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HEINZ STOLTE

»Frau Pollmer - eine psychologische Studie«
Dokument aus dem Leben eines Gemarterten*



Nur zögernd habe ich mich entschlossen, zum Vortrag am Festabend unserer diesjährigen Tagung das soeben angekündigte Thema zu wählen. Es gehört, so fürchte ich, nicht zu denjenigen, die sich dazu eignen, unserer Veranstaltung - wie wohl sonst - einen erhebenden oder gar vergnüglichen Ausgang zu verschaffen. Nein, es ist ein eher finsteres Thema, denn jene "Psychologische Studie", die der 65jährige Karl May in der Zeit schlimmster Demütigungen, noch in so hohem Alter an den Marterpfahl gebunden und von seinen Rufmördern verfolgt, geschrieben hat, ist wohl unter all seinen Werken das problematischste. Das Manuskript hat sehr lange in der Abgeschlossenheit eines Archivs geruht, nicht ohne gelegentlich der Forschung zur Verfügung gewesen zu sein, aber es ist nun als nachgelassenes Werk des Schriftstellers 1982 als Buch erschienen und wird daher, so meine ich, auf besondere Aufmerksamkeit stoßen. Ich habe die Ausgabe eingeleitet und kommentiert, und eben bei dieser Tätigkeit ist mir aufgegangen, daß es mit solcher kurzfassenden Charakterisierung nicht sein Bewenden haben kann. Wie Sie mich kennen, meine sehr verehrten Freunde von der Karl-May-Gesellschaft, ist mein Prinzip als Literaturwissenschaftler das gewesen, was ich - frei nach dem von mir verehrten Philosophen Constantin Brunner - so formulieren möchte: »Wenn ich ein Buch lese, lese ich einen Menschen.« Den Menschen nämlich, der sich in seinem Buch manifestiert und sich in seinen Wesenszügen ebenso wie in den traumatischen Spuren seines Lebensschicksals, bewußt oder unbewußt, schreibend offenbart. Es mag andere Methoden geben, und ich kenne sie gut: aber dies ist die meinige. Und gestatten Sie mir noch ein persönliches Wort: Auch mir ist es in meinem neunundsechzigsten Jahre (zu meiner Uberraschung) noch nacherlebbar geworden, was es bedeutet, wenn sich einem, wie jenem Karl May, ein Lebius auf die Fersen heftet.

Damit sind wir freilich auch schon mitten in unserem Thema selbst.

* Festvortrag, gehalten auf der Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Regensburg am 1. Oktober 1983


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Karl May hat seine Aufzeichnungen als eine psychologische Studie über seine geschiedene Ehefrau Emma geschrieben; lesen aber und interpretieren möchte ich sie als ein Psychogramm, das uns den Menschen, der dieses Werk verfaßte, wie in einer Art Vivisektion in seinem innersten Wesen anläßlich einer Grenzsituation seiner Existenz offenlegt. Anders gesagt: was bewußt als eine psychologische Studie über Emma Pollmer gedacht war, ist ihm selbst unbewußt als eine solche über seine eigene Persönlichkeit geraten. Zwar wissen wir aus mancherlei Untersuchungen, daß auch die anderen Werke, die rein erzählenden Abenteuerbücher mit ihren fiktionalen Strukturen, als - wie Wollschläger es gelegentlich formulierte - »Anamnesematerial« zu einer Charakteranalyse(1) dienlich sein können; aber jene rein dichterischen Phantasiegebilde sind in einem freischwebenden Raum angesiedelt, in dem, was biographisches Material des Autors selbst gewesen ist, sich ins Märchenhafte verfremdet hat und der Erdenschwere gänzlich enthoben ist. Hiervon unterscheidet sich nun unsere "Psychologische Studie" auf eine auffallende Weise. Denken wir nur daran zurück, was ich in meinem letzten Vortrag in Berlin dargestellt habe, wie sehr nämlich der »Erzähler« May stets seinen ihm eingeborenen Humor hat ausschweifen lassen, so ermessen wir die extreme Andersartigkeit des uns hier beschäftigenden literarischen Dokuments sogleich. Hierin glimmt auch nicht der kleinste Funken von Humor. Hier herrscht durchweg die düstere Schwernis unbewältigter Lebensnot. Auch dachte der Verfasser nicht an ein zahlreiches Lesepublikum, sondern wollte eigentlich nur ein Stock Rohmaterial zu seiner von ihm selbst oder einem anderen zu schreibenden Biographie liefern. So ist denn die Einschränkung, die er ausdrücklich angemerkt hat, auch bei unserer Interpretation gebührend zu berücksichtigen:

   Die vorliegende Monographie ist nur für mich allein geschrieben, für keinen andern Menschen. Sie soll, wie alle ähnlichen psychologischen Characterstudien von meiner Hand, später für meine Selbstbiographie verwendet werden, wo sie, mit Weglassung alles Beschreibenden, zu einer gedrängten, sprechend ähnlichen Figur zusammenzuschmelzen ist. Sollte ich plötzlich sterben, ohne die Hand an dieses Werk gelegt zu haben, so wird es allerdings nicht von mir, sondern von meinem Biographen zu vollenden sein, und ich bitte in diesem Falle um diejenige Objectivität der Auffassung und Characterisirung, welche den Zwecken der Litteraturgeschichte gerecht zu werden weiß, ohne die Häßlichkeit der subjectiven Züge in den Vordergrund treten zu lassen.(2)

   Nun kann man möglicherweise der Auffassung sein, daß Karl May mit dem ersten Band seines Werkes "Mein Leben und Streben" die in


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jener Nachbemerkung zu seiner Studie ins Auge gefaßte Verarbeitung, den Inhalt seiner Charakterstudie zu einer »gedrängten, sprechend ähnlichen Figur zusammenzuschmelzen«, bereits selber geleistet habe, und daß daher der Text über »Frau Pollmer«, der uns nun gedruckt vorliegt, eigentlich als annulliert und überholt hätte verschwinden können. Indessen ist fraglich, ob die Autobiographie eben jene »Objektivität«, die er fordert, schon realisiert hat, und weiterhin wissen wir, daß er es mit der Absicht, den Text nur für sich allein (oder seinen Biographen) geschrieben zu haben, schon selber nicht so genau genommen hat, sondern daß er die Studie bereits als Dokument in seinen prozessualen Auseinandersetzungen verwendet und zur Einsicht dem Untersuchungsrichter Dr. Larrass an die Hand gegegeben hatte. Sodann ist sie mehrfach als Archivstück der Forschung zur Verfügung gestellt gewesen, und Textabschriften davon sind in Umlauf gekommen. So müssen wir denn heute dieses schwerwiegende Stück Konfession dennoch als ein für sich bestehendes Literaturwerk betrachten, und der zeitliche Abstand von 75 Jahren seit seiner Entstehung enthebt es durchaus aller Intimität in die Ebene eines geistesgeschichtlichen Dokuments, auf das die Öffentlichkeit einen nicht mehr begrenzten Anspruch erheben darf.

   Wenn ich, wie Sie gehört haben, die "Studie" als ein Dokument aus dem Leben eines Gemarterten bezeichnet habe, so müssen wir, um den Einstieg des Verständnisses in die Düsternis dieses Werkes zu gewinnen, wenigstens in kurzen Zügen skizzieren, worin denn die besondere Art von Marterung, das zweite Inferno seines Lebens, zu jener Zeit bestanden hat, als er die "Studie" verfaßte. Karl May schrieb sie Ende 1907. Eine Wolke von Verhängnissen hatte sich über ihm zusammengeballt, die biographisch zu erfassen und präziser in den Blick zu bekommen die mannigfaltigen Untersuchungen aus dem Kreise unserer Gesellschaft im letzten Jahrzehnt sich zum Ziel gesetzt haben. Ich will hier nur ganz in Kürze die Lebenssituation kennzeichnen, mit der konfrontiert sich Karl May in jenen Jahren befunden hat, als er diese Konfession niederschrieb.

   Vier Streitkomplexe waren darin miteinander zu einem für ihn immer unentwirrbareren »Gordischen Knoten« verschlungen: die Auseinandersetzungen anläßlich und im Gefolge seiner Scheidung von seiner ersten Frau Emma, die bösartigen, rufmörderischen Aktionen seines speziellen Erzfeindes Lebius, der seine Rache an ihm übte, weil May ihm einst ein in erpresserischer Manier erbetenes Darlehen verweigert hatte, ferner und damit im Zusammenhang die gegen den Schriftsteller May landesweit geübte, immer mehr kulminierende Pres-


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sefehde[Pressefehde] und Hetze, und nicht zuletzt der Prozeß gegen den Verlag Münchmeyer und dessen Nachfolger, den er zur Wahrung seiner Autorenrechte bezüglich der Kolportageromane zu führen gezwungen war.

   Dies alles zusammen lastete auf dem 65jährigen, in seiner Gesundheit schon labilen und wie mit Peitschen aus dem Traumraum seines literarischen Schaffens aufgeschreckten und vertriebenen Schriftsteller. Was die Streitsache wegen der Münchmeyer-Romane betrifft, so wurde die gerichtliche Auseinandersetzung von Seiten seiner Gegner, Pauline Münchmeyer und Adalbert Fischer, mit rigoroser Härte geführt, und eben zu der Zeit, von der hier die Rede war, drohte dem alten Mann sogar das Schicksal, womöglich wegen Meineides und der Verleitung anderer zu diesem Vergehen noch einmal ins Gefängnis zu geraten. Was ihn da lebensgefährdend bedrohte, das war ihm bereits höchst eindrücklich vor Augen geführt worden, als die Staatsanwaltschaft in ihrem Ermittlungsverfahren gegen »Karl May und Genossen« (wie es so schön hieß) am 9. November 1907 überfallartig in die Villa Shatterhand eingedrungen war, um eine Hausdurchsuchung anzustellen. Staatsanwalt und Untersuchungsrichter samt vier Kriminalbeamten wühlten sich acht Stunden lang durch alle Räume, beschlagnahmten und durchstöberten Manuskripte und ließen selbst die Asche im Ofen nicht undurchsucht. Nicht, daß diese Gewaltaktion Belastendes gegen May erbracht hätte (und immerhin nach mehr als einem Jahr wurde er denn auch »mangels Beweises« außer Verfolgung gesetzt), aber der brutale Schlag an jenem Schreckenstage ließ einen in heller Panik zusammengebrochenen Menschen zurück, dem beängstigend klar geworden war, daß er es mit einer Camarilla zu tun hatte, die auf eine gnadenlose Vernichtung seiner Ehre als Mensch und seiner Existenz als Schriftsteller aus war. Ein Nervenzusammenbruch war die nächste Folge und hinterließ ihn, als er sich langsam wieder zu Kräften sammelte, in einem Zustand, den man wohl am exaktesten als eine Angstpsychose, eine paranoide Verwirrung bezeichnen muß. Die Studie selbst, von der wir hier zu reden haben, ist dafür das sprechendste Symptom und Dokument. Will man die Atmosphäre, die seelische Grundstimmung dieses Werkes mit einem Worte kennzeichnen, einem Wort, das man auch dem Ganzen als Titel überschreiben könnte, so wäre es das Wort »A n g s t«.

   Diejenige, die Karl May in diesem Zustand für die gefährlichste Zeugin, seine erbittertste Gegnerin bei den nun drohenden gerichtlichen Auseinandersetzungen hielt, und nach Lage der Umstände auch doch halten mußte, war seine geschiedene Frau Emma. So nimmt es nicht wunder, daß sie, als er sich wieder zur Gegenwehr aufrichtete, das ge-


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wiß[gewiß] nicht unschuldige Opfer wurde, auf das sich der literarische Erguß seiner Verzweiflung, Wut und Angst als erstes entladen mußte.

   So kam als ein gleichsam vulkanischer Ausbruch dieser Text der sogenannten psychologischen Studie zustande, eine überdimensionale Verfluchung von geradezu alttestamentarischem Furor: aber dennoch nichts anderes als ein Aufschrei aus tiefster Angst.

   Ich wähle mit Vorbedacht dieses Wort »Angst« zur Charakterisierung dessen, was hier vorgelegen hat. Ich meine nicht »Furcht«. Es war nicht so, daß er sich »fürchtete«: vor Emma, vor Lebius, vor Cardauns, vor der Münchmeyer, vor Adalbert Fischer, vor Larrass, vor Gerlach, vor Krügel, vor Pöllmann, vor Mamroth und wie sie sonst noch alle hießen, die sich hechelnd auf seine Fährte gestürzt hatten. Wer dieses oder jenes, diesen oder jenen bloß  f ü r c h t e t, pflegt der Gefahr aufmerksam abschätzend und auf sachgerechte Abwehr denkend ins Auge zu schauen.  A n g s t  hingegen schlägt den Menschen, aus den Tiefen des eigenen Seelenuntergrundes aufsteigend, mit dem Verlust aller Maßstäbe, läßt ihn ins Fassungslose taumeln. Angst dämonisiert ihm die Gefahren, Angst ist das Grauen vor dem Gestaltlos-Tödlichen.

   Wie oft hatte er sich den Angriffen gegen ihn mit durchaus furchtloser Kampfbereitschaft entgegengestellt! Seine Polemiken gegen einzelne seiner Gegner bezeugen es. Jetzt aber, gewissermaßen an die Grenzen seiner Existenz gehetzt, jetzt fühlte er sich (wie schon sein Kapitel im Silberlöwen hieß) »Am Tode«. Jetzt fühlte er sich einer gestaltlosen dämonischen Bedrohung anheimgegeben.

   Die Leser der Studie werden, Seite für Seite, immer wieder auf dieses »Dämonische« gestoßen. Ein von Dämonen Gejagter sucht sich ihrer zu erwehren. Und nun mag seine geschiedene Frau Emma das alles wohl gewesen sein, was er sonst an Eigenschaften von ihr ausgesagt hat, nämlich dumm, ungebildet, seelisch primitiv, eitel, sinnlich, diebisch, pervers, und sie mag ihn auch wohl mit Liebhabern betrogen haben (es ist nicht  a l l e s  phantasiegesponnen, was ein Mann wie Karl May zu Protokoll gegeben hat!) -, aber nach allem, was man sonst von ihr weiß, war sie doch schließlich eine höchst unbedeutende Törin, wie dergleichen viele in der Welt herumlaufen. Und auf keinen Fall hatte sie irgend etwas von den attisch-tragischen Ausmaßen einer Klytämnestra oder Medea. Dennoch sehen wir sie, die uns Fritz Maschke in seiner Monographie - umgekehrt tendenziös - als so naiv-hausbacken hingestellt hat, sich in Mays "Studie" zu einem  d ä m o n i s c h e n  Monstrum hypertrophieren. Da ist nun seine ganze Ehegeschichte ein auf Leben und Tod geführter Kampf mit einem Dämon, dem Dämonischen im Weibe, und eben ganz besonders in  d i e s e m  Weibe, das


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- wenn man ihm glauben will - nach Art der Gottesanbeterin den Gatten im Vollzug dieser Ehe Stück für Stück zu verschlingen und zu einem Nichts zu reduzieren strebt.

   Dies zieht sich durch seinen Text vom Anfang bis zum Ende, wo nur immer Gelegenheit ist, Emma zu charakterisieren. Unheimliche Mächte sind in ihr wirksam, und er zählt sie gleich serienweise auf, nämlich Medialität, Magnetismus, Fascination und Jettatura (der böse Blick).(3) Das sind, so schreibt er: unsichtbare Kräfte, die nur das Böse wollen. Ihr biblischer Sammelname ist » Teufel«. (4) Innere Fäulniß(5) steckt hinter der sanften Larve äußeren Liebreizes, jedoch: wenn man den Diabolus entdeckt, . . . erscheint die verborgene Megäre, die so gemein und so rücksichtslos verfährt, daß sie selbst den stärksten Mann zu Boden tritt.(6) Und weiter: Sie mußte Qualen sehen, um sich glücklich zu fühlen. . . . Der Zweite, den sie folterte, um sich an seinen Qualen zu weiden, war ich.(7) Sie hat die Macht aller Besessenen, nämlich sie  w i r k t, wenn sie will, hypnotisch, und sie  w i r k t, wenn sie will, suggestiv.(8) Das ist, wie er sagt, ihre dämonische Macht(9), es ist der Dämon Pollmer'(10), der in ihr steckt und wirkt. Aber es scheint nicht nur  e i n  Dämon zu sein, denn, wie es heißt: da griffen die Pollmerschen Dämonen ein(11), und es galt vor den Pollmerschen Dämonen Schutz zu suchen. (12)  S o l c h e  M ä c h t e  s i n d  z u  A l l e m  f ä h i g ,  s e l b s t  z u m  G a t t e n m o r d  u n d  V a t e r m o r d .(13) Immer wieder bewährt sich die gewaltige, hypnotische Willenskraft der Anima meiner Frau(14); aber er versichert, daß ich mir die Riesenaufgabe gestellt hatte, den Kampf mit den Pollmerschen Dämonen aufzunehmen.(15) Das klingt ja, wird man vielleicht sagen, noch ganz nach dem früheren Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi. Den Riesenkampf aufnehmen, so hat er es doch immer gemacht, und immer ist er Meister und Sieger geblieben. Jedoch, sein dämonisches Weib hat, wie es heißt, beschlossen, mich auszunützen und zur Leiche zu machen, wie die Sage vom Vampyr erzählt. (16) Und vergeblich bleibt sein Riesenkampf gegen die Dämonen, denn: wo ich Schönes, Edles und Großes von ihr forderte, trat der Pollmersche Dämon in aller seiner Monstrosität und Scheußlichkeit hervor, und dann war sie auch körperlich von einer Häßlichkeit, die schlimmer als blos abstoßend auf mich wirkte.(17) Am Ende bleibt sie denn, wie er resümiert, eine für die geistige Menschheit Verlorene, die wie die Kanonenkugel des Bagnosträflings an meinen Füßen hing und mich immer wieder auf das Gemeine niederzog.(18)

   Die Zitate dieser Art ließen sich noch in langer Reihe aufführen. Was ich an ihnen habe zeigen wollen, ist die Stilisierung dieser Frauengestalt ins Überdimensionale, an der sich jener Verlust des Maßstabes zeigt, von dem wir als Symptom einer Panik gesprochen haben. Und


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weiter: Schon die Tendenz zur Verfremdung der Figur beweist uns, daß dieses Werk Karl Mays, das er als »psychologische Studie« ausgibt, sich doch nur scheinbar von den erzählenden Werken aus seiner Feder unterscheidet. Es gehört vielmehr in die gleiche literarische Kategorie, es ist ein »fiktionaler« Text geworden, kaum anders als die Abenteuergeschichten der Reiseerzählungen, nur daß diesmal die Begebenheiten und Gestalten nicht in orientalischen Gewändern oder im Kriegsschmuck der Kiowas auftreten. Wer an die Lobeshymnen Karas auf seine Emmeh im ersten Bande des Silberlöwen denken mag und jene Idealfigur nun vergleicht mit der dämonischen Bestie, die er hier gezeichnet hat, sollte keineswegs vermeinen, daß sich da poetische Verklärung einerseits und die krasse und nackte Wirklichkeit anderseits gegenüberstehen. Vielmehr ist das Dämonenweib ebenso eine übersteigernde Fiktion ins Negative, wie die hochgelobte Emmeh eine solche ins Ideale. Und es bleibt für den, dem daran liegt, ein vielleicht reizvolles Unternehmen, in allen Einzelheiten - über das hinaus, was ich schon in den Anmerkungen der Ausgabe aufgeführt habe - zu analysieren, wo die Fiktion von der Wirklichkeit abweicht und sich der uns allen wohlbekannte Maysche Lügengeist betätigt hat. Was sicherlich der Wahrheit entspricht, wird aber darauf hinauslaufen, daß Emma in der Tat ein krankhaft nymphomanisches Geschöpf gewesen ist und ihr Gatte ein zwar lange ihr höriger, aber sehr ungenügender Liebhaber.

   Hierauf und auf alles, was in einer solchen Ehe zwischen Ungleichen an Querelen und Zwistigkeiten so anzufallen pflegt, wird sich, nüchtern betrachtet, das fiktive Phänomen der unheimlichen »Pollmerschen Dämonen« reduzieren lassen. Aber ich will nun, zur Beweisführung dessen, was ich behauptet habe, zitatweise ein anekdotisch zusammengehöriges Textstück aus der Studie hier vortragen. Es ist der Abschnitt, der uns erzählt, auf welche Weise dem Ehemann Karl May die endgültige Gewißheit über den wahren Charakter seiner Frau gekommen sei.(19) Da lesen wir folgendes:

   Es war ein großes Glück, daß dieses Weib nach und nach immer kühner, frecher und unvorsichtiger wurde, so daß ich blind und taub hätte sein müssen, um nicht durch Wort und That gewarnt zu werden. Ich nenne absichtlich Wort und That. Was das Erstere, das Wort betrifft, also die Reden, die sie führte, so gehe ich an ihrem niederträchtig gemeinen Wortschatz vorüber, den sie sich von den Weibern, mit denen sie verkehrte, zusammengetragen hatte. Es würde mich schamroth machen, auch nur ein halbes Dutzend solcher Ausdrücke hier vorzufahren. Sondern ich beschränke mich auf gewisse Redensarten, die derart klangen, daß sie mir zur Warnung dienten. Sie brauchten mir von keinem Men-


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schen [Menschen] zugetragen zu werden, sondern ich bekam sie selbst zu hören, und zwar so häufig, daß sie mir im Gedächtnisse hängen bleiben mußten. Entweder warf sie sie mir selbst in das Gesicht, oder ich hörte sie, wenn ihre Weiber bei ihr waren. Entweder wenn ich still im offenen Nebenzimmer saß und sie das nicht wußten. Meist aber dann, wenn sie mit diesen Frauenzimmern stundenlang in der Veranda Klatsch und Verleumdung trieb und ich grad oben darüber auf dem Balkon war und jedes Wort sehr deutlich hörte. Die Erfahrungen, die ich da machte, trieben mich schließlich zur List. Ich that, als ob ich ausgehe, ging aber nicht, sondern blieb daheim. Später that ich dann, als ob ich wiederkäme. Was ich da hörte, war mehr als genug. Sie bedauerte nicht etwa, mich geheirathet zu haben, o nein; sie war war ganz im Gegentheile sehr stolz darauf; aber es ergrimmte sie, daß dies nicht hatte geschehen können, ohne daß sie ihre Mädchen- »Freiheit« dabei eingebüßt hatte. Sie verstand hierunter den ungestörten und unbeschränkten Genuß alles dessen, was ihr gefiel, besonders den geschlechtlichen, den sexuellen Verkehr mit allen seinen besonderen Finessen und Delikatessen. Es empörte sie, daß ich genau so, wie bei Tische, auch in dieser Beziehung nur für die einfache, gesunde Hausmannskost zu haben war und alle Farcen, Saucen, Ragouts und ähnliche Dinge haßte. Leider aber wurde Jeder, der solche Natürlichkeit und Anspruchslosigkeit übte, von diesen Weibern, besonders aber von der lieben Meinigen, sehr einfach als »Scheißkerl« bezeichnet. Ausrufe wie: »Wenn ich den nur loswerden könnte!« waren mehr als oft zu hören. »Ich will den Saukerl nicht mehr sehen!« »Er ist mir zum Ekel; er muß fort!« »Ich schmeiß ihn noch hinaus, aber bald!« »Und der verlangt, daß ich ihm das Fressen kochen soll!« »Es ist mir gradezu eine Wonne, ihn todtzuärgern!« »Der treibt mich mit seiner albernen »Menschenveredelung« noch zum Äußersten! Das dulde ich nicht! Um keinen Preis!« »Ob der frißt oder nicht, ist mir ganz gleich; ich brauche ihn nicht!« »Andere sterben, der aber nicht; der ist zähe!« »Den mach ich noch so klein, daß man ihn gar nicht mehr sieht!« »Die Frau Münchmeyer war gescheidter als ich! Die mauste ihrem Manne das Geld gleich tau(send)-Mark-weise und noch mehr! . . . Unsereinem wird es nicht so wohl; man ist zu dumm und zu gut dazu!« »Erst lief der Kerl, wenn ich ihn ärgerte, in die Kneipe! Jetzt aber bleibt er daheim, sagt nichts und schließt sich ein! Er spielt den Heiligen; das paßt mir schlecht!« »Er raisonnirt übers Fuffer. Für den ists gut genug!« »Ich freß nicht mit ihm; ich mach mir stets was Anderes!« »Das ewige Kochen für den Kerl! Er mag sichs wärmen lassen!« »Er frißt fast gar nichts mehr. Das macht mir Spaß!« »Er schläft nur noch in der Bodenkammer. Damit will er mich kriegen; ich lach ihn aber aus!«


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   Das ist so eine Blüthenlese der Reden, die sie führte. .. . Und was die Thaten betrifft, so ist festzustellen, daß sie fast jeden Abend abwesend war und erst spät nach Hause kam. . . . Es war nach einer so späten Heimkehr, als sie zu mir in das Arbeitszimmer trat, sich an den warmen Ofen lehnte, mich abkanzelte wie gewöhnlich und dann plötzlich anfing, von Säuren, Giften und ähnlichen Dingen zu sprechen, und zwar mit einem Interesse, welches mich erschrecken ließ. Sie war bei Plöhns gewesen. Herr Plöhn hatte als Besitzer der »Sächsischen Verbandstofflabrik« stets auch mit Giften zu thun. Er besaß einen bedeutenden Vorrath davon und hatte den Frauen heut Abend ein sehr ausführliches Privatissimum über diese gefährlichen Stoffe und ihre Wirkungen gehalten. Er ahnte nicht, was so Etwas bei meiner perversen Frau zu bedeuten hatte. Sie war ganz Feuer und Flamme. Der Gegenstand interessirte sie so außerordentlich, daß sie ihn auffällig oft berührte, bis sie merkte, wie erstaunt ich darüber war. Sie sprach davon, wie leicht es bei Plöhns sei, als Freundin, die überall hin könne, über diese Gifte zu gerathen. Sie holte die ärztlichen Bücher und die alten Hausapotheken ihres Großvaters hervor und studirte an den Medikamenten herum, die diese Gifte glücklicher Weise nur in homöopathischer Verdünnung enthielten. In ihrer »nackten Stube« mehrten sich die Flaschen und Fläschchen so, daß sie ganz unmöglich alle nur Bauch- und Brusteinreibungen und andere kosmetische Mittel enthalten konnten. Mir wurde angst um mein Leben. Ich warnte Herrn Plöhn und bin überzeugt, daß meine damalige Frau es nur dieser Warnung zu verdanken hat, daß die Gedanken, in die sie sich damals verrannte, nicht zur Ausführung gekommen sind. Das ist nicht etwa nur ein Verdacht, den ich hege, sondern ich bin dessen gewiß, weil die Gesamtheit ihrer damaligen Fragen und Erkundigungen, deren sie sich höchst wahrscheinlich jetzt selbst nicht mehr erinnert, ganz entschieden darauf hinwies, was sie wollte. Ich war ihr im Wege; sie wollte frei sein, und sie ist eine perverse, gewissenlose Frau; das genügt für beide, für den Psychologen und für den Psychiater! . . .

   Ich sah mich von nun an gezwungen, beim Essen die größte Vorsicht anzuwenden. Ich konnte überhaupt schon fast gar nichts mehr essen und lebte nur noch von ein Bischen Milch und Obst. Die Folgen blieben nicht aus; der Verfall trat ein und nahm so rapid überhand, daß es nur noch einen einzigen Gedanken für mich gab:  E n t w e d e r  l o s  v o n  d i e s e r  B e s t i e ,  o d e r  i c h  s t e r b e  e n t w e d e r  a n  G i f t  o d e r  v e r h u n g e r e  b e i  l e b e n d i g e m  L e i b e ! . . . Da starb Herr Plöhn. Ich hoffte, daß dieser Todesfall ihr zu Herzen gehen werde. Ich irrte mich. Sie hatte keine Spur von Mitleid; ja, sie lachte. Als wir vom Grabe nach Hause kamen, sagte sie: »Wie man nur heulen kann, wenn so ein alter, dicker Ekel stirbt! Nun ist sie ihn doch los!«


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   Versuchen wir eine Interpretation dieses Textes, so wird dem Leser oder Hörer ohne weiteres einleuchten, daß es sich dabei in der Tat nicht um ein wissenschaftliches Psychogramm handelt, sondern um eine  E r z ä h l u n g : und zwar eine ganz von der Art, wie wir sie aus der Erzählweise in seinen Abenteuerbüchern her kennen, also um eine echte May-Geschichte. Sie gliedert sich - und der sein Handwerk meisternde Schriftsteller hebt es ausdrücklich hervor - in zwei Teile: in der ersten Episode soll von den »Worten«, in der zweiten von den »Taten« berichtet werden. Die erste ist für einen Karl-May-Text besonders signifikant. Ein unzählige Male in seinen Reiseerzählungen verwendetes Motiv erscheint hier in neuer Variante. Wie oft haben wir doch diesen Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi erlebt, wie er sich listig an die Lagerfeuer oder Zelte seiner Gegner anschleicht, um sie zu belauschen -, und just immer den richtigen Augenblick erwischt, in dem diese übertölpelten Dummköpfe ihren ganzen verbrecherischen Plan aufs ausführlichste besprechen. Und so eben auch hier, wenn es auch nur ein schwacher Abglanz jener gloriosen Abenteuer ist, der noch auf diese traurige Eskapade eines gebeutelten Ehemannes fällt. Aber immerhin: auch diesmal, wie in all seinen Romanen, hat er doch wieder den genau richtigen Zeitpunkt getroffen, da sich der Weibertratsch mit seiner Person beschäftigt und Emma die fürchterliche Wahrheit frank und frei und in allen Einzelheiten offenbart. Dichtung oder Wahrheit, das ist hier die Frage. Denn ebenso, wie diesem Motiv vom Anschleichen und Abhorchen in seinen Romanen immer eine Portion Unglaubwürdigkeit anhängt - bei aller Bereitschaft des Lesers, poetische Fiktion gelten zu lassen -, so wird auch bezüglich unserer Episode aus der Villa Shatterhand Skepsis geboten sein. Wir werden nicht bezweifeln, daß er zu solcher List wie der uns berichteten wirklich gegriffen hat, wir werden aber den wörtlich wiedergegebenen Reden nicht trauen dürfen. Nicht, als ob Aussprüche dieser Art seiner Frau Emma nicht zuzutrauen wären, aber er wird sie wohl kaum als schleichender Old Shatterhand gehört, sondern von seiner späteren Frau Klara erfahren haben, die ja doch eine aus der Runde der Freundinnen gewesen ist. Auch dieser Quelle darf man freilich nicht ohne weiteres trauen.

   Die zweite Episode, die uns Emma als eine verhinderte Giftmischerin darstellt, ist in gewisser Weise gleichfalls einem oft wiederkehrenden Romanmotiv Karl Mays nachgestaltet. Es ist eines seiner beliebten Klischees, daß der kluge Old Shatterhand aus einigen verdächtigen Reden und Andeutungen seines Gegners als überlegener Psychologe, der die geheimsten Absichten durchschaut, die Pläne, die jener hat, bis ins i-Tüpfelchen genau zu erraten versteht. Und danach kann er dann sein


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eigenes Verhalten richten. Und immer sind seine oft gewagten und luftgesponnenen Schlußfolgerungen zutreffend, denn seine Vermutungen verdichten sich ihm zur »Gewißheit«. Und genau so lesen wir es hier: Das ist nicht etwa nur ein Verdacht, sondern ich bin dessen gewiß. Aber schauen wir näher hin, wessen er da so gewiß ist, nämlich des Giftmordplanes, den Emma gegen ihn schmiedet, so reduziert sich dieses Ungeheuerliche auf eine sehr unbedeutende Episode, von der er, sich selber widersprechend, sogar sagt, daß Emma sich daran wahrscheinlich jetzt selbst nicht mehr erinnert. Es reduziert sich, sagen wir, darauf, daß Herr Plöhn, Besitzer einer mit Chemikalien arbeitenden Fabrik, den ihn besuchenden Damen einen kleinen Vortrag über sein Metier und die dabei verwendeten Säuren und Giftstoffe gehalten hat. Ein gewiß interessantes Thema, und völlig unverdächtig wird es jedem Unbefangenen erscheinen, daß Frau May ihrem Gatten, noch ganz erfüllt von der Materie, ausführlich und öfter davon erzählte. Ein Kriminalist oder Kriminologe würde aus dieser Tatsache ja vielleicht sogar den umgekehrten Schluß ziehen, daß nämlich jemand, der einen Giftmord plant, sich höchlichst hüten werde, dergleichen Sentenzen seinem Opfer zur Kenntnis zu bringen, wie May sie von Emma gehört haben will. Die Schlußfolgerung Mays hingegen ist die eines Paranoikers, und die Vermutung drängt sich dem Leser auf, daß der Autor erst bei Abfassung der Studie im Nachhinein, das heißt in der Panik seines seelischen Zusammenbruchs, die Episode so ins Dämonisch-Teuflische umdeutete.

   Wie dem auch sei: etwas Weiteres bezeugt uns dieser unser Text. Ich meine die Selbstdarstellung Karl Mays, seines »Ich«, der wir hier, aber auch schon im ganzen vorigen Teil seines Berichtes, begegnen. Auch dieses wird uns ganz evident, wenn wir an die Hochstilisierung des eigenen »Ichs« zum omnipotenten Alleskönner und Allesüberwinder in seinen Romanen denken. Hierin liegt nun das eigentlich entscheidend Konträre, wodurch sich die Studie zwar als eine Karl-May-Erzählung erweist, nach den Schnittmustern seiner Romantechnik gefertigt, aber als eine solche mit sozusagen umgekehrtem Vorzeichen. Das Entscheidende der Erzählstruktur erscheint hier geradezu auf den Kopf gestellt. Dabei ist das Auffallendste, daß der Verfasser von Anfang bis Ende seiner Studie bemüht ist, sich selber in seinem Kampf mit dem vermeintlich dämonischen Über-Weib als den Schwächeren, den Leidenden, den immer wieder Übertölpelten, Betrogenen und schließlich Hilflosen darzustellen. Es beginnt schon früh in diesem Text mit der Bemerkung: Körperliche Vorzüge besitze ich nich(20), eine gewiß überraschende Feststellung für jeden Leser, der von dem Ideal des herkuli-


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schen[herkulischen] Kraftmenschen der Romane herkommt. Keine körperlichen Vorzüge! Das sagt der, der als Romancier auch nicht einen körperlichen Vorzug ausgelassen hat, um sein fiktives Ich damit zu schmücken. Oder wenn man liest: Ich ergriff die Flucht. Ich zog in die Stadt herein(21), was gewiß das Gegenteil dessen ist, was man von Kara oder Shatterhand je gelesen hat. Hierzu gesellt sich die hilflose Passivität den außerehelichen Eskapaden seiner Emma gegenüber, die er sich nicht scheut, ausdrücklich einzugestehen: Ich duldete es, weil ich dadurch entlastet wurde und Ruhe bekam.(22) Kein Kämpfer also, sondern ein Resignierender, der denn auch freimütig bekennt: Und schließlich verzichtete ich auch noch auf ihren Körper.(23) An anderer Stelle verrät er uns gar - er, der sich den Ehrennamen Old Shatterhand zugelegt hatte - daß man ihn hinter seinem Rücken mit dem Spitznamen »das Strohmännle« bezeichnete(24): Die Unvorsichtigkeit und vaginelle Kurzsichtigkeit wurde schließlich so groß, daß mir ein Brief in die Hände fiel, in dem er sich zu der Äußerung verstieg »Das Strohmännle darf aber nichts wissen!« Also, ich war nur noch das Strohmännle, welches nur hier oder da einmal während einer Pause zugelassen wird;  d e r  ä c h t e ,  r i c h t i g e ,  w i r k l i c h e  M a n n  a b e r  w a r  e r ! Aus dem Old Shatterhand, der Verfremdung ins Gigantische, war also das »Strohmännle« geworden. Daß er dergleichen eingesteht, ist ja das Bemerkenswerte an der Sache, und noch merkwürdiger ist es, wie er im Text fortfährt, nämlich: Die große Dummheit, Skandal hierüber zu machen, lag mir fern.

   Man begreift gewiß, was gemeint ist, wenn ich behauptete, daß die Studie gewissermaßen eine auf den Kopf gestellte Karl-May-Erzählung ist, indem nämlich Emma, der feindliche Gegenpart des Helden, ins Dämonische, Überdimensionale, Satanische überhöht, der Held, der den Kampf gegen die Dämonen aufnehmen sollte, aber in ein hilfloses Strohmännle, das um sein Leben zittert, reduziert worden ist. Daß er sich in Wahrheit, als er dies alles schrieb, so gemartert, so bedroht, so »am Tode« gefühlt hat, hilflos und erbarmungslos feindlichen Mächten preisgegeben, mag man ihm wohl glauben. Dennoch halte ich diese Selbstverkleinerung für eine ebenso fiktionale Manipulation, wie die Dämonisierung der Emma Pollmer. Denn ein Schwächling und Strohmännle mochte er wohl in den Augen dieser mannstollen Primitiven sein, deren Horizont zu eng war, zu begreifen, daß er, außer einem finanziellen Ausbeutungsobjekt, in Wirklichkeit ein schöpferischer Genialer von unerhörter literarischer Fruchtbarkeit und fast unglaublicher Arbeitsenergie war; in einem Reiche freilich, das ihr gänzlich verschlossen geblieben war. Daß er mit dem realen Leben in seiner Ehe ebensowenig zurecht kam wie in dem Inferno seiner Jugend, das hinter


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ihm lag, das ist allerdings nicht zu leugnen; so mag man nicht zu Unrecht von dieser Ehe als von seinem zweiten Inferno sprechen. Daß bedeutende Gaben, geniale Schöpferkräfte kaum jemals den damit Ausgestatteten einfach geschenkt sind, sondern fast immer mit Schwächen und Ausfällen in anderen Organen oder Lebensfunktionen teuer bezahlt werden, das mag uns an diesem Modell Karl May, wie es uns die Studie gewissermaßen transparent gemacht hat, aufs neue bestätigt werden. Und dies, so ist mein Resümee, ist der unvergleichliche dokumentarische Wert, den die Studie für die literarpsychologische Forschung hat. So ist denn, wer etwa prüde das manchmal Indiskrete dieser Bekenntnisse verabscheut und etwa meint, unsere Publikation werde dem Verfasser in den Augen der Öffentlichkeit nur Schaden einbringen, durchaus im Irrtum.

   Es gibt einen anekdotischen Abschnitt in unserer Studie, der uns auf eine - ich möchte beinahe sagen - amüsante und komische Weise den Wüstenhelden Kara Ben Nemsi in Emmas Strohmännle verwandelt, bemerkenswert deshalb, weil die Episode ausgerechnet im Land seiner orientalischen Abenteuer spielt.(25)

   Da aber geschah während unsers Aufenthaltes in Damaskus Etwas, was mir doch nach den Augen griff um sie mir wenigstens halb und halb zu öffnen. Dort sprach man nämlich von der Gefährlichkeit des Karawanenweges, der von Damaskus durch die Wüste Scham nach Bagdad führt. Die in dieser Wüste streifenden Araber standen im Kampfe mit einander. Jeder Europäer, der sich jetzt hin gewagt hätte, wäre verloren gewesen! Dazu die jetzige heiße Jahreszeit, die jeden Halm zerstört und neben der Leichenpest den Hungertod und die mörderischeste asiatische Dysenterie erscheinen läßt! Der unbedingt sichere Tod für einen Jeden, der so wahnsinnig ist, diese Tour um die jetzige Zeit zu unternehmen! Man sprach hiervon während des Mittagsessens bei Basrani, der diesen Namen führt, weil er aus Bassora stammt. Er kannte die geschilderten Gefahren also sehr genau. Ich war mit meinem Tischnachbar, einem türkischen Oberst, so tief in ein Gespräch über osmanische Zustände verwickelt, daß meine Frau glaubte, ich habe nicht auf diese Reden geuchtet. Ich hatte sie aber doch gehört und bin über die Verhältnisse der Wüste Scham derart unterrichtet, daß ich auch ohnedies gewußt häue, was dort zu erwarten war. Wie erstaunte ich, als meine Frau mich nach dem Essen frug, wann ich denn eigentlich meine Reise nach Bagdad antreten werde. Ich müsse doch unbedingt hin, weil auf der dortigen Postsehr viel Briefe für mich liegen; sie wisse das genau. Ich traute meinen Ohren nicht. Ich sagte ihr, daß Europäer jetzt nur auf dem Tigrisschiff von Süden her nach Bagdad gehen dürften, auf dem Wege von Damaskus her aber der


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Tod in allen Gestalten auf sie lauere. Sie brachte alle möglichen Einwürfe, sogar die allerdümmsten. Ich hörte und sah, daß sie mich absolut in diese Gefahr senden wolle, und erklärte ihr schließlich mit aller Bestimmtheit, daß ich erstens für eine solche vierzigtägige Reise durch die brennende Wüste schon viel zu abgeschwächt und angegriffen sei und daß ich überhaupt nicht mehr nach Bagdad könne, sondern nach Hause müsse, weil mein Reisegeld nur noch in 5000 Mark bestehe, die zu einem solchen Unternehmen viel zu wenig seien. Da brach bei ihr die Angst vor meiner Heimkehr und die Wuth durch. Sie brüllte mich an, daß daran meine bisherigen Ausgaben schuld seien. Wenn ich besser gewirthschaftet hätte, so würde ich jetzt Geld genug haben und nicht wie ein dummer Junge dastehen, der sich vor einem Bischen Sand und Wärme fürchtet und wegen der albernen, ganz unschädlichen Ruhr in ein Angstgeheul ausbricht. Mein arabischer Diener stand dabei und machte ganz große, entsetzte Augen. Er fühlte, daß mich dieses Weib geradezu in den Tod schicken wollte. Wenn ich an jene Tage in Damaskus und an die darauf folgenden in Beirut denke, fällt mir der Ausspruch eines mir sehr befreundeten Arztes ein, der sie seit Jahren kennt und von ihr und ihresgleichen sagte: »Solche Bestien sollte man einsperren, um sie unschädlich zu machen, anstatt sie auf die Menschheit loszulassen!«

   Also nicht nur ein »Strohmännle«, sondern auch ein »dummer Junge, der sich vor einem bißchen Sand und Wärme fürchtet«! Schärfer und grotesker kann die Abqualifizierung des ruhmvollen Kara Ben Nemsi kaum vor Augen geführt werden, und es bleibt immer wohl befremdlich, daß er, Karl May selbst, Episoden und Passagen wie diese hier zu Papier und damit einer verblüfften Nachwelt zur Kenntnis brachte. Tatsächlich muß ja doch, sollte die Episode so oder ähnlich abgelaufen sein, auch dem wohlgesinnten Leser die nahezu hysterische Übertreibung, der Wüstenritt sei der »unbedingt sichere Tod« und »jeder Europäer wäre verloren gewesen« nur der Hitze wegen und weil irgendwelche Araber in Fehde gegeneinander begriffen seien, als peinliche Selbstentblößung eines Schwächlings erscheinen. So ist denn auch, was er für bewiesen hinstellt, daß Emma nichts anderes gewollt habe, als ihn in den Tod zu schicken, gewiß nur das Produkt seiner Angstpsychose, wenn man auch wohl glauben mag, daß seine Frau ihn gerne für eine längere Zeit entfernt haben wollte. Sie wird da andere Interessen gehabt haben, als von ihm ins Edelmenschliche geführt zu werden.

   Die überall spürbare Verkleinerungstendenz, die Schilderung der eigenen Verelendung, seines Vegetierens am Tode hin, immer von dämonischen und satanischen Mächten umlauert -, dies alles ist, so sehr


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es als echter Ausdruck der ihn marternden Angstpsychose und Panik verstanden werden muß, doch auch noch etwas anderes. Und hierin bezeugt sich die von uns hervorgehobene Bemerkung, daß es sich bei der Studie eben um eine  E r z ä h I u n g  handelt, um ein echtes poetisches Karl-May-Produkt. Denn es ist die List des Erzählers, die in seiner Geschichte nach bewährter Technik die  S p a n n u n g  aufbaut bis zu ihrer Kulmination. Schon scheint das Ende, der Tod des armen Anti-Helden, unvermeidlich, da endlich kommt ihm die Rettung, die Erlösung. Und was wäre eine Karl-May-Erzählung, wenn nicht am Ende doch das Böse unterliegen und das Gute siegen würde. Auf diesen Triumph der Güte, des Edelmenschlichen hin ist alles Bisherige angelegt. Und wenn es eine Frau gewesen ist, die mit ihren Dämonen den armen Mann bis an den Rand des Verderbens getrieben hat, so will es die Logik der Erzählung, daß es eine andere Frau ist, die ihn errettet und ins Leben zurückführt.(26)

   Diese Frau, nämlich meine jetzige, ist mir - ich sage es offen und der Wahrheitgemäß - geradezu zur Lebensretterin geworden. Ohne sie wäre ich längst todt, und die Münchmeyer hätte das Ziel erreicht, nach dem sie mit allen ihren Kräften und allen möglichen Mitteln strebt, nämlich mich »kaput zu machen!« Daß dies von je ihr Ziel gewesen ist, hat Adalbert Fischer in eigener Person vor Gericht als Zeuge verrathen. Meine geschiedene Frau hat auf dasselbe Ziel hingearbeitet, und zwar nicht etwa nur aus eigenem Antriebe und auf eigene Faust. Sie hat das Beispiel und die Lehren der Frau Münchmeyer befolgt. Sie hat, ohne sich dessen bewußt zu sein, die Rache in die Hand genommen, die Frau Münchmeyer mir schwor, als ich es wagte, die Hand ihrer Schwester auszuschlagen. Die Rache dieser Frau hat es also so weit gebracht, daß das Mädchen, welches ich dieser Schwester vorzog, jetzt schon halb vernichtet und längst von mir geschieden ist. Sie wird es höchst wahrscheinlich auch noch so weit bringen, daß sich die Bestie den eigenen Ast, auf dem sie sitzt, absägt und dann vollends und ganz zu Grunde geht, zur völlig congruenten Strafe dafür, daß sie sich jahrelang die größte Mühe gegeben hat, mich straflos auszulöschen, wie man eine Lampe auslöscht, deren Docht man heimlich immer tiefer schraubt. Das hat sie wirklich gethan! Und zwar mit voller Absicht! Mit beispiellosem Raffinement! Und mit einer Ausdauer, die keine Pause des Erbarmens kannte! Ich bin jahrelang ein Langsam-Sterbender gewesen. Ich war dem Schicksal ausgesetzt, körperlich und seelisch verhungern und verkümmern zu müssen. Daß dies nur bis zu einem gewissen Grade, nicht aber ganz geschah, das habe ich meiner überaus kräftigen, widerstandsfähigen Constitution und meiner jetzigen Frau zu verdanken, die sich im letzten Augenblicke mei-


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ner[meiner] erbarmte und mit unendlicher Geduld und Aufopferung meine schon fast abgestorbenen Verdauungswerkzeuge zwang, wieder lebendig und thätig zu werden. Sie hat sich meiner schweren Erkrankung wie eine Pflegerin von Beruf, wie eine barmherzige Schwester angenommen, und der erste und eigentliche Grund, daß wir die Ehe schlossen, war nur der, daß, wenn mir das Leben erhalten bleiben sollte, die Pflege eine so unausgesetzte und so aufopfernde sein mußte, wie sie eben nur in der Ehe möglich ist, außerhalb der Ehe aber den Klatsch und Tratsch der lieben Nächsten hervorzurufen pflegt. Also ist es wieder nur meine erste Frau allein gewesen, die mich direct zur Scheidung und hierauf indirect zur zweiten Ehe getrieben hat.

   Quod erat demonstrandum! - möchte man da wohl nach Art der Scholastiker hinzufügen. So war es denn die erste Frau, die ihn zu der zweiten getrieben hat. Und siehe da, Emma Pollmer, die dämonische Megäre, entpuppt sich am Ende geradezu, nach uns wohlbekanntem Muster, als »Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.« In diesem Sinne hat demnach die tragische Geschichte von Emma und Karl doch noch einen versöhnlichen Abschluß. Wir wissen, daß die zweite Ehe des Schriftstellers ihm in der Tat ein letztes Jahrzehnt seines Lebens ermöglicht hat, indem die menschliche Geborgenheit, die ihm diese Ehe verschaffte, ihn allein den geradezu mörderischen Ansturm öffentlicher Hetzkampagnen und gnadenloser Prozesse lebendig hat überstehen lassen, bis zu seinen beiden Siegen, dem von Berlin 1911 und dem in Wien 1912.

   Ich möchte diese meine Interpretation der Studie nicht beschließen, ohne daran zu erinnern, daß Karl May die Geschichte seiner Rettung, die hier in autobiographisch unverkleideter Direktheit gestaltet ist, uns ja schon fünf Jahre früher, nämlich 1902 im dritten Band des Silberlöwen, im Kapitel "Am Tode", erzählt hat, dort aber verschlüsselt, in orientalisches Kolorit verfremdet, und die pflegende Retterin Klara ist in die Romangestalt Schakara verwandelt. Halef und sein Sihdi liegen an Typhus erkrankt und dem Sterben nahe. Nach langer Bewußtlosigkeit kommt Kara Ben Nemsi allmählich wieder zu sich. Da gab es neben mir ein leises, leises Rauschen wie von einem feinen, sich bewegenden Gewande. Zwei warme, weiche Frauenhände ergriffen meine Hand, und eine innig sprechende Altstimme betete . . . Dann gab es eine Berührung, als ob zwei Lippen sich auf diese meine Hand legten . . . . Wer war es, der, vor mir knieend, um mein Leben gebetet hatte? . . . Da sah ich in ein liebes, ernstes, reines Frauengesicht. . . . Die Augen waren dunkel und trotzdem doch so hell, so licht, so klar. Es ging von ihnen eine Wär-


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me[Wärme] aus, welche auf mich überfloß. Mir war, als ob ich dieses Antlitz schon einmal gesehen habe, nicht gleichgaltig und vorübergehend, sondern sorgsam und mit derselben Herzenswärme, welche ich jetzt zurückempfing. . . . »Erkennst du mich, Sihdi? Ich bin Schakara, welche du vom Tode erreffet hast. « . . . Darf man ein menschliches Wesen mit einem Gedicht vergleichen? Man sagt ja, daß der Mensch das herrlichste Gedicht der ganzen Schöpfung sei. Wenn nicht das herrlichste, aber gewiß eines der frömmsten sah ich hier!(27)



1 Jb-KMG 1972/73, 11

2 Karl May: Frau Pollmer, eine psychologische Studie. Faksimilewiedergabe der Handschrift und der dazugehörigen Anlagen mit einem Geleitwort und Anmerkungen von Prof. Dr. Heinz Stolte und dem vollständigen Text in zeichengetreuem Neusatz als Anhang. Erstveröffentlichung aus dem Nachlaß. Karl-May-Verlag Bamberg 1982. XVI, 801 - 960 u. 56 Seiten. = Karl May. Prozeß-Schriften Band 1. Herausgegeben von Roland Schmid (im folgenden zitiert als »St. «) 939f.

3 St. 810

4 St. 811

5 Ebd.

6 St. 812

7 St. 817-818

8 St. 818

9 St. 820

10 St. 821

11 St. 826

12 St. 828

13 St. 844

14 St. 827

15 St. 841

16 Ebd.

17 St. 853

18 St. 849

19 St. 909-914

20 St. 810

21 St. 838

22 St. 858

23 St. 873

24 St. 859

25 St. 900-902

26 St. 908-909

27 Karl May's gesammelte Reiseerzählungen Bd.28, Im Reiche des silbernen Löwen 3.Bd., "Am Tode" 263ff.


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