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KARL MAY



Aphorismen über Karl May





Blatt 1.


Es ist falsch, Karl May als  J u g e n d s c h r i f t s t e l l e r  zu betrachten. Er schreibt für die auch geistig Erwachsenen. Es ist sogar auch für die Letzteren nicht leicht, den tieferen Inhalt seiner Bücher zu erfassen.
   Allerdings hat er auch einige Jugendbücher geschrieben, aber nur zum Zwecke des Vergleiches, damit man ersehe, welch ein großer Unterschied zwischen diesen und seinen anderen Werken ist.

Blatt 2.


Es ist falsch, Karl May nur als  R e i s e s c h r i f t s t e l l e r  zu betrachten.

   Zwar ist er verschiedene Male in Afrika und Asien, sogar bis hinter nach Ostasien, in den Vereinigten Staaten und Kanada u.s.w. u.s.w. mehr als zehn mal gewesen, aber diese Reisen waren und sind nicht die Hauptsachen, sondern nur das Mittel zum Zweck.

   Das Gewicht auf die Einzelheiten dieser Studienreisen legen, hieße ihn nicht begreifen, ihn zum ganz gewöhnlichen Unterhaltungskarnikel für unerwachsene resp. ungebildete Leser degradiren.

Blatt 3.


   Auf die Frage, was Karl May ist, giebt es nur die eine, richtige Antwort: Er ist  V ö l k e r -  u n d  M e n s c h h e i t s p s y c h o l o g .  Um dies zu werden, hatte er von der Einzelseele auszugehen, um über das Studium der einzelnen  V ö l k e r s e e l e n  zuletzt auf die allgemeine, große  M e n s c h h e i t s s e e l e  zu kommen.

   Zum Studium der Einzelseele reichte die Heimath hin. Was er da fand, legte er in seinen heimathlichen Erzählungen nieder. Das schwierigste dieser psychologischen Probleme ist im »Geldmännle«, Erzgebirgische Dorfgeschichten Band 1 gelöst. Man lese nach!


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   Zum Studium der Völkerseelen waren Reisen erforderlich. Er machte sie nicht als Reisefex, als Gelehrter, als Entdecker u.s. w. sondern nur als »Mensch«, nur für sich selbst. Er machte sie ganz im Stillen, ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Und heut, wo er bekannt geworden ist, macht er sie unter andern Namen. Denn wer »Seelen« studiren will, auch Völkerseelen, hat dies  n i c h t  an die große Glocke zu hängen. Darum konnte es Karl May niemals einfallen, mit den Einzelheiten und dem Zwecke seiner Reisen an die Oeffentlichkeit zu treten. Forscher wie Sven Hedin ꝛc. ꝛc. ꝛc. haben es nur mit dem Erden- und Menschheitskörper zu thun; ihre Reisen vertragen Lärm; der Seelenforscher aber hat ganz anders zu verfahren. Darum hat Karl May es unterlassen, geographische, ethnographische, touristische Fachwerke zu schreiben und überhaupt als derartiger Fachmann aufzutreten. Hierdurch wurde erreicht, daß sein Name nicht auf andere Gebiete hinübergezogen wurde und er sich seiner Aufgabe  g a n z  und  v o l l  widmen konnte. Es ist nämlich ein gradezu  s c h r e c k l i c h e s  Ding, allgemein bekannt oder gar berühmt zu sein!

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   Dies die Beantwortung der Frage, warum mein Name nicht erwähnt wird.  I c h  w i l l  e s  n i c h t ! ! !  Weitere Antworten folgen.

Blatt 4.


   Karl May hat seine psychologischen Reisen in Band 1 in der Wüste angefangen.  N ä m l i c h  i n  d e r  W ü s t e  u n s e r e r  U n w i s s e n h e i t  ü b e r  d i e  S e e l e .  Da trat ihm nicht etwa die Seele sofort entgegen, sondern zunächst die menschliche Anima, die er Hadschi Halef Omar nennt und als Diener mit sich nimmt, um sie eingehenden Studien zu unterwerfen. Halef ist klein, sitzt aber auf hohem Pferde. So auch die Anima. Er ist ruhmredig und bezeichnet sich und seine Vorgänger als Hadschi; sie sind es aber nie gewesen. So auch die Anima, die uns weißgemacht hat, daß sie die Seele sei. In Wahrheit aber wissen unsere gelehrtesten Psychologen  n o c h  h e u t e  n i c h t ,  was Seele ist und was Geist!

   Die »Seele« kommt erst in Hanneh, dem Weibe Halefs, zum Vorscheine und wird nach und nach durch alle Bände hindurch bis hinauf zu Marah Durimeh, der  » M e n s c h h e i t s s e e l e «  entwickelt.


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Blatt 5.


   Hand in Hand mitdieser rein psychologischen Aufgabe, die sich, bald mehr und bald weniger bemerkbar, je nachdem es der Zweck erheischt, durch alle Bände zieht, werden zugleich auch jene  h u m a n i s i r e n d e n  Aufgaben gelöst, durch welche Karl May die Herzen seiner Leser gewann. Diese sind:
   1.) Die Entwickelung des  G e w a l t m e n s c h e n  zum  E d e l m e n s c h e n .  Siehe »Babel und Bibel.«
   2.) Die  A u s s ö h n u n g  des  M o r g e n l a n d e s  mit dem  A b e n d l a n d e ,  für welche durch die May'schen Schilderungen schon Hunderttausende begeistert worden sind.
   3.) Der Nachweis des langsamen, aber sichern Entstehens einer neuen, germanisch-indianischen Rasse jenseits des Atlantic, deren  P r o t o t y p  Winnetou ist.  D a r u m  ist Winnetous Erzieher ein Deutscher, und  d a r u m  kommen in diesen Schilderungen so oft Deutsche vor. Man sieht, daß die Bedenken, die  g e g e n  May zu sein scheinen  g r a d  f ü r  ihn sind, sobald man seine Bücher nicht wie ein junger, oberflächlicher Quartaner ließt! Der Jankee ist nämlich unfähig, eine herrschende Rasse für Amerika zu zeugen, und doch hat diese Rasse dort unbedingt zu erscheinen, um die großen, menschheitlichen Aufgaben wieder aufzuheben, welche Europa vielleicht zu Boden fallen läßt. Der Deutschamerikaner ist Pionier!

Blatt 6.


   Es ist falsch, über Karl May schon jetzt ein endgültiges Urtheil abzugeben. Er ist trotz seiner 67 Jahre ein  W e r d e n d e r ,  ein  L e b e n b l e i b e n d e r ,  der nicht eher sterben will, als bis er erreicht hat, was zu erreichen er strebt. Daß seine Reiseerzählungen nur flotte, aber scharftreffende  S k i z z e n ,  V e r s u c h e  und   V o r ü b u n g e n  für Späterkommendes sein sollen und auch wirklich sind,  v e r s t e h t  s i c h  v o n  s e l b s t .  Zwar lassen auf künstlerischem Gebiete auch schon Skizzen den Meister erkennen, aber es wird sogar dem strengsten Kritikern nicht einfallen, an die Skizzen selbst des größten Meisters denselben Maßstab zu legen wie später an das vollendete Werk.
   Man lese, welchen Band von May man wolle, es treten überall Hinweisungen und Fingerzeige auf Künftiges hervor, und wer den Äußerungen der gegenwärtigen Kritik über ihn folgt, dem kommt sehr oft die bedauernde Frage: Warum läßt man ihm doch keine Zeit, sich naturgemäß und aus sich selbst heraus zu entwickeln?!


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Blatt 7[.]


   Der bekannte östreichische Kritiker Armand von Ozoróczy nennt Karl May
   » d e n  A b g e o r d n e t e n  d e r  g a n z e n  M e n s c h h e i t . «
   Das ist richtig!
   May redet und erzählt nicht nur im Namen der ganzen Menschheit, sondern im Namen aller irdischen Geschöpfe, die des Lebens Leid zu tragen haben.

Blatt 8.


   U n d   n u n  d i e  H a u p t s a c h e :
Das Ich, in dem Karl May schreibt, das ist nicht er selbst, sondern das ist die

M e n s c h h e i t s f r a g e !

Er hat alle Fragen, welche die Menschheit seit ihrem Bestehen beschäftigten, in die eine, große Menschheitsfrage zusammengefußt  » W e r  s i n d  w i r ;  w o h e r  k o m m e n  w i r ,  u n d  w o h i n  g e h e n  w i r ? «  Er hat während seiner letzten Studienreise durch Amerika über diese Frage öffentliche Vorträge gehalten, und diese Vorträge enthielten die Quintessenz alles Dessen, was er schreibt.
   Genau so, wie unter Hadschi Halef Omar die menschliche Anima zu verstehen ist, und wie er unter Marah Durimeh die Menschheits s e e l e  meint, so hat er auch diese  M e n s c h h e i t s f r a g e  personifizirt, und zwar durch sich selbst,  d u r c h  s e i n  e i g e n e s  I c h .  Sie ist es, die durch alle Länder geht, um die Riesenfragen der Menschheit aufzusuchen und ihrer Beantwortung entgegenzufahren. Es mag der gegenwärtigen, antiidealistischen Zeit wohl schwer werden, sich in den Gedanken zu finden, das unter dem »Ich« seiner Reiseerzählungen nicht der persönliche, concrete Karl May zu verstehen ist, sondern ein nur gedachtes, imaginäres Wesen, dem er seinen Namen leiht, damit er begriffen und verstanden werden könne. Für kommende Generationen aber wird diese jetzt vollständig neue Art der schriftstellernden Kunst etwas ganz Selbstverständliches sein.
   Auf dem nächsten Blatte sei dies für die Beurtheilung Karl Mays höchst wichtige Thema weiter ausgeführt.


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Blatt 9.


   Wie Eugen Sue das heimaths- und ruhelose Israel in seinem »Ewigen Juden« personifizirte, so schuf Karl May seine  » M e n s c h h e i t s f r a g e « ,  um der Sehnsucht nach der Lösung unserer Daseinsräthsel eine sichtbare Gestalt zu geben. Das Problem vom ewigen Juden blieb ungelöst, weil Sue es nicht an eine wirklich existirende, concrete Gestalt gebunden hatte. Imaginationen verflüchtigen sich, wenn man ihnen keinen festen, sinnlich wahrnehmbaren Halt verleiht, Karl May war vorsichtiger. Er suchte nach einer realen, wirklich lebenden oder gelebt habenden Person, welche geeignet war, die Trägerin der von ihm geschaffenen Idee zu sein. Er fand keine. Jemehr er in der Vergangenheit und Gegenwart suchte, desto klarer wurde es ihm, daß er überhaupt keine finden konnte, außer er suchte bei sich selbst. Kein Sterblicher kann die Menschheitsfrage lösen außer in sich selbst und durch sich selbst. Sie wird im Innern geboren und muß im Innern entwickelt und erzogen werden, ehe sie nach außen treten kann, um ihre Stimme erschallen zu lassen. Und wenn sie erscheint, so ist sie keine zweite oder dritte Person, kein Du oder Er oder Sie oder Es, sondern stets eine erste Person, ein Ich! Wenn sie den rechten Träger gefunden hat, geht sie mit ihm durch alle Zeiten und durch alle Länder der Erde und lehrt ihn, nach Marah Durimeh, der großen Menschheitsseele zu suchen, die allein im Stande ist, ihn und seine Frage der Lösung entgegenzufahren. Karl May hat sich entschlossen, dieser Träger zu sein.
   Er hat sich mit Leib und Leben, Hab und Gut in den Dienst der Menschheitsfrage gestellt und ihr sich hingegeben mit seinem ganzen - - - Ich! Er hat sich derart mit ihr identificirt, daß er sein eigenes, persönliches Leben nur in soweit lebt, als es unbedingt nöthig ist, sonst aber sich nicht mehr als Karl May, sondern nur noch als Menschheitsfrage betrachtet.

Blatt 10.


   Karl May schreibt seine Reiseerzählungen nicht aus sich selbst, sondern aus der Menschheitsfrage heraus. Wie der Bühnenkünstler sich selbst aufgiebt, um ganz und gar der zu sein, der ihm vom Dichter vorgeschrieben ist, so versenkt May sich in die Rolle der Menschheitsfrage und denkt sich, daß sie hinter ihm an seinem Schreibtische sitze und ihm die Feder führe.  S i e  ist es, die seine Bücher mit ihm studirt, seine Reisen mit ihm macht und seine Manuscripte mit ihm schreibt. Er giebt zwar zu


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Allem seinen Namen, aber in Wirklichkeit ist sie es allein, die man unter dem Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi seiner Reiseerzählungen zu verstehen hat. Wer sich unleicht hier hereinzufinden vermag, der stelle sich einen Anwalt vor, der im Namen seines Klienten denkt, empfindet, redet, schreibt und reist. Der Anwalt ist May. Der Klient ist die Menschheitsfrage.
   Karl May denkt sich die Menschheitsfrage, wie sie im Paradiese entstand, als Gott rief: »Adam, wo bist Du?« Adam = Mensch; also: »Mensch, wo bist Du? [«] Er denktsich, daß diese Menschheitsfrage mit den Menschen das Paradies verlassen mußte und mit ihnen durch die Jahrtausende und Jahrhunderte sich fortentwickelte bis auf den heutigen Tag. Diesen ganzen, langen Weg geht May nun auch. Er studirt Altpersisch, Chinesisch, Assyrisch ꝛc . ꝛc. ꝛc. ꝛc. die Kings, die Veden, den Kuran, die Bibel ꝛc. ꝛc. ꝛc. ꝛc., um sich keine einzige, wichtige Frage entgehen zu lassen, die jemals von der Menschheit aufgeworfen worden ist resp. heut noch aufgeworfen wird. Das ist  d e r  g e s c h i c h t l i c h e  W e g ,  auf dem er jede Einzelheit seiner Klientin, der Menschheitsfrage, kennen zu lernen sucht, um sich in sie hineindenken und sie, die sinnlich nicht Wahrnehmbare, durch seine greifhare, materielle Personlichkeit voll und ganz vertreten zu können.

Blatt 11.


   Nach diesem geschichtlichen Wege folgt  d e r  r ä u m l i c h e ,  d e r  g e o g r ap h is c h e  W e g .  Es gilt, die Länder und Völker kennen zu lernen, wo die Menschheitsfrage ihre Stimme erhoben hat oder zu erheben beginnt. Hierzu sind Reisen erforderlich. May ist, wie bereits erwähnt, wiederholt in Asien, Afrika und Amerika gewesen, um ihre Lebensfragen zu entdecken, ihre Menschen-, Thier- und Pflanzenwelt zu studiren und das Milieu, in der sich dann seine sinnbildlichen Erzählungen bewegen, genau kennen zu lernen. Denn alles für die Menschheitsfrage Wichtige, was er auf diesen beiden Wegen, dem zeitlichen und dem räumlichen, dem geschichtlichen und dem geagraphischen, findet, wird sorgsam aufgehoben und mitgenommen, um die Menschheitsfrage zur Persönlichkeit auszugestalten und ihre Beantwortung zu ermöglichen.
   Diese Beantwortung erfolgt in seinen Büchern, und zwar nicht in gelehrten, wissenschaftlichen Abhandlungen, sondern in Form von populären, gerngelesenen »Reiseerzählungen. « Denn Karl May hat  n i c h t  die Absicht die Wissenschaft zu bereichern, obwohl er auch das sehr wohl könnte, sondern er will zum  H e r z e n  d e r  M e n s c h h e i t  spre-


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chen, und zwar direct, von Seele zu Seele, nicht aber durch Vermittelung irgend einer Katheder- oder Buchgelehrsamkeit.
   Wohlgemerkt: von Seele zu Seele! Die »Reiseerzählungen« sind  n u r  für die Seele geschrieben, nicht aber für den sogenannten Geist, für den die Erziehung und Schule fast ihre ganze Kraft verwendet, während die Seele, die Herrliche, das Aschenbrödel ist, um welches man sich nur vorübergehend bekümmert.

Blatt 12.


   Aus dem bisher Gesagten ist zu ersehen, daß die »Reiseerzählungen« den Zweck haben, zu zeigen, wie die  » M e n s c h h e i t s f r a g e «  an der Arbeit ist, die Räthsel des Lebens ihrer Lösung entgegenzufahren. Um leichtverständlich, deutlich und interessant zu sein, erzählt nicht  e r  von ihr, sondern läßt  s i e  s e l b s t  erzählen. Er behandelt sie also infolge ihrer Wichtigkeit nicht als  d r i t t e ,  sondern als  e r s t e  Person und überläßt ihr zu diesem Zwecke sein ganzes, volles, eigenes Selbst und  I c h .  Er weiß sehr wohl, wie gewagt und gefährlich das ist. Denn viele von denen, die nur schwer begreifen, vor allen Dingen aber seine Gegner, werden aus dieser kühnen Identificirung mit der Menschheitsseele die Veranlassung zu allerlei Angriffen herzuleiten suchen. Aber er weiß, daß dies nur vorübergehend ist und daß man ihn, wenn nichtschon jetzt, so doch später, ganz sicher begreifen lernen wird.
   Also, wer die »Reiseerzählungen« nicht wie ein Quartaner, sondern  e r n s t  und  r i c h t i g  und  i n  d i e  T i e f e  g e h e n d  lesen will, der hat sich vor allen Dingen in die Fiktion zu versetzen, daß sie nicht von Karl May, sondern von der Menschheitsfrage erzählt werden. Was da berichtet wird, das hat  s i e  erlebt. Zwar wird auch mit erzählt, was  e r  erlebte, denn es werden ja  d i e  E r l e b n i s s e  d e r  g a n z e n  M e n s c h h e i t  erzählt, zu der er doch auch mit gehört, aber seine individuellen Verhältnisse treten nur dann in den Vordergrund, und zwar stets für nur wenige Zeilen, wenn es sich darum handelt, die Wahrheit  s e e l i s c h e r  E r l e b n i s s e  in körperlich sichtbarer Weise zu verdeutlichen.

Blatt 13.


   Jede der »Reiseerzählungen« bringt irgend einen  G e d a n k e n ,  den die Menschheitsfrage durch diese Erzählung  z u r  D i s k u s s i o n  s t e l l e n  will. Es giebt  z w e i e r l e i  solcher Gedanken, nämlich solche, die aus der


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Fremde, und solche, die aus der deutschen Heimath stammen. Die letzteren müssen mit auf die Reise gehen, um in Asien oder Afrika oder Amerika unter dortige Beleuchtung gestellt und in dortige Gewänder gekleidet zu werden. Denn erstens liest sich das Fremdländische interessanter, und zweitens werden heimathliche Wahrheiten und Erfahrungen dadurch, daß man ihnen eine nicht alltägliche Gestalt verleiht, leichter begreiflich und doppelt begehrenswerth. Daher kommt es gar nicht so selten vor, daß in einer hoch interessanten, packenden Indianer- oder Beduinengeschichte Etwas erzählt wird, was sich hier in Deutschland ereignet hat, aber trotz seiner Wichtigkeit von Niemand beachtet wurde, weil es in einen gewöhnlichen, hiesigen Anzug gekleidet war. Dadurch, daß dieser Anzug in den »Reiseerzählungen« mit einem anderen, einem exotischen vertauscht wird, erhält der innere Werth eine größere Sichtbarkeit. Daher kann es vorkommen, daß ein türkischer Kadi eigentlich ein deutscher Justizminister, ein arabischer Farik Pascha eigentlich ein bayerischer General und ein persischer Schahnameh eigentlich ein österreichischer hoher Adeliger ist. Dann klingt es freilich höchst spaßhaft, wenn die Gegner von Karl May erklären, daß sie in Persien, Arabien und der Türkei nachgeforscht, diese Personen aber nicht gefunden haben; May sei also ein Lügner! Und noch drolliger ist es, wenn man ihm aus diesen Schlüsselerzählungen heraus den Vorwurf macht, daß die Daten seiner Auslandreisen nicht stimmen!

Blatt 14.

   Es wird in die »Reiseerzählungen« nichts aufgenommen, was die Lösung der Menschheitsräthsel nicht fördert. Wäre Karl May der Erzähler, so würde er sie ganz anders erzählt haben, als sie jetzt lauten. Es würde jeder Satz und jedes Wort vor dem Niederschreiben daraufhin überlegt wie er sich ausdrücken würde und wie im Gegentheil davon die  M e n s c h h e i t s f r a g e  sich auszudrücken hat. Er hat auf viele seiner Lieblings-Sujets verzichtet, weil sie für die Menschheitsfrage von keiner Bedeutung waren. So ist also diese Letztere allein das treibende, wählende und handelnde Prinzip aller dieser seiner Werke. Sie ist das »Ich«. Sie ist in Amerika Old Shatterhand, und sie ist im Orient Kara Ben Nemsi Effendi. Sie ist das umgekehrte Pseudonym von Karl May, denn die eigentliche Verfasserin der Reiseerzählungen ist sie, das Pseudonym aber ist er.
   Es ist das in der Literatur aller Völker wohl der erste Fall, daß ein Schriftsteller, noch dazu der vielgelesenste seiner Zeit, sich seines ganzen


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»Ich« entäußert, um seinen idealen, künstlerischen Gestaltungen die Consistenz des concreten Lebens verleihen zu können. Diesem ersten Falle werden aber viele andere folgen, und es wird und muß die Zeit kommen, in der die bisher unbekannte Gedankenwelt, deren Thore hierdurch von ihm geöfinet worden sind, sich schnell beleben und bevölkern wird. Also, wer eines dieser Bücher in die Hände nimmt, hat, ehe er zu lesen beginnt, die Person um die bürgerliche Existenz eines gewissen Karl May vollständig auszuschalten und sich einfach vorzustellen, daß das »Ich«, welches jetzt zu ihm sprechen wird, die »Menschheitsfrage« ist. Er hat sich eine menschliche Gestalt dieser Menschheitsfrage zu constrniren und sie sich ununterbrochen gegenwärtig zu halten, so lange er sich mit einer dieser Erzählungen beschäftigt. Thut er das nicht, so wird er ihren Inhalt weder begreifen noch verstehen.

Blatt 15.


   Wie aber hat diese Gestalt auszusehen? Wie hat man sich die »Menschheitsfrage« vorzustellen, indem man ihr das Äußere eines sichtbaren Menschen verleiht?
   In ihr, der Menschheitsfrage, vereinigen sich die Resultate alles menschlichen Fragens und Forschens, alles menschlichen Forschens und Könnens. Sie ist der Inbegriff aller körperlichen, seelischen und geistigen Fortschritte, welche die Menschheit gemacht hat von ihrer Entstehung an bis auf den heutigen Tag. Sie muß also Alles können, was in menschlicher Möglichkeit liegt. Sie muß Alles wissen, was überhaupt im Bereich des Wissens liegt. Und sie muß von allen jenen menschlichen Fehlern frei sein, welche zu einem Mißbrauche dieses Wissens und Könnens fahren würden. Aber sie darf trotzdem nicht überirdisch erscheinen, denn sie hat eben auch nur Mensch zu sein. Auch in Beziehung auf ihre äußere Gestalt soll nichts übertrieben sein. Nur soll auch hier das, was sich von innen heraus entwickelt, also Kraft, Stärke, Gewandtheit, Ausdauer u.s.w. so entwickelt sein, wie die Aufgaben der Menschheitsfrage es erfordern. Mit einem Worte: Die Gestalt der Menschheitsfrage soll innerlich und äußerlich  g e n a u  d i e s e l b e  sein, wie Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand in den »Reiseerzählungen« beschrieben werden!
   Hieraus erhellt die große Lächerlichkeit aller der unsinnigen Vorwürfe, die man Karl May in dieser Beziehung macht. Nämlich daß er alle möglichen Sprachen spreche, in allen Wissenschaften und Kunstgebieten es mit jedem Andern aufnehme, der beste Reiter, Schätze, Läufer, Springer, Fechter sei u.s.w. u.s.w. Er hat gelernt, so viel in seinen Kräf-


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ten stand, und lernt auch heut trotz seines Alters noch immer weiter, aber alles das zu wissen und zu können, was seine Menschheitsfrage wissen und können muß, das hat er nie behauptet!

Blatt 16.


Es ist mit größtem Nachdruck Folgendes zu wiederholen:
   Karl May ist mehr als zehnmal in den Vereinigten-Staaten, in Kanada u.s.w. gewesen und öfters auch in denjenigen asiatischen und afrikanischen Ländern, wo er die Studien zu seinen »Reiseerzählungen« zu machen hatte. Er plant für nächstens wieder eine Reise rund um die Erde. Er ist in den Wissenschaften, Sprachen, sportlichen Fertigkeiten ꝛc. ꝛc. ꝛc. ꝛc. so weit daheim, wie seine Aufgabe von ihm verlangt. Aber er tritt nicht als Länderforscher, nicht als Gelehrter und nicht als Sportsmann auf. Seine Zwecke und Ziele liegen auf völker- und menschheitsseelischem Gebiete. Ueber dieses befinden wir uns noch im tiefsten Dunkel, in tiefster Unwissenheit. Hier erklingt die Menschheitsfrage am allerdringlichsten, am allerstärksten. Und hier hat sie allein zu sprechen, May aber hat zu  s c h w e i g e n !  Sie ist es, die da forscht, und sie ist es, die dann schreibt. Sie bedient sich seiner Person, seiner Hand und seiner Feder. Er aber hat sie geistig immer vor sich stehen und immer vor sich gehen, auf der Reise und daheim. Wie der Maler, der eine Heilige malt, sie sich ununterbrochen vorzustellen hat, um ja nichts zu übersehen oder zu überhören, was jeder einzelne ihrer Züge ihm sagt und offenbart, so hängt auch Karl May mit dem geistigen Auge und Ohr unausgesetzt an dem innern Bilde seiner Menschheitsfrage und lauscht ihr Alles ab, was von ihren Lippen fließt. Das Uebrige, das Niederschreiben und Druckenlassen, ist Nebensache, ist leicht und schnell gemacht. Dem künstlerisch gebildeten Leser wird es gewiß nicht schwer, dies zu begreifen. Wer es aber nicht begreift, der muß eben weiterlesen, bis ihm an irgend einer Stelle ganz plötzlich das Verständniß kommt.

Blatt 17.


   Wenn Karl May so unausgesetzt auf die Menschheitsfrage lauscht, so ist es kein Wunder, daß er die Zeitfragen der Gegenwart leichter begreift als Andere. Er kennt das Sehnen, welches jetzt durch alle Länder und alle Völker geht, das große Sehnen nach der Menschheitsseele; bis jetzt war es der Geist, der die Menschheit beherrschte. Wie weit hat er uns ge-


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bracht? Das muß anders werden. Die Menschheit will, daß nun auch einmal die Seele herrsche! Der Geist wirkt nach außen, die Seele nach innen. Wir sind nach außen fortgeschritten, ohne nach innen fortzuschreiten. Darum hat uns unsere Entwickelung nicht zur Harmonie, sondern zum  Z e r r b i l d  geführt. Kehren wir uns vom Zerrbild ab und der Harmonie wieder zu, indem wir der Seele ihre vollen Rechte geben.  I h r  w e r d e n  d i e  n ä c h s t e n  5 0 0  J a h r e  g e h ö r e n !  Sie wird herrschen! Unter ihrem Scepter wird sich unser Innenleben zu einem von Licht und Klarheit durchflutheten Kaiserthum entwickeln, dessen Größe unermeßlich ist und auf dessen Bergen wir zu unsern Idealen emporsteigen können, die wir bisher nicht zu ergreifen vermochten. Und wer ist es, der in diesem Reiche regieren wird?
   Die Antwort auf diese Frage steht in den »Reiseerzählungen« geschrieben. In ihnen ist die Pforte dieses Reiches geöffnet. Die Seelen der Leser strömen dieser Pforte jauchzend zu. Die Seelenlosen aber wenden sich von ihr ab. Die Verkalkten und Verknöcherten können nicht mehr mit. Alle die aber, bei denen diese Verknöcherung, Verknorpelung und Verkalkung noch nicht begonnen hat also die Jugend - drängen sich in hellen Haufen durch das Thor, um die Ersten und Willkommensten zu sein im neuen Kaiserreiche.
   Daher die Erfolge der »Reiseerzählungen« bei der Jugend, obgleich sie nur für die Erwachsenen geschrieben sind!

Blatt 18.


   Der Menschheitsfrage, welche die »Reiseerzählungen« diktirt, eröffnen sich Perspectiven, die für andere Augen unsichtbar bleiben. Ihr scharfer Blick erspäht jede Einzelheit, ist aber zugleich auch auf die Zukunft des Großen, Ganzen gerichtet. Was für uns schlummert, ist für sie schon längst erwacht. Sie ist Seherin. Sie kennt die vier Giganten, welche sich in gewaltigem Ringen um die Zukunft mit einander zu messen haben werden: den wohlgeübten, aber nervös gewordenen und in sich selbstzersplitterten Europäer, den schlafenden Islumriesen, den mongolischen Athleten, der nur seine japanische Hand zu ballen brauchte, um das mächtige Rußland niederzuschlagen, und, last not least, den neu erstehenden, germanisch-indianischen Amerikaner, der höchst wahrscheinlich über die Schicksale der alten Welt zu entscheiden haben wird. Aus den Ahnungen und Gesichten der Seherin ergeben sich die schon genannten Hauptaufgaben der »Reiseerzählungen«:
1.)  A u s s ö h n u n g  d e s  M o r g e n l a n d e s  mit dem  A b e n d l a n d e ,  damit


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Beide, die Träger der einstigen und der jetzigen Kultur, damit beide gerüstet zu einander stehen, wenn der Mongole sich erhebt.
   2.)  A u f k l ä r u n g  ü b e r  d a s  E n t s t e h e n  d e r  n e u e n  a m e r i k a n i s c h e n  R a s s e ,  damit der Europäer an seine atlandischen Interessen denken möge.
   3.)  D i e  E n t w i c k e l u n g  d e s  G e w a l t m e n s c h e n  z u m  E d e l m e n s c h e n ,  damit der unausbleibliche Kampf der vier Giganten von dem kriegerischen auf den friedlichen Weg geleitet werde.

Blatt 19.


   Diese Aufgaben sind in den bisherigen Bänden der »Reiseerzählungen« noch nicht hörbar betont worden, weil diese Bände ja nur erst die  S k i z z e n  und  V o r ü b u n g e n  enthalten. Aus ganz demselben Grunde wurde auch noch nie irgend ein Nachdruck darauf gelegt, daß sich hinter dem »Ich« nicht Karl May selbst, sondern eine imaginäre Persönlichkeit verbirgt. Der wahre Mayleser hat dies längst gewußt, und nur die unversöhnlichen Gegner weigern sich, es zu bestätigen.
   Obgleich erst Vorübungen enthaltend, haben die bisherigen Bände doch schon in weitgehender und segensreicher Weise gewirkt. Millionen Leser haben den Orient liebgewonnen; sie beginnen sogar, ihn schon zu achten; die früheren Vorurtheile verschwinden mehr und mehr. Auch in Beziehung auf die rothe Rasse beginnt man, richtiger zu sehen. Man hält sie nicht mehr für minderwerthig. Es hat sich herausgestellt, daß sie keine aussterbende, sondern eine zukunftsbildende ist. Winnetou, der Gestorbene, wird vom Tode auferstehen. Darum war Karl wieder drüben, um Band IV zu schreiben. Und was die Entwickelung des Gewaltmenschen zum Edelmenschen betrifft, so ist, besonders unter der gebildeten Jugend, infolge der »Reiseerzählungen[«] eine Bewegung entstanden, die immer weiter und begeisterter um sich greift. Es ist sehr zu wünschen, daß sie Förderung, nicht aber Hemmung finden möge!

Blatt 20.


   Die Aufgaben, welche die »Menschheitsfrage« in den »Reiseerzählungen« zu lösen hat, zerfallen in zwei Gruppen, die aber nicht aufeinander, sondern neben einander her zu lösen sind. Die eine Gruppe der Erzählungen spielt im Oriente, die andere in Amerika. Für die erstere ist Marah Durimeh, für die letztere Winnetou die Hauptperson. Die orien-


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talische Gruppe beginnt in der Wüste und endet auf der Höhe des Dschebel Marah Durimeh. Die amerikanische beginnt in Urwald und Prairie und endet auf dem Gipfel des Mount Winnetou. Erst dann, wenn die Erzählungen die Spitzen dieser beiden Berge erstiegen haben, sind die Leser für das Weitere vorbereitet: Das Skizziren hört auf, und die eigentliche, wirkliche Arbeit kann beginnen. Hieraus erhellt, wie falsch es ist, schon jetzt über den Platz, der Karl May in der deutschen Literatur anzuweisen ist, ein Urtheil fällen zu wollen. - - -




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