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CLAUS ROXIN

Das zwölfte Jahrbuch



Der vorliegende Band, dessen erste sechs Beiträge die Referate der Berliner Tagung (1. - 4.10.1981) wiedergeben, zeichnet sich durch die Vielfalt seiner Interpretationsansätze aus. Seit Heinz Stoltes "Reise ins Innere" (Jb-KMG 1975, S. 11ff.) hat das Verfahren Schule gemacht, die Reiseerzählungen Karl Mays vor allem als Verarbeitung biographischen Erlebnisstoffes zu deuten. Es kann kein Zweifel sein, daß dies bei einem so ichbesessenen, seelisch verwundeten und um seine Selbstachtung ringenden Autor wie May eine überaus ergiebige Methode ist. Walther Ilmer, der um den analysierenden Nachvollzug dieser Reise ins Innere seit Jahren mit erstaunlicher Intensität bemüht ist, zeigt das im Beitrag des vorliegenden Jahrbuches, der seine Arbeitsweise auch programmatisch rechtfertigt, noch einmal besonders klar gerade dadurch, daß er fast denselben stofflichen Ausschnitt aus Mays Orientzyklus behandelt, von dem damals Stolte ausgegangen war, und daß er ihm immer neue, bestätigende Detailbeobachtungen abgewinnt. Stolte selbst wendet dieses Verfahren auf einen von der Forschung bisher fast ganz vernachlässigten - und für den Leser doch so wichtigen! - Aspekt unseres Forschungsthemas an: den Humoristen Karl May, von dem er zeigt, daß sich hinter seinen lustigen Figuren durchweg satirische Verspottungen der eigenen Schwächen des Autors verbergen: seiner oft bodenlosen Ruhmredigkeit, seiner Mezzofanti noch überbietenden vorgeblichen Polyglottheit, seiner Titelsucht usw. Das ist nicht nur komisch, sondern dieser Aufweis ermöglicht zugleich eine differenziertere Beurteilung des heldischen Ich-Ideals, das May uns in seinen Büchern vorführt. Wenn nämlich May seine heldische Attitüde durch komische Kontrastfiguren immer zugleich auch in ironischer Brechung erscheinen läßt, dann erweist sich Friedrich Sieburgs Klischeevorstellung von »Karl Mays monotonen Prahlereien« (in: Nur für Leser, 1955) als Produkt einer oberflächlichen Beurteilung aus beschränktem Blickwinkel. Bei einer multiperspektivischen Lektüre, die in Mays »Narren, Clowns und Harlekinen« den Autor ebenso gespiegelt sieht wie in Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand, gewinnt dieses Erzählwerk eine weit größere psychologische Komplexität, als ihm gemeinhin zugestanden wird. Stoltes und Ilmers - be-


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kanntlich auf Dilthey ("Das Erlebnis und die Dichtung", 1905) zurückgehende - Bemühungen um eine literaturpsychologische Aufarbeitung des »Phänomens Karl May« vermitteln zudem einen Einblick in die Arbeitsweise der schöpferischen Phantasie schlechthin, insofern diese den psychischen Rohstoff in gestaltete, auf oft höchst komplizierte Weise ineinander geschobene Bilder umsetzt; selten läßt sich das so genau studieren wie bei dem naiv-transparenten »Traumschreiber« Karl May.

   Demgegenüber eröffnet Gert Ueding mit seinem Beitrag, der an der Spitze dieses Jahrbuchs steht, einen ganz neuen Zugang zu Karl May, indem er mit Nachdruck - und ich meine: zu recht - darauf beharrt, daß die Substanz seines Werkes sich nicht in Psychologie oder Soziologie auflösen läßt (so wichtig diese Beurteilungsebenen sind), sondern daß wir in May - auch - einen in großen literarischen Traditionszusammenhängen stehenden Autor vor uns haben, der mit »der Leidenschaft eines geistigen Führers . . . die existentielle Nichtigkeit des Menschen . . . durch den ästhetischen Bau und die literarische Bekräftigung einer metaphysischen Welt aufheben wollte«. Ueding nennt das selbst »eine anstößige These«, und doch kann kein Zweifel sein, daß May sein ganzes Leben lang ein metaphysischer Dichter sein wollte. Gott, Mensch und Teufel, der Schrei um Erlösung aus der Qual und Angst des Erdenlebens war ein zentrales literarisches Erlebnis schon seiner Kindheit (Mein Leben und Streben, S. 56), dasselbe Thema liegt frühesten Fragmenten wie "Ange et Diable" und dem socialen Roman "Mensch und Teufel" zugrunde, und es beherrscht ebenso Mays letzte große Schöpfungen, "Ardistan und Dschinnistan" und "Winnetou IV". Ueding zeigt (besonders am Beispiel von "Satan und Ischariot"), daß auch Mays abenteuerliche Reiseerzählungen (bis in die Bauform hinein) als metaphysische Konzeptionen verstehbar sind. Selbst in den Kolportageromanen ließe sich dieses Konstruktionsprinzip nachweisen (vgl. meine Bemerkung in M-KMG 3, S. 14, über das "Waldröschen": »Das Ganze ist also ersichtlich konzipiert . . . als ein metaphysischer Roman«). Die Verlegenheit, die May der Literaturkritik bereitet - und das Schweigen der Forschung, das Ueding nun gebrochen hat - scheinen mir zum guten Teil nicht nur in der Zeitwidrigkeit eines solchen Versuches zur Wiederbelebung des metaphysischen Romans, sondern auch darin begründet, daß May sich obendrein unterfing, die größten Themen mit weithin trivialliterarischen Mitteln anzupacken. Gleichwohl liegt in dieser außenseiterischen Position Mays ein wesentliches Element seiner Originalität und Wirkung. Indem Ueding Mays scheinbar geistig verspätete und dilettantische Konzeption als »Ge-


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genentwurf gegen alle rationalistischen Weginterpretationen des Bösen«, gegen flachen, »Schmerz und Ernst des Negativen« hinwegleugnenden Fortschrittsglauben deutet und sie so ins Avantgardistische wendet, weist er der May-Forschung Wege, die allzu lange verschüttet gewesen sind.

   Der - vereinfachend gesagt - »psychologische« und der »metaphysische« Interpretationsansatz lassen sich vielleicht miteinander versöhnen, wenn man Mays Schriftstellerei als einen einzigen verzweifelten Kampf gegen die Tragik der eigenen Unzulänglichkeit und des irdischen Weltlaufs versteht. Man kann dieser Tragik, einer Existenz von so langer, ununterbrochener Lebensqual (May, Jb-KMG 1976, S. 239), Herr zu werden versuchen, indem man die realen Ausweglosigkeiten durch literarische Wunscherfüllungen kompensiert, wie dies im Falle Mays alle psychologischen Analysen gezeigt haben; man kann ihr begegnen, indem man das Schreckliche komisch findet, wie Stolte dies (am Beispiel des »lustigen« Sam Hawkens) exemplarisch vorführt; und man kann vor allem die Tragik überwinden durch metaphysische Rettungsentwürfe und Hoffnungsutopien. Diese letzte Waffe war Mays stärkste im Kampf gegen die Heillosigkeit des Daseins, und auch darum ist es gewiß berechtigt, wenn Ueding diesem Gesichtspunkt größere Aufmerksamkeit der May-Forschung zugewendet sehen möchte. Das sibyllinische Motto, das May "Babel und Bibel", seinem einzigen Drama, vorangestellt hat, ist unter diesem Gesichtspunkt sein aufschlußreichstes Selbstbekenntnis: Gott schrieb die Schöpfung nicht als Trauerspiel; / Ein tragisch Ende kann es nirgends geben. / Zwar jedes Leben ringt nach einem Ziel, / Doch dieses Ziel liegt stets im nächsten Leben. Ein weiteres dichterisches Mittel gegen die Vergeblichkeit und die Vergänglichkeit alles Irdischen ist die verklärende Klage. Schiller hat das in seiner "Nänie" mit unvergeßlichen Worten geschildert: »Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten ist herrlich; denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.« In diesen Themenzusammenhang fügt sich die Arbeit von Hermann Wiegmann über den Topos vom Untergang des Schuldlosen. Karl May ist nicht zufällig in die literarische Gestaltenreihe geraten, die der Autor uns hier vor Augen führt. Vielmehr war es von vornherein sein literarischer Plan, die Politik der Ausrottung des indianischen Volkes durch das Werk seiner Feder gewissermaßen rückgängig zu machen: um die verschwundenen Krieger der Savanne wird die Sage ihren goldenen Schimmer weben, und das Gedächtniß der an dem Bruder begangenen Todtsünde wird fortleben in dem Liede des Dichters (Schacht und Hütte, 1875/76, S. 158).


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   Ein wiederum anderes Forschungsfeld betritt Helmut Schmiedt, indem er am Beispiel der Jugenderzählung vom "Geist des Llano Estakado" zum ersten Mal umfassend das »Spiel mit Räumen« bei Karl May untersucht. Wenn es richtig ist, daß die Bewegung im Raum ein Merkmal ist, durch das sich die Epik von anderen Literaturformen unterscheidet, dann ist Karl May gewiß ein besonders ausgeprägter Epiker. Seine "Reiseerzählungen" tragen die Raumbewegung mit Recht als gattungsbestimmendes Kennzeichen im Namen, und die Zielrichtungen seiner Handlungsabläufe - vor- und rückwärts, kreisförmig und diagonal - ordnen sich oft zu so komplexen geometrischen Figuren, daß Wegskizzen, wie sie der Bamberger Ausgabe beigegeben sind, dem Verständnis tatsächlich förderlich sein können. Nun wäre dies ein recht schlichter und kaum erwähnenswerter Befund, wenn nicht Mays Räume (in unserem Fall: Oase und Wüste) und die Bewegungen in ihnen, wie Schmiedt dies detailliert darlegt, von vornherein symbolische, handlungskonstituierende, motivschaffende und Personen charakterisierende Funktion gewönnen. In Konfigurationen solcher Art und nicht in der sprachlichen Formung liegen die artistischen Elemente in der Erzählkunst Mays. Wenn man über Schmiedts Beispiel, das nur Bewegungen in der Ebene zuläßt, einmal hinausgeht und die Vertikale mit ihren Möglichkeiten des Steigens und Fallens, des Fliegens, Stürzens und Versinkens in die Betrachtung einbezieht, wird man rasch bemerken, daß es die von Ueding beschworene metaphysische Dimension ist, die May durch Raumbewegungen solcher Art in sein Erzählwerk einbringt. Noch seine spätesten Gedankenspiele sind geprägt durch den Gegensatz von horizontalen und vertikalen Bewegungsabläufen: Ich fahre nicht Rad und nicht Automobil, sondern ich bin Aviatiker (Jb-KMG 1976, S. 240). Und wenige Tage vor seinem Tode sagte er: Ich war in den Rocky Mountains, wo nur wenige waren: in den geistigen. Ich bin auf Pfaden geklettert. Und - all das ahnen sie nicht. (Jb-KMG 1970, S. 106). Seelische, geistige, metaphysische Erlebnisse verwandelten sich für May fast immer in oft kühne Bilder räumlicher Bewegungen - ein sehr eigenartiger Fall der Literatur. Es wäre eine reizvolle Aufgabe, einmal das Gesamtwerk Mays als ein »Spiel mit Räumen« zu deuten. Helmut Schmiedt hat auf diesem Gebiet Grundlagenarbeit geleistet.

   Zum ersten Mal auch wenden wir uns in diesem Jahrbuch mit der Arbeit von Christoph F. Lorenz der Lyrik Karl Mays zu. Wie relativ kunstvoll May auch hier das »Spiel mit Räumen« betreibt, wird an der Analyse des ersten Gedichtes (Ich sehe Berge ragen) hinreichend klar. Einen bedeutenden Lyriker wird man May gleichwohl nicht nennen


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können; das zeigen auch die Beispiele, die Lorenz uns gibt. Zwar findet sich, wie Lorenz deutlich macht, die Mehrschichtigkeit der Erzählprosa Mays auch in seinen Gedichten. Aber May fehlt die sprachliche Kraft und auch die Erfahrung - die "Himmelsgedanken" sind ja seine erste größere lyrische Arbeit -, um sich in der strengen und engen Strophenform frei bewegen zu können. So wirken seine Gedichte oft wie am Reißbrett entworfene Konstruktionen, und auch die konventionelle Metaphorik (etwa der Nacht als Symbol geistiger Verdüsterung, herbstlichen Blätterfalls als Chiffre des Alters) kann ihnen nicht die Inkommensurabilität vermitteln, die seinen großen Romanzyklen immer wieder neue Leser zuführt. Andererseits ist Lorenz durchaus darin recht zu geben, daß viele von Mays Gedichten sich in der vergleichbaren zeitgenössischen Produktion recht achtbar behaupten können (wie auch schon der Vergleich von Muttergedichten Mays und Hesses durch Wolf-Dieter Bach in Jb-KMG 1970, S. 110ff., gezeigt hat); sie bieten zudem wertvolles Quellenmaterial zur Seelenerkenntnis Karl Mays. Ein abschließendes Urteil würde erst die Veröffentlichung von Mays Nachlaß ermöglichen, der bemerkenswerterweise zum größten Teil aus lyrischen Versuchen besteht.

   Schließlich unternimmt unser Jahrbuch große Anstrengungen, Mays Werk im Kontext seiner vielfältigen literarischen und wirkungsgeschichtlichen Bezüge beurteilbarer zu machen, ein Themenbereich, mit dessen Aufarbeitung wir noch am Anfang stehen. Martin Lowsky hat in seinem Berliner Vortrag Fontanes "Quitt" und Mays "Scout" einer besonders aufschlußreichen vergleichenden Analyse unterzogen. Es ist klar, daß der Realist Fontane und der Phantast May wenig Gemeinsames haben. Aber es ist doch reizvoll zu sehen, zu wie überaus verschiedenen Prosagebilden beide auch dann kommen, wenn sie zufällig dasselbe Sujet (Auswanderung nach Amerika) wählen, wenn May einen (vergleichsweise) realistischen Roman schreiben, wenn Fontane umgekehrt »aus dem Phantasiebrunnen« schöpfen will und wenn auch noch das Grundmotiv (»Schuld und Sühne«) derselben Lösung zugeführt wird. Offenbar prägen sich hier grundlegend unterschiedliche Formen des Weltverständnisses aus, und es ist auffallend genug, daß Lowsky diese Polarität strukturell vor allem in entgegengesetzten Bewegungstendenzen (dem Aufbruch ins Unbegrenzte bei May und dem Rückzug in die begrenzte Ordnung bei Fontane) ausgedrückt findet.

   Literarische Vorbilder und Quellen, die auch Ueding und Wiegmann schon in großem Überblick namhaft machen, sind spezieller Gegenstand der Arbeiten von Jeglin und Kosciuszko. Rainer Jeglin ana-


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lysiert die Struktur von Vulpius' Räuberroman "Rinaldo Rinaldini" und den Einfluß, den dieses Werk (vgl. dazu schon Ueding, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 5.7.1975 = M-KMG Nr.26, S. 13ff.) auf Karl May gehabt hat. May erwähnt diesen Roman allein in seiner Autobiographie an vier verschiedenen Stellen, und alle seine Versuche, sich polemisch von ihm abzusetzen, bestätigen mehr die lebenslängliche Abhängigkeit seiner Phantasiewelt von diesem klassischen Werk der Trivialliteratur, als daß sie sie widerlegten. Wenn May die Räuberromane seiner Kindheit für manche Irrungen seiner jungen Jahre verantwortlich machte, hatte er subjektiv vielleicht nicht ganz unrecht. Vom literarischen Standpunkt aus möchte ich sein Verdikt gleichwohl nicht teilen: Mays Bedeutung liegt (zum geringeren Teil freilich nur) auch darin, daß er als einziger deutscher »Großschriftsteller« die literarische Subkultur des 18./19. Jahrhunderts in den lebendigen Bestand unseres Schrifttums hinübergerettet hat; die ungezähmten Ausbruchsphantasien dieser Schriften haben seinem Werk lebendigere Impulse vermittelt, als es die epigonale »bürgerliche« Literatur seiner Zeit hätte tun können. Bernhard Kosciuszko untersucht Mays Quellen für die Schilderung des Yellowstone-Nationalparks, die mit Recht zu den Glanzstücken May'scher Naturdarstellung gerechnet wird. Dabei ergibt sich, daß die dramatische Intensität, zu der sich die Beschreibung Mays hier aufschwingt, mit der traumatischen Bedeutung zusammenhängt, die das Motiv von »Feuer und Wasser« seit früher Kindheit für May gehabt haben muß; die Arbeit von Wilhelm Vinzenz über dieses Thema (Sonderheft der KMG, Nr.26), auf die sich auch Kosciuszko bezieht, ist noch bei weitem nicht ausgeschöpft.

   Das vorliegende Jahrbuch ist auch das erste, das den großen Themenbereich der Wirkungsgeschichte Karl Mays in zwei Ausschnitten behandelt. Günter Scholdt, der mit einer bemerkenswerten Arbeit über Ernst Jüngers "Marmorklippen" hervorgetreten ist (Zeitschr. f. dt. Philologie, Bd. 98, 1979, S.543ff.), weist die strukturellen Verwandtschaften zwischen diesem Werk und Mays "Ardistan und Dschinnistan" nach; er zeigt, daß Jünger in seiner Jugend ein eifriger May-Leser war und daß die Erinnerung daran in seinem Werk immer wieder durchschlägt. Jüngers eigenes Zeugnis (vom 12.1.1981) schließt eine unmittelbare Beeinflussung durch "Ardistan und Dschinnistan" jedenfalls nicht aus. Was mich aber im Zusammenhang mit den Überlegungen, die ich oben an Schmiedts Studie geknüpft habe, am meisten frappiert, ist der Umstand, daß Scholdt die entscheidende Übereinstimmung beider Romane gerade darin sieht, daß in ihnen »geographische Gegebenheiten als sinnbildhaft erschließbare Gedankenkomplexe« ver-


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wendet werden und daß er einer solchen »epische(n) Präsentation ausgesprochenen Seltenheitswert« beimißt. Ich frage: Ist das nicht interessant? (May: Winnetou IV, letzter Satz).

   Erich Heinemann schildert den seltsamen Kampf, den der Lehrer Fronemann gegen Karl May geführt hat und nimmt das an und für sich eher belanglose Wirken dieses jugendbeflissenen Mannes zum Anlaß, eines der merkwürdigsten Kapitel in der Wirkungsgeschichte Karl Mays erstmals zu untersuchen: seine Beurteilung in den Jahren 1933 - 1945. Vieles daran ist rätselhaft und zweideutig. Aber schon das von Heinemann erschlossene Hintergrundsmaterial zeigt, daß Karl May im "Dritten Reich" ein »Politikum« war, und daß das Schicksal seiner Bücher bei einer längeren Lebensdauer des Regimes nicht abzusehen gewesen wäre. Das Leben und Streben des seltsamen Herrn Fronemann gewinnt fast eine tragikomische Größe, wenn man sich bewußt macht, wie sehr er im Grunde recht damit hatte, daß Karl May vom nationalsozialistischen Standpunkt aus hätte verboten werden müssen, und daß Fronemann in seinem schwer begreiflichen Haß unfreiwillig die ehrenvollste ideologische Apologie gelungen ist, die Karl May je erfahren hat. Wir stehen jetzt vor der Aufgabe, das aus jener Zeit erhaltene Archivmaterial über Karl May lückenlos zusammenzutragen; es wird sich daraus ein aufschlußreicher Einblick in die nationalsozialistische Kulturpolitik ergeben.

   Den einzigen (im engeren Sinne) biographischen Beitrag dieses Jahrbuchs liefert Wilhelm Vinzenz mit seiner Abhandlung über "Karl Mays Reichspost-Briefe". Die Dokumentation dieser publizistischen Auseinandersetzung, die einige wichtige biographische Bekundungen Mays erstmals zugänglich macht, benutzt Vinzenz, um die Beziehungen zwischen Karl May und dem Hausschatz-Verlage Pustet, soweit sie in der öffentlichen Kontroverse berührt werden, einer gründlichen Untersuchung zu unterziehen. Er hat dabei - mit dankenswerter Unterstützung von Roland Schmid - unveröffentlichtes Korrespondenzmaterial benutzen und auf diese Weise für einige Werke Mays ("Satan" und "Silberlöwe") neue entstehungsgeschichtliche Informationen erschließen können. Freilich: Auf welchen Umfang der "Satan"-Roman ursprünglich berechnet war, warum May die einschneidenden Kürzungen der Krüger-Bei-Handschrift durch den "Deutschen Hausschatz" bei der Buchveröffentlichung nicht rückgängig gemacht hat, und welchen Inhalt der ominöse »Waschzettel« hatte, der den Anlaß für Mays Bruch mit dem "Hausschatz" lieferte, ist immer noch nicht endgültig geklärt. Bedeutsamer als die Antwort auf diese Fragen aber ist wohl die Einsicht, daß die Gründe, die beide Seiten für die Auflösung einer


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zwanzigjährigen fruchtbaren Beziehung vorbrachten, allesamt nur Vorwände für eine ohnehin unvermeidliche Trennung waren. Karl May mußte sich von Pustet lösen, weil der literarische Anspruch seiner späten Romane sie für die Veröffentlichung in einem Familienblatt untauglich machte, und Pustet mußte auf May verzichten, weil dieser gegen die Angriffe der katholischen Presse nicht mehr zu halten war. Es wäre begrüßenswert, wenn die Veröffentlichung der Urschrift des "Satan"-Romans (soweit sie erhalten ist) der Arbeit von Vinzenz folgen könnte.

   Mit dem Beitrag von Hansotto Hatzig und Gerhard Klußmeier setzen wir die Publikation der Prozeßakten über Karl May fort, die sich im Staatsarchiv Dresden befinden (vgl. Jb-KMG 1980, S. 137ff.; 1981, S. 262ff.). Die Arbeit bildet gleichzeitig den Abschluß der umfassenden Dokumentation, die wir den öffentlichen Auseinandersetzungen zwischen Ansgar Pöllmann, dem geistlichen Kritiker, und Karl May gewidmet haben (vgl. Jb-KMG 1976, S. 215ff., 230ff., 273ff.; 1979, S. 322ff.).

   Der Literaturbericht von Helmut Schmiedt und Erich Heinemanns Referat über die Arbeit der Karl-May-Gesellschaft sollen den Leser über die weiteren Aktivitäten der Karl-May-Forschung unterrichten. Ich sehe mit Freude, daß wir jetzt schon den zwölften Band unserer Jahrbuchreihe vorlegen können und daß die Arbeit der Karl-May-Gesellschaft auch sonst reiche Frucht getragen hat. Ein gekränkter Kritiker (und geschätztes Mitglied) schrieb unlängst über das Jahrbuch 1981 einen absprechenden Artikel unter dem Titel: »Der Lack ist ab.« Das mag ja sein; der Karl-May-Forschung ist auch mit »Lack« wenig gedient. Wenn ich aber auf das Vorwort zurückblicke, das ich im Frühjahr 1970 für unser erstes Jahrbuch schrieb, so finde ich: Das meiste von dem, was wir uns vor zwölf Jahren vorgesetzt hatten, ist heute erreicht. Und für die Zukunft eröffnen sich Forschungsaufgaben, an die damals noch nicht zu denken war. Mehr wollen wir nicht verlangen.


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