//28//

HARTMUT VOLLMER

Karl Mays Novelle "Bei den Aussätzigen"
Versuch einer Interpretation



I. VORBEMERKUNGEN

Mit der vorliegenden Arbeit soll ein weiterer Versuch unternommen werden, die seit langer Zeit interpretatorisch brachliegenden Altersnovellen Karl Mays zu erschließen. Mays 1907 erschienene, von ihm als "Reiseskizze" bezeichnete Novelle "Bei den Aussätzigen" ist die kürzeste Arbeit unter diesen Werken. In einer »Weihnachtsbeilage« erstmalig veröffentlicht, mag allein dieses Faktum - nämlich daß der kurze Text lediglich eine  B e i l a g e  darstellte, die aufgrund ihrer Thematik als Veröffentlichung zur Weihnachtszeit besonders geeignet war leicht dazu geführt haben, die Bedeutung dieser "Skizze" für Leben und Werk Mays zu übersehen. Es sei hier jedoch nur daran erinnert, zu welch fruchtbaren Ergebnissen die Analysen von "Merhameh" und "Abdahn Effendi"(1) geführt haben, um anzudeuten, was sich hinter trügerischen Oberflächen der Mayschen Altersnovellen verbirgt.

   Zu Recht wies Hans Wollschläger darauf hin, daß May im Alter »seine größten Momente . . . stets zu Zeiten äußerster Abnutzung erfahren« hat(2), denn die eine »Seite seines Bewußt-Seins«, die »so ganz vom Tageskursus aufgebraucht wurde«(3), setzte die andere Seite, die Phantasie, die Imagination frei, trieb sie an, wodurch sie - die Außenwirklichkeit zunächst reflektierend und dann zu überwinden versuchend - ein gewaltiges Gegengewicht, ein Korrelat, einen lebensnotwendigen Ausgleich der äußeren Realität darstellte. So läßt sich das Spätwerk Mays, entschlüsselt, geradezu als ein autobiographisches Diagramm erkennen, das Entstehungsursachen seiner Werke, seiner dort ausgeführten ethischen Modelle, Philosophien und Utopien aufzeigt. Unter diesen Grundvoraussetzungen des Mayschen Œuvres haben wir uns auch der Novelle "Bei den Aussätzigen" zu nähern.


II. WERKGESCHICHTE

Eine genaue Datierung der Entstehungszeit der Novelle ist nur schwer möglich. Wollschläger deutete bereits vor Jahren in seiner May-Mono-


//29//

graphie[Monographie] an, daß sich im Text die Haussuchung in der Villa »Shatterhand« vom 9. 11. 1907 »flüchtig« widerspiegele(4), ein Hinweis, der bis heute noch nicht weiter verfolgt worden ist. Wird die Werkanalyse Beweise für die Richtigkeit dieser These erbringen, so dürtte May die Novelle frühestens Mitte November geschrieben haben. Erstmalig veröffentlicht wurde sie im Dezember 1907 in der Weihnachtsbeilage des "Grazer Volksblattes". Über das Zustandekommen der Beziehung Mays zu diesem Blatt herrscht ebenfalls Unklarheit; möglicherweise wurde der Kontakt durch Amand von Ozoróczy geknüpft.(5) Die Thematik der "Aussätzigen" läßt vermuten, daß May den Text speziell für die Weihnachtsbeilage geschrieben hat.

   "Bei den Aussätzigen" erlebte eine ganze Reihe von Nachdrucken; folgende konnten bisher ermittelt werden: "Hildesheimer Kurier" vom 19. 3. 1908 ("Hildesia", Donnerstagsbeilage); "Hannoversche Tages- Nachrichten" vom 22. 3. 1908 (Sonntagsbeilage "Hannoversches Familienblatt"); "Eichsfelder Marienkalender", Oktober 1908 (mit Illustrationen Arthur Lewins); "Bamberger Volksblatt", Weihnachtsbeilage 1908 (unter dem Titel "Weihnachten bei den Aussätzigen"); "Wiener Montags-Journal" vom 9. 1. 1911.(6)

   In einer Bearbeitung wurde die Novelle vom Radebeuler Karl-May-Verlag unter dem Titel "Eine Weihnachtsfeier in Damaskus" 1927 in die Gesammelten Werke aufgenommen; in Bd. 48 "Das Zauberwasser" finden wir sie auch heute in der Bamberger Ausgabe wieder.

   Der Erstdruck aus dem "Grazer Volksblatt" ist 1979 im von der Kar-lMay-Gesellschaft herausgegebenen Reprint "Christus oder Muhammed. Marienkalender-Geschichten von Karl May" veröffentlicht worden (S.257-259, »aus optischen Gründen mit anderem Umbruch«(7)). Dort findet sich auch der Abdruck aus dem "Eichsfelder Marienkalender" (S.208-211) mit den Skizzen Lewins.(8)

Zitiert wird im folgenden nach dem Reprint des Erstdrucks.


"Bei den Aussätzigen" entstand in einem Jahr, in dem May »zum erstenmal . . . ein regelrechtes Grauen vor der Rechtsmaschinerie (bekam), die er selber in Gang gebracht« hatte.(9) Als May am 11. 2. 1907 den Parteieneid im Münchmeyer-Prozeß abgelegt hatte, wodurch seine Rechte an den Kolportageromanen als erwiesen galten, und Pauline Münchmeyer damit auf eine Rechnungslegung und Zahlung einer Entschädigung verklagt werden konnte, erstattete Oskar Gerlach, Anwalt der Münchmeyer-Partei, gegen May und die vier Zeugen Max Dittrich, Emma Pollmer, Marie Johanna Spindler und Bertha Freitag bei der Dresdner Staatsanwaltschaft am 15. 4. 1907 Anzeige wegen Meineids


//30//

und Verleitung zum Meineid. May konnte wohl kaum ahnen, daß hier ein Prozeß in Gang gebracht wurde, der seine letzten Lebensjahre mitbestimmen und erst nach seinem Tode endgültig zu seinen Gunsten entschieden werden sollte. Ein Nervenzusammenbruch, der ihn an den Rand des Todes'(10) brachte, ließ erkennen, welch katastrophale Wirkung sich hier anbahnte. Ein im Mai 1907 begonnener Kuraufenthalt in Bad Salzbrunn sowie kürzere Reisen sollten May wieder zu Ruhe und Kraft verhelfen - aber die Prozeßmaschinerie lief weiter: am 12. 7. 1907 begann die Voruntersuchung; Gerlach hatte den Fall zunächst seinem engen Vertrauten, Staatsanwalt Seyfert, übergeben, der die Untersuchung schließlich dem Assessor Larrass übertrug. Mit Larrass, einem »ausgesprochen rüde(n) Vertreter der Branche«(11), übernahm den Untersuchungsvorsitz ein Mann, der May als ein wahrer Folterknecht erscheinen mußte. So verschärfte sich der Prozeß im Oktober und November 1907 merklich; die Zeugen wurden unter heftigen Druck gesetzt, über May selbst verhängte man die Briefsperre. Höhepunkt dieses Kesseltreibens war zweifellos die Haussuchung in der Villa »Shatterhand« am Morgen des 9. 11. 1907. Welch Erschütterung und Aufregung dieser Vorfall bei May auslöste, läßt sich unschwer aus seinem langen Schriftsatz an Larrass vom 19.12.1907 ablesen: Es wurde eine Haussuchung bei mir vorgenommen. Volle 8 Stunden lang. Von einem Staatsanwalte, einem Untersuchungsrichter und vier Kriminalgendarmen. Man nahm eine ganz bedeutende Menge von Skripturen mit. Frage ich, warum, so werden Uneingeweihte mir sagen: wegen Meineides oder Verleihung dazu; ich aber, der ich das alles klar durchschaue, und schon jahrelang vorausgesehen habe, behaupte wohl mit vollem Recht: Es ist deshalb geschehen, weil Rechtsanwalt Gerlach, der Münchmeyersche Stratege, es so beschlossen hatte, resp. weil es zum alten längst durchschauten Feldzugsplan der Firma Münchmeyer gehörte. Es bildet die Krönung dieses Planes die letzte und rücksichtsloseste Kraftentfaltung des gegen mich gerichteten Komplottes, auf welches ich noch anderweit zurückzukommen habe. Ich kannte dieses Komplott. Ich habe, wie bereits gesagt, diesen Hieb, der ein Sauhieb sondergleichen ist, vorausgesehen; aber ich hielt es nie für möglich, daß es Herrn Gerlach gelingen könne, es bis zur Haussuchung bei mir zu treiben. Er weiß bestimmt daß ich unschuldig bin, daß er es trotzdem so weit hat treiben können, hat mich seelisch tief gepackt und mir eines meiner schönsten und humansten Ideale geraubt.(12)

   Bereits im Juli 1907 schrieb May an seinen Anwalt Bernstein: Ich halte das nicht mehr aus. Du bist ein starker Charakter, aber glaube mir, du wärst längst wahnsinnig oder todt, wenn du diese tödtlichen Stiche so


//31//

immerfort und so lange zu ertragen hättest. Zumal wenn du täglich sähest, daß alle Mühe, diese Qualen abzukürzen, vergeblich ist . . . (13)

   Derartige Sätze dokumentieren nur zu eindrücklich, in welch kritischem Zustand May sich in diesem Jahr befand. Daß ihn in dieser Lebensphase der "Deutsche Hausschatz" nach acht Jahren im September 1907 um einen neuen Beitrag bat, mag als ein Geschenk des Himmels erscheinen: May begann sein wohl bedeutendstes literarisches Opus "Der Mir von Dschinnistan". Man kann die Bedeutung dieses Auftrags nicht hoch genug einschätzen, kam er doch zu einem Zeitpunkt, als May aufgrund seines Zusammenbruchs kaum noch Kraft und Ruhe fand, um schreiben zu können - und zweifellos war auch der Schock über den Mißerfolg seines 1906 erschienenen Dramas "Babel und Bibel", in das er so viel Hoffnung gesetzt hatte, noch nicht vergessen. So entstanden 1907 lediglich die Novellen "Schamah" und "Abdahn Effendi"(14); ein geplanter zweibändiger Roman"Abu Kital, der Scheik der An'allah", von Fehsenfeld bereits angekündigt, kam über Titelblatt und Textansatz nicht hinaus.(15) May selbst erkannte schmerzlich die Krise, die nun deutlich sein Schreiben bedrohte: Mir wird . . . himmelangst. Ich muß schreiben, schreiben, schreiben und bringe doch nichts fertig.(16) Es handelt sich nicht etwa nur um meine kleine, unbedeutende Person, sondern um das Gelingen eines Lebenswerkes, welches besammt ist, Millionen von Menschen zu beglücken. Wenn es nicht vollendet wird, so können Jahrhunderte vergehen, ehe eine Wiederholung möglich ist. Ja, vielleicht treffen sich die äußeren und inneren Umstände nie so wieder! Und das ist es, was mir die Pein verschärit und meine Angst fast zur Todesangst steigert!(17)

   Was May hier artikulierte, war nicht einfach einer Überschätzung seiner Dichtung zuzuschreiben; wir können aus diesen Äußerungen das ängstliche Flehen eines Menschen ersehen, dem qualvoll und radikal bewußt wird, daß Schreiben gleichbedeutend mit Leben, mit  Ü b e r leben ist. Die Todesangst, die Angst vor dem Verlust der Existenz, war die Angst vor dem Verlust des künstlerischen, und für May damit göttlichen »Auftrags«.(18) Die Verflechtung von Einzelschicksal und Menschheitsschicksal, die May im Alter immer wieder beschwor, findet hier ihren Knoten.

   Überblickt man den autobiographischen Hintergrund der Spätwerke, so wird man feststellen können, daß psychische und physische Krisen Mays geradezu Bedingungen seiner literarischen Produktion waren, wobei die Dichtung wiederum - wir erwähnten es bereits - zum Medium wurde, diese Krisen zu überwinden. Die Liebessehnsucht, der Ruf nach  E r l ö s u n g  sind  d i e  zentralen Motive, die, variiert und


//32//

nuanciert kontinuierlich auftauchend, Mays Werk (vor allem das der Spätphase) bestimmen. Das läßt sich nicht mit »Phantasiemangel« oder »Stereotypie« abtun, sondern verweist vielmehr auf die eigentlichen Antriebsmotoren des Schreibens, auf die literarische Intention Mays - "Bei den Aussätzigen" liefert hier ein eindrückliches Beispiel.


III. WERKANALYSE

Um die christliche Nächstenliebe und Barmherzigkeit zu offenbaren, bescheren Kara Ben Nemsi, Hadschi Halef Omar und der Damaskeser Kaufmann Jacub Afarah den vor den Toren Damaskus' lagernden Aussätzigen am Heiligabend eine Weihnachtsfeier. Der Pascha von Damaskus, mit dem die Aussätzigen in einem erbitterten Konflikt stehen, da er sie von ihrem jetzigen Ort vertreiben und einsperren lassen will, beobachtet heimlich das Fest und gibt sich während der Weihnachtsrede des »Scheiks der Aussätzigen« zu erkennen; von der christlichen Feier gerührt, nimmt er seinen Befehl, die Aussätzigen zu vertreiben, zurück. Bei den Aussätzigen selbst hat man bereits einen teuflischen Plan gefaßt, der die größere Macht gegenüber dem Pascha demonstrieren soll: infizierte Lappen und Lumpen sind bereitgelegt, um den Aussatz auf ihn und seine Anhänger zu übertragen. Der »Scheik«, der den Worten des grausamen Paschas nicht traut, zwingt ihn schließlich unter Androhung seiner Rache, Damaskus zu verlassen. Wissend, daß der Rachegedanke aber Sünde ist, verbrennen die Aussätzigen die Lumpen und Fetzen am Weihnachtsbaum, wodurch sie  w i r k I i c h  gerettet und erlöst werden.

1 .  D i e  A u s s ä t z i g e n - A u t o b i o g r a p h i s c h e  S p i e g e l u n g e n

Die Novelle "Bei den Aussätzigen" lehnt sich deutlich an den Duktus früherer Reiseerzählungen Mays an, so bezeichnet sie May nicht zu Unrecht als eine "R e i s e s k i z z e". Ort und Personal sind uns bereits aus dem Orientzyklus "Giölgeda padishanün" bekannt. In "Von Bagdad nach Stambul" widmete May der Stadt Damaskus, die er während seiner Orientreise im Juni 1900 realiter besuchen sollte, ein eigenes Kapitel. Dort war sie charakteristischer Ort bunter und konfliktgeladener orientalischer Geschichte; Ausgangspunkt aber auch neuer Abenteuerstränge (Raub an Jacub Afarah durch Abrahim Mamur). Auch die vor den Toren Damaskus' lagernden Aussätzigen tauchen bereits auf, jene Unglücklichen, welche, von der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen, doch nur von dem Mitleide derselben leben können.(19) Die Begegnung Kara Ben Nemsis mit diesen Aussätzigen bleibt jedoch nur eine kleine Episode am Rande der abenteuerlichen Fabel: dem Ich-Helden Auskunft über den flüchtigen Abrahim Mamur gebend, erfahren


//33//

die Ausgestoßenen die Barmherzigkeit und Humanität Kara Ben Nemsis, indem sie von ihm mit einigen Gaben beglückt werden.

   Die Ursache derartiger »Rückgriffe« ist nicht allein mit einer Perspektivenlosigkeit, neue Darstellungsebenen zu finden, zu erklären, es ist auch ein Rückbesinnen auf die schriftstellerischen Anfänge, um in Zeiten seelischen Wankens vielleicht die ehemals vertraute Sicherheit des Fabulierens wiederzufinden; darüberhinaus ist das aber auch ebenso das Resultat noch unbewältigter biographischer Episoden, Spannungen und Krisen.

a) Jacub Afarah

Die zentrale Figur der Damaskeser Abenteuer in "Von Bagdad nach Stambul", die uns auch in Mays "Reiseskizze" begegnet, der reiche Kaufmann Jacub Afarah, fand sein Vorbild ganz offensichtlich in Heinrich Gotthold Münchmeyer. May dürfte der familiäre und geschäftliche Kreis Münchmeyers nach seiner Waldheimer Entlassung ähnlich erschienen sein - als Ort der Geborgenheit und Wohlhabenheit - wie der des Kaufmanns Afarah in "Von Bagdad nach Stambul". Die Familie Afarahs - u. a. erwähnt Jacub seinen Bruder, der gleichfalls Kaufmann ist(20) (damit wird Friedrich Louis Münchmeyer gemeint sein, der ebenso wie sein Bruder Heinrich Gotthold den Buchhandel betrieb) -, das Musizieren des »Ichs« im Hause und besonders die Beschreibung des Interieurs ( . . . zwischen den seidenen Draperien, welche die Wände verdeckten, blickten aus kostbaren Rahmen zahlreiche Bilder auf uns nieder. Es waren - man denke sich mein Erstaunen - die rohesten Farbenklexereien, mit denen leider noch heute eine schmutzige Kolportage-Spekulation (!) die Welt beglückt . . . (21)) weisen deutlich auf Münchmeyer-Erinnerungen hin. Diese Erinnerungen erscheinen nach dem Bruch von 1877 sicherlich vor allem deshalb so positiv, weil "Von Bagdad nach Stambul" in einer Zeit entstand, als May für den Dresdner Verleger die großen Kolportageromane schrieb, um damit für Münchmeyers inzwischen niedergegangenes Geschäft zum »Rettungsengel« zu werden. Diese »Rettungstat« könnte sich auch im Beistand Kara Ben Nemsis, nachdem Jacub Afarah beraubt worden ist, widerspiegeln.(22)

   Wenn Afarah nach fünfzehn Jahren noch einmal in einer Novelle auftritt, dann werden - da Münchmeyer sich endgültig als Gegner Mays zu erkennen gegeben hatte - höchstens noch »Münchmeyer-Assoziationen« an der Wahl für diese sympathische Figur beteiligt gewesen sein. Aber der überaus menschenfreundlich denkende (257) »Kaufmann« dürfte sein reales Vorbild erneut in einem Verleger gefunden


//34//

haben: in Friedrich Pustet, dessen "Deutscher Hausschatz" in der Entstehungszeit der "Aussätzigen" für May größte Bedeutung gewann; die neuerlich angebotene Mitarbeiterschaft an dieser Zeitschrift mußte May wie ein wahres  W e i h n a c h t s g e s c h e n k  erscheinen - dargereicht einem »Aussätzigen«!(23)

b) Der »Scheik der Aussätzigen«

Es sind ganz zweifellos aus seiner Biographie sich ergebende Motive, die May dazu drängten, die Aussätzigen in den Mittelpunkt einer Novelle zu rückem Er hatte inzwischen bitter erfahren müssen, daß er selbst wie ein Ausgestoßener, wie ein »Aussätziger« behandelt wurde, den man aus der menschlichen Gesellschaft auszuschließen versuchte. Man denke nur an die Briefsperre und an die Haussuchung, um zu verstehen, warum er sich in den Aussätzigen wiedererkannt haben dürfte. Im "Mir von Dschinnistan", der ab November 1907 im "Deutschen Hausschatz" abgedruckt wurde, taucht in der zentralen Figur des Dschirbani, des »Räudigen«, der als  A u s s ä t z i g e r  eingesperrt wurde(24), eine klare Selbstspiegelung Mays auf.(25) Bei dem Aussatz des Dschirbani handele es sich jedoch, wie der Sahahr bemerkt, um einen unsichtbaren, inneren(26), eine Tatsache, die auf die  e i g e n t I i c h e  Bedeutung dieser Krankheit verweist. Der Hinweis ist insofem interessant, da "Bei den Aussätzigen" in einer Zeit entstand, als May mit dem "Mir" beschäftigt war, die Geschichte um den Dschirbani aber wohl noch nicht geschrieben, noch nicht ausfommuliert haben dürfte. Mays Selbstspiegelung als Aussätziger, als Dschirbani, steht ganz offensichtlich in einem engen Zusammenhang mit unserer Novelle; auf weitere Parallelen beider Werke werden wir hinzuweisen haben.

   Zentrale Figur der "Reiseskizze" ist der Anführer der Unglücklichen, der »Scheik der Aussätzigen«, der die echte Humanität des Christentums von der erzwungenen Wohltätigkeit des Islam unterscheiden gelernt und sich einige Kenntnisse angeeignet (hatte), die ihn befähigten, hier in Damaskus im Namen seiner Leidensgenossen mit der Behörde zu verkehren. Er stand gerade jetzt mit ihr in einem außerordentlich erbitterten Konflikt. Man wollte die Aussätzigen nicht mehr an ihrer jetzigen Stelle lassen. Man warf ihnen vor, daß sie die Luft verpesteten. (257)(27)

   Es ist sicherlich keine zu abwegige Behauptung, in der Figur des »Scheiks« ein Alter ego Mays zu sehen. Daß es sich hierbei um einen von den Aussätzigen gewählten »Anführer« handelt - eine ähnliche Konstellation finden wir auch im "Mir von Dschinnistan", als der Dschirbani (May) zum Anführer der ausgestoßenen Hukara gewählt


//35//

wird -, läßt sich auf die Funktion und Bedeutung des  D i c h t e r s  zurückführen. May hatte seine Dichtung ja durchaus immer wieder als  A u f t r a g, als Mission gesehen, die Menschen, seine Leser zur Nächstenliebe und Humanität, zur Edelmenschlichkeit zu führen.(28) Trotz massiver Anfeindungen und Hetzkampagnen hatte May auch im Alter noch eine - wenn auch geringere - Gemeinde, die zu ihm stand und ihm Mut zusprach. Aber gerade weil diese Gemeinde immer noch an ihn glaubte und ihm die Treue hielt, mußte der »Aussatz«, mußten die Angriffe und »Besudelungen« nicht nur May selbst, sondem auch ihr zuteil werden. Hemmann Cardauns hatte diese Zugehörigkeit 1907 (!) denn auch charakterisiert: »Die May-Gemeinde - es gibt in ihr viele harmlose Menschen von rührender Kindlichkeit, für die ich kein böses Wort habe, aber auch Leute von ganz anderen Qualitäten - . . . (hat) ganz wie ihr Herr und Meister . . . eine ausgesprochene Abneigung gegen die nackten Tatsachen, gegen den objektiven Sachverhalt mit lästigen Daten und unangreifbaren Feststellungen; eine ebenso ausgesprochene Vorliebe für die Phrase, für donnemde Rhetorik und sentimentales Geschwätz, für das Hell-Dunkel und das Herumfahren mit der Stange im Nebel . . . «(29)

   Wenn der Aussatz dem »Scheik« nicht nur das Gesicht (das Bild Mays) entstellt, sondem auch eine Hand weggefressen hat (vgl. 257), dann meint das sehr wahrscheinlich, daß nun auch das Schreibenkönnen Mays angegriffen worden ist; hierbei klingt sicherlich auch Mays Angst vor dem  N i c h t m e h r  schreibenkönnen (dem Verlust. der Hand) an.

   In seiner 1910 erschienenen Selbstbiographie gab May Hinweise, die verraten, wer sich hinter den Aussätzigen im besonderen verbirgt - es sind die »Verachteten«, die Gefallenen(30), die ehemaligen Strafgefangenen, denen sich May im Alter helfend an die Spitze stellen wollte. Ich werde es denjenigen, die gleiches Schicksal, wie ich, hatten, ermöglichen, aus der unmenschlichen Hetze gegen mich diejenigen Schlüsse zu ziehen, die ihnen heilsam sind, versprach May, denn sei es eine Ermunterung für ihn (den entlassenen Strafgefangenen), zu wissen, daß er trotz aller Besserung doch, so lange er lebt, der Geächtete, der Unterdrückte, der Rechtlose bleiben muß und bleiben wird, weil er gezwungen ist, zu allem zu schweigen und sich alles gefallen zu lassen? Denn falls er das nicht tut, ist er verloren. Wenn er hingeht, um gegen die, welche ihn beleidigen, bestehlen und betrügen, sein gutes Recht zu suchen, schleppt man seine alten Akten herbei und stellt ihn an den Pranger.(31)

   Als May seine "Reiseskizze" schrieb, hatte er diese »Rechtspraxis«, die Grausamkeit der menschlichen Gesetze, von der bezeichnender-


//36//

weise[bezeichnenderweise] auch der »Scheik der Aussätzigen« spricht (258), mit aller Härte und Brutalität erfahren müssen!(32)

c) Der Pascha

Daß der »Scheik« gerade jetzt in einem außerordentlich erbitterten Konflikt mit der Behörde steht, mag nicht überraschen. Die noch leidlich Aussehenden sollten in ein dicht verschlossenes Haus gesteckt werden und die Freiheit nie wieder zu sehen bekommen; die anderen aber wollte man nach einer Ruine in der Wüste bringen, wo sie von Soldaten streng zu bewachen waren, bis sie vollends starben. (257)

   Man will die Aussätzigen also verschließen, bewachen,  ü b e r w a c h e n, sie als  G e f a n g e n e  behandeln (wir denken an unsere Interpretation der Aussätzigen als ehemalige Strafgefangene!). Wer sich hinter der Gruppe von vier oder fünf Männern verbirgt, die am Heiligabend aus der Ferne das Fest der Aussätzigen beobachten, läßt sich bereits erahnen: »Der Pascha ist es selbst!« (258) - er, der das Todesurteil gefällt hatte, erscheint »in eigener Person«, »um (die Aussätzigen) zu beobachten« (258); »die Aussätzigen wurden bewacht; ich traute ihnen nicht!« bekennt er dann auch. Da haben wir die »Gruppe« vor uns, die Hetzer Mays: Gerlach, Seyfert, Larrass und Genossen. Ob sich hinter dem Pascha von Damaskus nun Larrass (wie Wollschläger vermutet(33)), Seyfert oder Gerlach verbirgt, mag dahingestellt bleiben (eine Spiegelung Gerlachs liegt etwa nahe, wenn man Mays Eingabe an Larrass vergleicht: Herr Gerlach spionierte in höchst eigener Person an meinem Zaun und Garten herum, um Angriffspunkte gegen mich zu finden.(34)); sicher erscheint uns jedoch, daß in diesem Auftritt die Sauhiebe der Münchmeyer-Advokaten gespiegelt sind, die Überwachung Mays, Briefsperre und Haussuchung. Daß May hinsichtlich der Aussätzigen von einem Todesurteil spricht, das der Pascha gefällt hat (vgl. 257), ist nicht verwunderlich, denke man nur an die angebliche Drohung Seyferts während der Haussuchung: »Nun können Sie es nicht mehr verhüten, daß Ihre Vorstrafen in die Oeffentlichkeit kommen! Darauf machen Sie sich gefaßt.«(35)

   May, an seine dunklen Zeiten erinnert, mußte ja nun ein ähnliches Schicksal befürchten, wie er es in seinen weit zurückiiegenden Konflikten mit dem Gesetz bereits erlebt hatte: Verurteilung, Zuchthaus, gesellschaftliche Ächtung. Was nütze alle sogenannte »Gerechtigkeit«, alle sogenannte »Milde des Gerichtes«, alle sogenannte »Humanisierung des Strafvollzuges«, alle sogenannte »Fürsorge für entlassene Strafgefangene«, wenn es nur eines einzigen spitzfindigen Anwaltes oder eines


//37//

einzigen fragwürdigen Paragraphen bedarf, um all das Gute, welches aus diesen Bestrebungen erwachs, in einem einzigen Augenblicke zu vernichten? fragte May zu Recht in seiner Selbstbiographie.(36) Mit Todesangst mußte er dem Treiben seiner Hetzer, die ihn ausstoßen, kaput machen wollten, entgegensehen. Schon 1905 schrieb er, als er seine Privatklage gegen Lebius erhob, an Bernstein: Auf keinen Fall darf ich den fürchterlichen Fehler begehen, vor dem versammelten Berichterstattervolk die Vorstrafen zuzugeben. Es würde das mein ganzes Lebenswerk vernichten, und ehe ich das zugebe, will ich lieber sterben!(37)

   Mußte May den Feldzügen seiner Widersacher in der Realität häufig tatenlos zusehen, so konnte er in der Imagination, im Schreiben - wie so oft gerade an Obrigkeiten, an Behörden - Rache nehmen, konnte den mächtigen Pascha zum Schweigen bringen: »Du bist der Pascha von Damaskus, weiter nichts. Ich aber bin der Scheik der Aussätzigen. Wer ist mächtiger, du oder ich?« (258) Ja, wer ist mächtiger? Einen geradezu teuflischen Plan hat man bei den Aussätzigen gefaßt, der die größere Macht demonstrieren soll: »Siehst du die Lumpen, Lappen und Fetzen liegen, dort hinter den brennenden Bäumen? Die waren für dich aufgestapelt! Unsere Waffen gegen dich und deine Macht! Solche Waffen gibt es nicht wieder, so weit die Erde reicht! Wenn ich will, so rühre ich dich an und deine Glieder werden zerfressen werden wie die meinigen.« (258)

   Diese Lumpen, Lappen und Fetzen, die zu einzigartigen Waffen werden, lassen sich möglicherweise als Mays Bücher interpretieren, in der Öffentlichkeit ja inzwischen nur zu deutlich durch den Schmutz gezogen, als »Schund« (man denke besonders an die Kolportageromane, um die es bei den Münchmeyerprozessen schließlich ging), als »elendes Machwerk« apostrophiert.

   May, der die »Machenschaften« der Gerichte immer stärker erlebte und durchschaute, hatte aber auch an reale Möglichkeiten gedacht, um Larrass das Handwerk zu legen. Darüber gibt eine Eingabe Mays an Rechtsanwalt Klotz vom 20. 5. 1908 Auskunft, in der der Antrag auf einfache Befangenheit Larrass' diskutiert wird. Mays Bemerkungen sind hier sehr deutlich: Es handelt sich nicht mehr bloß um Befangenheit, sondern vielmehr darum, ob Larrass noch würdig ist, Untersuchungsrichter zu sein.(38) Und er drohte: Wenn Assessor Larrass . . . fortfährt, jeden Zeugen gegen mich einzunehmen und die Sache ganz unnötigerweise sogar nach Böhmen, Tirol . . . zu tragen, so sehe ich einen Gerichts-, Presse- und  R e i c h s t a g s s k a n d a l kommen, an den der Harden'sche nicht heranreicht und vor dem ich mein Vaterland behüten möchte!(39)


//38//

Der sonst mit Vorsicht zu genießende Lebius hatte die Zuspitzung der Situation aus seiner Sicht drastisch beschrieben (man vergleiche die Auseinandersetzung der Aussätzigen mit dem Pascha in unserer "Skizze"!): Man merke, »wie die korrekten königl. sächsischen Beamten, als ihnen dieser Pestbauch aus den Tiefen der Verbrecherwelt wie eine Stichflamme unerwartet ins Gesicht schlug, förmlich erschrocken zurückwichen. Tatsächlich wurde jetzt binnen kurzem die Voruntersuchung eingestellt.«(40)

   Wenn der Pascha in Mays Novelle zum Schluß versetzt wird und sein Nachfolger bereits nach Damaskus unterwegs ist (259), dann drückt dieses Ende sicherlich Mays Hoffnung auf Larrass' Absetzung aus.

2 .  D a s  F e s t  d e r  E r l ö s u n g  -  P h i l o s o p h i s c h  -  r e l i g i ö s e  B e t r a c h t u n g e n

Das Weihnachtsfest hatte für Mays Leben und Werk eine ganz zentrale Bedeutung; darauf ist schon mehrfach hingewiesen worden.(41) Wie wir wissen, war die Weihnacht für May sowohl Unglückszeit als auch Zeit der Rettung, der Erlösung - in den "Aussätzigen" spricht May explizit von Weihnachtsqual und Weihnachtsfreude (258)! Nicht häufig genug konnte er das Weihnachtsfest in seinen Werken erscheinen lassen, erkannte er in ihm doch die Verflechtung seines eigenen Schicksals mit dem Menschheitsschicksal in einer paradigmatischen Weise. In der Weihnachtsrede des »Scheiks der Aussätzigen« wird diese Verflechtung deutlich, wenn es heißt: Er (der »Scheik«) sprach von der Qual des Menschenlebens im allgemeinen und von der Qual derAussätzigen und Ausgesetzten im besonderen, die beide kein Ende nehmen. Er sprach von der Grausamkeit der menschlichen Gesetze und von der Erbarmungslosigkeit derer, die Liebe geben sollen und doch keine haben. (258)

   Im Weihnachtsfest kulminierte nicht nur alles persönliche Elend Mays, aller zurückliegende Schmerz(42) (wie die teilweise gewaltsame Verknüpfung von Weihnacht und Unglück beweist), sondern es war auch das »Geburtsfest« aller Hoffnungen, aller Utopien. Hierin artikuliert sich jene Parallelität von Selbsterkenntnis, von Erinnerung an ardistanisches Schicksal und Sehnsucht nach dessen Überwindung, nach Erlösung - metaphysisches Vertrauen -, die das gesamte Werk Mays bestimmt, die Grundlage all seines Schreibens bildet.

   May hatte die enge Beziehung der Kunst zur Weihnacht in seinem zweiten "Kunstbrief" an Leopold Gheri vom 2.11.1906 explizit herausgestellt, denn jede wahre Kunst führe zum Welterlöser empor. Sie wird


//39//

zum Wege nach dem eigentlichen, dem seelischen, dem geistigen Bethlehem.(43) Indem er (der Künstler) sein "Weihnacht" feiert, um es darzustellen, sucht er nach dem tiefsten Grunde des Erlösungsgedankens, also nach der "Schuld". Und wo kann er diesen Grund denn wirklich und in Wahrheit finden, als nur in sich selbst, in seinem eigenen Innern?(44) - Hier finden wir zweifelsohne auch den Schlüssel zum Mayschen Spätwerk.

   So groß die "Schuld" May auch erscheinen mußte - sei sie nun die ganz persönliche, sei sie die allgemeinmenschliche Sündenschuld -, im Weihnachtsfest sah er das Symbol der Erlösung, sah er durch die Geburt Christi, durch die Offenbarung Gottes, durch die »göttliche Verpflichtung« der Kunst die Rettung vor allem irdischen Übel und Leid. Wenn May im Alter seine Dichtung als Beichte, als Sühne für noch nicht abgebüßte Schuld betrachtete, so findet das seinen Erklärungsgrund in diesem Erlösungsgedanken.

   Wie bei allen Spätwerken Mays können in der Differenzierung von autobiographischer und philosophisch-religiöser Ebene sowohl das irdische, persönliche Schicksal des Autors als auch die übergeordneten, metaphysischen Zusammenhänge erkannt werden. Das Weihnachtsfest in der Novelle "Bei den Aussätzigen" ist auf der autobiographischen Ebene die Lösung (nachdem es am Weihnachtsabend zum Konflikt gekommen ist!) privater Probleme Mays: der Pascha (Gerlach/Larrass) wird vertrieben, die infizierte(n) Lumpen (zu interpretieren als die »alten«, zu überwindenden Werke, oder die realen Rachegedanken Mays) werden vom Weihnachtsbaum verbrannt, damit man wieder freier, reiner, den heiligen Duft der Weihnachtsbäume (259) atmen kann (damit Friede herrscht und das eigentliche Werk begonnen werden kann).

   Aber May dachte nicht nur an die ganz persönlichen Problembewältigungen, sondern auch an die allgemeine Menschheitserlösung, unter diesem unbeschreiblichen, heilig flammenden Sternenhimmel, der das Weihnachtsfest beschirmt: Hilflos, flehend, wie nach Schutz und Rettung suchend, flackerte das irdische, vergängliche Licht zu dem ewigen Lichte des Firmamentes empor, und ein langer, tiefer, hörbarer Atemzug entrang sich den Herzen all der Unglückseligen, die hier im Staube lagen! (258)

   Auf der philosophisch-religiösen Ebene steht der Aussatz als Sinnbild der Sünde, ganz im Sinne biblischer Darstellungen. Nach christlichen Vorstellungen sind Tod und Krankheit erst durch die Sünde in die Welt gekommen. Der Aussatz gilt als sichtbares Zeichen der Unreinheit, der Sündhaftigkeit; er ist aber auch eine Plage, mit der Gott die Sünder unmittelbar strafen kann (vgl. Numeri 12,9f.; 2. Könige 5,27).


//40//

Als Folge der Verhaftung im irdischen Laster, der Überbetonung des irdischen Daseins, des  K ö r p e r s, wird gerade dieser Körper von der Krankheit zerfressen.

   Da die Unreinheit durch Berührung übertragbar ist (vgl.Leviticus 15,4-12), schließt man den Erkrankten aus dem Lager aus (»außerhalb des Lagers sei sein Aufenthalt«, Leviticus 13,46); später findet er seinen Aufenthalt vor dem Stadttor (vgl. 2. Könige 7,3).

   Wird der Aussätzige geheilt, so ist das ein Prozeß der Reinigung. In Lukas 17,12 erfahren wir von zehn Aussätzigen aus Galiläa, die von Jesus, der damit über die Sünde siegt, geheilt werden; andere Beispiele ließen sich anfügen.

   Die Aussätzigen in Mays Novelle stehen stellvertretend für die von Sündhaftigkeit durchdrungenen Menschen. Vor der endgültigen Vernichtung durch das Böse (durch den Pascha(45)) können sie jedoch vom Guten (vom »Ich« und seinen Begleitern) gerettet werden. Das »Ich«, das den Unglücklichen das heilige Weihnachtsfest beschert, erscheint hier wie ein Messias. Im "Mir von Dschinnistan" begegnen wir einer Szene, in der das Weihnachtsfest eine ähnliche Bedeutung gewinnt wie in unserer Novelle.(46) Christoph F. Lorenz bemerkt in bezug auf Mays "Bei den Aussätzigen" zu Recht, daß im »Konflikt zwischen Haß und Liebe, zwischen Unglauben und Glauben . . . die Position des Unglaubens durch die Anhänger des Islams, die des Glaubens durch die echten - nicht nur Namens - Christen repräsentiert wird«.(47) Erst das christliche Weihnachtsfest, die Stunde der Menschenfreundlichkeit (258), verkündet die Erlösung: »Und wenn die Not am allergrößten ist, wenn nirgends Hilfe, nirgends Rettung winkt, wenn wir vergeblich uns an Mohammed und auch erfolglos uns an Allah wenden, so kommt der Christ mit seinem Stern von Bethlehem, mit seiner heiligen Weihnachtskunde, mit seiner Liebe, seiner Herzensgüte und rettet uns . . . « (258)

   Auch wenn die Aussätzigen aufgrund ihrer bereits zu fortgeschrittenen Krankheit nicht mehr  k ö r p e r l i c h  geheilt werden können, so sind sie doch  i n n e r l i c h  gerettet: »Der Pascha (das Böse) ist besiegt, mit ihm auch unsere Rache!« (259) Man hätte sich für das Unrecht zwar rächen können, aber es wäre keine Rettung gewesen(48), d. h. eine irdische, gewaltsame Vergeltung hätte zu keiner himmlischen Erlösung geführt. »Die Rettung aber steht hoch über der Rache, so weit die Erde und so weit der Himmel reicht«, erkennt denn auch der »Scheik der Aussätzigen«. (259)

   Es ist anzunehmen, daß May den Aussatz durchaus auch positiv sah, da diese Krankheit die Befreiung der Seele ermöglichte. Nicht der Körper bestimmt das eigentliche Wesen des Menschen, nicht er ist das Ziel


//41//

allen menschlichen Tuns, sondern die Seele; die irdische Hülle ist gewissermaßen das Läuterungsmedium für die Seele. May hat diesen Gedanken in seiner »Geisterschmiede von Kulub« eindrücklich dargestellt.

   Das Bewußtsein, am Tode, am Jenseits zu stehen, hatte für May nichts mehr mit Schrecken und Ängsten zu tun - es barg nichts als die Erlösung. So verkündet der befreiende Ruf des »Scheiks der Aussätzigen« »Wir sind erlöst!« (259) nicht nur den Schluß der Novelle, sondern den Schluß des Mayschen Dramas überhaupt, Mays große Hoffnung, die Hoffnung auf den großen Sieg.


IV. SCHLUSSBEMERKUNGEN

Sprachen wir eingangs von einer Bedeutung der Novelle "Bei den Aussätzigen" für Leben und Werk Mays, dann dürfte diese These nach der Analyse des Textes ihre Bestätigung gefunden haben.

   Derartige Werkanalysen resultieren nicht primär aus einem detektivischen Spürsinn, autobiographische Details ausfindig zu machen - wie es vielleicht vordergründig erscheinen kann -, sondern sie fragen nach den Grundlagen, der Motivation und Intention des Mayschen Schreibens überhaupt; dadurch erhalten diese Interpretationen ihre Berechtigung und Notwendigkeit. Natürlich läßt sich nach der vorliegenden Analyse im Hinblick auf das gesamte Spätwerk Mays in vielen Dingen von »Wiederholungen« und »bekannten Grundmustern« seines Schreibens sprechen; daß dieselben Probleme einen Autor zu immer neuer Gestaltung drängen, bestätigt aber nur die existentielle Notwendigkeit seines Dichtens und die Richtigkeit einer Interpretation, die der Kreativität Mays auf den Grund zu kommen sucht.

   Mays Novelle "Bei den Aussätzigen", die durch ihre Mehrdimensionalität deutlich den symbolisch-allegorischen Arbeiten des Spätwerks zuzuordnen ist, nimmt im Mayschen Œuvre eine Sonderstellung ein, da May hier auf knappstem, gedrängtestem Raum (das ist auch hinsichtlich eines Vergleichs mit den anderen Altersnovellen interessant) seine »Ur-Geschichte« projiziert, den das ganze Werk durchziehenden Erlösungsgedanken in aller Konzentration zu fassen vermag und in  e i n e r  Episode das Grundmodell des Spätwerks erscheinen läßt. So können wir in dieser Novelle ein gelungenes Exempel erkennen, das Aufschlüsse über den Charakter des Mayschen Alterswerkes gibt.


//42//

1 s. Hartmut Vollmer: "Merhameh". Studie zu einer Altersnovelle Karl Mays. Sonderheft der KMG Nr. 44. Hamburg 1983, Dieter Sudhoff: Karl Mays "Abdahn Effendi". Eine Werkanalyse. In: Jb-KMG 1983. Husum 1983, S. 197-244

2 Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976,

3 Ebd.

4 Ebd. S. 149

5 Diese Vermutung äußert auch Sudhoff in seiner Analyse von "Abdahn Effendi". a. a. O. S. 198

6 vgl. Hansotto Hatzig in: M-KMG Nr. 6 (Dez. 1970) S. 2. Ebenfalls abgedruckt wurde die Novelle - mit dem Untertitel "Reiseerzählung aus Syrien" - im Karl-May-Jahrbuch 1919 (hrsg. v. R. Beissel u. F. Barthel).

7 Herbert Meier: Vorwort zum "Marienkalender"-Reprint. Hamburg 1979, S. 21

8 Bereits im Dezember 1970 ist dieser Druck von der KMG als Beilage der "Mitteilungen" herausgegeben worden.

9 Wollschläger: Karl May. S. 144

10 Zitat Mays; bei Wollschläger: Karl May. S. 144

11 Wollschläger: Karl May. S. 148

12 Abgedr. bei Rudolf Lebius: Die Zeugen Karl May und Klara May. Berlin-Charlottenburg 1910, S. 88f.

13 Datiert auf den 23. 7. 1907; abgedr. bei Wollschläger: Karl May. S. 148

14 Daß "Abdahn Effendi" nicht, wie üblich angenommen, im Jahre 1908, sondern bereits 1907 entstand, versucht Sudhoff in seiner Werkanalyse nachzuweisen (vgl. D. Sudhoff: Karl Mays "Abdahn Effendi". a. a. O. S. 198). Ebenfalls 1907 entstand Mays Schrift "Frau Pollmer, eine psychologische Studie".

15 s. dazu: Ekkehard Bartsch: Ardistan und Dschinnistan. Entstehung und Geschichte. In: Jb-KMG 1977. Hamburg 1977, S. 83ff.

16 Brief Mays an Rudolf Bernstein v. 23. 7. 1907; bei Wollschläger: Karl May. S. 145

17 Brief Mays an Bernstein v. 23. 7. 1907, bei Wollschläger: Karl May. S. 148

18 vgl. bes. die "Kunstbriefe" Mays

19 Karl May: Von Bagdad nach Stambul. Freiburg o. J. (1892), S. 396

20 Ebd. S. 359

21 Ebd. S. 366

22 Wer sich in dieser Episode hinter dem als Gehilfen Afarahs getarnten Dieb Abrahim Mamur verbirgt (vielleicht Otto Freitag, vielleicht Münchmeyers Faktotum Walther möglicherweise auch May selbst), kann und soll an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden.

23 Man könnte auch daran denken, daß mit den Weihnachtsgaben Afarahs, Kara Ben Nemsis und Halefs Mays "Mir von Dschinnistan" gemeint sein kann, der der »sündigen Welt« (die Aussätzigen auf der philosophisch-religiösen Ebene) zu Weihnachten geschenkt wurde.

24 vgl. K. May: Der Mir von Dschinnistan. Regensburg 1976, S. 64. Das Motiv der Krankheit diente May sehr häufig dazu, sein eigenes kritisches Befinden darzustellen; s. dazu auch: Martin Lowsky: Der kranke Effendi. Über das Motiv der Krankheit in Karl Mays Werk. In: Jb-KMG 1980. Hamburg 1980, S. 78ff.

25 vgl. etwa H. Wollschläger: Das »eigentliche« Werk. Vorläufige Bemerkungen zu "Ardistan und Dschinnistan" (Materialien zu einer Charakteranalyse III). In: JbKMG 1977. Hamburg 1977, S. 75ff.

26 K. May: Der Mir von Dschinnistan. S. 64

27 May erwähnt, daß der »Scheik« früher im deutschen Asyl für Aussätzige in Jerusalem untergebracht gewesen war. (257) In Mays Bibliothek befanden sich drei Bücher, die damit im Zusammenhang stehen: Das Aussätzigen-Asyl "Jesus-Hilfe" in Jerusalem; Bericht über das Aussätzigen-Asyl "Jesus-Hilfe" vom Jahr 1898. Herrnhut 1898, Einsler: Beobachtungen über den Aussatz im Heiligen Lande. Herrnhut 1898 (vgl. KMJB 1931, S. 285). Vermutlich liegt hier eine stoffliche Quelle für Mays "Reiseskizze".

28 vgl. etwa Mays Brief an Bernstein (Anm. 16)


//43//

29 Hermann Cardauns: Die "Rettung" des Herrn Karl May. In: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland. 2. Bd. München 1907, S. 286f.

30 K. May: Mein Leben und Streben. Hildesheim-New York 1975 (künftig abgekürzt L&S), S. 308. Angesichts der Vielschichtigkeit des Mayschen Spätwerks wird die Interpretation: »Scheik«/Aussätzige = May/Gemeinde durch diese Deutung aber keineswegs hinfällig.

31 L&S S. 308

32 Vor der Weihnachtsrede des »Scheiks« singen die Aussätzigen eines jener Lieder des arabischen Dichters Kadar, deren Klang die Tränen zwingt, aus der tiefsten Tiefe in die Augen emporzusteigen. (258) Wahrscheinlich handelt es sich hierbei nicht um einen realen Dichter, sondern um ein Symbolwort: das arabische Wort »kadar« bedeutet »Kummer«, »Betrübtheit«; in zutreffender Weise könnte damit Mays Befinden nach den Attacken der Münchmeyer-Anwälte zum Ausdruck gekommen sein!

33 H. Wollschläger: Karl May. S. 149

34 bei Lebius S. 89

35 Ebd. S. 95

36 L&S S. 308

37 Datiert auf den 29. 9. 1905; bei Wollschläger: Karl May. S. 136f.

38 Abgedr. bei Lebius S. 103ff.

39 Ebd. S. 107

40 Ebd. S. 99

41 vgl. etwa H. Wollschläger: »Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt«. Materialien zu einer Charakteranalyse Karl Mays. In: Jb-KMG 1972/73. Hamburg 1972, S. 34ff.; H. Vollmer: »Weihnacht« - ein »Erlösungswerk« Karl Mays. In: M-KMG Nr. 46 (Dez. 1980), bes. S. 4f.

42 So tauchen in den "Aussätzigen" bezeichnenderweise auch wieder die Lichte und Dillen (258) auf, die auf Mays »Kerzendiebstahl« verweisen.

43 Karl May: Briefe über Kunst, Nr. II. In: Der Kunstfreund, Innsbruck, XXII, 11 (Dez. 1907), S. 197

44 Ebd. S. 198

45 Die Grausamkeit Nasim Paschas von Damaskus, die Klara May in ihrem Reisetagebuch während der Orientreise festhielt, hat das Bild des Paschas Mays möglicherweise mitgeprägt (vgl. H. Wollschläger/E. Bartsch: Karl Mays Orientreise 1899/1900. Dokumentation. In: Jb-KMG 1971. Hamburg 1971, S. 201).

46 Gemeint ist die Wirkung des Weihnachtsfestes auf den Mir von Ardistan und seine Familie.

47 Christoph F. Lorenz: Vom Haß zur Liebe. Karl Mays "Marienkalender-Geschichten" als Dokumente der inneren Entwicklung ihres Verfassers. In: Jb-KMG 1980. Hamburg 1980, S. 105

48 Bekanntlich hatte auch May in der Zeit seiner kriminellen Delikte erleben müssen, daß die Rachegedanken (vgl. die Schilderung in L&S S. 118) nur noch tiefer in den Abgrund führen.


Inhaltsverzeichnis


Alle Jahrbücher


Titelseite

Impressum Datenschutz