfiguren verspürt. Die Mayschen Filmhelden hätten vielleicht solche Leitfiguren werden können, aber sie besaßen bei uns keine Chance: wir hielten uns an die Stars der aufkommenden Beatmusik-Bewegung. Das Karl-May-Kino mochte für die jüngeren Geschwister und die kleinen Mädchen geeignet sein; wir stillten unsere filmischen Bedürfnisse mit den ersten Erzeugnissen der James-Bond-Serie. Dennoch kam es immer wieder vor, daß man sich beim Besuch von May- Filmen traf, und verantwortlich dafür waren nicht nur solch einsichtige Gründe wie der, das Dekolleté Elke Sommers in "Unter Geiern" bestaunen zu wollen - das Programmheft liefert überaus hilfreiche Informationen zu diesem Problembereich - , oder der, sich über Pierre Brice zu ärgern, mit dem man seine erste Liebe teilen mußte. Was mochte uns, die wir nach orientierenden Wegen durch die Welt suchten und gleichzeitig ihre Komplexität kennenlernen wollten, an diesen Filmen ebensowohl reizen als auch abstoßen?


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   Karl Mays Werke fixieren eine Welt, in der Unordnung herrscht und nach Ordnung gerufen wird. Aber der Prozeß der Ordnungssuche verzeichnet auch, warum und zu welchem Zweck Unordnung herrscht und daß der Zustand endgültiger Ordnung nicht erreichbar ist und wohl auch langweilig, also nicht einmal wünschbar wäre. Deshalb haben fast alle Mayschen Abenteuerromane kein definitives Ende, zu Beginn jedes neuen steht der Held trotz aller Triumphe wieder da, wo er etliche Abenteuer vorher schon gestanden hat. Mays exotische Welt ist eine extrem stilisierte Welt, die Träume in das Stadium der Realisierung versetzt. Aber die Brüche der Stilisierung bezeugen die Brüche in den Träumen und ihren realen Hintergründen, die Grenzen der Utopie, die an der Realität immer wieder zerbricht und neu einsetzt; damit verweisen sie auf die anhaltenden Defizite der empirischen Realität selbst. Die May-Filme haben sich auf diese Komplexität kaum oder gar nicht eingelassen: sie stilisieren Mays stilisierte Welt noch einmal, gewinnen damit an Ausstellungswert, büßen aber jene Mischung aus Utopie und kritisch-realistischer Sicht ein, die uns Jugendliche damals hätte faszinieren können. Erkennbar wird dies an prallen Äußerlichkeiten: die Welt der Filme konzentriert sich durchweg auf ein engeres Terrain als die der dazugehörigen Romane, und vor allem ist sie sauberer und einförmiger, als wir es nach den Büchern erwarten. Die Menschen der Filme sind "schöner" - man schaue sich nur die Josefa aus den Verfilmungen der Mexiko-Romane an und vergleiche sie mit Mays Beschreibung im "Waldröschen" - , makelloser, im Guten wie im Bösen. Wir mögen uns bei der Lektüre der Bücher gelegentlich ärgern, etwa über eine unzureichende psychologische Motivierung der Bösartigkeit der Schurken, aber solches Ärgern kann manchmal in produktiver Weise irritierend wirken, wohingegen in den Filmen, da jedes Detail sich selbst genügt, kein Rätsel offenbleibt. Immerhin zählt es noch zu deren besten Einfällen, daß sie die Bösewichter regelmäßig in Kleider von akkurat modischem Chic stecken und so ein wenig von jenem Gegensatz zwischen scheinhafter, beengender Zivilisation und freier Wildnis ahnen lassen, der die Romanwelt auszeichnet; aber der modische Chic entspricht leider zugleich der Ästhetik der Filme. Auch die Helden sind hier eindeutiger als ihre Vorbilder, Stewart Granger als Old Surehand etwa hat mit der Romanfigur nicht mehr als den Namen gemein (und zählt dennoch, in seinem ironischen Überspielen der krassen Heldenrolle, zu den bemerkenswertesten Akteuren). Ein sargschleppender Django wäre hier nicht denkbar, und es ist bezeichnend, daß die Rollen des skurrilen Außenseiters, wie sie etwa Dieter Borsche spielte, ausdrücklich als etwas von außen an die Abenteuer-


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welt Herangetragenes gekennzeichnet sind, während sie bei May geradezu zu ihren fundamentalen Elementen gehören. Die vorgeführte Filmwelt enthielt eine Fülle ordnender Pfade, und das machte sie für Jugendliche in einem bestimmten Alter attraktiv; aber sie war dabei von einer allzu gefälligen Glätte, und das stieß uns ab, da wir nichts von unseren Problemen wiederfanden.

   Daß das May-Kino mit den May-Romanen wenig zu tun hat, sagt natürlich über seine Qualität und seine Relevanz für heutige Betrachter nicht viel aus. Die spezifische Umdeutung der Mayschen Welt geschah keineswegs zufällig. Filmhistorisch gesehen, war sie der Versuch, eine eigene europäische Tradition des Abenteuerfilms und speziell des Western zu etablieren, die sich von den übermächtigen Vorbildern Hollywoods freimachen sollte. Ferner reagierte sie auf die Erwartungen des Publikums in einer Zeit, die sich selbst als das Ende der Nachkriegsepoche zu deuten versuchte, und sie erfüllte diese Erwartungen, wie die Zuschauerresonanz bewies; die Erfolge der früheren, weniger spektakulären Verfilmungen, die sich nach dem Zeugnis der Programmhefte offensichtlich enger an ihre Vorlagen gehalten haben, wurden bei weitem übertroffen. Zu diesen Themen liefert der Filmband erhellende Materialien: zu einem soziokulturellen Phänomen ersten Ranges, dessen weitere analytische Aufarbeitung durchaus wünschenswert wäre.

   "Karl May und . . . " könnte auch über der nächsten hier anzuzeigenden Arbeit stehen, aber nicht um die Geschäfte mit seinem Namen geht es darin, sondern um geistesgeschichtliche Verbindungslinien: in einem Beitrag der "Pädagogischen Rundschau" untersucht Franz Hofmann(2) geschichtsphilosophische und anthropologische Entwürfe bei Pestalozzi (namentlich in seinen "Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts"), Herder ("Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit") und May ("Der Mir von Dschinnistan"). Im Mittelpunkt der Untersuchung steht das, was man früher das Menschenbild genannt hat: wie sehen die drei Autoren die bisherige Entwicklung des Menschen, welche Erwartungen bringen sie ihm für die Zukunft entgegen?

   Am ausführlichsten fallen die Untersuchungen zu Pestalozzi aus, dessen Schrift Hofmann als Reaktion auf die Enttäuschungen der Französischen Revolution begreift. Pestalozzi könne danach, so Hofmann, den Fortschrittsoptimismus der Aufklärung nicht mehr beibehalten. Er entwerfe, in einer ausgefeilten Mischung anthropologischer, sozialgeschichtlicher und psychologischer Perspektiven, eine äußerst komplexe Darstellung der Vergangenheit und der in ihr enthaltenen


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Potenzen für die Zukunft, die Skepsis und Optimismus dialektisch verknüpfe und in jedem Element, das Geschichte und individuelles Sein konstituiert, positiv-zukunftsweisende wie auch negativ-destruktive Seiten entdecke. Gegenüber dem »Gleitende(n) und Widerspruchsvolle(n) seines produktiven Denkens« (151) erscheine Herders »strahlender Optimismus« (154) noch als geradezu naiv: er blicke hoffnungsfroh auf zu einer »heilen Welt der alles besiegenden Humanität« (155) und registriere eine historische Entwicklung, die ohne große Einschränkungen sämtlichen guten Wünschen entgegenkomme. May schließlich stehe gedanklich zwischen der dialektischen Sicht Pestalozzis und dem Fortschrittsglauben Herders (vgl. dazu Ekkehard Kochs Arbeit über May und Herder im Jb-KMG 1981), insgesamt aber doch näher bei Pestalozzi, zu dessen Abhandlung die Fragestellung des Spätwerks »verblüffende Parallelen« (156) aufweise. Die z. T. extrem widersprüchliche Entwicklungsgeschichte der Menschheit, wie Pestalozzi sie zeichne, kehre in vielen Details des "Mir von Dschinnistan" wieder, insbesondere jenes Nebeneinander von konstruktiven und negativen Anlagen in ein und demselben Element und die Verbindung der historisch-gesellschaftlichen Sicht mit der Pointierung der Verantwortung des einzelnen. Daß May, anders als Herder und Pestalozzi, keine wissenschaftliche Arbeit, sondern ein literarisches Werk geschrieben hat, hänge auch damit zusammen, daß seine Konzeption »in der historischen Phase des Spätkapitalismus-Imperialismus nur noch als Utopie« (155) faßbar sei. So stelle er der in der damaligen »Dichtung modischen Sehnsucht zum Tode, der Dekadenz und universalen Skepsis bzw. der Panironie eine ( . . . ) im Grunde optimistische Auffassung gegenüber«, die aber auf eindringliche Hinweise zu den »Krankheiten der Gesellschaft« (162) nicht verzichte.

   Ob Hofmann die Akzente immer richtig setzt, ob er nicht z. B. die Gedanken Herders etwas zu einseitig interpretiert, muß hier nicht untersucht werden. Wichtig für den aktuellen Stand der May-Forschung erscheint, daß May, bei allen Hinweisen auf die intellektuelle Distanz zwischen ihm und den beiden anderen Autoren, doch relativ unbefangen in einen Kontext gestellt wird, in dem man ihn vor einiger Zeit noch entweder gar nicht oder nur mit einer trotzigen Geste oder mit Hilfe allzu vereinfachender Gesichtspunkte beobachtet hätte. Das sachliche Ergebnis der Arbeit liegt darin, daß wir die ja ohne weiteres ersichtliche anthropologische Komponente des "Mir"-Romans mit Hilfe der Vergleiche nun erheblich präziser fassen können als früher und damit auch ihren Stellenwert im großen Ensemble der möglichen Perspektiven auf dieses merkwürdige Werk. Wenn man May in den letz-


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ten Jahren analysierend neben geistesgeschichtliche Koryphäen wie Goethe, Nietzsche und Lessing gestellt hat und ihn nun im Zusammenhang mit Herder und Pestalozzi kommentiert, dann mag das - immer noch - bei manchen seiner Anhänger Stolz über eine solche Beförderung hervorrufen (und vielleicht auch Zweifel, ob er da wohl werde standhalten können), bei einigen Verächtern hingegen Kopfschütteln und Spott über den vermeintlichen missionarischen Eifer solcher Aufwertungsbemühungen; in einigen Punkten können sich die Vertreter beider Seiten die Hände reichen. Mir scheint hingegen ein anderer Gesichtspunkt wichtiger, dessen Wert Hofmanns Studie herausstellt, indem sie vorhandene Trennungslinien nicht verwischt, sich ihnen aber auch nicht beugt. Das kulturgeschichtliche Phänomen Karl May bedarf nach wie vor der Entmythologisierung, und dies um so mehr, als der Abschied von den alten Mythen, die einst im Bild des harmlosen Volksschriftstellers kulminierten, nur durch Einsichten von solcher Schubkraft bewirkt werden konnten, daß sie ihrerseits von der Gefahr neuer Mythologisierung bedroht sind (was der Verfasser dieser Zeilen auch für eigene Arbeiten konzedieren würde): May sei ein genialer Psychologe gewesen, ein Biograph, der in über siebzig Büchern seinen Lebensweg in allen Facetten eindrucksvoll vermittelt habe, ein Seismograph ersten Ranges für die gesellschaftlich-politischen Entwicklungen seiner Zeit usw. All dies trifft sicherlich mehr oder weniger zu, aber wir haben darauf zu achten, daß wir uns nicht auf eine Verselbständigung solcher Einsichten zubewegen, die der Bindung an die spezielle Erfahrungs- und Ausdrucksstruktur der Mayschen Texte am Ende entbehrt. Wer einer drohenden Remythologisierung auf höherem Niveau - die gewiß niemand mit Absicht erstrebt, die aber den Weg zu analytischen Erkenntnissen irgendwann einmal verstellen könnte - entgegenarbeiten will, darf sich nicht a priori Sperren errichten, die, zu diesem oder jenem Zweck, das Problem Karl May oder Teile davon isolieren. Wie man solche Sperren vermeidet, ohne die Grenzen zu mißachten, die sich aus der Sache selbst ergeben, zeigt - nicht als erster, aber doch in bisher nicht gesehenem Zusammenhang - Hofmann mit seiner Studie.

   In gleichem Sinne verdient auch Interesse, was Manfred Karnick(3) über den »Heldentypus der verdeckten Überlegenheit bei Homer, Karl May und Schiller« (25) schreibt. Die einschlägigen Bemerkungen sind Teil einer Freiburger Habilitationsschrift über "Rollenspiel und Welttheater", deren Gesamtzusammenhang uns hier nicht weiter zu interessieren braucht, da es in der Hauptsache eben um die Analyse von Dramen geht. Um so bemerkenswerter erscheint es, daß Karnick sich


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seinem Thema nähert, indem er zunächst auch Karl May - in der Nachbarschaft der "Odyssee" und des "Fiesco" - bespricht. Nach 45 Seiten haben Old Shatterhand und Odysseus dann »ihre Schuldigkeit getan«, sind »mit Dank zu verabschieden. Sie können gehen«.

   Karnick kommentiert ein bei May häufiges Motiv: oft liebt es der Held, sein Licht erst einmal unter den Scheffel zu stellen. Das physische und geistige Genie, dessen Name jedermann kennt, gibt sich als Greenhorn aus, als Neuling inmitten der Gefahren des Wilden Westens, und niemand mag diesen unscheinbaren, manchmal tolpatschigen Fremdling so recht ernst nehmen. Unter der freiwillig getragenen Tarnung des Nichtsnutzes aber bereitet er schon neue Heldentaten vor oder führt sie gerade mit ihrer Hilfe aus, und wenn die Maske fällt und die Mitreisenden bemerken, daß z. B. der alberne Gräbersucher, als der sich Shatterhand zu Beginn des "Old Surehand" ausgibt, niemand anders ist als der berühmteste Westmann, den es überhaupt gibt, dann verdoppelt sich der Triumph, zu dem die heroischen Taten führen. Karnick zitiert: Seit mein Name genannt worden war, herrschte in dem großen Raum tiefe Stille. Man war von der Tafel zurückgetreten, um mir Platz zu machen ( . . . ) Zu beiden Seiten der Zeltgasse standen die Frauen und Mädchen vor den Thüren und staunten mich an, wie ein höheres Wesen (28). Ähnliche Szenen, wenn auch mit ganz anderer Vorgeschichte, gibt es in Schillers "Fiesco", und der heimkehrende Odysseus tarnt sich als Bettler, bevor er unter seinen Widersachern aufräumt. Karnick betont die Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Motivs bei den drei Autoren und skizziert vor allem seine produktions- und rezeptionsästhetische Funktion. Zu einem Helden, der nicht gleich in strahlendem Glanz daherkommt, vermag der Leser relativ schnell eine Beziehung zu gewinnen: »Der verkappte, verkannte, mißachtete Held mittlerer Größe sichert sich unser Mitempfinden und bereitet uns vor, auch die Übergröße der sozial honorierten unbedingten Überlegenheit bewundernd als eigene Leistung zu erleben« (38); der suggerierte mittlere Charakter, den insbesondere Lessing den Dramatikern zur Gestaltung empfahl, erleichtert die Identifikation. Aber nicht nur die kathartischen Bedürfnisse des Lesers, sondern selbstverständlich auch die des Autors werden durch eine derartig handelnde »Tagtraumgestalt« (44) in idealer Weise erfüllt, wie Karnick im Blick auf May und Schiller erläutert. Wenn ein Held wie Shatterhand in neuen Bewährungsproben gewissermaßen immer wieder mal von vorn anfängt, wenn er auf den Bonus, den ihm sein prominenter Name einträgt, freiwillig verzichtet, dann bestätigt sich abermals die Leistungskraft des Genies in ihrem ganzen Ausmaß, und Autor wie Leser parti-


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zipieren an diesem Erfolg: der Held erringt keine Siege, weil er nun einmal Old Shatterhand ist, sondern er ist Old Shatterhand, weil er sich dauerhaft als leistungsstark erweist. Die Heldenkonstellation enthält - so wäre über Karnick hinaus zu ergänzen - ein Element poetischer Selbstlegitimation: der literarische Kosmos des Mayschen Wilden Westens bestätigt von neuem, daß die hierarchischen Verhältnisse, auf die er sich gründet, zu Recht bestehen, daß Old Shatterhand den Rang verdient, den sein Schöpfer ihm einstmals eingeräumt hat.

   Leider hat Karnick Claus Roxins "Vorläufige Bemerkungen über die Straftaten Karl Mays" (Jb-KMG 1971, 74ff.) nicht zur Kenntnis genommen; die Studie, die sich detailliert mit Mays pseudologischen Charakterzügen, also seiner nahezu krankhaften Fixierung auf das Rollenspiel, befaßt, hätte ihm zu noch reichhaltigerem Ertrag verholfen. Aber niemand wird ihm das ernsthaft vorwerfen können: May ist, wie Homer, in der umfangreichen Arbeit über Calderon, Schiller, Strindberg, Beckett und Brecht eben doch nur eine Randfigur, und es wäre verfehlt, von jedem Autor, der sich in dieser Weise mit May beschäftigt, die Aufarbeitung der gesamten neueren Sekundärliteratur zu erwarten. Der enge Rahmen, den Karnick sich für seinen May- Kommentar gezogen hat, wird hinreichend gefüllt. So liegt auch hier, wie im Falle Hofmanns, eine Arbeit vor, die uns dem Ziel näherbringt, Karl May nicht nur als singuläres, wundersames Ereignis erschöpfend zu analysieren, sondern ihn auch im Kontext historischer und literaturgeschichtlicher Entwicklungen zu deuten. Vermutlich folgt gerade aus dieser Dialektik die Qualität eines jeden Schriftstellers, der längerfristig Aufmerksamkeit verdient: er ist Teil übergeordneter Bewegungen, wie sehr er sich selbst auch als isoliert und einzigartig begreifen mag; und er ist in der Tat isoliert und einzigartig, indem er sich der Rolle des Gliedstücks einer Kette entzieht, sich sperrt gegen die schlichte Fortführung und Erfüllung von Traditionen und Normen, die ihn dennoch in vielen Einzelheiten prägen.

   Wenn wir uns mit den literarischen Verwandtschaften des Mayschen Werkes beschäftigen, werden wir freilich zunächst immer noch an Schriftsteller wie Sealsfield, Dumas, Sue, Cooper und Möllhausen denken, an die Autoren der klassischen Abenteuerromane, und dann auch an weitere Erzeugnisse der Unterhaltungs- und Popularliteratur mit belletristischem oder wissenschaftlichem Inhalt, die Karl May gekannt und ausgewertet hat, die er z. T. sogar auswerten mußte, um seinen Mangel an persönlicher Kenntnis von den Verhältnissen jener Länder zu verdecken, über die er schrieb. Aber was hat May im einzelnen wirklich gelesen, und wie hat er das, was er vorfand, verwandelt?


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Obwohl schon die alten Karl-May-Jahrbücher in einigen ihrer besten Beiträge derartige Traditionen untersucht haben und sich auch in neuerer Zeit immer wieder Abhandlungen zu diesem Thema finden, stoßen wir hier auf ein Problem, das die Forschung vermutlich noch über Jahre hinweg beschäftigen wird. Die Gründe für die bestehenden Defizite sind einleuchtend: wer überschaut schon das Kontinuum der eigenwilligen Literaturgeschichte, in der Mays Werke unter diesem Aspekt stehen? Es handelt sich hier ja nicht um die offizielle Literaturgeschichte, mit der sich die amtliche Wissenschaft befaßt und über die relativ verläßliche Einsichten vorliegen, sondern um eine terra incognita gewaltigsten Ausmaßes; über einige der oben genannten Autoren mag manch einer noch kompetent sprechen können, aber auch ihre Werke stellen nur einen Teil des Gesamtmaterials dar, das der einschlägigen Untersuchungen bedarf. Und die Dinge liegen noch komplizierter: nicht alles, was sich als Informationsquelle oder als Motiv- und Themenvorlage für May zu enthüllen scheint, wird diese Funktion tatsächlich besessen haben, denn auch May kann ja nur einen kleinen Teil von alledem gekannt haben. So gilt es, nicht nur "Einflußforschung" zu betreiben, sondern Parallelen, Analogien und anderen Ähnlichkeiten nachzugehen, die identischen kulturellen Traditionen und geschichtlichen Determinanten entspringen, statt der bewußten Übernahme; vielleicht ist dies am Ende sogar das ergiebigere und interessantere Arbeitsfeld.

   Alles in allem: hier geht es um einen Bereich, den die May-Forschung nicht umgehen darf und in den sie doch aus simplen, pragmatischen Gründen nur unendlich schwer eindringen kann. Da muß es ihr dann sehr willkommen sein, wenn sich ein Experte findet, der zum Thema eine größere Arbeit vorlegt und vor eindeutigen Urteilen, welche Werke May bei diesem und jenem Roman ausgewertet hat, nicht zurückschreckt. Als ein solcher Experte hat sich schon in einer Reihe von Aufsätzen für die Mitteilungshefte und Jahrbücher der Karl-May-Gesellschaft Christoph F. Lorenz erwiesen, der nun auch seine umfangreiche Dissertation über Mays zeitgeschichtliche Kolportageromane - gemeint sind "Das Waldröschen", "Die Liebe des Ulanen", "Der Weg zum Glück" - als Buch vorlegt.(4)

   Es geht darin allerdings nicht nur um Mays Quellen. Die Arbeit strebt auch so etwas wie eine Gesamtschau auf die drei Romane an, wobei das "Waldröschen" relativ geringe Aufmerksamkeit findet: Fragen zur Tektonik rücken ebenso ins Blickfeld wie zur Erzählstrategie, zur Editionsgeschichte und zum Kitschproblem in der Literaturwissenschaft. Der Leser stößt dabei immer wieder auf bemerkenswerte


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Entdeckungen. So weist Lorenz darauf hin, daß "Der Weg zum Glück" zwar kaum etwas von den politischen Ereignissen um den Romanhelden, König Ludwig II., mitteilt, dafür aber recht intensiv auf kulturelle Bewegungen im 19. Jahrhundert reagiert (205ff.); im Kapitel zur Editionsgeschichte stellt der Autor heraus, daß die späteren Bearbeitungen bis in scheinbar abwegige Details unter anderem auch politischen Intentionen folgen, daß z. B. in einer Neufassung des "Weg zum Glück" selbst ein ganz kurzer Hinweis zur ungarischen Abstammung Franz Liszts aus offenbar nationalistischen Gründen gestrichen wurde (387). Lorenz ist ein verläßlicher Führer durch das bisweilen arg strapaziöse Labyrinth der drei Münchmeyer-Romane; wer sich in Zukunft mit ihnen befaßt, wird hier für viele Fragestellungen Anregungen entdecken, die in diesem kurzen Bericht nicht einmal angedeutet werden können. Am gewichtigsten sind indessen die Hinweise auf die literarischen Quellen und auf andere Werke, die in der Nachbarschaft der Mayschen Produkte anzusiedeln sind, jedoch im einzelnen durchaus gravierende und grundsätzliche Unterschiede zu ihnen aufweisen mögen. Die beeindruckende Fülle der herangezogenen Texte umfaßt populäre Abhandlungen zum deutsch-französischen Krieg von 1870/71 ebenso wie die historisch-politischen Romane des Sir John Retcliffe sowie die wichtigsten Vertreter der im 19. Jahrhundert populären Alpen- (Hermann von Schmid, Ganghofer, Rosegger, Anzengruber) und Ludwig-Romane (Samarow) und anderes. Lorenz erschließt Übereinstimmungen und Differenzen in einzelnen Motiven, in der Gesamtkonzeption und z. T. auch in der ideologischen Ausrichtung. Solche Untersuchungen, mag man deren Einzelheiten auch immer in Zweifel ziehen können, dienen ganz unmittelbar dem Ziel, die Individualität des Schriftstellers Karl May nicht mit Hilfe der unhistorischen Isolierung, sondern im Spannungsfeld von singulärer Kreativität und politischer wie kultureller und literaturgeschichtlicher Einbindung zu fixieren.

   Die Bedenken, die gegen die Arbeit von Lorenz zu erheben sind, zielen auf zwei Punkte. Zum einen drängt sich der Eindruck auf, die Fülle der Perspektiven schade allzu häufig der Präzision. So kommt es über viele Seiten hinweg zu eher referierenden, kaum aber energisch analytischen Ausführungen, und der Umfang dieser Passagen steht in keinem rechten Verhältnis zu ihrer Ergiebigkeit. Lorenz versucht mit gutem Grund, dem Leser die inhaltlichen Zusammenhänge der Romane zu erläutern, greift deshalb zu längeren Nacherzählungen, Paraphrasierungen und Zitaten, verliert darüber aber gelegentlich die interpretatorische Aufgabe aus den Augen; das gilt vor allem für Kom-


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mentare zur "Liebe des Ulanen", die kaum einmal tiefergreifende Einsichten erbringen als jene, May suggeriere in Übereinstimmung mit den Usancen der gängigen Kolportageliteratur, »daß die erfundenen Haupthelden und nicht so sehr die historisch bekannten Persönlichkeiten den Ausgang der großen historischen Auseinandersetzungen entscheiden« (145). In diesem Teil der Arbeit herrscht eine gewiß nicht oberflächliche, aber doch etwas unverbindliche, eher deskriptive statt um originelle, weiterführende Perspektiven bemühte Sicht vor, die keines der berührten Themen - alle wichtigen Schauplätze, Personen und historischen Ereignisse werden besprochen - ausspart. Die späteren Kapitel legen diesen Gestus zwar nie ganz ab, erschließen aber zunehmend anregendere Aspekte, so daß der Einwand der etwas unzureichenden analytischen Prägnanz an Bedeutung verliert. Vielleicht hängt das Dilemma mit dem Gegenstand des zweiten Bedenkens zusammen: mir scheint, daß Lorenz die spezifische Ästhetik des Kolportageromans nicht genügend gewürdigt hat. Seit den "Waldröschen"- Aufsätzen von Heinz Stolte und Volker Klotz aus dem Jahr 1971 wissen wir um den merkwürdigen epischen Extremismus dieser Romane, der sich auf eine eigenwillige Mischung aus ungezügelter Wildheit und betulicher Biederkeit stützt; das gilt für das Was der Werke, also für den Inhalt, den Stoff, ebenso wie für das Wie, für ihre teilweise kuriose Form. Lorenz ignoriert diese und die daran anschließenden Untersuchungen zwar nicht, wertet sie aber auch nicht immer hinreichend aus, so daß er häufig den wenig adäquaten Maßstab eines moderaten, sozusagen "normalen" Erzählens anlegt. Das führt dann zu zahlreichen Bemerkungen darüber, der eine Schauplatz gewinne schärfere Konturen als der andere, diese Romanfigur erscheine weniger gelungen als jene (vgl.60ff.) und es gehe oft »unlogisch und verworren« (316) zu; gelegentlich lobt Lorenz spätere Bearbeiter, deren Eingriffe »mit Recht« (319) für größere Klarheit, »mit Recht« (377) für Kürzungen gesorgt hätten. Das alles verdient unter dem gewählten Blickwinkel sicherlich Zustimmung, aber die Frage stellt sich, ob dieser Blickwinkel tatsächlich der ist, der zu den Romanen die ergiebigsten Einsichten liefert. Wäre es nicht nötig, das, was Lorenz lediglich als defizitär verbucht, im Blick auf seine Funktion im Rahmen der Kolportageästhetik zu prüfen?

   So ist Lorenz' voluminöse Studie nicht nur in ihren Erfolgen, sondern auch in ihren Mängeln ein Indiz für die besondere Qualität der Mayschen Münchmeyer-Romane, die beinahe in einem Maße Trivialliteratur sind, wie es überhaupt nur denkbar ist, und die doch permanent Eigenschaften offenbaren, die den aufgeschlossenen Leser zu fas-


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zinieren vermögen und sich gegen eine endgültige, abschließende Beurteilung geradezu sperren. Daß Lorenz' Abhandlung mit ihren manchmal ausufernden Inhaltsschilderungen dazu anregt, sich diese Werke wieder einmal vorzunehmen, zählt nicht zu ihren geringsten Qualitäten. Von hoher, junanischer Gestalt, schien sie nur zum Gebieten bestimmt zu sein ( . . . ) Und wenn sich diese Lippen zu einem Lächeln öffneten, so erschienen zwei Reihen perlenkleiner Zähnchen, an denen sicher selbst der erfahrenste Zahnkünstler kein Fehlerchen hätte entdecken können ( . . . ) Die Gestalt dieser Dame war voll, aber nicht unschön-üppig, obgleich ein pedantischer Kritikus vielleicht gesagt hätte, daß der Busen, welcher seine sommerlich leichte Hülle zu zersprengen drohte, die Blicke der Männer ein ganz klein wenig zu sehr auf sich ziehe ("Die Liebe des Ulanen", Olms-Reprint, 5) - das ist gewiß Trivialliteratur, vielleicht Kitsch par excellence, aber ist es nicht auch noch erheblich mehr: Groteske und Parodie, ästhetisches Programm und dezente Pornographie, schließlich die vollkommene Demonstration der Verbindung literarischer Schablone und individueller Schilderungskraft?

   Die Werke der von Lorenz zum Vergleich mit May herangezogenen Autoren bieten überwiegend den Vorteil, in teils älteren, teils neuen Ausgaben immerhin noch relativ leicht greifbar zu sein; wie aber steht es mit den Schriften auf der untersten Etage der Trivialliteratur, den sogenannten Schundromanen, die nicht das Glück hatten, einen so prominenten Autor wie Karl May zu besitzen und deshalb aufbewahrt zu werden, wie mit den biographischen Materialien zu Autoren, die niemals der "Hochliteratur" und ihrem Umkreis zugerechnet wurden? Öffentliche Bibliotheken, Universitätsinstitute und ähnliche Einrichtungen haben sich um solche Zeugnisse lange Zeit nicht gekümmert, da die offiziöse Forschung diesen Bereich ignorieren zu müssen meinte, und so kommt es, daß private Sammlungen oft ergiebigere Fundplätze darstellen als die genannten Institutionen; nicht nur die Karl- May-Forschung läßt erkennen, wie sehr es der privaten Initiative bedurfte, um das Desinteresse der professionellen Forschung wettzumachen. Auf diese Umstände verweisen die Herausgeber eines kleinen Sammelbandes(5), die einiges aus den ihnen bekannten Privatarchiven haben auswerten lassen und Materialien zu dem vorstellen, was sie unter dem heute eher ungebräuchlichen Namen Volksliteratur zusammenfassen. Der Titel, "Vom Lederstrumpf zum Winnetou", deutet schon an, daß es hier nicht um Karl May allein geht, aber May ist doch so etwas wie die Hauptfigur des Buches, die immer wieder zur Sprache kommt. Das gilt selbst für jene Arbeiten, die auf den ersten Blick we-


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nig mit ihm zu tun haben, und selbstverständlich erst recht für die, in denen es um Persönlichkeiten wie Leopold Gheri und Robert Kraft geht, Literaten, mit denen May persönlich zu tun hatte.

   Unter den Arbeiten, die sich speziell auf ihn konzentrieren, ist erwähnenswert zunächst einmal die von Siegfried Augustin und Rudolf Beissel über "Quellen und Vorbilder Mays". Die Autoren verweisen auf Sue, auf die "Gartenlaube", auf ein Sachbuch über Nordamerika und auf einige Texte, die May bei seinen Orientromanen ausgewertet haben könnte. Das alles ist nicht sehr detailliert ausgeführt, liefert aber im Rahmen des oben besprochenen Themenkomplexes Hinweise, die nun der weiteren Untersuchung zur Verfügung stehen; überflüssig sind freilich die Bemerkungen zu Sue, dessen Mitverantwortung für Mays "Verlorenen Sohn" ja inzwischen bekannt ist. Abermals werden erstaunliche Verbindungen erkennbar, und daß der Leser des öfteren auf Kuriositäten stößt, mindert den Wert solcher Suchaktionen nicht: wer kannte bisher schon die Geschichte des Motivs vom »Schnurrbärtchen aus ein paar Haaren« (76) zwischen James Justinian Morier und Karl May? Der Arzt Hans Höss hat in einer früher schon einmal veröffentlichten Abhandlung unter dem Titel "Kara Ben Nemsi als Hekim" das medizinische Wissen untersucht, das Mays Held im sechsbändigen Orientroman offenbart, und gelangt zu dem Ergebnis, der Alleskönner stehe dabei »durchaus auf der Höhe der damaligen Zeit« (94). Außer einem betulich-beschaulichen Bericht über einen Besuch in Radebeul und Umgebung finden sich in diesem Buch schließlich noch zwei faksimilierte Briefe von Karl und Klara May: der Brief Karls ist an Leopold Gheri gerichtet, der bekanntlich Mays Kunstbriefe publiziert hat, während Klaras ausführliches Schreiben aus dem Jahr 1916 Rudolf Beissel galt und vor allem für die Frühgeschichte des Karl-May-Verlags von Interesse ist.

   Mit wiederum anderen Aspekten der literarischen Zusammenhänge, in die May einzuordnen ist, befaßt sich ein Aufsatz des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Jeffrey Sammons.(6) Ausgehend von der Überlegung, angesichts der gewaltigen Zahlen von Auswanderern, die im 19. Jahrhundert aus den deutschen Gebieten nach Amerika zogen, müsse das Thema einen beträchtlichen Widerhall in der zeitgenössischen Literatur gefunden haben, bespricht er nacheinander Amerika-Romane von Sealsfield, May, Gerstäcker und Kürnberger. Bei Sealsfield lobt er die Lebendigkeit und Plastizität der Schilderung und erkennt als Geheimnis seiner Einzigartigkeit »that he was able to embrace, with exuberant good humour, much of the crudity and violence of American life that made other observers nervous and


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standoffish« (39); Sealsfields politisches Engagement sei nicht immer klar durchschaubar, aber im Grunde wohl eher konservativ. Gerstäcker zeichne Amerika als ein kompliziertes, widersprüchliches Land, »neither heaven nor hell, but a complicated, dangerous, challenging, and, when rightly approached, promising land« (49). Kürnbergers "Der Amerikamüde" dagegen - Sammons räumt dem Werk gute Siegeschancen bei einem etwaigen Wettbewerb um den törichtesten deutschen Roman des 19. Jahrhunderts ein - sei nicht viel mehr als ein Zeugnis des arroganten deutschen Nationalismus. Zu May liefert der Autor zunächst einen kurzen biographischen Überblick; er siedelt dann die Amerika-Romane »somewhere between Cooper and comic book« (44) an und hebt die ungewöhnliche Gleichsetzung von Superheld, Erzähler und Autor hervor, die May innerhalb und später auch außerhalb seines Werkes betrieb. Die zusammenfassende Beurteilung rückt May in die Nähe von Sealsfield, dem er allerdings künstlerisch nicht ebenbürtig sei.

   Daß der Autor selbst nicht dem deutschsprachigen Raum entstammt und daß er seine Studie in einer angesehenen amerikanischen Zeitschrift publiziert, ist für das Verständnis sehr wichtig, denn es bestimmt sein Erkenntnisinteresse. Sammons mag zwar seinen Lesern die besprochenen Romane nicht als verläßliche Wegweiser durch das amerikanische Leben im 19. Jahrhundert empfehlen, aber doch als - wie immer verzerrte - Spiegelbilder des Aufeinandertreffens zweier Kulturkreise: die Autoren, als Vertreter der alten, traditionellen europäischen Kultur, stoßen mit ihren Sujets auf die neue, sich gerade erst entwickelnde amerikanische Kultur. Die Romane seien, so resümiert Sammons, »not only often a great deal more accomplished and readable than most of us might expect; they will continue to repay study as we reflect upon the meaning of our own past« (52). Hier zeigt sich, was Sammons erreichen will: er möchte den amerikanischen Lesern ein für sie interessantes, ihnen bisher aber weitgehend unbekanntes Terrain öffnen, und dabei bedarf es zunächst des pointierten Überblicks, nicht aber der ausufernden Detailstudien. Wir können von dieser Arbeit deshalb keine umfassenden neuen Erkenntnisse erwarten, sondern müssen sie vor allem als einen Versuch ansehen, Rezeptionsprozesse in Gang zu setzen, die es bisher nicht oder fast nicht gegeben hat. Wohin dieser Weg noch führen wird, bleibt abzuwarten; für die May-Forschung ist von Belang, daß Sammons' gediegener Überblick Karl May - als Person und als Künstler - von vornherein in die Liste derjenigen einschließt, die er zum weiteren Studium empfiehlt.

Abschließend sei noch kurz auf zwei Neuerscheinungen hingewie-


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sen, die dem May-Experten ebenfalls nichts Neues vermitteln, aber bestätigen, wie weitgespannt das Thema "Karl May und . . . " sich darstellt. Karl May und die Schule - da handelt es sich um ein jahrzehntelang umstrittenes Problem, das gewiß nicht auf dem Niveau diskutiert wurde, das es verdient gehabt hätte; mehr als ein polemischer Abklatsch der ja auch schon nicht eben einsichtsvoll geführten Auseinandersetzungen um ästhetische, moralische und ideologische Fragen kam selten zustande. Nun legt das Schweizerische Jugendschriftenwerk einen schmalen, nur 33 Seiten umfassenden Band(7) über May vor, der wohl zur Information für Oberstufenschüler gedacht ist. An die alten pädagogischen Querelen erinnern hier nur noch ein paar Auszüge aus Rainer Gagelmanns "Soll die Jugend Karl May lesen?"; sonst wird ohne weiteres von der Attraktivität der Mayschen Werke ausgegangen, und der Autor steht ihnen wohlgesonnen gegenüber. Ausführlich besprochen wird dies freilich nicht, denn nichts anderes ist intendiert gewesen als eine - mit vielen Zitaten, vor allem aus "Mein Leben und Streben", angereicherte - Kurzbiographie, die sich auf die Zeit bis zu den Haftstrafen konzentriert und einem jungen Publikum mitteilen soll, welch komplizierte Persönlichkeit die auf den ersten Blick so simplen Heldengestalten Old Shatterhand und Winnetou erdacht hat. Darin liegt die Bedeutung des Büchleins: von den Beschönigungen, die Mays kriminelle Vergehen einer mysteriösen Sturm-und-Drang-Zeit in seiner Vita zuschlagen, will es ebensowenig wissen wie von den gehässigen Verunglimpfungen, mit denen Mays Gegner operierten; für einen potentiell sehr interessierten Leserkreis wird Aufklärung en miniature betrieben.

   An das Thema der literarischen Verwandtschaften erinnert wiederum "Das große Hausbuch der Dorfgeschichten".(8) Diese Anthologie, die Mays "Samiel" neben so grandiose Texte wie Brentanos "Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl" und Annette von Droste-Hülshoffs "Judenbuche", aber auch neben heute fast vergessene Erzählungen stellt, sammelt Beispiele für eine Gattung, die im 19. Jahrhundert zeitweise außerordentlich populär war und heute, etwa bei Guntram Vesper, Ansätze zu einer - wenn auch selbstverständlich mit ganz anderen Absichten betriebenen - Renaissance zeigt. "Der Samiel", 1878 erstmals veröffentlicht, ist jene Wilderergeschichte, die May später für seinen Kolportageroman "Der Weg zum Glück" neu bearbeitet hat; über diesen Vorgang informiert ausführlich Lorenz in seinem Buch, 296ff. Es hätten sich zweifellos gelungenere Beispiele aus der Mayschen Dorfgeschichtenproduktion finden lassen als diese sehr frühe Arbeit, aber indem ihre holzschnittartige Personenzeichnung,


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ihre karge Sprache und andere Eigenheiten sie deutlich von Erzählungen wie den oben genannten trennen, ergibt sich ein Eindruck von der Vielfalt, die diese Gattung im vergangenen Jahrhundert auszeichnete - und darauf dürfte es dem Herausgeber angekommen sein.



1 Christian Unucka ( Hg.): Karl May im Film. Eine Bilddokumentation. Dachau 1980

2 Franz Hofmann: J. H. Pestalozzis politisch-pädagogisches Bekenntnis in seinen "Nachforschungen; als Zeitgemälde in einem Triptychon hoch- und spätbürgerlicher Geschichtsphilosophie und Anthropologie. In: Pädagogische Rundschau 34, 1980, S. 143-162

3 Manfred Karnick: Rollenspiel und Welttheater. Untersuchungen an Dramen Calderons, Schillers, Strindbergs, Becketts und Brechts. München 1980

4 Christoph F. Lorenz: Karl Mays zeitgeschichtliche Kolportageromane. Frankfurt a. M.-Bern 1981

5 Siegfried Augustin/Axel Mittelstaedt (Hg.): Vom Lederstrumpf zum Winnetou. Autoren und Werke der Volksliteratur. München 1981

6 Jeffrey Sammons: Land of Limited Possibilities: America in the Nineteenth-Century German Novel. In: The Yale Review. Vol. LXVIII, Oktober 1978, 35-52

7 Max Bolliger: Roter Gentleman und weißer Jäger. Karl Mays Kindheit und Jugend. Zürich 1981

8 Walter Hansen (Hg.): Das große Hausbuch der Dorfgeschichten. 38 Erzählungen vom Leben auf dem Lande. München 1980


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