//92//

WALTHER ILMER

Das Märchen als Wahrheit - die Wahrheit
als Märchen
Aus Karl Mays "Reise-Erinnerungen"an den
erzgebirgischen Balkan
(1)



I

In der Sekundärliteratur um Karl May ist seit eh und je die Rede von den vielerlei Märchenmotiven, die sein Werk aufweist, und immer wieder einmal taucht auch ein pauschaler Hinweis auf die Märchensammlung "1001 Nacht" auf(2) - aber erst in neuester Zeit ist durch Ralf Harder in einem bei aller Kürze eindrucksvollen Beitrag im einzelnen belegt worden, in welcher Form May charakteristische Handlungsmomente eines ganz bestimmten Märchens beispielhaft verarbeitete(3): Ralf Harder weist nach, daß in der Episode um den Schmied Schimin, den Färber Boschak und den Bettler Saban in Mays Erzählung "In den Schluchten des Balkan"(4) nahezu alle wesentlichen Motive des Märchens "Rotkäppchen" auftauchen, und mit diesen Erkenntnissen werden der Karl-May-Forschung weitere Wege gewiesen. Es dürfte sehr reizvoll sein, den klassischen Volksmärchen in Karl Mays Schriften nachzuspüren und zu klären zu suchen, warum ganz bestimmte Motive der Märchenwelt das Werk des sächsischen Fabulierers beeinflußt haben.(5)

   May hat sich selber als Märchenerzähler - ja, sogar als Märchen bezeichnet(6); das Märchenhafte war ihm Lebenselixier von Kindesbeinen an. Sein eigenes Schicksal, dessen Bahn ja so ganz anders verlief als geplant und vorhersehbar, muß ihm manchmal "märchenhaft" vorgekommen sein in dem Sinne, daß im Märchen ja oft grausame Ereignisse eintreten und guten Menschen Übles widerfährt, bevor alles sich zum Besseren wendet. So manches Märchenmotiv nimmt Gestalt an in Mays Dasein: er ist wie das tapfere Schneiderlein, der Aufschneider, dessen Lügen von anderen nur allzu bereitwillig geglaubt werden - als Hochstapler 1864, als falscher Polizeileutnant 1869, als leibhaftiger Old Shatterhand 1897; der Nimbus "Sieben auf einen Streich" findet sich in den Erzählungen in dem sagenhaften Rufe, dessen der Held sich erfreut und den er mit seinem Waffengepränge unterstreicht. Er ist der


//93//

Eine, der auszog, das Fürchten zu lernen, und dem es vor nichts graute, bis seine Frau ihm Streiche spielte - der kriminelle und resozialisierte Karl May, der sich von seiner Ehefrau Emma, geborene Pollmer, gepeinigt fühlte. Er ist der Däumling, der sich erfolgreich gegen Riesen behauptet - der vorbestrafte Karl May, der sich gegen den Kolportageverleger Münchmeyer durchsetzt - und der mit Siebenmeilenstiefeln Raum und Zeit durchmißt -, der Schriftsteller, der weit rascher produziert, als Verleger publizieren können. Er ist der in so vielen Märchen in irgendeiner Form Verwunschene, der lange Zeit in einer ihm nicht gemäßen Erscheinung sein Dasein fristen muß - als Kröte oder Bär oder verunstaltetes Wesen usw. - und erst nach vielen Schwierigkeiten erlöst wird, der auf Umwegen zur äußeren und inneren Freiheit gelangende May.(7) Er ist der zwiespältige Bruder Lustig, der zur Güte fähig ist, aber auch vor Betrug nicht zurückschreckt, der skrupellos andere kopiert und davon profitieren will, bevor er seine ganz eigenen Qualitäten erkennt; dem Gnade erwiesen wird und der die Hölle besiegt und sich geschickt einen Platz im Himmel sichert. Er ist die Verkörperung all der guten Burschen, die zur Erreichung eines erstrebenswerten Zieles harten Prüfungen ausgesetzt sind, aber unverdrossen ihren Weg verfolgen und dabei unversehens Hilfe erhalten von klugen - ggf. sprechenden - Tieren, von Feen und Elfen und Zwergen, kurz: von Phantasiegebilden, deren Kraft verblüffend in den Alltag durchschlägt - das ist Karl Mays eigene Gestaltungskraft in Form von Reiseerzählungen, die ihm sowohl als Seelenbad wie als Finanzquelle dienen. Die Zahl der Beispiele läßt sich wohl beliebig vermehren.


II

Im Erzählwerk nun tauchen die in Mays Leben hineinverwobenen Märchenmotive in den verschiedensten Formen auf, schillernd, verkleidet, im gleichen Maße, wie May immer wieder - und immer wieder neu - eigenes Erleben und eigene Innenwelt schilderte. Die von Ralf Harder verdeutlichten Rotkäppchen-Assoziationen passen genau ins Bild: sie decken sich in Grundzügen mit mehreren wichtigen Ereignissen in Mays Leben, die er stets aufs neue zu bewältigen versucht hat seine Straftaten, die Affäre Stollberg(8), die zweimalige Tätigkeit für Heinrich Gotthold Münchmeyer.(9) Insofern ist die ganze Schimin-Boschak-Saban-Episode, auf die Ralf Harder sich abstützt, eines der ganz sprechenden Beispiele für die greifbar nahe liegende Verarbeitung rein persönlicher Vorgänge in den Reiserzählungen. Und wie so oft bei Karl


//94//

May erscheinen die einzelnen Bilder wie die Bestandteile eines Traum-Puzzles: die Reihenfolge der Abbildung entspricht nicht unbedingt der realen Chronologie; ein und dieselbe Funktion wird von mehreren Menschen wahrgenommen, deren Identitäten insoweit austauschbar sind; und Beängstigendes löst sich auf in Angenehmem - und umgekehrt. May griff die Traumbilder auf, wie sie sich darboten, und wob sie nebeneinander und ineinander, ohne beim Schreiben die Muster voll zu erkennen. Am Beispiel der hier genannten Episode möchte ich - unter ausdrücklicher Einbeziehung der Überlegungen Ralf Harders einmal mehr belegen, wie kunstvoll Karl May sein Leben und seine persönliche Lage in abenteuerlichem Gewande aufzeichnete und wie Bewußtes und Unbewußtes, Absichtsvolles und Undurchschautes sich in der Niederschrift mischten. Die Deutungsmöglichkeiten sind damit jedoch keineswegs voll ausgeschöpft.


III

Das Märchen vom Rotkäppchen endet mit der Entdeckung des Wolfes durch den Jäger, der durch ein Poltern aufmerksam wird, den Wolf tötet und Rotkäppchen und Großmutter befreit. Ralf Harder zeigt Kara Ben Nemsi in der Rolle des Jägers, der bei Schimins Haus eintrifft und dort zum Retter wird. Dieser glückliche Ausgang des Märchens ist, bezogen auf die Entwicklung der hier behandelten Episode der Gesamthandlung der großen Orienterzählung, der Anfangspunkt. May beginnt unbemerkt mit dem Ende, um sich beim Schreiben von vornherein innerlich abzusichem: Der Retter ist am Werke - und so wird es bleiben, was immer auch an unangenehmen Zwischenfällen eintritt. Die einzelnen Phasen des Märchens folgen verstreut und in abgewandelter Fomm, so wie die erzählte fiktive Kara-Ben-Nemsi-Handlung es erfordert, in deren Verlauf der Held aus der Rolle des Retters zeitweilig in die des Opfers versetzt wird. Die Gefangennahme des Helden in Sabans Hütte ist eine der zahlreichen, immer wiederkehrenden »Prüfungen«, die er durchstehen muß; sie ist die Folge der Vertrauensseligkeit des - zeitweilig - "reinen Toren", dessen Gutmütigkeit zu seinem Schaden ausgenutzt wird. Dies war - von May im nachhinein so gesehen - mindestens viemmal in seinem Leben der Fall: 1875, als er sich überreden ließ, Redakteur bei Münchmeyer zu werden - was ihn in eine unerquickliche Situation führte; 1878, als er sich überreden ließ, die Ursache des Todes Emil Pollmers näher zu untersuchen (Affäre Stollberg) - was ihm drei Wochen Haft eintrug; 1880, als er sich überreden


//95//

ließ, Emma Pollmer nicht nur nicht zu verlassen, sondem sie auch zu heiraten(10) - was ihn in vielerlei Konflikte stürzte; 1882, als er sich überreden ließ, ein zweites Mal für Münchmeyer zu arbeiten - was ihn von seinen eigentlichen selbstgestellten Aufgaben fortriß. Die jedesmal obsiegende Bereitschaft Mays, sich um anderer Menschen willen in eine unübersichtliche und eher heikle Situation zu begeben, die ihm als dem Hilfsbereiten zum Unheil ausschlagen konnte, entspricht genau der Grundsituation in "Rotkäppchen". Mays genaue Kenntnis des Märchens dürfen wir - auch darin hat Ralf Harder Recht - unterstellen, und sein Unterbewußtsein registrierte instinktiv, wie die Rotkäppchen-Szenerie auf seine, Mays, persönliche Lage anzuwenden war. Zum anderen aber ist auch das Umkehr-Motiv sofort zur Stelle: Auch May selbst hat, auf die Gutmütigkeit, das Vertrauen, die Zuneigung anderer bauend, Unziemliches begangen - und mußte dafür büßen. Erinnern wir uns nur an einige der Ereignisse des Jahres 1869: Mays nächtlichen Einbruch beim Taufpaten Weißpflog und sein Entkommen in die »Eisenhöhle«; sein Liebesverhältnis zum Dienstmädchen Auguste Gräßler, die seinetwegen in peinliche Verhöre verwickelt wurde; den törichten Pferdediebstahl, der ihm keinerlei Gewinn brachte; das unerwartete Ausbrechen aus dem Polizeigewahrsam, indem er sich der Handschelle entledigte; das Umherfuchteln mit einem - vielleicht gar nicht einmal geladenen - Terzerol, womit er Verfolger abschreckte; seine Flucht durch die Wälder und Höhen des Erzgebirges hinüber nach Böhmen, wo er Anfang Januar 1870 erschöpft aufgegriffen wurde und sich als Pflanzer Albin Wadenbach aus Martinique ausgab . . . ein Schelm, der sowohl Unverfrorenheit genug wie Humor genug besaß, seine Ex-Geliebte Malwine Wadenbach als seine Tante zu bezeichnen.(11) Ereignisse, die im Gedächtnis des Schriftstellers Karl May nicht ausgelöscht waren und die, neben vielen anderen, verstohlen ihren Weg in die Reiseerzählungen fanden. Auch eben in Kara Ben Nemsis Erlebnisse im Balkan sind sie - zwischen viele andere Spiegelungen eingebettet. Und so zieht sich ein und derselbe Erzählfaden in den verschiedensten Farben dahin, wölbt sich ein und derselbe Handlungsbogen unter den verschiedensten Aspekten.


IV

Rekapitulieren wir kurz die Hauptmomente der äußeren Handlung: Kara Ben Nemsi und seine drei Gefährten Halef, Omar und Osko verfolgen einige Schurken, die als Mitglieder der Bande des geheimnisvol-


//96//

len[geheimnisvollen] Schut ebenso unschädlich gemacht werden sollen wie all ihre Spießgesellen und ihr Anführer selbst. Einer der Schurken, Barud el Amasat, hat vor Jahren Oskos Tochter Senitza entführt und verkauft; Kara Ben Nemsi hat sie befreit und ihrem Bräutigam zugeführt. Baruds Bruder Hamd el Amasat ermordete auf dem Schott el Dscherid Omars Vater und ist nun der Blutrache verfallen. Während Kara Ben Nemsi zum einen und seine Gefährten zum anderen eine Zeitlang getrennte Spuren verfolgen, wird Kara Ben Nemsi durch einen freundlichen älteren Rosenzüchter namens Jafiz, den er mit echtem Dschebeli-Tabak erfreut, an den Schmied Schimin als eine mögliche Auskunftsquelle verwiesen. Schimin ist von den Verbrechern inzwischen überfallen und im Keller seines Hauses dem Tode preisgegeben worden; Kara Ben Nemsi rettet ihn in letzter Minute. Bei Schimin gelingt es, einen Boten des Schut, der sich Mosklan und auch Pimosa nennt, abzufangen. Der Schmied kann, entgegen der Vermutung seines Halbbruders Jafiz, dem fremden Reisenden Kara Ben Nemsi kein Sicherheitspapier ausstellen, liefert aber wertvolle andere Hinweise. Kara Ben Nemsi gelangt zu dem Bäcker und Färber Boschak, der heimlich Schmuggel mit Teppichen betreibt und insgeheim auch mit der Schut-Bande paktiert, und wird von Boschak zur Waldhütte des Bettlers Saban geschickt. Dort gerät er in eine beinahe tödliche Falle: Saban und sein Kumpan Murad nehmen Kara Ben Nemsi gefangen und lassen ihn für tot liegen. Der Waffenschmied Deselim, ein Schwager des Schut, Boschak, Saban und andere Bandenmitglieder beratschlagen, was der seltsame Fremde, dessen Waffen ihnen Rätsel aufgeben, gewollt hat. Durch den wagemutigen und zugleich besonnenen Halef wird Kara Ben Nemsi aus schier auswegloser Lage gerettet, büßt aber beinahe seinen Rappen Rih und den Henrystutzen ein, die von Deselim geraubt werden. Bei einer aufregenden Verfolgungsjagd bricht Deselim den Hals. Kara Ben Nemsi bringt Boschak dazu, seinem verbrecherischen Tun abzusagen und seine Tochter Ikbala nicht mit dem Schurken Mosklan - der ein böses Schicksal erleidet -, sondern mit dem braven Sahaf, d. i. Buchhändler, Ali zu verheiraten. Unter mancherlei Abenteuern, in die auch Schimin und Saban noch weiter eingreifen, gelangt Kara Ben Nemsi mit seinen Freunden - denen sich unterwegs vorübergehend noch der sorglos umherziehende Handelsmann-und-Sänger Martin Albani, ein alter Bekannter, anschließt - in die Marktstadt Menlik. Dort kann Kara Ben Nemsi dank der Umsicht einer alten Dienerin, die dem christlichen Glauben angehört, ein wichtiges Gespräch seiner Feinde von einem Taubenschlag aus belauschen. Durch Verschulden Halefs werden beide zur Unzeit entdeckt, können aber entkommen. Die Jagd auf den


//97//

weiterhin flüchtigen Barud el Amasat und seine Kumpane sowie auf den Schut geht weiter.

   Das alles liest sich flott, spannend und unterhaltsam(12) - seinen wahren Wert für den Karl-May-Freund und den Karl-May-Forscher gewinnt es aber durch den inneren Gehalt. Und diesen - mindestens in Teilen - aufzuzeigen, möchte ich versuchen.


V

Kara Ben Nemsi macht im Dunkeln Schimins Haus ausfindig(13), lauscht, vergewissert sich, daß der Hund sich nicht mißliebig nähert, dringt sehr vorsichtig und leise ins Haus ein, verhält sich wachsam gegenüber den von den Hausbewohnern verursachten Geräuschen - - - und May beschreibt damit aus der Erinnerung heraus kein anderes reales Vorkommnis als seinen heimlichen Aufenthalt in der Schmiede bzw. im Hause seines Paten Christian Weißpflog(14) im Mai 1869, wo er allerhand brauchbare Gegenstände wie eine Lampe, eine Geldtasche mit zwei Talern, eine Brieftasche mit eingeheftetem Notizbuch und anderem papierenem Inhalt, sowie ein Viertelpfund Waschseife entwendete oder ggf. erhielt, nachdem er von dem wachgewordenen Paten ertappt worden war und ihn um Stillschweigen gebeten hatte. Das »Diebsgut« wurde von May in einem Kinderwagen fortgeschafft.

   Die Namenswahl »Schimin« mag zufällig sein - aber immerhin steckt in eben dieser Lautzusammenstellung, bezogen auf slawische Sprachen, die deutsche Entsprechung »Kamin«. Das hat einen direkten Bezug zu »Schmiede«.(15)

   Die Funktion des Einbrechers Kara Ben Nemsi wird im Zwange der Erzählhandlung alsbald wieder vertauscht mit der des Retters Kara Ben Nemsi. Aber der begonnene Faden wird weitergesponnen: Der Herumtreiber Karl May taucht auf in dem von Schimin erwähnten »Madi Arnaud« (S. 60), der wenige Tage vor Kara Ben Nemsi bei dem Schmied geweilt hatte. »Madi Arnaud« stellt sich bald darauf (S. 317) als Kara Ben Nemsis alter Bekannter Martin Albani heraus. Da »Arnaud« (= Arnaute) nichts anderes bedeutet als »Albaner« - also Albani -, und da Schimin ausdrücklich von der österreichischen Herkunft des Reisenden, seiner Heimat Triest und seiner Sangeskunst spricht, hätte Kara Ben Nemsi eigentlich sofort den richtigen Schluß ziehen können. Aber hier spielt Karl May mit sich selber Katze und Maus; sein Unterbewußtsein hat offenbar eine Retardierung vorgenommen. In Martin Albani manifestiert sich nämlich der Anfang 1870 als angeblicher


//98//

»A-l-b-i-n W-a-denbach« umherstreunende May; und der Autor mochte sich im Schreibverlauf nicht durch eine vorzeitige Identifizierung mit diesem Gespenst der Vergangenheit unnötig ablenken lassen.(16) Er läßt den Faden bis nach dem Ende der Boschak-Handlung schleifen: Dann trifft Kara Ben Nemsi auf die Spur des Madi Arnaud - und ausgerechnet dieser Madi Arnaud verliert eine Brieftasche mit Notizbuch und mancherlei papierenem Inhalt - und achtzig österreichische Papiert a l e r. Kara Ben Nemsi, Retter der Geschädigten und Verfolger der Rechtsbrecher - beides aus eigener Machtvollkommenheit -, erhält diese Brieftasche unter merkwürdigen Umständen (S.302): Eine Magd wird gepeitscht, weil sie für das Recht des leichtsinnig umherziehenden Madi Arnaud-Albani eintritt; Kara Ben Nemsi befreit sie, zwingt den Dieb zur Herausgabe der gestohlenen Brieftasche - und darf sich gleich darauf wieder einmal vor einem Dorfgewaltigen ausweisen (und diesem imponieren). Für die eigentliche Handlung, die der Ergreifung der Mitglieder der Schut-Bande dient, ist dies alles ganz belanglos; es ist durchweg biographisches Material, das aus dem Wege geräumt werden muß:

   May verknüpft die Erinnerung an das Eindringen beim Schmied Weißpflog (- Rih's Schnauben, S. 43, 44, ist in diesem Lichte als die Stimme des Gewissens zu werten -) und die damals zur Ausbeute gehörende Brieftasche (mit Notizbuch und anderen Papieren) mit der Erinnerung an sein in jungen Jahren erfolgreiches Hervortreten als Sänger, Deklamator und Musiker - eine auch dem Taufpaten wohlbekannte Tatsache. Der Sänger, Deklamator und Musiker Martin Albani verfügt zum Transport seiner Habe über zwei störrische, mehr oder weniger "dahinschaukelnde" Maulesel (S. 321-322) - die passende Abwandlung des seinerzeit von May benutzten Kinderwagens. Und eben dieses Moment spielte auch schon bei der früheren Begegnung Martin Albanis mit Kara Ben Nemsi eine Rolle: In Dschidda, wo die beiden sich kennenlernten, unternahm Albani auf Anraten seines neuen Bekannten einen Kamelritt(17) - und hatte unter den Schaukelbewegungen zu leiden. Den Schaukelbewegungen eines nicht mehr ganz neuen Kinderwagens, der hastig über holprige Wege geschoben wird, mag Karl May lange gegrollt haben.

   Die Brieftasche wird zum Prüfstein der Ehrlichkeit der Magd, mit der Albani eingestandenermaßen schäkerte. Der Magd ist ihre Zuneigung zu dem feschen jungen Mann wichtiger als der gegen sie gerichtete Zorn ihres Dienstherrn. Das ist die direkte Anspielung auf Mays Beziehung zum Dienstmädchen Auguste Gräßler, 1869, für deren Loyalität er sich hier in der Erzählung emphatisch bedankte. Die Prügel, die die


//99//

Magd erhält, stehen an Stelle der sicherlich bohrenden Fragen, denen Auguste Gräßler damals von Seiten der Polizei ausgesetzt war(18), und an Stelle der Vorwürfe ihrer Arbeitgeber hinsichtlich ihrer Verbindung zu dem hergelaufenen Übeltäter.

   In diesem Lichte verliert die in Martin Albanis Brieftasche steckende Karte (Albani: » . . . sehr, sehr liebe Andenken«, S. 324) mit der Aufschrift »Kein Tod kann uns trennen« unter zwei ineinanderverschlungenen Händen (S. 308; und von Kara Ben Nemsi - natürlich - mit feinem Spott zitiert: S. 324) alles Kitschig-Triviale, das ihr dem Augenschein nach anhaftet: sie ist Symbol einer vermutlich sehr leidenschaftlichen Verbindung zwischen Karl May und Auguste Gräßler, die hier noch einmal wachgerufen wird.

   Kara Ben Nemsis großspuriges Auftreten vor dem kleinen mickrigen Dorfschulzen, dem er nacheinander drei wunderschöne Ausweise vorlegt, darunter auch den großherrlichen Ferman (S. 307), ist ein treffliches Zerrbild der bitterernsten Posse, die Karl May im Januar 1870 aufführte, als er sich als Pflanzer Albin Wadenbach ausgab und großartige Briefe an mehrere angebliche Zeugen, darunter auch an ein Bankhaus, schrieb, um seine Angaben scheinbar zu untermauern.(19) Diese Übertragung der Albin-Wadenbach-Rolle auf Kara Ben Nemsi entspricht dem Wunsche des Autors, den ihm damals entgangenen Triumph nun nachträglich wenigstens in der Phantasie seines erträumten »Ich« einzuheimsen. Die negativen Aspekte werden auf Albani abgedrängt, dessen May sich alsbald entledigt: Noch bevor die Reisegefährten in Menlik getrennte Quartiere beziehen (S.347), erfahren wir vom Autor (S. 330), daß Martin Albani bald nach der Rückkehr von seiner Balkanreise ertrunken ist. Damit war wieder einmal ein Teil-Ich, ein Stück böser May versunken. »Albin Wadenbach« hatte, nach Mays Flucht durch das Erzgebirge und die böhmischen Wälder (Böhmen gehörte damals zu Österreich, und Martin Albani ist Österreicher), kein langes Dasein gefristet; er war - wenngleich nicht sang- und klanglos - untergegangen, dieser angebliche Pflanzer von der Insel Martinique, die sich im Namen Martin Albani wiederfindet.

   Das Zusammensein Kara Ben Nemsis mit Martin Albani im Balkan dauert also nicht lange - ebensowenig wie seinerzeit das in Dschidda, wo May den in lustiges Gewand gekleideten Schatten Albin Wadenbachs ganz unvermittelt rasch wieder ins Abseits geschoben hatte, vielleicht weil die Zeit für ihn noch nicht reif war. Albani verschwindet in der Wüste vor Mekka aus der Erzählhandlung, nachdem Kara Ben Nemsi dort der Amazone (May)(20), der Tochter Scheik Maleks von den Ateibeh, und ihrer Tochter Hanneh begegnet ist. An Hanneh findet


//100//

Halef - Mays "niederes" Ich - Gefallen, und die Mutter, die Amazone, macht Kara Ben Nemsi unverhüllt Avancen. Martin Albani aber ist beiden gleichgültig. Innerhalb vielerlei anderer Konnotationen, die hier mitschwingen und im Reigen der biographischen Spiegelungen u. a. auch Karl Mays »erste Liebe«, d. h. seine Beziehung zu Anna Preßler(21), aber auch sein Werben um Emma Pollmer spiegeln(22), stechen in der Amazone und in Hanneh die Wirtschafterin Malwine Wadenbach und ihre Tochter (Alwine? Alma?) hervor, die lange Zeit in innigen Beziehungen zu Karl May gestanden hatten(23) und deren Name später in dem angeblichen Neffen Albin, dem Pflanzer aus Martinique, Blüten trieb. Daß May nach jenem Zusammentreffen in der Wüste Martin Albani aus dem Blickfeld treten läßt, wird in diesem Zusammenhang dann erklärlich, wenn man ihm die Erinnerung zugutehält, die das Ende seines Verhältnisses zu Malwine Wadenbach überschattet: Die rüstige Fünfzigerin, fern davon, sich wegen des polizeilich gesuchten Karl May in ein Gerichtsverfahren verstricken zu lassen, rührte im Januar/ Februar 1870 keinen Finger für den einstigen Geliebten; sie stand, ungeachtet ihrer zwei nicht-ehelich geborenen Kinder, vor einer aussichtsreichen Heirat und schottete die Vergangenheit ab.(24) So ließ May bei der Niederschrift der Ereignisse in und um Dschidda und Mekka den lose aufgegriffenen Erinnerungsstrang Albin Wadenbach alias Martin Albani fallen und nahm ihn dann Jahre später, in der Balkanerzählung, wieder auf(25) und zwar in viel versöhnlicherem Licht, was Malwine Wadenbach anbelangt. Die einstige Wirtschafterin tritt dem Leser, in Überblendung mit Auguste Gräßler, in der um Albanis willen geprügelten Magd entgegen, ersteht aber auch noch in zwei anderen Frauengestalten, die bald darauf in der Erzählung Einzug halten und für Kara Ben Nemsi bedeutungsvoll sind: zwei Christinnen.

   Dabei ist die dramatische Umkleidung der einzelnen Begebenheiten von Belang. So wie dem Auftauchen Martin Albanis in Dschidda wie im Balkan jeweils etwas Spektakuläres anhaftet und wie das unrühmliche Ende dieses Beklagenswerten sich unter dramatischen Umständen vollzieht, indem er im Meer ertrinkt, so entspricht dies präzis dem von Karl May sozusagen unter Theaterdonner inszenierten Entstehen der Albin-Wadenbach-Mär, und der Autor unterläßt es nicht, in direkter zeitlicher und örtlicher Verknüpfung der Geschehnisse in der Balkanerzählung darauf hinzuweisen, obschon in umgekehrter Reihenfolge (wie wir das ja oft bei ihm erleben) und unter Übertragung der Wadenbach-Identität auf Kara Ben Nemsi, weil es wieder einmal, wie beim Vorzeigen des Ferman, eine bedrohliche Lage in einen Triumph umzuwandeln gilt:


//101//

   In Menlik ist es, kurz nachdem der Autor von Martin Albanis Tod berichtet hat, wo Kara Ben Nemsi im Taubenschlag auf dem Dachboden unsicheren Unterschlupf nimmt (S. 371ff.), um sich über seinen weiteren Reiseweg und über die Absichten seiner Gegner klar zu werden, und wo seine Umsicht einmal wieder einen Stoß erleidet durch Halefs Unvorsichtigkeit. Halef gebärdet sich wie ein Possenreißer, imitiert eine Katze, scheint Erfolg zu haben - aber der Dachboden hält nicht, was er zu versprechen schien: Das Duo wird unter aufsehenerregenden Umständen entdeckt. So schildert Karl May in dramatisch aufgeputzter Form seine Zuflucht auf dem Dachboden eines Hauses in Niederalgersdorf in der Nacht vom 3. zum 4. Januar 1870, wo er am Morgen des 4. aufgegriffen wurde - und wo er sich flugs als Albin Wadenbach ausgab: Der geistig Wendige war abermals einer lockenden Versuchung des niederen Ich erlegen. Entgegen der damaligen Festnahme des erschöpften Karl May durch die Polizei schlägt in der Erzählung Kara Ben Nemsi samt Halef, dem Vielseitigen, den Feinden in Menlik natürlich ein Schnippchen und entkommt.

   Das Versteck auf dem Dachboden, im Taubenschlag, verdankt Kara Ben Nemsi einer alten Christin, die bei einem Mitglied der Schut-Bande in Menlik in Dienst steht. Sie hat sich ihres Glaubensbruders hilfreich angenommen und ist sogar für ihn zu spionieren bereit. Heimlich geleitet sie Kara Ben Nemsi auf den Dachboden - - und genau dies ist geeignet, darauf hinzudeuten, daß der hell-und-dunkel aus der Erinnerung des Autors hochschwimmende Schatten Malwine Wadenbachs Gestalt angenommen hat in jener alten christlichen Dienerin; denn im Besinnen auf frühere schöne Stunden mit Malwine gebar May auf dem Dachboden in Niederalgersdorf den spektakulären Einfall, die Eulenspiegelei Albin Wadenbach in breitester Ausführlichkeit und mit allem schmückendem Beiwerk zu offerieren. Ob May damals wirklich darauf spekulierte, Malwine Wadenbach werde ihn in seinem Identitätsschwindel decken, wird sich nie klären lassen. Er gab jedenfalls vor der Polizei an, Malwine Wadenbach sei seine Tante. In dem Menlik-Abenteuer als einer späten literarischen Umsetzung dieser alten Flunkerei findet sich hierzu und zu dem Namen Wadenbach wie auch zu der zwiespältigen Rolle, die »Tante« Malwine in Mays Leben gespielt hatte, ein verblüffender Bezug, wenn ich einmal etwas kühn assoziieren darf:

   Halef nennt jene hilfswillige christliche Dienerin wohlwollend »Diese alte, gute Ranunkel!« (S. 361) und will ihr sogar von seinem Silbergeld eine Belohnung zukommen lassen; er zieht es dann allerdings vor, daß diese aus Kara Ben Nemsis Goldmünzen genommen oder auf andere Weise abgestattet wird. Die Ranunkel, volkstümlich Hahnenfuß


//102//

genannt, ist eine weit verbreitete Wasser-, Wiesen- und Feldpflanze. Die häufig vorkommende Wasser-Ranunkel findet sich in fließenden, stehenden und sumpfigen Gewässern; um sie zu pflücken, muß man stellenweise in einen Bach »waten« (sächsisch sprich: waden). So wären dann »Waden« und »Bach« klar repräsentiert. Die Pflanze enthält einen mehr oder minder giftigen Saft - was sinnbildlich mit dem nicht immer sanften Verhalten des Weibes schlechthin in Verbindung zu bringen ist: als »Giftspritze« werden Frauen gern dann bezeichnet, wenn sie Abwertendes, für andere Ungünstiges, Belastendes sagen. Eine Anspielung? Zweifellos. Umgangssprachlich hat »Ranunkel« auch die - zärtlich oder herabsetzend gebrauchte - Bedeutung »Tante« im Sinne einer älteren Frauensperson: ein aufschlußreicher Hinweis auf eine im Schreibprozeß wirksame seelische Unterströmung. Die geplante Belohnung »in Silbergeld« spielt, wie der in der Ranunkel enthaltene giftige Saft, insofern auf das Judas-Motiv an, als May sich von Malwine Wadenbach hintergangen gefühlt haben mag. Zu einer Belohnung in Gold kommt es nicht: was immer Karl May in den Zeiten der engen Beziehung zu Malwine an materiellen Gunstbezeigungen aufgebracht haben mag, so sträubt er sich doch im nachhinein, hier noch einmal in die alte - unangebrachte? - Großzügigkeit zu verfallen. Stattdessen erhält die Dienerin in Menlik einen Rosenkranz (S. 368). Das ist sowohl erzähltechnisch bedingt und mit Rücksicht auf die Leser des "Deutschen Hausschatz", die die Balkanerzählung als erste zu Gesicht bekamen, so ausgemalt, als auch das Kennzeichen der christlichen Vergebung, die May in Gedanken gegenüber der alten Bekannten walten ließ. Er ist ja überhaupt auf »Versöhnung im Geiste« eingestellt. Deshalb erlaubt er der »Alten« auch, ihm »dienlich« zu sein - womit die wahren Verhältnisse immerhin teilweise umgedreht werden. Nur darf die dem Helden so nützliche »Ranunkel« natürlich nicht ihm gleichwertig sein, sondern muß eine Dienerstellung einnehmen. Nicht von ungefähr ist es ja auch der auf "niedrigerer Stufe" als Kara Ben Nemsi stehende Halef, der sie alte und gute Ranunkel nennt. Und Christin muß sie sein, damit Karl May die negativen Aspekte der Erinnerung an Malwine Wadenbach einhüllen kann in den verklärenden Mantel: Sie war trotz allem ein Schatz.

   Dieses Motiv christlicher Demut findet sich übersteigert angewandt in der Übertragung der Verklärungs-Intentionen des Autors auf die zweite Frauengestalt, mit der Karl May sich zwischen Ismilan und Menlik beschäftigt und die sehr eng mit der alten christlichen Dienerin verbunden ist: Hara, Frau eines Hauptmanns bei Barukin, die sich heimlich einen Christusaltar gebaut hat und dort aus dem Leben scheidet


//103//

(S. 337-338). Die »alte, gute Ranunkel« in Menlik stand früher bei dieser Hara in Dienst. Das Intermezzo bei Barukin gibt dem Christenmenschen Kara Ben Nemsi Gelegenheit, missionarisch zu wirken, und im Hinblick auf die Lesergemeinde des "Deutschen Hausschatz" ist dies auch legitim, doch für den Gang der auf Dingfestmachen der Schut-Bande abzielenden Handlung ist es völlig belanglos - so belanglos wie der ganze Martin-Albani-Strang und das Geplänkel um dessen Schatten. Die Bedeutung des Intermezzos liegt darin, daß beim Auffinden der toten Christin Martin Albani noch zur Reisegruppe Kara Ben Nemsis gehört und der Autor gerade vorher Albanis baldigen Tod angekündigt hat. Mit dieser Vision vom Ende des Albin Wadenbach rührt der tief in der Autorenseele verborgene Lenkungsmechanismus an die Frage nach dem Schicksal des zu Albin Wadenbach gehörenden weiblichen Gegenparts - - und so entsteht eine bemerkenswerte Szenenfolge, geformt vom Intellekt - einem in sich naiven Intellekt -, im Wesensgehalt aber der Zensur durch das Bewußtsein völlig entzogen. Die geschilderten Ereignisse, wie sie dem unbefangenen Leser vor Augen treten, haben mit den insgeheim wirksamen Vorstellungen des Autors nur eine bildhafte Wurzel gemeinsam. Nur aus dem innerlichen Ablauf läßt sich ablesen, daß Karl May hier den Schwanengesang mit Blickrichtung Malwine Wadenbach einleitet, dessen Finale das Zusammenkrachen des Dachbodens in Menlik bildet.

   Die autobiographische Verschleierung ist hier sehr dicht; die Anhaltspunkte gerieren sich fast wie Elmsfeuer, kaum greifbar; aber angesichts der bisher gesammelten reichen Erfahrungen mit May-»Bildern« erscheint es nicht eigentlich kühn, den romantisch-tragischen Mantel um duldensreiches Leben und entsagungsvollen Tod der Hauptmannsfrau lediglich als Tarnmantel zu sehen: Tarnung für Mays Auseinandersetzung mit einem früheren Liebesverhältnis, das ihn innerlich stark beschäftigt, ihn vielleicht sogar zu riskanten Handlungen verleitet(26) hatte. Das romantische Umhängsel dient dazu, eine vormalige Zweierbeziehung in verklärendem Lichte zu sehen und zugleich der Versuchung zu wehren, den früheren Zauber noch einmal aufleben zu lassen. Karl May erreichte diesen Zweck schlicht damit, indem er beide an der Beziehung Beteiligten aus dem Leben treten ließ.

   Der männliche Partner, Martin Albani alias Albin Wadenbach, ertrinkt. Und Partnerin Malwine wird auf dem Altar der Vergebung aller Sünden geopfert - in Gestalt einer attraktiven jungen Frau. Die Tote in der Erzählung ist ungefähr Mitte der Dreißig - etwa zehn Jahre jünger, als Malwine (geboren 1819) zur Zeit des ersten Zusammentreffens mit Karl May, 1863 oder 1864, zählte. Einem anziehenden weiblichen We-


//104//

sen,[Wesen] das im Alter von 51 Jahren einen 39 Jahre alten Mann ehelicht, ist es wohl zuzutrauen, mit Mitte Vierzig noch schmuck und rassig wie Mitte Dreißig auszuschauen - und dies zunächst erfolgreich bei einem verliebten Burschen von 22 Jahren ins Spiel zu bringen und das wahre Alter eine Zeitlang zu vertuschen. Sie so in Erinnerung zu behalten, wie sie damals war, und alles Störende, Beunruhigende in Gedanken auszuschalten, ist ein verständliches Katharsismoment. Die Tote hinterläßt zwei unmündige Kinder - eine Parallele zu Malwine Wadenbachs beiden (unehelichen) Kindern, die jedoch zugunsten eines anderen, übergeordueten Bildes zurücktritt: Der junge May war nicht nur Malwine zugetan, sondern auch deren Tochter (Alma?), und litt möglicherweise deswegen seinerzeit an Gewissensbissen; diese galt es, zusammen mit den übrigen lästigen Erinnerungen, loszuwerden. May sieht Mutter und Tochter im Balkan in einer Person: eine Liebe mußte um der anderen willen aufgegeben werden - und am Ende verlor May beide. Der der toten jungen Frau gegebene Name Hara ruft wegen der Vokallaute die Assoziation Alma hervor.

   Über Malwine Wadenbachs Tochter liegen uns keine näheren Angaben vor. Es ist jedoch, wie einiges Nachrechnen ergibt, wenig wahrscheinlich, daß die für die Tote gewählte Altersangabe vielleicht in der Mitte der Dreißig sich auf irgendeinen Zeitpunkt der Bekanntschaft dieser Tochter mit May bezieht. Selbst die Zeit der Niederschrift der Erzählung (1885) scheidet insoweit aus, denn da dürfte Malwines Tochter schon um etliches älter gewesen sein. Mit Blick auf Malwine allerdings ergibt sich aus Mays Formulierung vielleicht in der Mitte der Dreißig noch eine interessante Beobachtung: Als Malwine Wadenbach, die vom Lebensalter her die Mutter Karl Mays hätte sein können(27), sich der Mitte der Dreißig  n ä h e r t e, nämlich 1853, war der Knabe Karl May gerade 11 Jahre alt.- so alt wie der ältere Sohn der toten Christin in der Erzählung (S. 346), der den Verlust der Mutter sehr wohl zu begreifen vermag (ebd.).

   Mit der innerlich getroffenen Entscheidung, Malwine als attraktive und im äußeren Erscheinungsbild junge Frau in der Erinnerung zu bewahren und sie ins Totenreich zu verbannen, ist das Problem jedoch noch nicht bewältigt. Immerhin ist eine Dankesschuld abzustatten an die frühere Geliebte - und auch ihre Abwendung vom angeblichen Neffen Albin Wadenbach ist noch zu überwinden. Und wieder bewährt sich hier für Karl May das Mittel der Überblendung, das ganz unauffällig eingesetzt wird. Die Tote war Frau eines Hauptmanns, der in einem gutsähnlichen Anwesen wohnt und Menschen beschäftigt, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihm stehen: Malwines Vater war »Oekono-


//105//

miehauptmann«;[Oekonomiehauptmann ]sie selber stand zeitweise bei einem Rittergutsbesitzer in Dienst. Sie wechselte die Stellung - so wie das in der Erzählung Haras Vertraute, die alte Dienerin, tut. Hier waltet ein Verschmelzungsprozeß, der Identitäten auflöst und vereint, dem persönlichen Anliegen des Autors nach Entlastung von drückenden Erinnerungsbildern, unter betonter Hinwendung zum Erflehen göttlicher Gnade, gerecht wird und durch eben diese Erzählweise der Leserschaft des "Deutschen Hausschatz" den Autor als einen von Gott begünstigten Heilsbringer, innerhalb einer im ganzen durchaus glaubwürdigen Abenteuerkette nach d'Artagnan'schem Muster, präsentiert; und im gleichen Prozeß faßt Karl May auch wieder Tritt, was die Anforderungen der äußeren Handlung betrifft: die Schut-Bande rückt endlich wieder in den Vordergrund. Das alles vollzieht sich, indem Haras Dienerin erscheint:

   Herrin und Dienerin sind Eins: in ihrem Glauben an Christus als Erlöser. Ihrer beider Christusverehrung haftet etwas Schwärmerisches an. Religiöse Schwärmerei aber ist bei manchen Menschen unerkannt bleibende Maskerade für unerfüllt gebliebene Sehnsucht nach sehr irdischer Liebe. Das fügt sich nahtlos ein in die auf dem Papier vorgenommene Preisgabe des Liebesverhältnisses, das Mutter Malwine Wadenbach und ihre Tochter zu May unterhielten. Wegen des etwas Anrüchigen in der Realität wird es in der Erzählung besonders stilvoll verpackt; und in der literarischen Verarbeitung sind die Frauen die Leidenden, während dem damals im Stich gelassenen Mann (May) in Kara Ben Nemsi die Rolle des Überlegenen zugeteilt wird. Ihm, dem Helden, dem die Mächte des Hellen wohlwollen, erscheint auch in Menlik(28), wo das Unheil neue Schatten wirft, sogleich Hilfe: Die soeben verstorbene »Malwine« kommt höchst lebendig noch einmal als diensteifriges Faktotum und »alte, gute Ranunkel« zum Vorschein, damit Kara Ben Nemsi auf den Dachboden kriechen und dort sinnreiche Betrachtungen anstellen kann. Wie selbstverständlich bezeichnet die angejahrte Frau Kara Ben Nemsi und sich als »Bruder« und »Schwester«: da sich das auf den christlichen Glauben beider bezieht, fällt es nicht auf; doch es ist nur ein anderer Anstrich für »Neffe« und »Tante«. Die Funktion der Ranunkel als Dienerin ausgerechnet beim Früchtehändler Glawa in Menlik, einem Bandenmitglied, ist nicht ohne Beigeschmack, weil Malwine Wadenbach im Februar 1870, während Karl May in Polizeigewahrsam saß, einen Sirupfabrikanten heiratete; dieser kann auf May, sofern er von ihm wußte, kaum gut zu sprechen gewesen sein. Als Lohn für ihre Mühe um Kara Ben Nemsi erhält die Dienerin einen Rosenkranz - der Symbolcharakter im Sinne des Bittenden,


//106//

Verzeihenden, Erlösenden ist nicht zu übersehen. Der Rosenkranz nimmt auch die Stelle des Myrtenkranzes ein, zu dem es bei Karl May für Mutter Malwine oder deren Tochter nicht gereicht hat.

   So entledigt sich Karl May seiner Malwine sowohl mit einigen kleinen Bosheiten wie mit Anstand - und ist wie Kara Ben Nemsi wieder frei für neue Unternehmungen. Und so hat er die Begebenheiten beim Schmied Weißpflog im Mai 1869 mit der eben um diese Zeit endenden Liebesbeziehung zu Auguste Gräßler samt der zu Anfang 1870 den Behörden präsentierten Albin-Wadenbach-Figur und deren Hintergrunds-Bezug spielerisch in einen Erzählrahmen verknüpft. Das ungewöhnliche seelische Potential zur Umsetzung drückenden Erinnerungsmaterials hat aber nicht allein hierin gewirkt; es ist, vielfältig und bewundernswert, auch in den anderen Strängen derselben Erzählung eindrucksvoll kenntlich.


VI

Mit einem weiteren Faden erzählt Karl May von Schimins Schmiede aus die einmal angeleuchteten Ereignisse von 1869 in anderer Farbe: Der Retter Kara Ben Nemsi kann nicht auch zugleich der freche Eindringling bleiben, der Missetaten im Schilde fahrt. Diese Funktion fällt ganz von selber dem Schurken zu, den Kara Ben Nemsi und Schimin erwarten: Mosklan alias Pimosa. Das sind zwei merkwürdige Namen.(29) Dieser Mann, der es so eilig hat, trägt einen kleinen hellen Schnurrbart (S. 72) und spricht unverfälscht Walachisch (S. 74, 79). In der von der Polizei im Juni 1869 verbreiteten Beschreibung des flüchtigen Straftäters Karl May - er hatte es sehr eilig, wegzukommen - heißt es »kleines dunkles Schnurrbärtchen« und »Sprache: Dialekt der Glauchauer Gegend«.(30) Die dichterische Freiheit Karl Mays, ein dunkles Bärtchen zu einem hellen zu machen, wollen wir ihm nicht verargen; bei »Walachei« hält er sich eng genug an »Glauchau«. Diesem Mosklan-Pimosa eröffnet Schimin der Schmied (der ein weiches Gemüt besaß, S. 82) nun ganz gemütlich, daß er, Schimin, »nur gegen ehrliche Leute freundlich« sei (S. 73) - aber von Auslieferung an die Polizei ist nicht die Rede. Das ist ganz das murrend-nachsichtige Gebaren des Taufpaten gegenüber dem Patenkind, das sich zum flüchtigen Verbrecher gemausert hat. Eben die nachsichtige Haltung Weißpflogs damals war auch ausschlaggebend dafür, daß Karl May im Schreibprozeß dem positiven Helden Kara Ben Nemsi kurzzeitig die Rolle des Einbrechers zuweisen konnte:  E r  tut ja in der Schmiede nichts Böses;  e r  hat von Schimin/Weißpflog


//107//

nichts zu befürchten; er ist ja Karl. Unter dem Aspekt des von Weißpflog bezeigten Verhaltens ist es auch erklärlich, daß Schimin es ist, der den umherziehenden Madi Arnaud erwähnt (S. 60): Dem Paten war es sicherlich seinerzeit schmerzlich, zu erfahren, der von ihm geschonte Karl May sei als streunender Luftikus »Albin Wadenbach« aufgegriffen worden. Dem vom Autor klar als Verbrecher eingestuften Mosklan gegenüber darf Schimin dann im Verlauf der Handlung weit weniger rücksichtsvoll sein. Zunächst sperrt er Mosklan in seinen Keller ein, wo er den Blicken der Umwelt entzogen ist - das entspricht, drastisch zurechtgebogen, der Unterstützung Weißpflogs bei Karl Mays Entkommen in die »Eisenhöhle«. Freilich fordert die Erzählhandlung, daß Mosklan den Keller nicht freiwillig betritt, sondern - als Gefolgsmann des Schut - auf Geheiß Kara Ben Nemsis gefangengehalten wird.(31) Als Mosklan sich, infolge Unaufmerksamkeit des Bewachers, befreien kann(32) und zu Pferde flieht (S.250), darf Schimin nicht die Hände in den Schoß legen: er muß sich rühren; er »rannte nach dem Dorfe« (S. 250). Und gerade so mußte Weißpflog sich damals bequemen, Anzeige zu erstatten; es war ihm unangenehm genug.(33)

   Die auf Mosklan/May zutreffenden Merkmale des Schnurrbärtchen und der walachischen/glauchanischen Sprache beziehen sich auf den Pferdedieb von Bräunsdorf (Anfang Juni 1869).(34) Nun ist Mosklan zwar kein Pferde d i e b, aber immerhin ein Pferdehändler (Roßkamm, S. 91). Er hat sein »Geschäft aufgegeben, um seine ganze Zeit dem Geheimbunde widmen zu können« (S. 91), und es verlautbart, daß er »selten zu Hause sei und sich stets unterwegs befinde« (S. 92). Also May, der nicht mehr ordentlich arbeitete, sondern sich illegaler Heimlichkeiten schuldig machte und im Lande umherzog.

   Der Pferde d i e b  taucht alsbald aber ebenfalls auf: Deselim, der Waffenschmied aus Ismilan und verschwägert mit dem Schut. - Der heimlichen Spur des E-m-i-l, die in Deselim steckt, soll noch nachgegangen werden. - Schon M-e-i in Deselim und M-a-i in Ismilan sprechen für sich. Deselim, dem Kenntnis von Waffen zuzutrauen wäre, beweist seine geringe Qualifikation durch völliges Unverständnis gegenüber Kara Ben Nemsis Gewehren (S. 190) - ein verschämter Hinweis Mays auf seine eigene langanhaltende Unreife auch auf Gebieten, mit denen er sich intensiv beschäftigte, und auf seine Entfremdung von seinem eigentlichen Metier, der Reiseerzählung, durch die Tätigkeit als Autor von Kolportageromanen für Münchmeyer.

   Deselim raubt den Henrystutzen, nachdem ihm aufgedämmert ist, welcher Wert darin steckt (S. 203): Unbewußtes Eingeständnis Mays, daß er zeitweise durch skrupelloses Kopieren der Erfolgsmuster ande-


//108//

rer[anderer] Unterhaltungs- oder Reiseschriftsteller oder gar durch handfestes Plagiieren (z. B. Gerstäckers)(35) unverdientermaßen Ansehen erwerben wollte. Dieses Motiv fließt aber sofort zusammen mit dem Pferdediebstahl: Deselim jagt auf Rih davon (S. 203), wird verfolgt - und bricht sich den Hals (S. 211). Damit hat May die Erinnerung an den Pferdediebstahl vom Juni 1869 bis auf weiteres getilgt: den Schuldigen gibt es nicht mehr. Auch der literarische Dieb und Imitator Karl May ist ausgelöscht; der Schriftsteller Karl May beschreitet - und verfolgt - nur noch eigene Wege. Ein für allemal tot ist auch der in seiner Vorstellungswelt zeitweise verwirrte Karl May, der von einer Hinwendung zu Räuberhauptleuten das Heil ersehnt hatte ("Mein Leben und Streben", S. 79). Und indem mit Deselims Tod auch sein Nimbus als Schwager des geheimnisvollen Bandenchefs endet, zerstiebt jede Seifenblase, die irgendwann, um 1869, Karl May in Verbindung brachte mit wirklichen Verbrechern ähnlichen oder gleichklingenden Namens: May fühlt diese Last von sich genommen.(36)

   Den Bösewicht Mosklan-Pimosa aber wird er los, indem er Kara Ben Nemsi dessen Gesicht - wenn auch unabsichtlich - zerschmettern läßt (S. 246): Symbol für die Auslöschung einer fehlerhaften Identität.

   Das geschieht unter dramatischen Umständen. Der von Schimin entflohene Mosklan stürmt auf Kara Ben Nemsi ein, der gerade der lebensbedrohlichen Gefangenschaft in Sabans Hütte entronnen ist, und brüllt:

» - verfluchter Schurke, hier!« Diese Worte brüllte er mir entgegen; ich sah ein Pistol in seiner Hand. (S. 246)

Das hat seine Parallele in einem anderen Ereignis des Jahres 1869: »Er hielt mir aber sogleich, als ich ihm nahe war, ein doppelläufiges Terzerol entgegen und schrie mir zu: "Luder, verfolg mich nicht oder du bist des Todes!"« So beschrieb der Seilermeister Krause seine aufregende Begegnung mit Karl May im April 1869.(37) Karl May setzte sie häufig um in seinem Erzählwerk - natürlich zugunsten des Ich-Helden, nicht zu dessen Schaden. So auch hier im Balkan, wo er die gleiche Szene kurz darauf noch einmal ablaufen läßt - diesmal mit dem schuftigen Saban, der sich der (erneuten) Festnahme durch Kara Ben Nemsi widersetzt:

» . . . Da werde ich mich verteidigen. Fahre zur Hölle!« Er erhob den Arm gegen mich . . . Der Schuß blitzte auf . . . Es stellte sich heraus, daß er zwei Pistolen gehabt hatte - (S. 287, 288)

Da entledigt sich May also im Geiste des Doppelterzerols, mit dem er Verfolger und Bedränger einzuschüchtern suchte. Es konnte ihm nie


//109//

nachgewiesen werden, ob es geladen war. Die Verbrecher in der Erzählung führen natürlich geladene Pistolen bei sich.

   Saban zeigt sich, empfindlich verletzt als Ergebnis eines Kampfes mit Schimin, noch einmal in Menlik (S. 375), wo er mit anderen Gefolgsleuten des Schut beratschlagt und vom Taubenschlag aus von Kara Ben Nemsi (und Halef) belauscht wird. Dann verliert sich seine Spur. Seine Funktion als heimtückischer Bettler geht fast nahtlos an Busra alias Mübarek über, der dem Helden immer wieder böse Fallen stellt(38), in dessen sonderbarer Maskerade sich Karl Mays eigene Verkleidungskünste zur Zeit seiner diversen Betrugsdelikte spiegeln und der mit seiner Vorgabe, nicht nur in der Heilkunst bewandert, sondern sogar ein Heiliger zu sein, den »Dr. med. Heilig« von damals recht makaber porträtiert.

   In Menlik begegnet der Leser zwei weiteren Mitgliedern der Schutbande, die sich zunächst still verhalten (S. 375), später im Konak von Dabila dann aber um so mehr reden. Der eine von ihnen trägt einen Heiduckenczakan (S. 458) und wird als der Besitzer des Beiles bezeichnet. Der Ich-Erzähler äußert Respekt über das Beil als Waffe und konstatiert: Ich dachte nicht, daß ich in kürzester Zeit sogar ein Ziel derselben bilden würde. (S. 458) Damit beginnt Karl May im Rahmen der Balkan-Erzählung die Befreiung von dem ihm einstmals anhaftenden Odium, mit einem Beil bewaffnet gewesen zu sein.(39) Das Motiv setzt sich über den Angriff des Miriditen(40) und Kara Ben Nemsis Übungswürfe(41) bis zur Erbeutung von Beilen (Czakanen) in Scharkas Hütte(42) fort.

   So zeigt sich ein sehr interessantes und komplexes Webmuster, das Karl May beim Abbau des »strukturell vordeterminierten Innen-Materials«(43) verwendet. Er verteilt seine vormaligen Missetaten auf mehrere Schurken, die aber hier im Balkan zu ein und derselben Lumpenbande gehören und die May daher mühelos in äußere und innere Beziehung zueinander setzen kann. Dadurch wird seine eigene Schuld geringer: es war nicht immer der nämliche Karl May, der all diese Delikte beging es waren mehrere Spalt-Mays. Und zur weiteren Abschwächung wirft er, wie dargelegt, einen Teil der Last auf den zwar liebenswerten, aber nicht sonderlich charakterstarken Bruder Leichtfuß Martin Albani, dem man leicht verzeiht - zumal der arme Mensch ein so frühes Ende nimmt. Die brillante Erzähltechnik Mays verdeckt sehr gut die "integrierende Verbindung" der einzelnen Bruchstücke: Nicht nur ist der Wechsel in der inneren Funktion des Ich-Erzählers nicht immer auf den ersten Blick erkennbar; auch das Verweben von ursprünglich nicht zusammengehörenden Einzelteilen einerseits und die Trennung vordem


//110//

zusammenhängender Partikel anderseits wird so hintergründig-geschickt vorgenommen, daß gerade daraus das harmonische Ganze erwächst, dem Realtitätsanspruch Genüge getan wird und dem allein auf die äußere Handlung fixierten gläubigen Leser sich der Eindruck vermittelt: Ja, so, genau so muß es sich abgespielt haben. - Und so war es auch. Nur eben ganz anders.


VII

Halten wir fest: Karl May erzählt, im Abenteuergewande, wahres Erleben auf mehreren, einander durchdringenden Betrachtungsebenen und unter mehreren, einander tragenden Betrachtungswinkeln. Ein und dasselbe Ereignis nimmt vielerlei Gestalt an, und viele verschiedene Ereignisse bündeln sich in ein und derselben Erscheinungsform. All die bisher aufgezeigten Bilder der Erinnerung an strafbare Handlungen - also an Karl May als »Wolf«, der andere zu düpieren oder zu schädigen suchte - sind nur  e i n e  Ebene innerhalb der Vielbödigkeit der Kernhandlung, welche sie durchziehen und umgeben und um die es hier geht: Die Episode um Boschak und den Sahaf Ali. Hierin nämlich spiegeln sich, sobald man die Betrachtungsebene ein wenig verändert, schlaglichtartig Ausschnitte aus Mays zweimaliger Tätigkeit für Münchmeyer (1875 bis Anfang 1877 und erneut ab Oktober 1882) sowie Ausschnitte aus der Affäre Stollberg. Dabei wird die Chronologie bunt gemischt, und Personen und Ereignisse fließen so ineinander, wie die äußere abenteuerliche Erzählhandlung es erfordert. Dieser äußere Handlungsverlauf aber entspringt eben aus der Situation, in der Karl May sich während der Niederschrift befindet: Hin- und hergezerrt zwischen den Verlagsunternehmen Pustet (Deutscher Hausschatz) und H. G. Münchmeyer. Und dazu Ehemann der ungeniert mit Münchmeyer poussierenden und mit Münchmeyers Ehefrau Panline intimen Umgang pflegenden Emma.(44)

   Während die Umsetzung der wildbewegten inneren Bilder stellenweise die unmittelbare Identifizierung zuläßt, geradezu aufdrängt, vollzieht sie sich in Teilbereichen so wahrhaft »allegorisch«, daß Mays Psyche - und Psychogenese - sich wieder einmal als exemplarische Studienobjekte herausstellen. Beim Ersinnen der Handlungskonstellation, das Zusammentreffen Kara Ben Nemsis mit Schimin der Boschak-Episode voranzustellen und dem Abschluß dieser Episode ein nächtliches Gespräch dieser beiden, im Dahinreiten, folgen zu lassen, bewegte Karl May sich offenbar in einer Grenzregion des psychisch ge-


//111//

steuerten[gesteuerten] Gestaltungsvermögens: Die vom Unterbewußtsein vorgenommenen und in der Handlungsführung vorangetriebenen Spiegelungen entstammen unterschiedlichen Ebenen; manche, weil besonders grell, greifen in das Bewußtsein über, werden erkannt und in Verschleierung verwendet oder werden - scheinbar - beiseitegeschoben, setzen sich aber doch ganz eigenwillig durch und nehmen heimlich beziehungsreiche Gestalt an; vieles aus undurchsichtigen Strömungen Gespeistes erschließt sich dem Bewußtsein des Autors nicht - und hat dennoch innerhalb des Ganzen genau den ihm zukommenden Platz. Die Integration erfolgt viel unauffälliger, als eine vom Intellekt überwachte Kompositionstechnik das vermöchte. Wohl unterwerfen die vielerlei differenzierten seelischen Strömungen sich willig dem Regulativ, das in den geistigen Kräften des Autors wirkt, jedoch - überspitzt formuliert - der konstruktive Verstand arbeitet bei Karl May auf Kosten der klügelnden Vernunft. Bei der Analyse der Erzählungen und beim Abtragen der Deckschichten dürfen daher keineswegs immer gleichartige Gesetzmäßigkeiten vorausgesetzt werden - weder hinsichtlich der Bahnen, in denen Geist und Psyche des Autors sich bewegten, noch hinsichtlich der Unfehlbarkeit des Analysierenden, diese Bahnen zu erkennen. Was sich aber, jenseits des leicht Faßbaren, der Analyse erschließt, gewährt überraschende Einsichten. Dies gilt vornehmlich für das rein Bildhafte des Schimin-Handlungsstranges, das, abgelöst von der Erinnerung an das Weißpflog-Motiv und doch von hier weiterentwickelt, die Boschak-Episode umgibt. Bevor aber dies im einzelnen dargelegt wird, erscheint es um des besseren Verständnisses willen und zum erläuternden Eindringen in den Spiegelungsprozeß bei May angebracht, zunächst die mehr oder weniger augenfälligen Elemente anzuleuchten, die uns entgegentreten.


VIII

Boschak als Bäcker und Färber ist zum einen der alte Friseur und Bader Pollmer: jener will seine Tochter Ikbala (die Glückbringende, S. 104) - dieser seine Enkelin Emma, die alles Glück zu geben schien nicht an einen armen, wenn auch biederen Mann verheiraten, der sein Geld durch Literatur verdient: Ali der Sahaf alias Karl May.

   Boschak ist zum anderen der Buchverleger-Buchdrucker-Buchhändler H. G. Münchmeyer, der vor Verfärbungen (sprich: unlauteren Mitteln) in seinem Gewerbe nicht zurückschreckt. Er vertreibt heimlich Schmuggelware, an der seine Frau sich ergötzt - eine Reminiszenz


//112//

an die von May als »Schundwerke« empfundenen Publikationen "Der Venustempel" und "Das Buch der Liebe", auf die Pauline Münchmeyer so stolz war und um deretwillen der Verleger Ärger mit den Behörden bekam.(45) In Boschaks zwiespältigem Betragen spiegelt sich das ebenfalls zwiespältige Verhalten Pollmers wie das zwischen Gutmütigkeit und Niedertracht schwankende Verhalten Münchmeyers.

   Mit Bitten und Schmeicheleien bewog Pollmer den bereitwilligen Karl May, die Umstände vom Ableben Emil Pollmers zu untersuchen, und May übernimmt den Auftrag trotz Emmas Einwänden: Kara Ben Nemsi, eigentlich auf dem Wege zu Ali, dem Buchhändler-und-Uhrmacher (d. h. der auf schriftstellerische Arbeiten konzentrierte und um völlige Resozialisierung bemühte Karl May, der mit sich selber genug zu tun hat), bricht auf, versehen mit Backwerk und Wein (Geld und Zigarren), ungeachtet der Warnungen Ikbalas (S. 167, 168).

   In Sabans Hütte, d. i. im Wirtshaus in Niederwürschnitz, erleidet Kara Ben Nemsi/Karl May eine Niederlage. Die aufgestörten Dorfbewohner, d. h. Saban und seine Bekannten, erörtern das Auftreten des geheimnisvollen Fremden. Kara Ben Nemsi/Karl May ist - als er zur Besinnung kommt (!) - wie gelähmt(46) und jeder Verteidigungsmöglichkeit beraubt: Ihm droht Schlimmes! Hätte er sich nur nie auf dieses sinnlose Wagnis eingelassen! Der große Held, »der noch über dem Staatsanwalt steht«, wird klein und demütig, dieweil er auf Abhilfe sinnt. Er zieht sich in sich selbst zurück - und Halef erscheint: Halef, klein und ungewöhnlich liebenswürdig im Auftreten - alter Ego Karl Mays -, befreit seinen Herrn (S. 194) und tischt Mären auf (S. 192); Karl May lieferte der Polizei und dem Gericht wortreiche Erklärungen und begann wieder Hoffnung zu schöpfen, alles werde für ihn gut ausgehen.(47) Aber die Mittel und Waffen, auf die er sich verläßt, werden ihm genommen: Der Schobiak Deselim flieht auf Rih mit dem Henrystutzen (S. 203); die ablenkenden Hinhaltemanöver Mays hatten keinen Erfolg. Im Gegenteil: Die Behörden vermerkten es übel, daß ihnen Versäumnisse bei der Feststellung der Todesart Emil Pollmers unterstellt wurden. Der dramatische Anstrich, den Karl May bei seinen Nachforschungen in Niederwürschnitz dem Todesfall geben wollte, schlägt auf ihn zurück - und die Verärgerung darüber überträgt er begreiflicherweise auf den Menschen, der durch sein unziemliches (selbstverschuldetes) Ende den ganzen Schlamassel verursacht hat: Eduard Emil Pollmer, den trinkfreudigen Vagabunden. E-m-i-l ist in D-e-s-e-l-i-m enthalten und ebenso E-d-e (E-d-i), die gebräuchliche Abkürzung des anderen Vornamens. Deselim ist Waffenschmied aber ohne jedes von der Sache her erzähltechnische Gebot; als beson-


//113//

derer[besonderer] Waffenkenner erweist er sich gerade nicht; er könnte ebensogut jedes andere Gewerbe betreiben. Möglicherweise - das ist ohne jeglichen Anspruch auf Glaubwürdigkeit lediglich im freien Gedankenspiel gesagt - legte die Bezeichnung »Vagabund, Vagant«, als sie May im Kopf umherging, die Verwendung einer Berufsbezeichnung nahe, die sich von der Lautbildung her als irgendwie ähnlich anbot, und »Waffenschmied« kam dabei heraus.(48) Möglicherweise auch wählte May unbewußt ein Gewerbe, in dem Deselim auf jeden Fall einen Kenntnismangel erweisen sollte, weil einst Emil Pollmer in seinem erlernten Beruf, dem Friseurhandwerk, versagt hatte. Der Waffenschmied besitzt auch ein Kaffeehaus (Einkehrhaus) - und Stätten, die Getränke bereithielten, gehörten zu den bevorzugten Aufenthaltsorten des Vagabunden Emil Pollmer.

   Karl May hat durch sein Auftreten in Niederwürschnitz einen Sturm im Wasserglas hervorgerufen, der sich für ihn zum Dilemma auswächst. Alles kreist um die zwei Fragen: "Was ist eigentlich wirklich geschehen? Und wie ziehe ich, Karl May, mich aus der Sache wieder heraus?"

   Und so jagt Kara Ben Nemsi in der Erzählung dem unwürdigen Deselim nach, der Rih und den Henrystutzen - die Attribute der Überlegenheit des Helden - an sich gebracht hat, wie Karl May die Spur Emil Pollmers aufnahm.(49) Begleitet wird Kara Ben Nemsi von Halef - die innere Situation des Autors erfordert es: Der Held, als der Karl May erscheinen will, ist noch angeschlagen, steht noch unter dem Nachwirken des Schocks; mit dem Image des »einen, der noch über dem Staatsanwalt steht«, ist es nichts; die Last der Leistung fällt dem Kleinen zu, dem Ich "nach unten hin", dem liebenswerten Kerlchen Karlchen, aus dem das nach oben strebende Ich immer wieder Kräfte schöpft und das schlechthin unbesiegbar ist. Auf den Halef in sich kann Karl May bei dieser Parforcejagd, die er als Kara Ben Nemsi antritt, nicht verzichten.

   Die Schilderung der Verfolgungsjagd beim Dorfe Kabatsch(50) (S. 203-211), mit den dabei ständig wechselnden Eindrücken, gleicht einem Alptraum, der wie durch einen Schleier ein zweites Mal erlebt wird. Karl Mays Beschreibung von Kara Ben Nemsis Ritt auf fremdem Pferd, mit gefährlichen Hindernissen im Wege, ist nicht nur Sinnbild der damaligen Verwirrung Karl Mays, in die er sich durch befremdliches Tun gebracht hatte, sondern ist auch dem erratischen Betragen des verfolgten Deselim voll nachempfunden - und auch dies wird der damaligen Situation in Niederwürschnitz gerecht: Emil Pollmer kam in einem Pferdestalle ums Leben - Opfer eines Rausches; er war, voll-


//114//

trunken[volltrunken], überfahren worden und hatte sich noch gerade in den Stall geschleppt. Deselim findet sein Ende bei einem Pferde, das er unkundig und im Zickzackkurs wie ein Besessener oder Berauschter gelenkt hatte. Und der »Verfolger« der Spur, Karl May, sieht drohendes Unheil auf sich zukommen . . . Dürre Fakten, umgesetzt in phantasiebewegte Traumbilder und danach in dramatisch abrollende Abenteuerhandlung.

   Deselim wird tot aufgefunden (S. 211). Fremdeinwirkung ist nicht erkennbar: er war einem plötzlich auftretenden Hindernis nicht gewachsen, wie damals Emil Pollmer. »Er ist selbst schuld daran«, sagt Halef prompt (S. 211). Damit schreibt Karl May die Einsicht nieder, die er damals, im April 1878 in Niederwürschnitz, vermutlich aus Geltungsbedürfnis heraus, zurückdrängte. Es war ein Unglücksfall. Von Mord und Mörder kann keine Rede sein - so gern der Kiaja, der Dorfvorsteher von Kabatsch, genau in Umkehrung der damaligen wirklichen Verhältnisse, das auch behaupten möchte! (S. 214) Kara Ben Nemsi sieht sich wieder einmal von der Behörde angeschuldigt - hier deshalb, weil damals Karl May die Behörde ins Zwielicht rückte. Und nun läuft es in der Geschichte natürlich letztendlich auf die Pointe hinaus, die Karl May sich damals ersehnte: Halef, der Schwadronneur (also May, wie er ist), stellt den Kiaja wortgewaltig zur Rede und verteufelt ihn und streicht Kara Ben Nemsis Ruhm hervor (S. 215), und Kara Ben Nemsi hakt schnell ein mit einer Bemerkung, die den Kiaja ins Lächerliche zieht (S. 217), und dann holt dieser Kara Ben Nemsi (also May, wie er sein möchte - auch damals in Niederwürschnitz gern gewesen wäre) großspurig seinen Reisepaß mit dem Siegel des Großherrn hervor (S. 217) - und wird idolisiert: »Effendi, du hast recht.« (S. 218) Dem Geltungsbedürfnis ist Genüge getan. Was in der Realität mißlang, ist in einem Balkandorf in Erfüllung gegangen.(51) Die Akten sind geschlossen.


IX

Ganz bruchlos fügt sich jetzt Ali der Sahaf in das Geschehen ein, der ebenso mit Karl May identisch ist wie Kara Ben Nemsi und wie Halef. Diesen (in Kabatsch wohnhaften) Sahaf hat der Ich-Erzähler bereits vorher kennengelernt (S. 97), kurz nach der Trennung von Schimin ein Moment, das noch erörtert wird. Die wesentlichen Teile des Dialogs zwischen Kara Ben Nemsi und Ali sind unmittelbarer Ausdruck May'schen Eigenerlebens; die hautnah wirksame persöuliche Lage von


//115//

1885, der Entstehungszeit der Erzählung, schlug durch. Ali hat beim Großscherif gedient (S. 98), aber »Mahabbe - die Liebe!«, wie er errötend gesteht (S. 99), hat ihn nach Hause getrieben. Auch May verließ die Großstadt Dresden wieder - um Emmas willen kehrte er nach Hohenstein zurück. Ali war früher Uhrmacher (S. 102) - die Uhr wieder als Symbol für erhofftes Glück und Ansehen und stattdessen eingehandeltes Unglück; er vertreibt derzeit als Kolportage-Buchhändler fromme Schriften (S. 103) - ein direkter Hinweis auf die Arbeit Mays für Münchmeyer zum einen und für Pustet (Deutscher Hausschatz) zum anderen, praktisch gleichzeitig! -, und er arbeitet nebenbei noch an einer besonderen Uhr für den Großherrn (S. 103): Symbol für das Streben nach höchstmöglicher Leistung, die das Wohlwollen auch führender Gesellschaftskreise erringen soll, Symbol für Arbeit unter größter Sorgfalt, weil nur diese den Erfolg beschert.(52) May will immer bessere Erzählungen schaffen und seine Arbeiten einst mit einem Meisterwerk krönen (»im ganzen Lande keine zweite ihresgleichen«, S. 103), um vom Fluch des »Uhrendiebstahls«, dem Anfang all seines Übels, endgültig loszukommen.

   Ali spricht vor dem Fremden freimütig von seinen Eltern und von seiner Hinwendung zum Christentum - offener Ausdruck dessen, was den Autor bei der Niederschrift bewegt. »Die Mutter lebte noch, als ich nach Mekka pilgerte -« (S. 107), d. h. als May (abermals) nach Dresden umzog (1883). »Sie starb, und kurze Zeit später traf den Vater der Schlag« (S. 107) - beides 1885. »(Er) betet . . . ohne Unterlaß, daß Allah ihn erlösen möge, damit er mir nicht länger zur Last falle. Ich aber bete heimlich zu der großen göttlichen Liebe, ihn mir noch lange, lange zu erhalten. Vater und Mutter hat man nur einmal. Sind sie gestorben, so hat der Kirchhof den besten Teil des Kindes empfangen, und keine Seele auf Erden meint es mit ihm wieder so gut und treu, wie die Hingeschiedenen.« (S. 107) - »Ich habe etwas gethan, was die Mutter erzürnte.« (ebd.) . . . die Bibelworte: "Ein Auge, welches den Vater verspottet und sich weigert, der Mutter zu gehorchen, das werden die Raben am Bache aushacken und die jungen Adler fressen.« (S. 108) - »Kann es einen Sohn geben, welcher seinen Vater nicht liebt? Kann ein Kind seine Eltern vergessen, denen es alles, alles zu verdanken hat?« (S. 109) Die Zeilen sprechen für sich.

   Ali liebt seinen Vater und sorgt für dessen Lebensunterhalt. May unterstützte seinen Vater ebenfalls. Ali will dem Vater um alles in der Welt beweisen, daß er ein guter Sohn und ein rechtschaffener, angesehener Mensch ist. Was wollte May anderes?(53)

Die Bemerkung, nach dem Tode der Eltern meine es keine Seele auf


//116//

Erden wieder so gut mit dem Menschen wie die Verstorbenen, spielt an auf die unzulänglich gebliebene Ehe mit Emma: Karls Frau hat in dieser Verbindung nicht das gehalten, was May sich einst erhoffte, als er um ihre Liebe warb. An den Schwierigkeiten und an Emmas erratischem Betragen trägt sicherlich auch May ein gerüttelt Maß Verantwortung - aber eben darum beflügelt ihn ja auch die Sehnsucht, es möge - wieder - glücklich zugehen bei Mays, und so packt er die Liebesbeziehung Ali/Ikbala in die Geschichte hinein, damit Kara Ben Nemsi Gutes tun kann - wie Karl May es für  s i c h  möchte.

   Ali ist durchdrungen von seiner Liebe zu Ikbala. In der Erzählhandlung verschränken sich damit die Motivstränge Pollmer und Münchmeyer ganz subtil: Das Herrschsüchtig-Hochfahrende in Boschak ist Pollmers Widerstand gegen May als Bewerber um Emma; das Schlau-Spitzbübische in Boschak ist Münchmeyers Bestreben, May als Gatten seiner Schwägerin Minna Ey zu gewinnen - aber natürlich einen May von Münchmeyers Gnaden, der die gleiche Gesinnung hegt; hiervon wird noch die Rede sein.

   Die heimlichen Zusammenkünfte Alis mit Ikbala (S. 104, 168) entsprechen dem vor Großvater Pollmer verborgen gehaltenen abendlichen Beisammensein Emmas mit Karl in der Anfangszeit ihrer Bekanntschaft.(54) May wollte damals Pollmer imponieren, um ihm die Einwilligung zur Ehe mit Emma abzuringen. In der Erzählung tut es Kara Ben Nemsi an Alis Stelle, weil er ein Druckmittel gegen Boschak in der Hand hat. Das dreht die Wirklichkeit um: Der vorbestrafte May war gegenüber Pollmer der Unterlegene. Er ergreift daher die Gelegenheit, den Todesfall Emil Pollmers »aufzuklären« - und verstrickt sich, wie bereits erläutert.

   In Kabatsch nun, wo Deselim den Tod gefunden hat, begegnet Kara Ben Nemsi dem Sahaf erneut. Mit dem Einbringen dieser Teil-Identität just in dem Moment, da die vom Unterbewußtsein wachgerufenen aufwühlenden Ereignisse von Niederwürschnitz schlagartig abgetan sind, stellt May den notwendigen Anschluß an sich selber und an seinen damaligen Status wieder her und träufelt Balsam auf die Wunden: Alis unverhohlene Bewunderung für Kara Ben Nemsis Reitkünste (S. 212-213), von denen er vordem einen schlechten Eindruck gewonnen hatte (S. 99-100), spiegelt den so wichtigen narzißtischen Zug in May, sich an seinen unleugbaren Erfolgen innerlich aufzurichten und die negative Einschätzung, die er früher erfuhr - auch in Niederwürschnitz und vor dem Amtsgericht Stollberg - und die er sich zeitweilig selber zuteil werden ließ, zu entmachten. Hier, in Alis zeitgerechtem Betreten des Schauplatzes und seiner Bewunderung für den Helden, sind die


//117//

Unterströme wirksam, die den Gedankenfluß zu den Eltern und - erklärlich - zu Emma führen. Nach dem Intermezzo um den Tod Emil Pollmers warb Karl May ja weiterhin um Emmas Hand - wie Ali um Ikbala wirbt. Und es ist an Karl May alias Kara Ben Nemsi, die Sache zu einem guten Ende zu bringen.

   Nach der Rückkehr von Kabatsch zu Sabans Hütte verbringt Kara Ben Nemsi mit Halef und dem ehrfürchtig lauschenden Ali viel Zeit in den Verhandlungen mit den Banditen, insbesondere mit Boschak, der klein beigeben muß. Kara Ben Nemsi setzt sich durch. Das ist wiederum die Umkehrung der Realität: May dürfte damals Mühe gehabt haben, seinen Reinfall vor Pollmer zu rechtfertigen; statt Triumphe heimste er eine Haftstrafe ein. Und während in der Erzählung die Halunken mit Kara Ben Nemsi Frieden schließen, waren die Einwohner von Niederwürschnitz nicht geneigt, sich vor May zu ducken. Letztendlich trotzt Kara Ben Nemsi natürlich dem Bäcker-und-Färber die Einwilligung ab - wobei Boschak sogar seine angeborene Gutmütigkeit bekundet (S. 252) -, und kann Ali dem Sahaf wünschen: »sei unendlich glücklich mit Ikbala, der schönsten in Rumili!« (S. 274) Und auch dies ist das Gegenteil der wirklichen Begebenheiten: Es war seinerzeit der sterbende Pollmer, der - anders als vordem - den inzwischen innerlich widerstrebenden May bat, Emma nicht zu verlassen(55); und »unendlich glücklich« ist Karl mit der von ihm als so schön gepriesenen Frau(56) nicht geworden.

   Dementsprechend kann er sich spöttische Seitenhiebe auf Emma nicht verkneifen: Er nutzt die Beschreibung Tschilekas und Ikbalas und ihrer häuslichen Atmosphäre geschickt dazu aus, ein Zerrbild ihrer Hygiene und ihrer Koch-, Brat- und Backkünste zu liefern (S. 135-137, 259-264) - was ihm ersichtlich Vergnügen bereitet -, und verbannt damit in Gedanken Emma, die so wenig Bildungsbeflissene, in das ihr einzig zustehende Reich der Köchin.(57) Auch stattet er Tschileka und Ikbala mit beträchtlicher Leibesfülle aus, weil sich das leicht mit der ergänzenden Vorstellung geistiger Hohlheit und Trägheit verbinden ließ, die er Emma ja vorwarf. Karl May hat hier bereits dasselbe Bild entworfen, das er viele Jahre später, während des Scheidungsprozesses, von Emma in der Gestalt der so liebenswert erscheinenden und dann als so bösartig hingestellten Köchin Pekala beim Ustad zeichnete.(58) Er hat nicht erst im Alterswerk begonnen, Fakten - oder was er als Fakten ansah - aus seiner Biographie mitzuteilen.


//118//

X

Das Münchmeyer-Muster ist unschwer bloßzulegen: Kara Ben Nemsi, vornehm und wissensreich, will sich bei Boschak, dem Schlitzohr (S. 170, 171), für Ali, den zwar armen, aber ehrlichen Sahaf verwenden, der - wie gesagt - ebenso mit Karl May identisch ist wie Kara Ben Nemsi und wie Halef. Münchmeyer soll mit dem gutwilligen und leistungsbereiten Redakteur Karl May ehrliches Spiel treiben. Den fremden jungen Mann umgibt etwas Hoheitsvolles - Grund genug für Boschaks Frau Tschileka, die Erdbeere, sich ihm äußerst gewogen zu zeigen: Pauline Münchmeyer, die hier beinahe liebevoll karikiert wird, war dem jungen Herrn Redakteur May ja zunächst recht gewogen. Sie war erdverbunden, ergötzte sich an Büchern mit Illustrationen, die auf plumpen Sinnenreiz spekulierten, wie "Der Venustempel", und die Geld einbrachten, auch wenn sie verboten wurden, und sie genoß den heimlichen Wohlstand des Betriebes. Hin und wieder nahm sie wohl auch etwas für ihre persönlichen Zwecke an sich, ohne Wissen ihres Gatten; doch wenn sie auch gelegentlich gegen ihn intrigierte, war sie doch seine eingeschworene Bundesgenossin. Karl May erzählt das alles vortrefflich in einer Szenenfolge voller Komik, in der Kara Ben Nemsi unversehens auf Tschileka in Boschaks heimlichem Teppichlager, dem Hort von Schmuggelware, stößt und von ihr umflirtet und umschmeichelt wird. (S. 113-130). Wie Pauline, so ist Tschileka die zutreffende Mischung aus Auflehnung und Anpassung.(59) Insoweit symbolisiert die erst bei näherem Hinsehen als permanente Verfärbung erkennbare Rötung der glatten Arme Tschilekas die als Freundlichkeit getarnte "Verworfenheit" und Bosheit Panline Münchmeyers.

   Kara Ben Nemsi besitzt Druckmittel gegen Boschak - und dieser zeigt sich auch scheinbar gefügig: Münchmeyer machte May 1875 alle von dem neuen Redakteur erwünschten Zusagen; in der Tat aber hatte eher der Verleger mit seinem Wissen über Mays Vorstrafen die Oberhand.

   Dieser sich gelegentlich mit einem ihm nicht zustehenden Doktortitel schmückende Redakteur ist zwar - natürlich - der vornehme Effendi; er ist aber zugleich, wie aufgezeigt, dessen dunkles Teil-Ich Mosklan alias der Agent Pimosa (S. 77), der falsche Flagge zeigt, eben der von Boschak/Münchmeyer für Ikbala/Minna ausersehene Ehemann (S. 140)(60): ein Schuft, wie der böse Boschak ihn sich wünscht. Ikbala lehnt Mosklan natürlich ab, hätte sich notfalls aber beugen müssen.(61)

   Im Vertrauen auf Münchmeyers Zusagen, also auf Boschaks zur Schau gestellte Nachgiebigkeit, steigt Karl May in den Betrieb ein,


//119//

d. h. Kara Ben Nemsi begibt sich zu Sabans Hütte. Und dort erhält er einen Schlag auf den Kopf: Man wird dem Kerl den Dünkel schon austreiben! Die Praktiken des Hauses Münchmeyer waren noch viel schlimmer, als May befürchtet hatte. Hier geht ein Stück der Identität H. G. Münchmeyers auf Saban über, auf den heimtückischen Bettler: Münchmeyer bettelte bei May förmlich um dessen Bereitschaft zur Übernahme der Redakteur-Tätigkeit, hatte aber häßliche Hintergedanken. - Die Aufspaltung Münchmeyers in Boschak und Saban ist aus der Situation heraus erforderlich: May möchte im eigenen Interesse das Bild des auch gutmütigen und nicht durchweg üblen Münchmeyer keineswegs völlig zerstören; er bereitet im Hinblick auf Boschak ein versöhnliches Ende der Episode vor, das die angeborene Gutmütigkeit zum Durchbruch kommen läßt (S. 252)(62), und muß insoweit die negativen Züge Münchmeyers auf einen anderen werfen. Das eben ist Saban, der den Ich-Erzähler würgt (S. 177) - ein sprechendes Bild - und in der Folge exakt als der Haupt-Missethäter (S. 244) bezeichnet wird: er trachtete also am eifrigsten, die Gefahr von sich abzuwenden (ebd.). Sabans Kumpan, der Kara Ben Nemsi abfängt (S. 172) und in der Hütte mit dem Gewehrkolben niederschlägt, heißt Murad - »der von Gott Aufgenommene«, ein verschlüsselter Hinweis auf Münchmeyers zweiten Vornamen Gotthold.(63) Saban und Murad sind es, die sich nachher um den verletzten Mosklan kümmern (S. 248) - um den "vom Unheil angeschlagenen" May, den Münchmeyer sich verpflichten wollte. Als Pointe läßt May den Bettler in bezug auf Mosklan zu Boschak sagen: »Du weißt, daß er mich zu fürchten hat.« (S. 244) Das ist die unterschwellige Anspielung auf die kriminelle Vergangenheit Mays, die Münchmeyer ihm vorhalten kann. Und daß Mosklans Kugel versehentlich Boschak trifft, gibt diesem willkommene Gelegenheit, dem »Agenten« die Sympathie zu entziehen: Auch Münchmeyer brauchte seinerzeit einen in seinen Augen akzeptablen Grund, May das Ausscheiden aus dem Verlag zuzugestehen.

   Eben dieses Moment bringt der Autor noch auf andere Weise in das Erzählgeschehen ein - nämlich durch Halef. Im Zuge des auf die Redakteur-Zeit bezogenen Münchmeyer-Stranges der Handlung ist es sofort einsichtig, warum die Befreinng Kara Ben Nemsis in Sabans Hütte dem »Freund und Beschützer« übertragen wird: Da, wo der zu Höherem berufene Heros mit seinen Gaben nicht durchdringen kann und ihm Unheil droht, besinnt er sich auf die Listen, Tricks und Kniffe, die es ihm gestatten, mit den Beinen wieder auf die Erde zu kommen und einen Nenanfang zu finden. Der zum Wunschbild Kara Ben Nemsi hinstrebende Karl May wurde bei der Bewältigung seiner alltäglichen Exi-


//120//

stenzprobleme[Existenzprobleme] leicht und gern zum pfiffigen, manchmal heißspornigen, aber im Bedarfsfalle eben raffinierten und notfalls sogar rücksichtslosen Halef. May hatte bei Münchmeyer ein gesichertes berufliches Dasein. Die Stellung aufzugeben und als Vorbestrafter darauf zu vertrauen, daß sich rasch etwas adäquates Neues finden werde, kostete Mut. May war Münchmeyer an Klugheit und an moralischer Entschlußkraft überlegen; er konnte in sich Kräfte mobilisieren, die ihm die Trennung von dem Verleger, trotz aller damit verbundenen Risiken, ermöglichten. Ernstgemeinte - oder auch hochtrabende - Einwände Mays, ihm biete der Verlag Münchmeyer nicht die Chance der Verwirklichung hoher, reiner, dem Edlen zugewandter schriftstellerischer Ziele, konnten Münchmeyer keinen sonderlichen Respekt abnötigen; eine herbe Aussage Mays aber, er könne sich für Minna Ey als Ehefrau nicht erwärmen und wolle diesbezüglichen Weiterungen aus dem Wege gehen, war für den Verleger schlechthin unwiderlegbar. Es muß dahingestellt bleiben, ob May das Arbeitsverhältnis beibehalten und den täglichen Anblick Minnas in Kauf genommen hätte, wenn Münchmeyers Unternehmen vom gleichen Anspruchsniveau und vom gleichen Gesinnungsgehalt gewesen wäre wie z. B. das des "Deutschen Hausschatz". Er lieferte jedenfalls einen Kündigungsgrund, der der Denk- und Handlungsweise des pfiffigen Halef eher entsprach als der des missionarisch waltenden, langmütigen Überhelden. Und in der Erzählung findet das dann unumwunden Ausdruck, als Ikbala fragt, wo denn ihr Herzallerliebster sei, und Kara Ben Nemsi zunächst scherzhaft auf Halef zeigt: Prompt sagt Halef bei Anblick Ikbalas: » - geh' zum Teufel!« (S. 253) Deutlicher konnte Karl May kaum sein.(64)


XI

Das Erzählgeschehen um Boschak und Saban ist aber auch eine Spiegelung der zweiten Periode der Tätigkeit Mays für Münchmeyer, ab Herbst 1882, und zwar bezogen auf die bis zum Zeitpunkt der Entstehung der Boschak-Episode, 1885, herrschende Lage:

   Während Kara Ben Nemsi mit Boschak über für beide Seiten annehmbare Bedingungen verhandelt und sich anschickt, als furchtloser »deutscher Held« dem »verlorenen Sohne« im »Wald«, wo kleine »Röschen« gedeihen, Wein und Backwerk zu bringen, also für die dem Leservolk nötige lebensversüßende Kost zu sorgen, sinnt Boschak auf Unheil: Er schickt seinen Gefährten in den Wald, um die Falle vorzubereiten (S. 164, 165) - ein Hinweis auf Münchmeyers Faktotum


//121//

August Walther(65), dem May mißtraute. Die Falle schnappt zu: May muß einen dicken Roman nach dem anderen schreiben und steckt in der Fron des angeblichen »Bettlers« Münchmeyer, der - vorgetäuscht oder nicht - beim unerwarteten Zusammentreffen mit May 1882 über beträchtliche finanzielle Sorgen und drohenden Ruin klagte und Karl May als Rettungsengel begrüßte. Kara Ben Nemsi hat Ikbalas Warnung (S. 167, 168) nicht beachtet - hier die Umkehrung des eifrigen Zuredens Emmas, 1882, Karl solle für Münchmeyer tätig werden: gerade das hätte er nicht tun sollen.

   Und während er in »Gefangenschaft« liegt, sinnt er nach rettenden Auswegen und legt sich allerlei Pläne zurecht (S. 183-186) - - und die Worte, die der Schriftsteller Karl May hier für die Lage seines Helden Kara Ben Nemsi findet, sind höchst beachtlich:

   Ich war gestorben; ich besaß keinen Körper mehr; ich war nur Seele, nur Geist . . . . Es war eine unbeschreibliche Leere um mich und in mir. (S. 177) . . . Ich fühlte nicht nur, sondern ich dachte auch. (S. 177-178) Sprechen aber konnte ich nicht, so sehr ich mich auch anstrengte, einen Laut von mir zu geben. (S. 178) . . . Ich war gestorben gewesen und hatte dies doch bemerkt. (S. 178) . . . ich konnte die Augen nicht öffnen und konnte mich auch nicht bewegen. Aber mit der größten Deutlichkeit hörte ich jedes Wort, welches . . . gesprochen wurde. (S. 179) . . . Eine Hand legte sich auf mein Gesicht und blieb da eine Weile prüfend liegen; . . . »kalt wie der Tod!« Die . . . Hand glitt von meinem Gesicht hinweg und faßte mich am Handgelenk. »- er hat keinen Pulsschlag.« . . . Im nächsten Augenblick fühlte ich die Hand auf meiner Brust. . . . » - sein Herz schweigt still. « (S. 181-182) . . . Ich befand mich nicht im Gebrauch meiner Glieder, dafür aber in der fürchterlichen Gefahr, lebendig verscharrt zu werden. Es befiel mich Angst . . . . Meine Lage war hoffnungslos. . . . Es überkam mich ein Gefahl, von welchem ich nicht weiß, ob es Wut oder Verzweiflung zu nennen ist; vielleicht ist das erstere richtig, denn ich habe stets gewußt, daß Gott auch dann, wenn die Uhr zum zwölften Stundenschlag ausholt, noch helfen kann. (S. 183) . . . Ich mußte mich wirklich anstrengen, um logisch zu denken, und in den Extremitäten hatte ich das Gefühl, als seien sie mit Blei angefüllt; . . . Vielleicht wich die Lähmung schneller noch, als es jetzt den Anschein hatte. Und sodann vertraute ich dem Einflusse des Augenblickes und der Wirkung, welche ein fester Wille auf den ungehorsamen Körper auszuüben pflegt. So viel stand wenigstens fest, daß ich mich nicht lebendig begraben lassen würde. (S. 184)

   Diese Beschreibung gemahnt gerade bestürzend an Karl Mays viele Jahre später in "Mein Leben und Streben", Seite 25-26, wiedergege-


//122//

bene[wiedergegebene] Schilderung des Scheintodes seiner Großmutter väterlicherseits, Johanne Vogel verwitwete May geborene Kretzschmar, im stillen einsamen Forsthause (May):

   In dieser Zeit war es, daß Großmutter während des Mittagessens(66) plötzlich vom Stuhle fiel und tot zu Boden sank. .. . Der Arzt wurde geholt. Er konstatierte Herzschlag; Großmutter sei tot und nach drei Tagen zu begraben. Aber sie lebte. Doch konnte sie kein Glied bewegen, nicht einmal die Lippen oder die nicht ganz geschlossenen Augenlider. Sie sah und hörte alles . . . Sie verstand jedes Wort, welches gesprochen wurde . . . . Sie erzählte später, daß sie sich in ihrer fürchterlichen Todesangst ganz unmenschliche Mühe gegeben habe, doch wenigstens mit dem Finger zu wackeln, als einer um den andern kam, um ihre Hand zum letzten Male zu ergreifen.

   Das ist die wohl entsetzlichste Lage, in der ein Mensch sich finden kann. Wie anschaulich, wie beeindruckend muß Frau Kretzschmar das dem vor Staunen selbst erstarrten Enkelkind geschildert haben, und wie tief blieb diese Schilderung in der Seele des Kindes Karl und des Mannes Karl verankert, daß der Schriftsteller in reifen Jahren und im Alter sie so plastisch aufzuzeichnen vermochte - so beklemmend in bezug auf Kara Ben Nemsi und so erschntternd in bezug auf die Großmutter. Welche Ubereinstimmung im Ablauf, in den Details, in der Wortwahl. Und welche Beachtung der für die »Reiseerzählung« gebotenen Ausführlichkeit und für die Selbstbiographie zulässigen Beschränkung. Der Arzt wurde geholt. Er konstatierte Herzschlag - Das ist die sachlich verkürzte Wiedergabe der bedrückend ins einzelne gehenden Beschreibung, wie die prüfende Hand vom Gesicht zum Handgelenk und zur Brust gleitet und wie jedesmal die Todesdiagnose gestellt wird. Es befiel mich Angst . . . . Meine Lage war hofinungslos --: Wie schaurig verbindet sich das mit jenem Märchen, das zum festen Bestandteil des großmütterlichen Vorrats zählte, und wie schaurig auch wird sich im Inneren des schreibenden Karl May das gräßliche Bild der im Wolfsmagen ruhenden und verzweifelt um Errettung flehenden Großmutter des Rotkäppchens geregt haben . . .

   Die Situation in der erzählten Balkan-Handlung, die Situation am Schreibtisch des Schriftstellers Karl May läßt ebenso wie die Situation im realen Leben nur eine Lösung zu: Halef muß her!

   Er trat jetzt, ohne gehindert zu werden, herbei und kniete wie zum Gebete neben mir nieder, den Rücken gegen die anderen gewendet. Ich hörte das Knirschen seiner Zähne. Da ich mir wohl denken konnte, daß jetzt die Augen aller Anwesenden auf ihn und mich gerichtet seien, hielt ich


//123//

die meinigen fest geschlossen, aber ich flüsterte, natürlich nur für ihn vernehmbar:

»Halef, ich lebe. «

Er holte tief, tief Atem, als sei eine große Last von ihm genommen . . .

(S. 193)

Das findet später seine Parallele auf Seite 26 der Selbstbiographie:

    . . . als einer um den andern kam, um ihre Hand zum letzten Male zu ergreifen. So tat auch das jüngste Mädchen des Oberförsters, welches besonders sehr an Großmutter gehangen hatte. Da schrie das Kind erschrocken aus: »Sie hat meine Hand angegriffen; sie will mich festhaltenl« Und richtig, man sah, daß die scheinbar Verstorbene ihre Hand in langsamer Bewegung abwechselnd öffnete und schloß.

   Damit ist die Großmutter dem Leben wiedergegeben. Und die Erzählhandlung im Balkan kann dank Halef, dem Unbesiegbaren, dem alle Tricks beherrschenden Karl May, nun glatt voranschreiten. In der Wirklichkeit des Schriftstellers Karl May aber bedeutet es: May darf um der Erhaltung seiner Begabung und seiner Ziele willen nicht auflhören, für den "Deutschen Hausschatz" zu schreiben, wo die Figur Hadschi Halef Omar eine entscheidende Rolle innehat! Er muß, unter was für Mühen auch immer, die Lichtgestalt Kara Ben Nemsi retten.(67) Sogar um den Preis der Lüge: Halef prahlt mit der Koptscha (S. 192) - er täuscht Wissen und Kenntnisse vor, die er nicht besitzt. So wie Karl May es tut, indem er im "Deutschen Hausschatz" verbreiten läßt, der weltbewanderte Herr Verfasser sei wieder einmal auf Reisen und erweitere seinen Erfahrungsschatz und könne deshalb leider leider leider kein Manuskript liefern.

   Dann aber, zwischen zwei Kolportage-Monstern, liefert er eben dieses Manuskript - mit der Boschak-Erzählung, worin er ein versöhnliches Ende für das Schlitzohr findet: die Geschäftsverbindung zu Münchmeyer ist noch nicht wieder zu Ende und muß erträglich gehalten werden. Und die Zwickmühlen-Situation des Autors Karl May wird damit präzise, obschon verschlüsselt, festgehalten.


XII

Der erzählerische Aufbau und die Szenenfolge sind für May-bewanderte Leser einleuchtend und erscheinen irgendwie vorgezeichnet, wenn man die Ausgangssituation - Kara Ben Nemsi trifft bei Schimin ein - einmal akzeptiert. Von Schimin führt der Weg zu Boschak, von dort zu Saban, wo Schimin - handlungstechnisch glaubhaft - plötzlich


//124//

auftaucht, und führt nach nochmaligem Aufenthalt bei Boschak in die Nacht hinein in Schimins Begleitung dem Morgen entgegen, wobei Saban noch einmal unliebsam in Erscheinung tritt. Alles vollzieht sich locker und zwanglos; trotz des bedrohlichen Geschehens liegt ein Zug der Gelöstheit und eine gewisse innere Heiterkeit des Autors über der Szenerie. Karl May ist offenbar bei der Niederschrift mit sich zufrieden und auch mit sich im reinen gewesen. Gleichwohl haftet dem eben grob nachskizzierten Aufbau etwas Frappierendes an. Bildhaft - und stark simplifiziert, unter Aussparung sperriger Fachtermini - läßt es sich so ausdrücken:

   Impulse unterschiedlichster Intensität und unterschiedlichster Färbung, aus mindestens zwei voneinander unabhängigen, aber an einer Stelle jeweils dünn miteinander verbundenen Tiefenschichten im seelischen Bezirk, steuern den Denkprozeß, der die Niederschrift gestaltet. Die untere dieser beiden Schichten läßt die in ihr erzeugten Impulse nur verwandelt nach oben dringen und nimmt ihrerseits aus der oberen Schicht auch nur bereits verwandelte Strömungen entgegen. Die obere der beiden Tiefenschichten zeigt einige durchlässige Stellen, die es dem Bewußtsein des Autors gestatten, gelegentlich die Beziehung zwischen dem unbewußt Gestalteten und der damit abgebildeten Wirklichkeit zu erkennen. Er nimmt aber tatsächlich nur einiges mit dem Bewußtsein wahr - und will es auch nicht anders, eben aus der zwiespältigen, immer noch unbewältigten Furchthaltung heraus, die Freude am Erkennen seines Sieges über bedrückende Bilder könne erstickt werden von der Angst vor neuem unkontrollierten Eigenleben derselben Störfaktoren. Der Autor überläßt sich seiner unfehlbaren - oder zumeist unfehlbaren - Intnition, die als Kontrollorgan den Erzählfluß entwickelt, formt und ausgestaltet.(68)

   Die in Karl Mays Tiefenschichten vorgenommene »Aufputz«-Identifizierung realer Personen mit fiktiven Personen oder die Herstellung allegorischer Bezüge zwischen Gegenständen und Sachverhalten oder Werten unterliegt keinem erkennbaren Schema - wahrscheinlich, weil Mays seelische Verfassung, wie die aller Menschen, Schwankungen unterlag und weil vermutlich auch äußere Einflüsse aus dem jeweiligen aktuellen Tagesgeschehen miteingeflossen sind in die Erzählungen; solche Einflüsse werden sich aber nur in den seltensten Fällen ablesen lassen, da sie der Kenntnis der Nachwelt zumeist entzogen sind. Die aus Mays Vita bekannten Fakten und die aus ihnen legitim erschließbaren Befunde liefern jedoch beim Bemühen um eine Analyse der Reiseerzählungen hinreichend Belege.(69)

Die Gleichsetzung Boschaks mit Pollmer zum einen und Boschaks


//125//

sowie Sabans mit Münchmeyer zum anderen, ebenso Mays eigene Darstellung in Ali dem Sahaf sind dem Autor sicherlich bewußt gewesen; die Maskierung ist im Grunde keine. Die "symbolische" Bedeutung der zentralen Szene der Gefangennahme Kara Ben Nemsis bei Saban fügt sich zwanglos in dieses Assoziationsgebilde ein.(70) Die Funktionen Mosklans und Deselims in bezug auf die Autobiographie sind stärker verhüllt: beide haben die zum Bewußtsein hin durchlässigen Stellen der oberen Tiefenschicht möglicherweise knapp verfehlt. Und Schimins Bedeutung entstammt sinnfällig jener Grenzregion, die den schöpferischen Prozeß zwar mit den unerläßlichen Energien speist, dem Erkennungsvermögen des vom Erzählprozeß voll in Anspruch genommenen Autors aber durchweg verborgen bleibt: Schimin der Schmied ist ein unbewußtes, mehrfach gebrochenes und darum verschleiertes Spiegelbild des um Stabilisierung bemühten Schriftstellers Karl May - und ist darüber hinaus die Verkörperung zweier entscheidender Pfeiler im Leben dieses Schriftstellers: des Katecheten Kochta(71) und des Verlags Pustet.


XIII

In dem Beruf Schmied und in der, bezogen auf slawische Sprachen, deutschen Entsprechung »Kamin« des Namens Schimin sind die Ansätze für die Entschlüsselung enthalten. Daß Karl May an seiner Existenz, an seinem Glück schmiedet, daß Kochta ein für May wesentlicher Schmied in Glaubensdingen und im Verfestigen des Selbstwertgefühls war, daß Pustets Verlagsunternehmen eine Glücksschmiede ist, die künstlerisch befriedigendes Arbeiten gewährleistet, bedarf keiner näheren Erläuterung. Mit »Kamin« wird der Begriff des Soliden, des Festen, des verläßlich Emporragenden assoziiert. In »K-a-m-i-n« steckt »m-a-i« und steckt mit »Ka-« der Katechet. In der Schmiede lodert das Feuer - der Blasebalg (den May eigens erwähnt) schürt es an -, im Kamin raucht es - es »pustet« kräftig.

   Kara Ben Nemsi trifft Schimin auf Empfehlung von Schimins Halbbruder Jafiz, des Rosenzüchters (S. 31ff., 36ff.). Es ist Nacht. Der Erzähler darf Schimin Rettung bringen. Aus der stellenweise durchlässigen Schicht des Unterbewußten heraus spiegelt May, wie dargelegt, in Kara Ben Nemsis nächtlicher Ankunft bei der Schmiede das Eindringen bei Weißpflog, 1869. In der darunterliegenden Schicht baut er unmerklich eine Brücke zu Kochta: das ihm in bezug auf Weißpflog zur Last gelegte Delikt war ja eine der Taten, die ihn als Rückfalltäter ins


//126//

Zuchthaus Waldheim brachten, »in die Nacht«, wo er Kochta begegnete. In diesem »dunklen Hause« führt Karl May mit dem Katecheten die Gespräche, die seine Seele aufrichten und die ihr den Weg zur Heilung weisen - dabei auch über die Farce Albin Wadenbach, dessen »Pseudonym« Madi Arnaud im Gespräch Schimins mit Kara Ben Nemsi erwähnt wird -, und eignet sich Kenntnisse für seinen künftigen Beruf als Schriftsteller an. Kochta bringt May die Rettung - so daß dieser sich als Erzähler mit der Geste "revanchiert", daß er seinerseits Kochta - als Schimin - rettet. Aus den von Schimin, dem einfachen Manne (S. 68), vorgetragenen Äußerungen sprechen sowohl der Autodidakt Kochta wie der lernbegierige Karl May jener Zeit.

   Das Gespräch dreht sich um religiös gefärbte Fragen, aber auch um historische Entwicklungen (S. 67-70). Es gibt merkwürdigerweise einen pauschalen Überblick über die von Karl May in seinen Erzählungen(72) behandelten Themen: Heimatliebe mit soziologischer Einfärbung, etwas Historie, etwas Exotik, etwas Christentum, Reise-Abenteuer. Und seine Verlegenheit um passende Antworten im Gespräch spiegelt die Reste an Unsicherheit, die er hinsichtlich Art und Qualität seiner schriftstellerischen Arbeiten damals - genauer: vor "Giölgeda padishanün"(73) - noch hegte. Die Unsicherheit des im Zuchthaus zur Läuterung hinstrebenden Anfängers und die bis 1880 entstandenen »Gesellenstücke« werden hier verbunden. Damit ist die Brücke diesmal zu Pustet als Gesprächspartner gebaut, in dessen Zeitschrift Deutscher Hausschatz May einst so viele dieser »Gesellenstücke« unterbrachte. Pustet war angetan von Mays Arbeiten und bat ihn, ausschließlich für den Deutschen Hausschatz zu arbeiten - ein Rettungsanker, dessen Gegengewicht sich ebenfalls darin findet, daß Kara Ben Nemsi den braven Schmied Schimin aus Not befreit, also etwas für Pustet Lohnendes tut.

   Von hier aus rückschauend stellt sich die dem Zusammentreffen mit Schimin voraufgegangene Begegnung mit dem Rosenzüchter Jafiz, dem Halbbruder des Schmiedes, in besonderem Lichte dar:

   Vor dem katholisch ausgerichteten Deutschen Hausschatz in Regensburg hatte schon ein anderer angesehener Verleger eine der besseren Erzählungen Mays aus der Frühzeit herausgebracht und gewürdigt: "Die Rose von Kahira" war in Peter Roseggers "Heimgarten" in Graz erschienen.(74) Der katholische österreichische Zeitschriftenverleger, von May als dieser . . . feinfühlige . . . Aristokrat bezeichnet(74), und der katholische bayrische Zeitschriftenverleger, der Kommerzienrat, waren »Halbbrüder« im Geiste. Rosegger und sein "Heimgarten" dargestellt im freundlichen Rosenzüchter Jafiz, der in seinem Garten


//127//

werkelt und Kara Ben Nemsi zu Schimin schickt . . . ein imaginiertes Ereignis zur Stärkung des Selbstbehauptungswillens innerhalb der Verdeutlichung der befleckten Vergangenheit.

   Das Erscheinen einer May-Erzählung im angesehenen "Heimgarten" konnte May damals bei Aufnahme der Verbindung zu Pustet eigentlich nur förderlich sein. Die beiden Halbbrüder Jafiz und Schimin verbergen vor anderen aber gern, daß sie verwandt sind - - und Kara Ben Nemsi wird es auch nicht weitersagen, d. h. Karl May wird sich hüten, offen zu bekennen, daß "Die Rose von Kahira" bei Rosegger fast identisch ist mit dem von Pustet im Rahmen von "Giölgeda padishanün" veröffentlichten Senitza-Abenteuer! Der Wunsch, das zu verschweigen, wird in der Erzählung zum freimütigen Bekenntnis Kara Ben Nemsis bei Schimin über alles, was bei Jafiz zur Sprache kam - einschließlich kostbarem Rosenöl, Tabak und Sicherheitspapier, das vor Schurken schützen soll: die für May hochnotwendige Rückversicherung, daß Pustet nur ja nichts von Mays Tätigkeit für Münchmeyer erfährt. (Der Herr Verfasser der "Reise-Erinnerungen aus dem Türkenreiche. war ja, wie der Deutsche Hausschatz "schutzbriefartig" erklären mußte, wieder einmal auf Reisen - oder die Manuskriptsendungen waren im Postwege verloren gegangen . . . ) Bei Schimin, unter der schützenden Larve des Unbewußten, wird das alles offen erörtert. Ganz heimlich läuft dabei nämlich von dem doppelgesichtigen Senitza-Abenteuer her der durch den Senitza-Entführer hingeworfene Faden durch das erzählte Geschehen: Der Entführer heißt Barud el Amasat und ihn verfolgt Kara Ben Nemsi, nach ihm erkundigt er sich überall! Dies ist handlungstreibendes Moment in der Erzählung. Insofern ist also »Senitza« unmittelbar unter der Oberfläche präsent. Doch anderthalb Schichten tiefer wirkt gleichzeitig das Signal, nicht allzuviel Aufhebens von der Sache zu machen: Dann wird statt des Namens Barud el Amasat der seines mit ihm zusammen flüchtigen Spießgesellen Manach el Barscha als der des Gesuchten erwähnt; der hat mit Senitza nichts zu tun; und so bleibt es verborgen, daß die Senitza-Geschichte ja  n o c h  eine Vorläuferin außer "Die Rose von Kahira" gehabt hatte: "Leilet". Und die war bei Münchmeyer erschienen. Bei Münchmeyer, von dessen Geschäftsbeziehung zu Karl May Kommerzienrat Pustet nichts wissen darf, dem Karl May aber gerade zur Zeit der Niederschrift der Jafiz- und der Schimin-Szenen noch immer, erneut, verpflichtet ist.

   Durch diese Erkenntnisse wiederum wird deutlich, welche Kennzeichnung darin liegt, daß Kara Ben Nemsi unmittelbar nach seiner ersten Trennung von Schimin (Kochta und Pustet) Ali dem Sahaf begegnet: May macht sich klar, welche Pflichten er als Schriftsteller eigener


//128//

Prägung und ganz eigener Begabung hat und welche Schuld er zu begleichen hat; er hält weiterhin Zwiesprache mit sich selbst, mit dem aus der Vergangenheit hochragenden »Uhr-Werk« als Mahnmal. Damit führt eine direkte Linie vom arbeitsamen Sohn zu dem gelähmten Vater, dessen Achtung der Sohn nie wieder verlieren will. Von hier zweigt eine Gedankenlinie ab zu Emma, vor der die Eltern damals warnten, deren süßer Verlockung Karl aber nicht zu widerstehen vermochte. Emma wiederum ist die Freundin Panline Münchmeyers geworden und - zumindest dies - der Gegenstand der Bewunderung Heinrich Münchmeyers. Und so entsteht, wie selbstverständlich, die Erzählung:

   Kara Ben Nemsi sucht sehenden Auges die Gefahr auf, verlockt von süßem Backwerk (S. 109-112), trifft Tschileka-Pauline-Emma-Ikbala, mischt sich aus freien Stücken bei Boschak-Münchmeyer ein, begibt sich in den Wald ("Waldröschen"), wird dort gefangen genommen, wodurch er Boschaks-Sabans-Münchmeyers Perfidie durchschauen lernt, widersetzt sich der Vorstellung, auf ewige Zeiten willenlos zu bleiben, befreit sein Ich durch sich selbst (Halef!) - und raubt dem bösen Mosklan, dem vom bösen Boschak und von Saban als Handlanger verwendeten »Agenten«, durch einen Kolbenschlag das Gesicht . . . : May malt sich aus, wie er den für Münchmeyer unter Pseudonym schreibenden Kolportageautor in der Versenkung verschwinden lassen wird; töten kann er ihn nicht, solange noch Verpflichtungen für Münchmeyer laufen ("Deutsche Herzen, deutsche Helden").

   In diese Kampfstimmung hinein platzt Schimin, der Kara Ben Nemsi besorgt nachgejagt ist: May rechtet mit sich, weil er sein Talent zu vergeuden fürchtet und weil er sich allzusehr von den durch Kochta angeratenen Wegen entfernt; und Pustet mahnt die Fortsetzung der großen Orienterzählung an. (Kara Ben Nemsi: »Heute jagt immer einer hinter dem andern her. Eine wahre Hetzjagd!« S. 249) Und unaufdringlich, aber beharrlich bleibt Schimin in Kara Ben Nemsis Nähe, um ihm weiter dienlich zu sein: Schimin in Doppelfunktion - May auf dem Wege zu sich selber, Pustet als Sinnbild der Solidität.

   Die Trennung von der Boschak-Szenerie, sprich: vom Münchmeyer-Verlag, ist in der Erzählhandlung ein natürliches Vorkommnis - in der Realität wird sie 1885 noch erträumt; sie kommt Pustet zugute:

Als Schimin, der brave Schmied, bemerkte, daß es unmöglich sei, mich zum Bleiben (Anm. des Verf.: in der Boschak-Menage!) zu bewegen, fragte er mich nach dem Wege, den ich einschlagen wolle. (S. 274)

   Schimin begleitet Kara Ben Nemsi, um ihn sicher zu geleiten. Beider Gespräch in nächtlicher Stille, dem Morgen entgegen, dreht sich um


//129//

die Leuchtkraft des Christentums gegenüber dem Islam, um den Glauben und um seelische Erquickung und göttliche Gnade - - und all das sind die Güter, die Karl May zum Durchstehen seiner inneren Qualen braucht: tief innerlich ruft er sich die heilsamen Gespräche mit Kochta in die wunde Seele zurück. Und es sind  a u c h  die Charakteristika der großen Orienterzählung, an der Karl May jetzt gerade wieder schreibt, die er für Pustet und dessen Leser fortsetzt: Er hat zur Reiseerzählung, seinem eigentlichen, wahren Genre, zurückgefunden. In diesem Gespräch genießt Kara Ben Nemsi es aber darüber hinaus, von Schimin als unbefleckt, erhaben, gottgesandt angesehen zu werden: Das Spiegelbild des Rufes, den der eitle kleine Mann Karl May beim "Deutschen Hausschatz" errungen hatte und nährte.

   Noch einmal greift Saban störend in den Frieden ein: Noch hat Münchmeyer bei Mays Schaffen ein Wort mitzureden. In Mays Innerem - doch außerhalb des von ihm für die Leser sichtbar gemachten Schauplatzes - kämpfen die Prinzipien Pustet und Münchmeyer miteinander (S. 289-290). Saban geht lädiert daraus hervor (S. 375): May setzt zum Absprung von Münchmeyer an, sinnt schon nach einem möglichst wirkungsvollen Knalleffekt - und läßt dann Halef und Kara Ben Nemsi, also sich selbst, vom Taubenschlag herabfallen zwischen die Halunken, die flachenden Menschen (S. 383-384), zu denen auch Saban gehört. Er hat ihre Niedertracht vergolten.

   Freilich: Ein Jahr wird er noch warten müssen. Er wird den vierten Münchmeyer-Roman, "Deutsche Herzen, deutsche Helden", das Schmerzenskind, noch vollenden müssen (mehr schlecht als recht), wird sogar noch den fünften Roman schreiben. Aber dieser bereitet schon die unvermeidliche Wende vor: "Der Weg zum Glück" führt geradewegs in das zwar wilde, aber für Karl May Triumphe bereithaltende "Land der Skipetaren".


XIV

In diesem Lichte bietet der sich von Schimin zu Boschak und weiter zu Saban und von diesen beiden sich wieder zu Schimin wölbende Bogen ein verblüffendes Bild dafür, wie rein traumhaft-intnitives Schreiben, das sich der kontrollierenden Vernunft weitestgehend entzieht, nur dank psychischer Steuerung eine im Detail folgerichtige Struktur entwickelt und gestaltet: Die Kolportage-Arbeit für Münchmeyer als ein lastvoll empfundenes Intermezzo zwischen den für Pustet bestimmten Manuskripten. Getreue Wiedergabe der Sachlage bei Niederschrift der


//130//

Bulgarien-Abenteuer. Rotkäppchen im Bauche des Wolfes zwischen der vordem selbstverständlichen Freiheit und der mühsam wiedererrungenen Freiheit - diese vorweggenommen und dargestellt in der bedeutsamen Anfangsszene der Befreinng Schimins durch Kara Ben Nemsi und der zentralen Szene der Befreiung Kara Ben Nemsis durch Halef. Die existenzbedrohende Gefangenschaft der Kreatur Karl May gleichgesetzt mit dem fürchterlichen Scheintode der Großmutter Kretzschmar, der lebenslangen Haupt-Bezugsperson Karl Mays, und dies wiederum visionär erschaut als die Großmutter Rotkäppchens vom Wolf verschlungen, wie Rotkäppchen selber. Der Kreis ist geschlossen. Karl May ist, während er von Schimin, Boschak und Saban schreibt, zugleich bei Münchmeyer gefangen. Eine alptraumhafte Vorstellung, die sich in spannender Erzählhandlung niederschlägt. Eine mehr als nur ungewöhnliche Leistung.

   Dieses greifbare Märchenmotiv überspannt das Geschehen in Rumili. Ein Geschehen, das in sich selbst, so glaubhaft es abläuft, märchenhaft anmutet - denn alles geht immer grad so aus, wie der Held es für seine Zwecke braucht; die Fährlichkeiten, die ihn befallen, haben nie Bestand: über ihm leuchtet die Gnade. Er ist jener, der auszog, das Fürchten zu lernen, und erlebt dessen Schicksal . . .


XV

Karl May will Märchenerzähler sein. Aber er will auch nur immer Selbsterlebtes schildern. Beides bekennt er in "Mein Leben und Streben" (S. 137, 139). Und er hat Wort gehalten. Seine Märchen enthalten die Wahrheit - wenngleich vielleicht nicht immer den objektiven Tatbestand, so doch  d i e  Wahrheit, wie sie sich dem suchenden, irrenden und lebenslang um Rechtfertigung seines Tuns besorgten Karl May in seinen Augen darbot, wie er sie sich zurechtlegte und zu eigen machte. May brauchte die Beschönigung, die Verbrämung, die Verzerrung(75), weil er daraus Kraft sog zur Gestaltung seiner bewegten und bewegenden Erzählhandlungen. Seine Psyche und sein geistiges Potential waren durchzogen von den ganz feinen und möglicherweise nie als existent vermuteten Maschen des in den Weberssohn hineingewobenen Netzes der »Lebenslüge« im Sinne Ibsens - des unbeirrten Festhaltens an der eigenen Sicht der Dinge; sie allein ermöglicht das Durchhalten, das Bestehen im Daseinskampf. Die Wahrheit, das offene Bekennen dieser Wahrheit, die Preisgabe der Illusion zugunsten der Auseinandersetzung mit Christian Pollmer, mit Emma, mit Münchmeyer, wie


//131//

sie alle  w i r k l i c h  geartet waren und handelten - das wäre tödlich gewesen. Nur die immer neu gefestigte May-Sicht der Ereignisse brachte Schaffensschwung und damit Glack. So wurde die Wahrheit zum Märchen, zu einem für Karl May lebensnotwendigen Märchen, das sich selbst widerspiegelt im Märchengeschehen der für wahr ausgegebenen Reiseerzählungen. Ein Kreis ohne Ende.



1 Dieser Beitrag ist Teil einer Untersuchung des Verfassers über Spiegelungen in Karl Mays großer Orienterzählung "Giölgeda padishanün" (Im Schatten des Großherrn), d. i. Band 1 bis 6 der Gesammelten Reiseromane/ Gesammelten Reiseerzählungen/ Gesammelten Werke (hier künftig GR/GW); die Untersuchung trägt den Gesamttitel "Durch die sächsische Wüste zum erzgebirgischen Balkan. Karl Mays erster großer literarischer Streifzug durch seine Verfehlungen"; ihre Einführung und ihr erster Abschnitt, "Der große Bogen von der Schuld zur Sühne" wurden im Jahrbuch der Karl-May-Gesenschaft (Jb-KMG) 1982 vorgestellt. Da die Veröffentlichung der einzelnen Teile nicht genau den einzelnen Episoden der Gesamterzählumg folgt, erscheint jeder Einzelbeitrag unter gesondertem Titel (hier: Das Märchen als Wahrheit . . . ).

2 Karl May selber hat das gleich in seinen ersten "Reiseerzählungen" listig betont, indem er eine unmittelbare Beziehung zwischen Kara Ben Nemsi und Harun al Raschid herstellte und je nach der Situation, das Selbstbewußtsein oder die (zumindest scheinbare) Bescheidenheit seines Ich ins Licht rückte: Siehe die Äußerung Mohammed Emins in "Durch die Wüste", GR/GW Band 1, Fr. E. Fehsenfeld, Freiburg/ KarlMay-Verlag Radebeul (künftig F/R), Seite 346, mit Kommentar des Autors; Ingdschas Äußerung in "Durchs wilde Kurdistan", GR/GW Band 2, F/R, S. 567 unten, mit Kommentar des Autors, S. 568, die Äußerung des Dorfvorstehers-und-Gastwirtes von Sbiganzy in "Durch das Land der Skipetaren", GR/GW Band 5, F/R, S. 293, mit Erwiderung Kara Ben Nemsis.

3 Ralf Harder: Kara Ben Nemsi und der Wolf. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (M-KMG) Nr. 60 Juni 1984. - Der Veröffentlichung seines und meines (hier vorliegenden) Beitrages ist eingehender Gedankenaustausch zwischen uns vorausgegangen.

4 Karl May: In den Schluchten des Balkan, GR/GW Band 4, F/R. Vor der ersten Buchausgabe (Freiburg, 1892) abgedruckt unter dem Titel "Der letzte Ritt" in "Deutscher Hausschatz in Wort und Bild" (DH), 11. Jahrgang, 1884-1885, und 12. Jahrgang, 1885-1886, Pustet, Regensburg; dieser Text liegt seit 1978 als Teil des von der KMG und der Buchhandlung Pustet herausgegebenen Faksimile-Reprintbandes "Die Todeskaravane/ In Damaskus und Baalbeck/ Stambul/ Der letzte Ritt" wieder vor; Einführung von Prof. Dr. Claus Roxin mit wichtigem und für den Karl-May-Forscher unentbehrlichem Material.

5 Eine frühe Untersuchung lieferte Fritz Prüfer mit semem Beitrag "Wettlauf. Eine vergleichende Studie" im Karl-May-Jahrbuch (KMJB) 1924, Karl-May-Verlag (KMV) Radebeul, worin er den von Karl May in dessen Jugenderzählung "Der Schatz im Silbersee" (GW Band 36, Reprint der ersten Buchausgabe von 1894 durch KMV Bamberg und Verlag A. Graff, Braunschweig (Graff), 1975) geschilderten lebensentscheidenden Wettlauf zwischen Hobble-Frank und Springender Hirsch in Beziehung setzt zu der Wettlauf-Szene in Wilhelm Hauffs Märchen "Der kleine Muck" und dem Wettlauf zwischen Hase und Swinegel im Volksmärchen. - Claus Roxin untersuchte in seiner Einführung zum DH-Reprintband "Giölgeda padishanün/ Reise-Abenteuer in Kurdistan", KMG/Pustet 1977, ob umd inwieweit May in dem Abenteuer um die Entführung Senitzas sich an Motive aus Wilhelm Hauffs Märchen "Die Errettung Fatmes" angelehnt haben könnte. - Friedhelm Munzel erwähnt in Teil E, Abschnitt V, Anmerkung 14, S. 359, seines Buches "Karl Mays Erfolgs


//132//

roman [Erfolgsroman]»Das Waldröschen« . . . ", Olms, Hildesheim-New York (Olms), 1979, das Märchen "Sechs kommen durch die ganze Welt", ohne ins einzelne zu gehen.

6 Karl May: Mein Leben und Streben. Reprint der Erstausgabe (Fehsenfeld, Freiburg) von 1910 (mit Anmerkungen von Hainer Plaul). Hildesheim-New York 1975, S. 137, 138

7 In diesem Lichte besonders pikant: Der Bär zwischen Schneeweißchen und Rosenrot - Karl May zwischen Emma Pollmer (seiner ersten Frau) und Klara Plöhn (seiner zweiten Frau), die von Außenstehenden oft für Schwestern gehalten wurden. Ob May, dem Ahnungen ja nicht fremd waren, jemals eine präkognitive Anwandlung diesbezüglich hatte?

8 Vom Amtsgericht Stollberg in Sachsen wurde Karl May im Jahre 1878 »wegen Amtsanmaßung« zu drei Wochen Gefängnis verurteilt: Er hatte im April 1878 im Dorfe Niederwürschnitz Nachforschungen angestellt über die Ursache des plötzlichen Todes des zum Vagabunden herabgesunkenen früheren Barbiers Emil Pollmer, Sohn des Hohensteiner Barbiers-und-Baders Christian Gottlieb Pollmer (Großvater der mit May liierten Emma Pollmer), und hatte dabei nach Auffassung des Gerichts den Tatbestand der Amtsaumaßung erfüllt. (Angeblich bezeichnete er sich u. a. als »etwas Höheres als der Staatsanwalt«. ) May protestierte vergebens gegen das Urteil und saß die Strafe im September 1879 in Hohenstein ab. Er hat diese Verurteilung - im Gegensatz zu den früheren rechtswirksamen Bestrafungen - weder in seiner Selbstbiographie "Mein Leben und Streben" (s. Anm. 6) noch in anderen bekennenden Schriften - z. B. in seinen "Prozeßschriften" (s. Anm. 9 und 10) - jemals erwähnt. Der Fall ist (mit juristischer Kommentierung von Erich Schwinge) lückenlos dokumentiert bei Fritz Maschke: Karl May und Emma Pollmer. Die Geschichte einer Ehe. KMV Bamberg 1973. - Zu Karl Mays Auseinandersetzung mit dem Geschehen, zu verschiedenen Zeiten in seinem Erzählwerk, siehe Heinz Stolte: Die Affäre Stollberg. Ein denkwürdiges Ereignis im Leben Karl Mays. In Jb-KMG 1976; ferner Walther Ilmer: Nachwort zum DH-Reprintband "Krüger Bei/ Die Jagd auf den Millionendieb", KMG/ Pustet 1980; Ders.: Winneteu beim Gesangverein. Ein Traum des Gefangenen. Sonderheft Nr. 35 der KMG, 1982.

9 Karl May war von etwa Mai 1875 bis etwa Februar 1877 Redakteur verschiedener Familienzeitschriften im Verlag Heinrich Gotthold Münchmeyer in Dresden (der auch "Aufklärungsschriften" wie "Der Venustempel", "Das Buch der Liebe" sowie Nachdrucke verschiedener Art und mehr oder minder schwülstig-rührselige Liebes-, Heimat- und Schauerromane im Kolportagehandel herausgab) und veröffentlichte dort u. a. seine Erzählungen "Leilet" "Old Firehand", "Wanda". May verließ die Stellung, um der ihm angetragenen Verehelichung mit Münchmeyers Schwägerin Minna Ey zu entgehen. Zu diesem Lebensabschnitt Mays siehe Hainer Plaul: Redakteur auf Zeit . . . , in: Jb-KMG 1977.

Im Herbst 1882 ging May, wohl auf Drängen seiner Frau Emma, auf Münchmeyers Ansinnen ein, noch einmal für den Verlag tätig zu werden, und schrieb in rascher Folge (1882-1887) für Münchmeyer die später von einflußreichen May-Gegnern als "abgrundtief unsittlich" hingestellten Kolportage-Romane "Das Waldröschen oder die Verfolgung rund um die Erde", "Der Verlorene Sohn oder Der Fürst des Elends"

"Deutsche Herzen, deutsche Helden", "Der Weg zum Glück" (sämtlich unter Pseudonym) sowie "Die Liebe des Ulanen" (von Karl May). Diese zweite Periode der Tätigkeit für Münchmeyer unterbrach in drastischer Weise Mays Arbeiten für die angesehene Zeitschrift "Deutscher Hausschatz" in Regensburg. (Hierzu grundlegende Ausführungen von Claus Roxin in seiner in Anm. 5 genannten Einführung zum DH-Reprintband "Giölgeda padishanün".) Der Text der Erstausgabe "Deutsche Herzen, deutsche Helden" wurde 1976 als Reprint vom KMV Bamberg neu vorgelegt, die übrigen Texte erschienen als reprographische Nachdrucke zwischen 1970 und 1972 bei Olms.

Karl May hat seine Beziehungen zum Verlag Münchmeyer und zu dem Verleger wie zu dessen Familie ausführlich dargestellt in "Ein Schundverlag" (1905), Erstveröffentlichung aus dem Nachlaß ("Prozeßschriften", Band 2), KMV 1982, sowie gedrängter - in seiner Selbstbiographie ,Mein Leben und Streben" (s. Anm. 6). -


//133//

Siehe auch Klaus Hoffmanns "Nachwort zum Faksimiledruck des Waldröschen" (Olms).

10 Zur Vorgeschichte und Geschichte der ersten Ehe Karl Mays siehe die mehrmals erwähnte Selbstbiographie sowie Karl May: Frau Pollmer. Eine psychologische Studie (1907), Erstveröffentlichung aus dem Nachlaß ("Prozeßschriften", Band 1), KMV Bamberg 1982 (auf das Vorwort des Herausgebers Roland Schmid und die Einführung von Heinz Stolte sei besonders hingewiesen), und Karl May: An die 4. Strafkammer des Kgl. Landgerichts III in Berlin (1911), Erstveröffentlichung aus dem Nachlaß ("Prozeßschriften", Band 3), KMV Bamberg 1982. Ferner Fritz Maschke: Karl May und Emma Pollmer, wie bei Anm. 8.

11 Zu all den hier umrissenen Ereignissen siehe Klaus Hoffmann: Zeitgenössisches über »ein unwürdiges Glied des Lehrerstandes«. Pressestimmen aus dem Königreich Sachsen 1864-1870. In: Jb-KMG 1971. Ders.: Karl May als »Räuberhauptmann« oder Die Verfolgung rund um die sächsische Erde. Karl Mays Straftaten und sein Aufenthalt 1868 bis 1870. 1. Teil. In: Jb-KMG 1972/73. Hier nachfolgend zitiert als Klaus Hoffmann, Jb-KMG . . . , S . . . .

12 - wenngleich "Der letzte Ritt" sich ein wenig mühsam dahinzuschleppen scheint. Zur literarischen Qualität der Erzählung siehe Claus Roxin in der bei Anm. 4 genannten Einführung zum DH-Reprintband "Die Todeskaravane/ . . . /Der letzte Ritt."

13 "In den Schluchten des Balkan" (wie bei Anm. 4), GR/GW, F/R, S. 43 unten ff. - Die im vorliegenden Beitrag hier nachfolgenden Seitenangaben (soweit nicht anders angegeben) beziehen sich auf denselben Band. - Der Text wurde jeweils verglichen mit den entsprechenden Stellen im DH-Reprintband " . . . Der letzte Ritt" (s. Anm. 4): 11. Jg., ab Nr. 51 (Reprint Seite 183), bis 12. Jg., Nr. 19 (Reprint Seite 272).

14 Klaus Hoffmann, Jb-KMG 1971, S. 114, Jb-KMG 1972/73 S. 226-227

15 Eine Assoziation zu »weiß« oder »Pflug« (oder »Pflock«j läßt sich allerdings nicht herstellen. Ganz vage und lose wäre allenfalls ein Lautanklang zwischen »K a ( m ) i n«und»C h r ( i s t ) i a n«anzunehmen.

16 - zumal er dieses Gespenst bereits in der Erzählung "Die Todeskaravane", DH 8. Jg., 1881-1882 (Buchausgabe: Von Bagdad nach Stambul, GR/GW Band 3, F/R, Kap. 1 bis 5) begraben zu haben glaubte. May blockte Irritationen auch dadurch ab, daß Martin Albani vom Charakter her dem Schwindler Albin Wadenbach nicht eigentlich ähnelt. Die nicht dem Verstandesbereich entspringende Zensur zeigt erstaunliche Züge. - Zu Karl Mays Auftreten als Albin Wadenbach siehe Heinz Stolte: Mein Name sei Wadenbach. Zum Identitätsproblem bei Karl May. In: Jb-KMG 1978.

17 Karl May: Giölgeda padishanün (wie bei Anm.1 und 5), DH7. Jg., S.434, "Durch die Wüste", GR/GWBand 1, F/R, S. 251 - (Den sprachlich nicht ganz einwandfreien Untertitel "Reise-Erinnerungen aus dem Türkenreiche", den May für die Gesamterzählung "Giölgeda padishanün" wählte, ließ er in der Buchausgabe entfallen.)

18 Klaus Hoffmann, Jb-KMG 1972/73, S. 216, 233

19 Klaus Hoffmann, Jb-KMG 1971, S. 119, Jb-KMG 1972/73, S. 239

20 "Giölgeda . . . " (wie bei Anm. 17), DH 7. Jg., S. 435 und passim; "Durch die Wüste", wie angegeben, S. 255 und passim

21 Ludwig Patsch. Karl Mays erste Liebe. In: KMJB 1979, KMV/Graff 1979

22 E i n  Aspekt des Abu-Seif-Motivs ist dabei eine überdramatisierte Raffung der Stollberg-Affäre: Abu Seif, der Vater des Säbels, der kühne Fechter, der Leid über die Familie gebracht hat und zum Räuber geworden ist, entspricht dabei in Mays Vorstellung in einer Person zwei Männern aus dem Umfeld Pollmer: dem Vater Emma Pollmers - nach Mays eigener Darstellung ein czechischer Barbiergeselle, der die ledige Mutter im Stich ließ - wie auch dem früheren Barbier Emil Pollmer (Emmas Onkel). In beiden Fällen ist »Säbel« eine dramatische Stilisierung des Berufsutensils Rasiermesser. Abu Seif wird von Halef (May) zur Strecke gebracht, damit Halef Ansehen bei Hanneh und Malek erwirbt; May ging der Ursache des plötzlichen Todes Emil Pollmers nach, um Emma wie ihrem Großvater zu imponieren. Halef ist bei Hanneh der Held, der May bei Emma sein wollte. Durch Verbindung Emmas mit dem braven Karl - wie die Halefs mit Hanneh - war die vom davongelaufenen Vater - alias Abu Seif - verursachte seelische Last aufgehoben; die Erinnerung an den "Bösewicht" von


//134//

damals störte die neue Verbindung nicht mehr. - Zu Mays Schilderung des Vaters und zu den Fakten siehe "Frau Pollmer" (bei Anm. 10) und die darin zu Seite 804 enthaltene Anmerkung von Heinz Stolte.

23 Klaus Hoffmann, Jb-KMG 1972/3, S. 240, 243, 244

24 Klaus Hoffmann, Jb-KMG 1972/73, S. 240-241

25 Mays ganz anders gearteter Versuch, das Problem »Albin Wadenbach« in der Erzählung "Die Todeskaravane" anzugehen (vgl. Anm. 16), soll hier außer Betracht bleiben.

26 Klaus Hoffmann, Jb-KMG 1972n3 S. 240 (nach Ludwig Patsch)

27 Der Altersunterschied zwischen beiden betrug 23 Jahre. Die »23« spielt in Mays Leben wie im Werk keine unbedeutende Rolle, siehe den Beitrag "Zeitbezüge" in M-KMG Nr.51, März 1982. Inwiefern sich in der oft auftretenden 23 auch eine Nachwirkung der Beziehung zu Malwine Wadenbach niederschlägt, ist nicht zu erweisen.

28 Ich folge durchgehend der von May gewählten Schreibweise »Menlik«. Tatsächlich hieß der Ort schon damals »Melnik«. Es bleibt reine Spekulation, ob May durch »Melaik« an »Malwine« erinnert wurde und dem unbewußt ausweichen wollte, zum anderen aber sich durch »Menlik« an »Chemnitz« erinnert fühlte, wo er Malwines Bruder kennengelernt hatte. Immerhin ist es bemerkenswert, daß sich in der Erzählung die innere Beschäftigung des Autors mit »Albani« (Albin) und - nach meiner Überzeugung - auch mit Malwine zwischen Ismilan und Menlik abspielt - zwei Orten, deren Lautzusammenstellungen in reichem Maße an diese Namen, wie an May, anklingen.

29 Kara Ben Nemsi: »Ein eigentumlicher Name. Ich habe ihn noch in keiner Sprache gefunden. Hast du ihn dir vielleicht ausgesonnen?« (S. 77)

30 Zitiert bei Klaus Hoffmann, Jb-KMG 1972/73, S. 228

31 Der Held gibt später zu, daß er sich über sein weiteres Vorgehen in bezug auf Mosklans Schicksal im unklaren war (S. 251).

32 - wie Karl May am 26. Juli 1869; siehe bei Klaus Hoffmann, Jb-KMG 1972/3, S.234

33 Klaus Hoffmann, Jb-KMG 1971, S. 114; Jb-KMG 1972/3, S. 226-227

34 Wie Anm. 30

35 Josef Höck/Thomas Ostwald: Karl May und Friedrich Gerstäcker. In KMJB 1979 KMV Bamberg/Graff 1979

36 Klaus Hoffmann: Karl May als »Räuberhauptmann« . . . , 2. Teil. In: Jb-KMG 1975 S. 245

37 Zitiert bei Klaus Hoffmann, Jb-KMG 1972/73, S. 220; vgl. dort auch S. 219, 232

38 Karl May: Durch das Land der Skipetaren. Reise-Erinnerungen aus dem Türkenreich. DH, 14 Jg., 1887-1888, Reprintband KMG/Pustet 1978, mit einer Einführung von Claus Roxin. Diese Erzählung umfaßt in der Buchausgabe die Kap. 7 und 8 von Band 4 GR/GW, F/R ("In den Schluchten des Balkan") sowie die Bände 5 GR/GW, F/ R ("Durch das Land der Skipetaren") und 6 GR/GW, F/R ("Der Schut", ohne »Anhang«, ebd.).

39 Hainer Plaul: Alte Spuren. Uber Karl Mays Aufenthalt zwischen Mitte Dezember 1864 und Anfang Juni 1865. In: Jb-KMG 1972n3, S. 211

40 "Durch das Land der Skipetaren". DH, 14. Jg., und Band 5 GR/GW, F/R (wie bei Anm. 38)

41 "Durch das Land der Skipetaren". DH, 14. Jg., und Band 6 GR/GW, F/R (wie bei Anm. 38)

42 Wie Anm. 41

43 Hans Wollschläger: »Die sogenannte Spaltung . . . « In: Jb-KMG 1972/73, S. 13

44 Vgl. hierzu die in Anm. 9 und 10 genannten "Prozeßschriften", Band 1, 2, 3, sowie "Mein Leben und Streben" (Anm. 6), S. 203-207

45 Siehe "Ein Schundverlag", wie bei Anm. 9

46 Die S. 177-179,183-186 liefern beklemmende Schilderungen. Hier ist der Schriftsteller Karl May als Erzähler ganz obenauf. - Die Schilderung des Zustandes, in dem Kara Ben Nemsi sich befindet, gibt mit einiger Wahrscheinlichkeit die Sinnes- und Gefühlsregungen wieder, die May heimsuchten, wenn er sich nach einer unerlaubten Tat ertappt sah (die Reaktion auf den oftmals von May ins Spiel gebrachten "Schlag auf


//135//

den Kopf", hier S. 177, 183): er verhielt sich »ganz regungslos, anscheinend wie leblos«, hieß es amtlicherseits 1865 siehe hierzu bei Hainer Plaul, wie Anm. 39, JbKMG 1972/3, S. 208. - Auf die in der Erwachensszene ebenfalls verarbeitete drückende Erinnerung an das in der Kindheit aufgenommene Bild vom Scheintod der Großmutter Mays - so wie jener sich ihm darstellte und wie May ihn in "Mein Leben und Streben" (Anm. 6), S. 25-26, schildert - wird noch eingegangen.

47 Die Befreiung Kara Ben Nemsis durch Halef spiegelt darüber hinaus Mays verzweifelte Selbstbefreiung am 26. Juli 1869 - s. Anm. 32 -, als er die »eiserne Bretze« sprengte oder abstreifte.

48 Nachdem im Lichte der Gleichsetzung von Abu Seif mit Emmas Vater und mit Emmas Onkel Emil dem Beinamen »Vater des Säbels« das Handwerkszeug Rasiermesser entspricht - vgl. Anm. 22 -, ist in »Waffe-«, bezogen auf Deselim als Emil, ggf. eine Analogie zu sehen.

49 Die symbolische Bedeutung Rih's und die des Henrystutzens werden in einer späteren Abhandlung ausführlich dargelegt.

50 Kabatsch, wohin Deselim flieht und wo er stirbt, liegt abseits des eigentlichen Reiseweges des Helden. Dem dürfte zweffacher Symbolcharakter innewohnen: (1) Der dem Helden hier unversehens aufgenötigte Ritt nach Kabatsch lag ebensowenig in seiner Absicht wie der Ritt zu Sabans Hütte - gerade wie Mays damalige Fahrt nach Niederwürschnitz. (2) Kabatsch ist der Wohnort des Sahaf Ali, den Kara Ben Nemsi in der Tat aufsuchen wollte (wenn auch nicht in Verfolgung eines Pferdediebes); das spricht für Kabatsch als Mays Geburtsort Ernstthal und zeitweiligen Wohnort Hohenstein, woran ihn nicht nur erfreuliche, sondern auch unangenehme Erinnerungen banden.

51 Prinzipiell - und verständlicherweise - findet die Umkehrung der Wirklichkeit sich in den May-Erzählungen häufig im Zusammenhang mit erdachten Wunscherfüllungen des Autors, die eine Schlappe in ihr Gegenteil ummünzen.

52 Insoweit als hier Mays hehre  A b s i c h t e n  zur Geltung kommen, können die diversen Schnitzer und kleinen Schlampereien, deren er sich bei der Austührung schuldig machte, außer Betracht bleiben. In seinem  W o l l e n  war er sicherlich gewissenhaft.

53 (Die wahrscheinliche Ambivalenz der Gefühle Mays gegenüber dem Vater wie auch der Mutter soll hier außer Betracht bleiben.) Autobiographische Züge lassen sich auch in dem auf den S. 219-222 geschilderten Besuch Kara Ben Nemsis bei Alis gelähmtem Vater vermuten: Bei einem solchen Besuch, den Karl seinem Vater abstattete, fielen sicherlich wahrheitsgemäße oder bittere Äußerungen Karls über sein Verhältnis zu Emma anstelle der im Erzähltext enthaltenen euphorischen Bemerkungen über Ikbala und Alis Glück - aber auch Mahnungen, Heinrich May möge sich in Gottes Ratschluß fügen. (Verschiedene Umstände sprechen dafür, daß der vom Schlaganfall betroffene Weber Heinrich May nicht - nicht mehr - fest im Glauben ruhte; siehe meine Beiträge "Das Adlerhorst-Rätsel - ein Tabu?" in: M-KMG Nr. 34, Dezember 1977, und "Karl May auf halbem Wege", in: Jb-KMG 1979.

54 Daß Tschileka der Verbindung heimlich Vorschub leistet, hat keine Parallele in der Realität: Emmas Mutter war längst verstorben, Mays Mutter und Schwestern waren eher gegen Emma eingestellt als ihr zugeneigt. Vielleicht soll eben die Betonung der mütterlichen Beschützerrolle Tschilekas ausdrücken, daß Karl und Emma einer solchen treuen Sorgerin gerade entbehrten. (Vgl. auch Anm. 61)

55 Karl May: An die 4. Strafkammer . . . , wie bei Anm. 10. S. 59

56 Ebd. S. 55

57 Es mag zutreffen, daß Emma keinen Zugang zu Mays Reiseerzählungen fand, auch seine Kolportage-Romane nicht las, eine sog. "höhere Bildung" (die ja auch May selber strenggenommen nicht besaß) nicht anstrebte; ihre Briefe verraten aber ein gutes Ausdrucksvermögen und eine erstaunliche Beherrschung der Rechtschreibung und der Satzlehre; hierin war sie Mays zweiter Frau Klara eindeutig überlegen. Mays "schwarzes Biid" seiner ersten Frau gehört zu der für ihn unverzichtbaren »Lebenslüge«. Er ließ nach der Scheidung ganz außer acht daß Emma ihn mit keinem Wort bloßgestellt oder ins Zwielicht gerückt hatte, als er sich in heilloser Übersteigerung seines Ich vor aller Öffentlichkeit als »Dr. Karl May genannt Old Shatterhand« prä-


//136//

sentierte [präsentierte]und kaum noch zu überbietende Aufschneidereien von sich gab (zu Mays Seelenlage in dieser Zeit, vor der Jahrhundertwende, vgl. den Beitrag von Claus Roxin im Jb-KMG 1974); es ist zweifelhah, ob Emma sich von rein materiellen Erwägungen leiten ließ und allein um der seit 1893 kräftig steigenden Geldeinnahmen Mays dessen gefährliche Münchhausiaden in Kauf nahm.

58 Karl May: Im Reiche des silbernen Löwen III, GR/GW Band 28, F/R. - Ein ebensowenig schmeichelhahes Bild entstand schon bald nach der Eheschließung mit Emma in Mersinah in Amadijah, die den Pantoffelhelden Selim Agha beherrscht. ("Giölgeda padishanün", DH, 7. Jg., S. 740ff; "Durchs wilde Kurdistan", GR/GW Band 2, Ft R, S. 161ff.)

59 Zu Mays Charakterisierung der Verlegersfrau siehe "Ein Schundverlag" (wie bei Anm. 9). (5. Kapitel: "Als Redakteur".)

60 Im Dialog mit Ikbala bejaht Kara Ben Nemsi die Frage, ob er durch Ali von der geplanten Verbindung Ikbala/Mosklan wisse (S. 140). Dies ist ein Irrtum des Autors: Ali hat Mosklan nicht erwähnt. (Siehe S. 97-109.)

61 Dies dürfte die Lage und Haltung Minna Ey's zu jener Zeit einigermaßen richtig wiedergeben. May läßt in "Ein Schundverlag" (s. Anm. 9) nicht erkennen, daß Minna obwohl den Wünschen des Schwagers und der Schwester gefügig - ihm, May, besonders glühende Gefühle entgegenbrachte. - Pauline Münchmeyer setzte der von Heinrich erwünschten Heirat Mays mit Minna keinen Widerstand entgegen; May legte auf ihre »Beschützer«-Funktion aber keinen Wert.

(Außerhalb des hier unmittelbar behandelten Themas sei angemerkt: In "Ein Schundverlag" - s. bei Anm. 9 -, S. 304, erwähnt May, daß Minna Ey, zusätzlich zu der für solche Arbeiten vorgesehenen Punktiererin, sich um Mays Wohnung im Münchmeyer-Hause, um seine Wäsche usw. kümmerte. Das rückt Minna Ey in den Lichtkreis der für die May-Forschung belangreichen Martha Vogel, die in "Wenn sich zwei Herzen scheiden" - GW Band 47, KMV Radebeul und Bamberg -, d. i. der aus der Trilogie ,Satan und Ischariot" - GR/GW Band 20-22, F/R, herausgetrennten "Heimat-Episode"- als Zimmermädchen beim Redakteur »Dr. May« fungiert und eine einseitige romantische Liebesbeziehung zu ihm unterhält. Die bisher zum Thema Martha Vogel angestellten Untersuchungen - siehe u. a. Hans-Dieter Steinmetz: »Der gewaltigste Dichter . . . « in M-KMG Nr. 40, Juni 1979, und Walther Ilmer: Der Professor, Martha Vogel . . . und Mays Ich. In: M-KMG Nr. 47, März 1981 - erweitern sich daher um den Minna-Ey-Aspekt.)

62 Ihn bewegte ja auch - 1885 - die nicht zu unterdrückende Hoffnung, Münchmeyer werde tatsächlich freundschaftlich und ehrlich an ihm als dem Autor der erfolgreichen Kolportage-Romane handeln, und mit ihm - Karl - und Emma, die mit Münchmeyer tändelte, werde alles wieder ins Reine kommen. - Die dem Verleger eigenen positiven Züge werden in anderen Teilen der Gesamterzählung karikierend auf Sir David Lindsay übertragen. - Der Dreiecks-Konflikt May-Emma-Münchmeyer wird von May in Ansätzen etwa gleichzeitig mit "Der letzte Ritt" in "Deutsche Herzen, deutsche Helden" behandelt; vgl. den Beitrag "Mißratene Deutsche Helden" im Sonderheft Nr. 6 der KMG, 1977 (S. 22-24, 26, 28). Eine ausführliche Darstellung unternimmt May später in der Erzählung "Die Felsenburg., DH,20. Jg., 1893-1894; Buchausgabe "Satan und Ischariot I", GR/GW Band 20, F/R, vgl. hierzu das Nachwort zum DH-Reprintband "Die Felsenburg., KMG/Pustet 1980. - Im Hinblick darauf, daß in "Die Felsenburg" H. G. Münchmeyer als »Satan« Harry Melton auftritt, ist übrigens die Jahre vorher getroffene Namenswahl »Saban« bemerkenswert.

63 - wie später bei dem Sklavenhändler Murad Nassyr. Siehe hierzu das Nachwort zum DH-Reprintband "Der Mahdi", KMG/Pustet 1979.

64 Unabhängig davon, daß in dieser Erzählung die gescheiterte Beziehung Karl/Minna und die zustande gekommene Beziehung Karl-Emma ineinandergewoben werden, bleibt die Frage, ob May Anfang 1877, beim Ausscheiden aus dem Verlag Münchmeyer, sich in der Tat bereits an Emma gebunden fühlte und unter anderem auch wegen dieser Bindung kein Gefallen an Minna fand. Die Karl-May-Forschung neigt dazu, den Sommer 1876 als Zeitpunkt des Kennenlernens Karl/Emma anzunehmen (ich selbst habe mich dem bisher angeschlossen), doch legen einige Aussagen Mays, so


//137//

wohl in "Mein Leben und Streben" (s. Anm. 6) wie in "Frau Pollmer" (s. Anm. 10), den Schluß nahe, die Bekanntschaft sei erst im März 1877 zustande gekommen. (Die Angaben in "Mein Leben und Streben" sind jedoch nicht in sich widerspruchsfrei; hierauf hat mit Blick auf die von May im Zusammenhang mit Emma genannte »Weihnacht« schon Hans Wollschläger hingewiesen, siehe - wie Anm. 43 - Jb-KMG 1972/ 73, S. 37-38)

65 Zu August Walther siehe Mays Darstellung in "Ein Schundverlag" (s. Anm. 9) sowie in "Mein Leben und Streben" (s. Anm. 6), S. 237. Vgl. ferner Hainer Plauls Anmerkung 241 in dem bei Anm. 6 genannten Faksimile-Reprint.

66 Kara Ben Nemsi erhält den Schlag mit dem Gewehrkolben, als er gerade Lebensmittel und Wein darreicht.

67 Siehe hierzu auch die Darstellung im Sonderheft Nr. 6 der KMG (wie bei Anm. 62), u.a.S.33

68 Unstimmigkeiten in der Handlungsführung sind daher bei Karl May stets auf eine unvorhergesehene Störung im inneren Mechanismus der psychischen Strömungen zurückzuführen. (Vgl. Anm. 37 im Nachwort zum DH-Reprintband "Im Reiche des silbernen Löwen., KMG/Pustet 1981.) Krassestes Beispiel ist der Roman "Deutsche Herzen, deutsche Helden.; siehe das mehrmals erwähnte Sonderheft Nr. 6 der KMG.

69 Mag dabei einiges, nach streng wissenschahlichen Ansprüchen, »spekulativ« bleiben, so darf dies der Offenlegung begründeter Gedanken hinsichtlich der Manifestation seelischer Vorgänge im Werk keinen Einhalt gebieten. Karl May wurde mehr aus unabweisbarem seelischem Zwang als aus jedem anderen Grunde heraus Schrihsteller; die Erforschung seines Werkes kann gerade dem Seelenkundler wahrscheinlich noch viel Exemplarisches bieten, und »das Phänomen Karl May« (Heinz Stolte) kann sich nachgerade als Schulfall im Sinne des Postulats Dilthey's erweisen, wonach jeder Dichtung ein Erlebnis zugrumdeliegt.

70 Vgl. hierzu die zentrale Situation der Gefangennahme Old Shatterhands durch Großer Mund in "Die Felsenburg" (s. Anm. 62), wie im Nachwort zum gleichnamigen DH-Reprint (ebd.) dargestellt.

71 Zu Johannes Kochta siehe "Mein Leben und Streben" (Anm.6), S. 172-173,176, und Hainer Plauls Anmerkung 150 in dem bei Anm. 6 genannten Faksimile-Reprint.

72 Karl Mays Erzählungen - u. a. Dorfgeschichten, Humoresken, Abenteuer in Amerika, im Orient (Afrika, Asien), in Polynesien (in der Ich-Form wie auch in der dritten Person geschrieben) - und seine (nicht sonderlich gelungenen) Romane ("Auf der See gefangen"; "Scepter und Hammer"; "Die Juweleninsel") erschienen nicht durchweg bei Münchmeyer oder bei Pustet, sondern in den verschiedensten Zeitschriften und Verlagen. Die meisten dieser - seit 1876 nachweisbaren - Erzählungen und die Romane sind von der KMG als Reprint der jeweiligen Erstausgabe, ggf. auch in den von May vorgenommenen Textvarianten, wieder vorgelegt worden; siehe z. B. die Nachdrucke aus "Feierstunden am häuslichen Heerde", "Der Beobachter an der Elbe", "Deutsches Familienblatt", "Weltspiegel", "Frohe Stunden" (KMG, 1971 bis 1975) sowie die Sammlungen "Der Waldkönig" (KMG 1980) und "Kleinere Hausschatz-Erzählungen" (KMG/Pustet 1982).

73 Mit "Giölgeda padishanün" begann Mays eigentliches Ansehen als populärer Schriftsteller von unverkennbar eigener Note und Faszination. Es war diese Erzählung, die später - 1891 - den Verleger Friedrich Ernst Fehsenfeld in Freiburg/Br. bewog, Karl Mays Schriften in Buchform als "Gesammelte Reiseromane" (ab 1896 "Gesammelte Reiseerzählungen") herauszubringen.

74 Siehe Alfred Schneider: » . . . unsere Seelen haben viel Gemeinsames!« In: Jb-KMG 1975

75 Werkanalysen müssen daher meiner Überzeugung nach bei aller Würdigung der bekannten Fakten stets Karl Mays Darstellungen dieser Fakten (vor allem in "Mein Leben und Streben", s. Anm. 6, und in den bei Anm. 9 und 10 genannten "Prozeßschriften") berücksichtigen. Ganz offenkundig nahmen bestimmte Ereignisse - insbesondere solche mit für ihn ungünstigen Folgen - in seinem Inneren eine andere als die tatsächliche Erscheinungsform an; dazu gehört z. B. eklatant der Kerzendiebstahl in Waldenburg (1859), den May in "Mein Leben und Streben", S. 100-102, anders hin


//138//

stellt, als er sich nach den akribischen Recherchen von Klaus Hoffmann (siehe "Der »Lichtwochner« . . . Karl Mays erstes Delikt." In: Jb-KMG 1976) zugetragen hat May hat die Vorgange gewiß nicht vorsätzlich entstellt, sondern sie nur schlicht umgeformt, weil er sie so sah. Die Pramisse, daß es für May entscheidend war, vor sich selbst und vor der Mitwelt je nach Erfordernis des Augenblicks als niitleidswürdig oder als verkannt oder als der Überlegene dazustehen, ist in sich ein wichtiger Schlüssel zum Erkennen der bei der Niederschrift einzelner Szenen oder Handlungssequenzen maßgebenden Kunst der Draperie, die zugleich auch immer Enthüllung ist.

Ich widme diesen Beitrag dem vom Alter ungebeugten Wiener Freund Dr. Franz Cornaro, dessen grundlegende Ausführungen "Der Märchenerzähler" im Karl-May-Jahrbuch 1924 mich schon als Schüler beschäftigten und die weitergewirkt haben . . . Semper juvenis!


Inhaltsverzeichnis


Alle Jahrbücher


Titelseite

Impressum Datenschutz