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HELMUT SCHMIEDT

Karl Mays "Mein Leben und Streben" als poetisches Werk



Bei der Erinnerung an die Geburt des Schriftstellers, mit dem wir es hier zunächst zu tun haben, ist an Gestirne zu denken: Die Konstellation der Himmelskörper deutet an, was aus diesem Menschen einmal werden mag. Schon früh zeigt sich seine produktive Begabung: In zartestem Alter verfertigt er kleine literarische Texte, die ihm »allgemeines Lob« (1) eintragen. Beflügelt wird die erstaunliche Phantasie zweifellos durch die immensen Lektüreerlebnisse des Knaben, dessen »junges Gehirn schnell genug mit einer Masse von Bildern und Begebenheiten, von bedeutenden und wunderbaren Gestalten und Ereignissen angefüllt (ist)«, so daß er »niemals Langeweile«(2) hat. Eine beträchtliche Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch ein Puppentheater, indem es als »kindliche Unterhaltung und Beschäftigung auf sehr mannigfaltige Weise (...) das Erfindungs- und Darstellungsvermögen, die Einbildungskraft und eine gewisse Technik«(3) übt und fördert. Der Vater bemüht sich, die Entwicklung durch Privatunterricht voranzutreiben, und verheißt dem Filius einen glänzenden zukünftigen Weg(4), der »bequemer und weiter«(5) führen werde als der seine. Das Kind kann den diversen erzieherischen Maßnahmen jedoch nicht nur angenehme Seiten abgewinnen, und so flüchtet es des öfteren vor den »didaktischen und pädagogischen Bedrängnissen«(6) zu den Vertretern der noch einmal älteren Generation.

   Diese Zitate und Zusammenfassungen beziehen sich nicht, wie man angesichts der Überschrift und des Publikationsortes der vorliegenden Abhandlung vermuten könnte, auf Karl Mays Autobiographie "Mein Leben und Streben". Zwar kennen wir das alles auch daher: die einleitende Rede von den Gestirnen, die kindlichen Phantasien, die Rolle des Puppentheaters und der frühen, umfangreichen Lektüreerfahrungen, die pädagogischen Bemühungen des Vaters, die geliebte Großmutter, zu der das Kind vor mancherlei Bedrohungen und Nöten flieht. Die obigen Hinweise ergeben sich jedoch aus einem anderen Text: aus Goethes Autobiographie "Dichtung und Wahrheit".

   Wir stoßen mit der Entdeckung dieser Verbindungslinien auf ein Problem, das die allgemeine Autobiographieforschung seit längerem und neuerdings auch die Karl-May-Forschung beschäftigt: wieviel "Literatur" steckt in den - dem Anspruch nach in der Regel doch der Ent-


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hüllung [Enthüllung] von "Wahrheiten" dienenden - Selbstdarstellungen der Schriftsteller? Daß ein Autor, der auf ein langes Leben zurückblickt, hin und wieder von seinem Gedächtnis im Stich gelassen oder getäuscht wird und das vielleicht sehr gern in Kauf nimmt, daß er manche Dinge auch bewußt übergeht, retuschiert oder im unklaren beläßt, mag verständlich erscheinen. Was aber ist davon zu halten, wenn er gar zu sehr ins Poetische verfällt: sei es, daß er andern Orts vorgegebene Motive und Topoi in der Gestalt vermeintlich eigenen Erlebens daherkommen läßt - und uns so darüber in Zweifel stürzt, ob er im Traditionellen wirklich Geschehenes findet oder es an dessen Stelle setzt -, sei es, daß er im Übermaß zu denjenigen literarischen Formen, Formeln und Verfahrensweisen greift, deren er sich schon in seinen Romanen, Erzählungen usw. bedient hat? Wer seine Autobiographie "Dichtung und Wahrheit" oder "Mein Leben und Streben" nennt, ist sich solcher Zwiespältigkeit vielleicht bewußt: Jeweils zielt ja der eine Begriff des Titels auf den empirisch faßbaren, sich wesentlich in Äußerlichkeiten manifestierenden Teil der Vita, der nach gängigem Verständnis also eindeutig-unbezweifelbare Klärungen erheischt, der andere hingegen mehr auf Fiktionen und Absichten, aufs Erdachte und Imaginierte, also aufs Interpretierbare, Mehrdeutige. »Die Wahrheit der Autobiographie liegt im Aufbau einer Persönlichkeit mit Hilfe der Bilder, die sie von sich selber macht«(7): Was aber ist, wenn diese Bilder ganz oder überwiegend poetischen Konstruktionen entspringen?

   Auf den ersten Blick sind darauf zwei Antworten denkbar, die sich aber als argumentatorische Sackgassen erweisen dürften und denen wir deshalb von vornherein nicht nachgehen wollen: Der auf strenge empirische Faktizität eingeschworene Fahnder wird in einem solchen Fall von elementarer Unzuverlässigkeit reden und die Quelle beiseite legen; sein Antipode, bereit, dem Dichter jederzeit und überall die poetische Lizenz und nur sie auszustellen, wird jede Recherche nach dem "wahren" Kern autobiographisch-poetischer Schilderung für banausenhaft halten. Wer indessen den einen wie den anderen Irrweg meidet, mag am Ende Genaueres über beides erfahren: über die Poesie und über die historische Wahrheit oder Wirklichkeit.

   Die May-Forschung hat sich, wo sie den Beziehungen zwischen Vita und Werk nachging, lange Zeit vor allem auf die autobiographischen Implikationen der Phantasieprodukte konzentriert, und sie tut dies auch heute noch mit beträchtlichem Ertrag; Autoren wie Stolte, Wollschläger und Ilmer sind dem Problem auf sehr unterschiedliche Weise nachgegangen. Mit der präziseren Durchleuchtung der Biographie Mays ist aber auch ein umgekehrtes Verhältnis letzthin immer deutlicher sichtbar geworden: die Ausrichtung des Mayschen Alltagslebens an literarischen Modellen. May hat eben nicht nur seine literarischen Konstrukte nach persönlichen Erlebnissen, Erfahrungen und Bedürf-


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nissen [Bedürfnissen] entworfen, er bezog auch umgekehrt aus der Dichtung - eigener und fremder - Anregungen und Vorbilder, an denen er sich in seiner Lebenspraxis orientierte. Schon als Kind hat er bekanntlich einmal, dem Zeugnis der Autobiographie zufolge, sein Glück in Spanien suchen wollen: im Land der edlen Räuber und Erlöser aus allem Übel, die er aus der Lektüre einschlägiger Romane kannte. Besondere Beachtung verdient die Old-Shatterhand-Legende in Mays Lebensphase vor der Jahrhundertwende, da er dem Publikum mit großem Ernst versicherte, er sei mit dem famosen Helden seiner Bücher tatsächlich identisch und habe dessen gewaltige Leistungen vollbracht; der literarische Entwurf ist jetzt ein ganz unmittelbares Modell für die außerliterarische Realität geworden, die Grenzen verschwimmen. Noch interessanter gestalten sich die Verhältnisse einige Jahre später. Nun nimmt May sein individuelles Schicksal bzw. dessen Deutung zum Vorwurf für eine Mythologie von geradezu kosmischem Ausmaß: Wenn er von Babel und Bibel, von Ardistan und Dschinnistan, von falschem und richtigem Winnetou-Bild fabuliert, handelt er z. T. sehr bewußt - immer auch die eigene Lebensgeschichte ab und ihre noch nicht eingelösten Hoffnungen. Doch die Abhängigkeiten sind wiederum von einer vertrackten Doppeldeutigkeit: May überhöht nicht nur literarisch sein Curriculum vitae zum Paradigma der Menschheitsgeschichte, sondern gestaltet und deutet es im alltäglichen Diesseits auch zugleich anhand der künstlerischen Inszenierungen, in die er Menschheitsgeschichte bannt - anders wären die Posen des schmerzensreichen Sehers, als der er sich in seinem letzten Jahrzehnt häufig gebärdet, kaum verständlich; wir haben es mit einer permanenten Durchdringung, Potenzierung und zugleich Relativierung verschiedener Größen zu tun, und der ganze Vorgang entbehrt nicht, der Kenner weiß das, beträchtlicher Peinlichkeiten, ja der unfreiwilligen Komik. Was ihn erträglich und manchmal bewundernswert macht, sind vor allem die Grandiosität, der Ambitionsreichtum und die partielle Artistik der ihm zu verdankenden poetischen Schöpfungen, wie ja überhaupt der Fall May Interesse nicht schon deshalb verdient, weil Leben und Literatur einander wechselseitig beeinflussen - gibt es Autoren von Rang, bei denen das nicht so wäre? -, sondern dadurch, daß die Verhältnisse sich im Detail derart extrem, bizarr und doch vielleicht auch modellhaft gestalten.

   Noch einmal potenziert und kompliziert erscheint der Sachverhalt, wenn May sich seiner in deskriptiven Selbstdarstellungen reflektierend annimmt und dabei dennoch sogleich wieder in poetische Verfahrensweisen verfällt: vom Hang zu einer teilweise grotesken Metaphorik(8) bis zur Fixierung von Erinnerungen nach den Mustern seiner Abenteuerromane.(9) Gerade in den letzten Jahren sind zahlreiche Selbstdeutungen Mays, sein Werk, sein Leben und deren Verschränkung betreffend,


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erstmals publiziert worden"(10), so daß diese Tendenzen nunmehr besonders sorgfältig beobachtet und analysiert werden können.

   Was speziell "Mein Leben und Streben" betrifft, jenen Text, mit dem wir es hier vor allem zu tun haben, so sind auch darin bereits Verkleidungen, Retuschen und Überblendungen registriert worden, die über das Maß gewöhnlicher Erinnerungslücken und Irrtümer(11) weit hinausreichen. Hans Wollschläger hat seine Überlegungen zur Genese und zur produktiven Energie des Mayschen Narzißmus wesentlich auf die Reproduktion der "Urszene" gestützt(12), die in der Autobiographie zu entdecken sei; May habe sie freilich, so der Analytiker, sorgsam kaschieren müssen und sie deshalb in einen völlig anderen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang gerückt: Statt von einem hilflosen Kind, das traumatisch den Liebesentzug durch die Mutter erfährt, ist expressis verbis die Rede von einer Episode aus der Phase der Mayschen Kriminalität. Martin Lowsky legte dar, wie eine besonders anrührende Schilderung der Armut, die im Hause der Großmutter geherrscht hat, inhaltlich und teilweise auch stilistisch identisch ist mit einer Kalendergeschichte von Johann Peter Hebel(13) - wie weit ist unter diesen Umständen der soziale Mißstand glaubwürdig, den May so angelegentlich zu vermitteln sucht, inwiefern hat sich das Beschriebene wirklich zugetragen? Auf der anderen Seite sind May durchaus, wie wir ebenfalls wissen(14), für einige Geschehnisse seiner Vergangenheit angemessene, sehr präzise Erklärungen gelungen, die wir heute sogar mit einigem Staunen zur Kenntnis nehmen können. Deshalb drängt sich die Frage nur um so intensiver auf: welche Funktion hat die Poetizität der Mayschen Selbstdarstellungen; und zunächst: wie groß ist überhaupt ihre Rolle?

   Wir kehren zu den Parallelen zwischen Goethes "Dichtung und Wahrheit" und "Mein Leben und Streben" zurück. Die obige Einleitung hat davon vielleicht einen irreführenden Eindruck vermittelt: Keineswegs verhält es sich nämlich so, daß May etwa abgeschrieben oder die Reminiszenzen des Vorgängers auch nur in einem ganz besonders intensiven Maße imitiert hätte. Vielmehr sind neben den Übereinstimmungen auch deutliche Unterschiede erkennbar, und erst deren Durchleuchtung erlaubt eine adäquate Würdigung des gesamten Phänomens. Ich beschränke mich hier auf eine Analyse der inhaltlichen Differenzen und sehe von den sprachlichen ab; von Mays Stil wird unter anderem Aspekt noch die Rede sein.

   »Die Konstellation war glücklich: die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig, Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig; nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen«(15): so heißt


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es in den ersten Sätzen der Goetheschen Autobiographie. May beginnt seinen Text mit dem Märchen von Sitara, jenem erdenähnlichen Stern, dessen zwei wesentliche Teile Ardistan und Dschinnistan sind: ein von entsetzlichen Gewalttätern und Egoisten beherrschtes Tiefland und ein von Glück und Sonnenschein(16) regiertes Hochland. Es folgt das mit "Meine Kindheit" überschriebene Kapitel, in dem erstmals von May selbst die Rede ist; der einleitende Satz lautet: Ich bin im niedrigsten, tiefsten Ardistan geboren, ein Lieblingskind der Not, der Sorge, des Kummers.(17)

   Einen krasseren Gegensatz kann man sich wohl kaum vorstellen: Zwar reden beide Autoren von Gestirnen, aber die daran geknüpften Reflexionen weisen in völlig unterschiedliche Richtungen. Im Fall des Sohnes einer wohlsituierten Frankfurter Bürgerfamilie vereinen sich die Himmelskörper, um indirekt schon von einer glanzvollen Zukunft zu künden; mehr noch: einer davon, der Mond, ist gerade ob seiner Renitenz sogar behilflich - Goethe versichert es mit oder ohne Augenzwinkern -, die Geburt auf den angemessenen Zeitpunkt zu verlegen; sie erfolgt »mittags mit dem Glockenschlage zwölf«.(18) Nichts dergleichen bei May: der Sohn des armen Webers zitiert zwar eine eigene Mythologie, um seine Sicht der Welt zu erläutern, siedelt seinen Platz darin aber sogleich an der finstersten, bedrückendsten Stelle an. Wenn wir bedenken, daß das Argumentieren mit Ardistan und Dschinnistan Mays gesamte späte Gedankenwelt durchzieht und daß es sich gewiß auch um »soziale Kategorien«(19) handelt, wird die Komplexität dieser Klage erst recht verständlich.

   Beide Autobiographen bezeugen umfangreiche Leseerlebnisse im Kindesalter. Goethe nennt den "Orbis pictus" des Amos Comenius, Gottfrieds "Chronik", Ovids "Verwandlungen", den "Robinson Crusoe" und "Die Insel Felsenburg", diverse Volksbücher, wie "Eulenspiegel" und "Fortunatus", sowie einiges andere(20): durchweg geschätzte, der Bildung wie der Unterhaltung gleichermaßen dienliche Schriften. Karl May erwähnt Alte Gebetbücher, Rechenbücher, Naturgeschichten, gelehrte Abhandlungen, von denen ich kein Wort verstand(21), die er gleichwohl z. T. sogar habe abschreiben müssen; etwas später gerät er an die Leihbibliothek der Schankwirtschaft, in der er als Kegelaufsetzer ein wenig Geld verdient, und findet dort Romane wie den "Rinaldo Rinaldini" des Goethe-Schwagers Vulpius, "Bruno von Löweneck, der Pfaffenvertilger", "Emilia, die eingemauerte Nonne", "Der König als Mörder".(22) Der Rückblick der beiden Autoren, der an so unterschiedliches Bildungsgut erinnert, führt zu entsprechend gegensätzlichen Beurteilungen: Zwar spricht auch Goethe von einigen »rohen und gefährlichen Altertümlichkeiten«(23) in seinem Lektürestoff, gelangt aber insgesamt zu einer ausgesprochen positiven Würdigung dieser frühen Leseerlebnisse; May hingegen spricht in bezug auf die erstgenannten Titel von


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wüste(m), unnötige(m) Zeug (...) eine(r) Verfütterung und Ueberfütterung sondergleichen und in bezug auf die Leihbibliothek von einem viel schlimmere(n) Gift als Bier und Branntwein(24), das ihn vollkommen in seinen Bann gezogen habe; Rinaldo-Assoziationen kehren, explizit oder implizit, noch Jahrzehnte später in seinen Abenteuerromanen wieder.(25)

   Goethe trägt seine frühen literarischen Hervorbringungen Lehrern und Eltern vor, »wobei ich gut bestand und allgemeines Lob davontrug«(26); May reüssiert vor älteren Schulknaben.(27) Goethe beschäftigt sich mit einem geschenkten Puppentheater, und das Ganze wird »dergestalt eingerichtet, daß die Zuschauer in meinem Giebelzimmer sitzen, die spielenden und dirigierenden Personen aber, sowie das Theater selbst vom Proszenium an, in einem Nebenzimmer Platz und Raum fanden«(28); May besitzt selbstverständlich weder die Möglichkeit zu solchen raumgreifenden Inszenierungen noch überhaupt nur ein eigenes Puppenspiel und besucht lediglich ein paarmal eine öffentliche Aufführung: ein ganz gewöhnliches, armseliges Puppentheater (...) im Webermeisterhause.(29) Wenn sowohl Goethes als auch Mays Vater dem Sohn ein ersprießlicheres als das eigene Leben prophezeien, so ist an die beträchtliche Differenz zwischen den Vergleichsgrößen zu denken: Neben dem in einigem Wohlstand lebenden Frankfurter erscheint der erzgebirgische Weber fast wie eine Jammergestalt; May mag denn auch dessen pädagogischen Bemühungen das Etikett Erziehung nur in Anführungszeichen zugestehen, während Goethe über die vergleichbaren Bemühungen seines Vaters wohlwollender urteilt.(30) Die Wohnung der Goetheschen Großeltern, in einer anderen Straße als das Elternhaus gelegen, »schien ehemals eine Burg gewesen zu sein«, zu ihr gehören ein »ziemlich breite(r) Hof« und ein reichhaltig gefüllter »Garten, der sich ansehnlich lang und breit hinter den Gebäuden hin erstreckte«(31); wenn der kleine May seine Großmutter besucht, muß er lediglich in ein anderes Zimmer des gewiß äußerst ärmlich ausgestatteten Elternhauses gehen.

   Die Liste solcher Entsprechungen und Unterschiede ließe sich ergänzen, zumal gewiß einiges daran - etwa das überdurchschnittliche Lesepensum in Kindheit und Jugend - geradezu traditionell zum Erfahrungshorizont produktiver Literaten gehören dürfte. Eben deshalb aber fällt es besonders auf, daß May die Schilderungen Goethes nicht nur keineswegs kopiert hat, sondern daß die Abweichungen auch allesamt in eine ganz bestimmte Richtung verweisen. Während Goethe durchweg von Umständen und Geschehnissen berichtet, die er schon damals überwiegend als angenehm empfunden hat und die er auch noch im jetzigen Rückblick - mit nur kleinen Einschränkungen - als im besten Sinne zukunftsweisend und förderlich ansieht, redet May im gleichen thematischen Zusammenhang von deprimierenden Verhält-


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nissen [Verhältnissen] und belastenden, schädlichen Einflüssen. Wo Goethe fast alles zum Vorteil ausschlägt, hat May es mit Entbehrungen und Irrwegen zu tun. Personen, Gegebenheiten und sogar die Konstellation der Gestirne weisen im ersten Fall darauf hin, daß wir ein künftiges Genie vor uns haben, und sie tun alles zu seiner inneren Reifung und seinem äußeren Erfolg Notwendige, während im zweiten Fall genau die entgegengesetzte Tendenz zu beobachten ist. Man darf die Kontraste schlagwortartig und mit Hilfe eines Klischees erfassen: Während dem einen der Weg nach Weimar und ins Pantheon der Weltliteratur schon vorgezeichnet ist, ist es dem anderen derjenige ins Zuchthaus und in die Abgründe mitleidig belächelten Kitsches. Dies gilt um so mehr, als die Reminiszenzen in den beiden Texten ja nicht nur einen einzigen Lebensbereich betreffen, sondern eine Vielfalt von Erfahrungen zum Gegenstand haben: Wir lernen bereits aus den angeführten Textstellen vieles über den Bildungsgang und die Erziehung der späteren Schriftsteller, über die allgemeinen sozialen Bedingungen, unter denen sie aufgewachsen sind, und auch über die persönlichen, innerfamiliären Konstellationen, die sie geprägt haben. Der Befund ist unter allen diesen Aspekten der gleiche.

   Martin Lowsky mußte sich in seinem Kommentar zur Hebel-Assoziation in "Mein Leben und Streben"(32) die Antwort auf die Frage versagen, ob sich das dort Geschilderte tatsächlich ereignet hat oder ob es sich um eine aus der Kenntnis des älteren Werkes gespeiste Erfindung handelt; man wird das heute kaum mehr klären können, wenn auch vieles für das letztere spricht. Gravierender erscheint ein anderer Aspekt: es ist anscheinend gar nicht so wichtig, ob wir es mit einem Faktum oder einer Fiktion zu tun haben. Vielleicht gibt uns gerade die poetische Substanz der Episode die genaueste Auskunft über das geschilderte Elend: Daß May sich eines in der literarischen Tradition bereits eingeführten, aussagekräftigen Motivs bedient, um der ungeheuren Not in der Rekapitulation habhaft zu werden, sagt womöglich mehr über die damals herrschenden Zustände und Mays Kenntnis von ihnen aus als jede denkbare Antwort auf die Frage nach der Faktizität der erzählten Episode - gäbe diese auch im buchstäblichen Sinne wirkliches Geschehen wieder, so besäße sie doch nur die Qualität einer Momentaufnahme, deren repräsentative Bedeutung ungewiß ist. Wir haben es aber höchstwahrscheinlich mit einem dank seiner literarischen Herkunft präzise Konturen gewinnenden Bild zu tun, das die Lebensverhältnisse der Großmutter anschaulicher darstellt, als wenn May sie mit dem nüchtern rubrizierenden Blick des Historikers erfaßt hätte; den kennen wir zur Genüge aus zahlreichen sozialgeschichtlichen Darstellungen.

   Unsere Beobachtungen zu "Dichtung und Wahrheit" und "Mein Leben und Streben" lassen sich nun ganz analog erklären. In vielen Punkten wird nicht mehr zu entscheiden sein, ob das Erzählte tatsächlich


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Mays Erinnerung entspringt, ob er es sich unabhängig von Goethes Text oder in bewußter oder unbewußter Anlehnung daran ausgedacht und gezielt charakteristische Abweichungen eingezeichnet hat. Das ist aber auch gar nicht entscheidend; der Erkenntniswert, den das biographische Detail besitzt, hängt nicht so sehr ab vom Grad seiner Faktizität - im plansten Sinne: das habe sich so und nicht anders zugetragen -, sondern von seiner literarischen Prägung, und die ergibt sich bei unseren Beispielen nicht zuletzt aus dem objektiv feststellbaren Umgang mit den Goetheschen Vorgaben. So mag es zwar von gewissem Interesse sein, daß May nach seiner Genesung die Spielkameraden mit Erzählungen unterhalten, allerlei unnützes und sogar schädliches Zeug gelesen und die Faszination eines Puppentheaters erlebt hat - das alles können wir freilich kaum noch im einzelnen überprüfen; ob es jedoch der Wirklichkeit entspringt oder nicht, viel mehr sagt uns diese Darstellung, wenn wir sie mit der Goetheschen vergleichen: Da erfahren wir dann etwas über die unterschiedliche Anerkennung, die die jungen Dichter gefunden haben - man denke an das daraus erwachsende Selbstbewußtsein -, ihre quantitativ ähnlichen, qualitativ aber stark voneinander abweichenden Bildungsgänge, ihre Möglichkeiten zu eigener künstlerischer Arbeit im Kindesalter und deren Resonanz - Mays Mitteilungen erhalten bei derart zahlreichen und vielfältigen Vergleichen ein erheblich größeres Gewicht, als stünden sie in der Geschichte der deutschen Autobiographie isoliert da. Erst dank ihrer Qualität als "Literatur" also werden Mays Notizen in ihrer Tragweite voll verständlich, erst unter diesem Aspekt wird ganz erkennbar, was May im Rückblick von seiner Kindheit hält, und das gilt, noch einmal sei es betont, unabhängig davon, ob es sich um eine bewußte Kontrafaktur oder etwas anderes handelt. Der unmittelbare Wirklichkeitsgehalt der Schilderung erscheint demgegenüber fast sekundär; ihre Wahrheit bezieht sie zunächst aus der spezifischen Reaktion auf die tradierten Modelle, so wie ja überhaupt Vergleiche oft ein relativ ideales Mittel der Charakterisierung sind.

   Wir wenden uns nun jenen Zügen in "Mein Leben und Streben" zu, die mit fremden Schriftstellern im eben besprochenen Sinne nichts zu tun haben, Mays Neigung zur Poetisierung von vordergründig streng "realistischen" Mitteilungen aber gleichfalls bezeugen. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht ja schon der ursprünglich einmal erwogene Titel "An Marterpfahl und Pranger": Damit hätte May zwei ähnlichen Zwecken dienende Instrumente zusammengekoppelt, das eine aus der Phantasiewelt seiner Abenteuerromane, das andere aus der Geschichte seines Vaterlandes; der Sprung über räumliche und zeitliche Grenzen hätte zu einer Metaphorik geführt, die die Verschränkung von Literatur und Leben sogleich auf das eindringlichste signalisiert. Daß May mit dem Märchen von Sitara beginnt und dem gesamten Text, gleichsam als


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Motto, ein von Verstoßung und wohl auch vom Tod sprechendes Zitat aus dem "Reiche des silbernen Löwen" vorausschickt, verweist uns auf die oben schon erwähnten Zusammenhänge zwischen der Vita und deren mannigfacher literarischer Überhöhung im Spätwerk: Hier wird der aufmerksame Leser sogleich darüber belehrt, daß er mit anderem als einer profanen Aneinanderreihung exakt referierter Fakten rechnen darf. Ganz leicht übrigens ist es May wohl nicht gefallen, sich im Dickicht seiner diversen Ambitionen und Darstellungsweisen zurechtzufinden: jedenfalls lassen das seine wechselnden Aussagen über Sinn und Zweck des autobiographischen Unternehmens vermuten. Einmal verkündet er mit dem bekannten Maß entwaffnender Bescheidenheit, das so vieles in seinen Selbstdeutungen auszeichnet: Das Karl May-Problem ist das Menschheitsproblem, aus dem großen, alles umfassenden Plural in den Singular, in die einzelne Individualität transponiert; da müßte denn also, so wird man denken, das vorliegende Werk die Mitwelt gebührend zu interessieren haben. May hat freilich gerade zuvor notiert, er schreibe es nicht etwa seiner Freunde und Feinde wegen, sondern nur  u m  m e i n e r  s e l b s t  w i l l e n ,  um über mich klar zu werden, doch nach dem Ausgriff aufs Menschheitliche hofft er, es möge mancher aus unserem Beispiele lernen; später, da er von seinen Delikten spricht, wird die didaktische Absicht ganz offen formuliert: Es gehe um ein laut sprechendes Beispiel.(33)

   Betrachtet man den Stil des ganzen Werkes, so fällt seine große Wandlungsfähigkeit auf: Mit den Themen verändert sich die Sprache. Als May die Verhältnisse im Elternhaus zur Zeit seiner Geburt schildert, bedient er sich zunächst einer penibel auf äußere Details achtenden, ansonsten streng asketischen Darstellungsweise: Geboren wurde ich am 25. Februar 1842 in dem damals sehr ärmlichen und kleinen, erzgebirgischen Weberstädtchen Ernstthal, welches jetzt mit dem etwas größeren Hohenstein verbunden ist. Wir waren neun Personen: mein Vater, meine Mutter, die beiden Großmütter, vier Schwestern und ich, der einzige Knabe. Die Mutter meiner Mutter scheuerte für die Leute und spann Watte. Es kam vor, daß sie sich mehr als 25 Pfennige pro Tag verdiente. Da wurde sie splendid und verteilte zwei Dreierbrötchen, die nur vier Pfennige kosteten, weil sie äußerst hart und altbacken, oft auch schimmelig waren, unter uns fünf Kinder. In die letzten Wendungen schiebt sich bereits, zunächst fast unmerklich, ein böser Sarkasmus, eine bittere Ironie, der May des öfteren Raum gibt, wenn er sich die privaten Nöte in Erinnerung ruft. Im übernächsten Satz wird diese Tendenz deutlicher: Sie starb, wie man sagte, aus Altersschwäche. Die eigentliche Ursache ihres Todes aber war wohl das, was man gegenwärtig diskret als »Unterernährung« zu bezeichnen pflegt.(34) In bezug auf einen anderen Todesfall heißt es: Er starb und hinterließ ihr alles, was er besessen hat-


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te [hatte], die Armut und den Ruf eines braven, fleißigen Mannes. Hierauf wurde es still und stiller um sie.(35)

   Aber auch über das allgemeine und das persönlich erfahrene Leid kann May mit kühler und dennoch eindringlicher Sachlichkeit Auskunft geben: Es waren damals schlimme Zeiten, zumal für die armen Bewohner jener Gegend, in der meine Heimat liegt. Dem gegenwärtigen Wohlstande ist es fast unmöglich, sich vorzustellen, wie armselig man sich am Ausgange der vierziger Jahre dort durch das Leben hungerte. Arbeitslosigkeit, Mißwachs, Teuerung und Revolution, diese vier Worte erklären Alles. Es mangelte uns an fast Allem, was zu des Leibes Nahrung und Notdurft gehört. Wir baten uns von unserm Nachbar, dem Gastwirt »Zur Stadt Glauchau«, des Mittags die Kartoffelschalen aus, um die wenigen Brocken, die vielleicht noch daran hingen, zu einer Hungersuppe zu verwenden. Wir gingen nach der »roten Mühle« und ließen uns einige Handvoll Beutelstaub und Spelzenabfall schenken, um irgend etwas Nahrungsmittelähnliches daraus zu machen. Wir pflückten von den Schutthaufen Melde, von den Rainen Otterzungen und von den Zäunen wilden Lattich, um das zu kochen und mit ihm den Magen zu füllen. Die Blätter der Melde fühlten sich fettig an. Das ergab beim Kochen zwei oder drei kleine Fettäuglein, die auf dem Wasser schwammen.(36) Präziser kann man kollektive Not am individuellen Schicksal wohl kaum illustrieren. Hainer Plaul weist in diesem Zusammenhang darauf hin(37), daß die Schilderungen zum Alltagsleben der Ernstthaler Weber von Historikern als sozialgeschichtliches Zeugnis ersten Ranges gewürdigt worden sind.

   May beherrscht aber noch andere Töne. Eine unerwartete Wendung seines Werdegangs teilt er in märchenhaft anmutenden Formulierungen mit: Als dann die Zeit gekommen war, stellte sich die nötige Hilfe ein (...). Der Herr Pastor legte ein gutes Wort für mich bei unserm Kirchenpatron, dem Grafen von Hinterglauchau, ein, und dieser gewährte mir eine Unterstützung von fünfzehn Talern pro Jahr, eine für den Seminarbesuch ausreichende Summe. Die Schilderung der revolutionären Taten Ernstthaler Freischarenzüge gerät hingegen - von der Verfälschung der politischen Intentionen ganz abgesehen - zur Militärklamotte: Von allen, die heut ausgezogen waren, um große Heldentaten zu verrichten, kam zuerst der geliehene Gaul zurück. (...) Gegen Abend folgte der Webermeister Kretzschmar. Er behauptete, daß er mit seinen Plattfüßen nicht weitergekonnt habe; dies sei ein Naturfehler, den er nicht ändern könne.(38) Die letzten Kapitel, die zum großen Teil den bei der Niederschrift des Textes noch anhängigen Gerichtsverfahren und den publizistischen Querelen gelten, nehmen mehr und mehr den Charakter einer Streitschrift an, erfüllen also in einem schlichteren, pragmatischeren Sinne als die ersten die Funktion einer oratio pro domo; entsprechend ändert sich auch der Stil, der von - manchmal grotesk


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geknicktem - Pathos und von Polemik durchsetzt ist. Schon bei der Erwähnung der Mayschen Straftaten deutet sich dieser Gestus an: Mein Henker, Schinder und Abdecker zu sein, überlasse ich jener abgrundtiefen Ehrlosigkeit, die mich vor nun zehn Jahren an das Kreuz geschlagen und während dieser ganzen Zeit keinen Augenblick lang aufgehört hat, immer neue Qualen für mich zu ersinnen. Sie mag in diesen Fäkalienstoffen weiterwühlen, zum Entzücken all jener niedern Lebewesen, denen diese Stoffe Lebensbedingung sind.(39)

   Der sachliche Informationswert gerade dieser Sätze ist gleich Null: Wir erfahren weder etwas Genaues über die von May verübten Straftaten - obwohl er eine offene Beichte angekündigt hat und jetzt zu jener Zeit Im Abgrunde(40) vorgedrungen ist, da es um seine Delikte geht noch über die Attacken seiner gegenwärtigen Kontrahenten. Wohl aber lernen wir einiges über Mays Sicht der Streitigkeiten und damit auch über seine derzeitige seelische Verfassung: Jenes Miteinander von einfallsreich komponierten Beschimpfungen und wehleidigem Masochismus erlaubt da beträchtliche Einblicke; im übrigen übertreffen die Martern des - wenn man ihn beim Wort nimmt - seit zehn Jahren unentwegt am Kreuz Hängenden die Leidensdauer des Erlösers Jesus Christus, so daß die klagenden Sätze ihrem Autor en passant auch gleich wieder den höchsten Rang verleihen.

   Es ist hier also der Stil, der uns am meisten sagt, und auch dies ist gewiß ein Beleg für die poetische Beschaffenheit von "Mein Leben und Streben". Nicht viel anders verhält es sich mit den weiteren Textstellen: Wo Sarkasmen und märchenhaftes Staunen derart prägend in den Gestus einer Beschreibung eindringen, die wahrlich ernste Wendepunkte eines Lebens markiert, da wird greifbar, wie sehr sich das sprechende Individuum sogar noch im Rückblick als Objekt der Geschichte begreift, nicht als deren zur Aktivität fähiges Subjekt, und mit welchen psychischen Konstruktionen es darauf reagieren muß; wenn May eine Aktion zur Verteidigung der »gegen König und Adel (...) erfochtenen demokratischen Errungenschaften der Revolution von 1848«(41) dem Gelächter und dem Hohn preisgibt, verrät er mancherlei über seinen politischen Standort. In diesen Fällen und weit darüber hinaus erweist sich nicht das Was des Inhalts, sondern das Wie seiner Fixierung und Vermittlung als besonders erkenntnisträchtig.

   Die literarische Struktur des Werkes zeigt sich ferner in den zunächst sehr kärglich, später immer intensiver eingesetzten Einschüben wörtlicher Rede: Die betreffenden Ereignisse werden so nach dem Modell dramatischer Tableaus präsentiert. Ähnliches gilt für die Kommentare zum psychischen Befinden in der Zeit der Straftaten, um deren Triftigkeit man bekanntlich viel gestritten hat; in unserem Kontext ist von Belang, daß May, indem er von den in seiner Psyche rivalisierenden Gestalten redet, sich zur Illustration seelischer Bedrängnisse


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quasi eine innere Bühne konstruiert, und so spricht er denn auch ganz treffend von einem Drama mit verschiedene(n), handelnde(n) Persönlichkeiten, die sich bald gar nicht, bald aber auch sehr genau von einander unterschieden(42); nicht viel anders wirkt die Schilderung der zwei Seelen in der Brust des Vaters, und die mehrfach wiederholte Überlegung, daß der Mensch nicht Einzelwesen sondern Drama sei(43), bringt die Sache verallgemeinernd auf den Begriff. Psychische wie auch äußerlich greifbare Konstellationen werden darüber hinaus mit Hilfe der - von Klaus Jeziorkowski jüngst wohl gar zu weitherzig ausgelegten(44) - Hoch-Tief-Konstellation expliziert, deren Bezugspunkt zumeist die Sitara-Metaphorik ist, und gelegentlich auch mit Hilfe der Vorstellung vom Drinnen und Draußen. An der folgenden Stelle verbindet May die beiden Modelle: Ich befand mich ja an einem der größten und reichsten Fundorte alles dessen, was da zu erzählen war, im Gefängnisse. Da kondensiert und verdichtet sich alles, was draußen in der Freiheit so leicht und so dünn vorüberfließt, daß man es nicht ergreifen und noch viel weniger betrachten kann. Und da erheben sich die Gegensätze, die draußen sich wie auf ebener Fläche vermischen, so bergeshoch, daß in dieser Vergrößerung Alles offenbar wird, was anderwärts in Heimlichkeit verborgen bleibt.(45) Spielt May hier expressis verbis mit räumlichen Vorstellungen, so verbirgt er an anderer Stelle angestrengt - freilich nicht erfolgreich -, daß er die zeitlichen Dimensionen durcheinanderwirft: Die der Haftzeit zugeschriebenen literarischen Pläne und Vorausblicke auf die sich daran mutmaßlich entzündenden Streitigkeiten entsprechen - inklusive des Vorhabens, eine Reihe von dreißig bis vierzig Bänden(46) zu schreiben - präzise dem 1909/10 gegebenen Stand der Dinge bzw. Mays Sicht darauf.

   Manches erinnert sehr deutlich an die Reiseerzählungen. Der sibyllinische Hinweis auf das Weihnachtsfest, das oft eine verhängnisvolle Zeit(47) gewesen sei, könnte in ähnlicher Form darin auftauchen: Als Romancier benutzt May oft solche rätselhaften Vorausdeutungen.(48) An einigen Stellen der Autobiographie bedient er sich einer Metaphorik, die ganz ungeniert konkretes Romangeschehen zugrundelegt: Der bildliche "Keulenhieb", der ihn vor seiner ersten Arretierung trifft(49), hat eine ganze Ahnenreihe in seinen Werken aufzuweisen.(50) Das gleiche gilt, in allgemeinerem Sinne, auch für die Stilisierung ins Extreme, zu der May in seinen Personenporträts neigt: Unter diesem Aspekt weisen die oben zitierten Henker, Schinder und Abdecker eine gewisse Verwandtschaft mit Mays Mutter auf, die, als eine Märtyrerin, eine Heilige(51), freilich auf dem entgegengesetzten Ende der Skala angesiedelt ist. Ein Satz über das Puppentheater-Erlebnis wie: Da kam ein Tag, an dem sich mir eine Welt offenbarte, die mich seitdem nicht wieder losgelassen hat, liest sich, cum grano salis, wie die Einleitung zum Erweckungserlebnis in einer pietistischen Autobiographie früherer Jahrhun-


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derte [Jahrhunderte]; eine Sentenz wie Es gibt irdische Wahrheiten, und es gibt himmlische Wahrheiten. Die irdischen Wahrheiten werden uns durch die Wissenschaft, die himmlischen durch die Offenbarung gegeben(52), wäre ohne bestimmte geistesgeschichtliche Traditionen - von denen May aber schweigt - nicht denkbar, zumal ohne die von einem Teil der Aufklärungstheologie betriebene Scheidung zwischen "natürlichen" und "geoffenbarten" Weisheiten - es steckt also in diesem Werk auch noch viel mehr "Bildung", als man bisher gesehen hat.

   Natürlich handelt es sich bei alledem nicht um ein Spezifikum des Mayschen Textes. Selbstbiographen, Memoirenschreiber und manch andere Autoren von "Sachbüchern" haben sich seit jeher poetischer Mittel bedient. So läßt z. B. der Autor Cäsar den Protagonisten Cäsar in der Darstellung des Gallischen Krieges zumeist dann am Ort eines Geschehens eintreffen, wenn dieses den Römern Erfolge beschert, und er verabschiedet ihn, sobald Niederlagen bevorstehen; das wird keineswegs der historischen Wirklichkeit immer entsprochen haben, aber die listige Manipulation der Interdependenz von Raum, Personal und Ereignis suggeriert den Lesern auf das anschaulichste, was es mit der Aura des Großen Mannes und ihren segensreichen Folgen für die römische Geschichte auf sich hat.

   Eine wichtige, bislang zumeist unterschätzte Rolle spielt das poetische Element auch in dem wohl meistgehaßten Buch der Wirkungsgeschichte Karl Mays: in Arno Schmidts "Sitara und der Weg dorthin".(53) Schmidt hat es präsentiert als eine analytische Abhandlung über May und sein Werk; in Wahrheit diente es primär aber gewiß einem ganz anderen Zweck: Schmidt probierte darin die Möglichkeiten eines bestimmten Umgangs mit der Sprache aus, den er dann in seinen voluminösen späteren Romanen intensiv und konstruktiv betrieb. Es handelt sich also von vornherein, trotz gegenteiliger Versicherung, eher um eine mehr oder weniger virtuose Etüde im Dienste der eigenen Literatur als um eine das Untersuchungsobjekt May angemessen würdigende Studie, und unter diesem Aspekt spielt es dann kaum eine Rolle, ob die Thesen zu May mehr oder weniger falsch sind. Nun haben manche Kritiker nicht so sehr Schmidts zentrale Theorie von der Mayschen Homosexualität gerügt als vielmehr seine über den gesamten Text verstreuten Anwürfe und Beschimpfungen gegen den toten Kollegen; Heinz Stolte etwa konstatierte ein »gargantuaische(s) Beschimpfungs- und Rüpelspiel«, »ein Fingerzeigen auf den Mohr, ein Gassengeschrei um den Mann mit dem Buckel«(54): Gemeint sind Invektiven wie die vom »Schwindelköpfchen«, vom »Stümper, der mit 1 oder 2 Pfund mehr Gehirn ein sehr respektabler Autor« hätte werden können, vom »alternde(n) Schwätzer und Schludrian«.(55) Vielleicht aber sind gerade diese Ausfälle, horribile dictu, nicht zuletzt auch ein Zeugnis für die literarische Struktur des Ganzen. Ich vermute nämlich, daß Schmidt im Ver-


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lauf [Verlauf] seiner Experimente gelegentlich das Bedürfnis empfunden hat, aufkommende Bewunderung zu dämpfen: Gerade weil die Sprache Mays bei manipulativer Behandlung einen dem hier unterstellten Ziel entsprechenden Assoziationsreichtum in den bloßgelegten beträchtlichen Ausmaßen aufwies, mußte ihr Urheber in seiner ästhetischen und intellektuellen Potenz auch wieder degradiert werden, um nicht Schmidts eigene Arbeiten zu sehr zu belasten. Die May-Beschimpfungen sind also wohl so etwas wie Spielmaterial zur Austarierung der Zwecke und Ergebnisse der "Sitara"-Recherchen, erhalten ihr Gewicht primär im Hinblick auf die ästhetische Ökonomie des Textes, auf die Sicherung seines Etüden-Charakters, und sie verraten damit eine ganz andere Sicht Mays, als sich expressis verbis in ihnen äußert. - Dies nur als Hypothese; es wäre aber an der Zeit, daß eine Spezialuntersuchung sich einmal der literarischen(56) Faktur des Schmidtschen Werkes annähme.

   Ich will dieser Untersuchung noch in anderer Hinsicht den gebührenden Rahmen setzen: Natürlich sagt das alles, was hier über die poetischen Gehalte autobiographischer und ähnlicher Texte formuliert wurde, der Forschung nichts grundsätzlich Neues; es wurde ja schon angedeutet, daß sowohl die allgemeine Autobiographieforschung als auch - in Ansätzen - die spezielle May-Forschung entsprechende Einsichten längst erarbeitet hat. Ralph-Rainer Wuthenow z. B. resümierte in seinen Ausführungen zum 18. Jahrhundert, der vielleicht fruchtbarsten Epoche in der Geschichte der deutschen Autobiographie, es sei fast jeder einschlägige Text »bereits eine Form der Reflexion über das Ich«.(57) Steht hier die uns inzwischen wohlbekannte subjektive Komponente als solche im Vordergrund, so betont ein anderer Autor das daraus resultierende Gestaltet-Sein der Werke: »Der Autobiograph enthüllt nicht einfach Tatsachen und Beziehungen, die einem Außenstehenden unbekannt sein müssen, sondern er stellt eine Ordnung von Werten auf, die seine eigene ist. Notwendigerweise muß er eine Art von idealem Bild von sich schaffen und die Dinge nach seinem Entwurf (...) anordnen.«(58) Bezogen auf den Fall May, könnte sich das etwa so lesen: »ihre (= der Autobiographie) Wahrheit freilich ist dauernd von gequälter Subjektivität verschoben, - eisern hängt an den "Erlebnissen" die alte Klausel: eine "Lebens-Reise-Erzählung"«.(59) Wir haben gesehen, daß eine solche Verschiebung den Text hinsichtlich seiner Mitteilungskraft keineswegs gänzlich entmächtigt.

   Spätestens an dieser Stelle ist nun einem Einwand zu begegnen, der manchen Leser vielleicht schon seit längerem beschäftigt und der durch die Entdeckung, wir bewegten uns im Rahmen allgemein akzeptierter Einsichten, noch verstärkt wird: ist es denn tatsächlich völlig belanglos, ob autobiographische Mitteilungen und dergleichen im banalen Sinne "stimmen" oder nicht? Braucht es uns etwa gar nicht zu interessieren,


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ob May mit dem Bericht über seine mehrjährige Blindheit im Kindesalter buchstäblich recht gehabt hat oder ob es sich um eine Metapher für extreme psychische Defizite handelt, ob Arno Schmidts Theorie von der Mayschen Homosexualität zutrifft - nur weil die Texte, in denen das steht,  a u c h  eine literarische Beschaffenheit aufweisen?

   Die Antwort muß eindeutig ausfallen: Natürlich spielt dies alles eine Rolle, und zwar eine durchaus beträchtliche; man sollte keineswegs "Mein Leben und Streben" nur als Roman lesen und den - in mancher Hinsicht eingelösten - Anspruch seines Autors vergessen, er informiere zuverlässig und sachlich über sein Leben; Recherchen nach der Präzision und Korrektheit der von May notierten Fakten, wie sie Hainer Plaul betrieben hat, erübrigen sich also keineswegs. Beides gilt: May schrieb einen um die Darlegung empirischer Tatsachen bemühten Bericht und ein poetisches Werk, das sich gattungsspezifischer Topoi, singulärer Muster und literarischer Verklausulierungen bedient. So ist es denn auch nicht das Ziel dieser Untersuchung gewesen, die Selbstbiographie grundsätzlich in anderen Gefilden anzusiedeln. Es kam - in Übereinstimmung mit den Ergebnissen der neueren Forschung - darauf an, sie insofern detailliert zu analysieren, als ganz bestimmte Charakteristika darin einigermaßen systematisch erkundet und ihre Erkenntniswerte herausgestellt wurden; daß es daneben andere wichtige Elemente gibt, bleibt unstrittig. Immerhin erweist sich nun die eingangs aufgeworfene Frage als gegenstandslos, ob die Entdeckung der "Literatur" in "Mein Leben und Streben" das Buch entwerte. Seine Triftigkeit vermittelt sich auch - und an vielen Stellen in erster Linie - im Subjektiv-Poetischen statt im Objektiv-Faktischen: Hier herrscht dann die Wahrheit der Poesie statt jener, die in planen, üblicherweise als realistisch bezeichneten Abbildungen des Wirklichen liegt.

1 Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (künftig: DuW). In: Berliner Ausgabe. Bd. 13. Berlin-Weimar 41976, S. 39

2 Ebd.

3 Ebd. S. 55

4 Vgl. ebd. S. 36ff.

5 Ebd. S. 36

6 Ebd. S. 43

7 Roy Pascal: Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt. Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1965, S. 221

8 Vgl. etwa Karl May: Die Schundliteratur und der Früchtehunger. In: Jb-KMG 1983, S. 50-55 (hier erstmals veröffentlicht).

9 Vgl. Heinz Stolte: »Frau Pollmer - eine psychologische Studie«. Dokument aus dem Leben eines Gemarterten. In: Jb-KMG 1984, S. 11ff., ferner die Bemerkungen zur "Studie" in meinem Literaturbericht im Jb-KMG 1984, S. 265f.

10 Vgl. insbesondere die im Jb-KMG 1983 enthaltenen Texte Mays sowie seine Prozeßschriften. 3 Bde. hg. v. Roland Schmid. Bamberg 1982

11 Auf diese - und manches andere, das in unseren Zusammenhang gehört - verweist ausführlich Hainer Plaul in den Anmerkungen der von ihm edierten Ausgabe von "Mein Leben und Streben" (künftig: LuS), Hildesheim-New York 1975


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12 Vgl. Hans Wollschläger: »Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt«. Materialien zu einer Charakteranalyse Karl Mays. In: Jb-KMG 1972/73, S. 21ff.

13 Vgl. Martin Lowsky: Spuren Johann Peter Hebels in Karl Mays Autobiographie. In: M-KMG 56,1983, S. 3-6

14 Vgl. z. B. Gabriele Wolff: Versuch über die Persönlichkeit Karl Mays. Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft 45, 1983, passim.

15 DuW S. 13

16 LuS S. 3

17 Ebd. S. 8

18 Wie Anm. 15. - Bei näherem Hinsehen erweist sich das Spiel, das Goethe mit seiner Geburt treibt, als noch erheblich komplizierter in einem geradezu dialektischen Sinne. Im folgenden Absatz notiert der Autobiograph: »Diese guten Aspekten (...) mögen wohl Ursache an meiner Erhaltung gewesen sein«; er sei nämlich »durch die Ungeschicklichkeit der Hebamme (...) für tot auf die Welt (gekommen)«, doch habe man ihn »durch vielfache Bemühungen« gerettet. Die Beinahe-Katastrophe habe dann zu einer Verbesserung des Hebammenunterrichts Anlaß gegeben: so schlägt selbst Mißliches in Goethes Dasein der Umwelt zum Wohle aus - wir werden noch genauer sehen, wie eine solche Prädestinationslehre zu interpretieren ist.

19 Klaus Jeziorkowski: Empor ins Licht. Gnostizismus und Licht-Symbolik in Deutschland um 1900. In: Gerald Chapple und Hans H. Schulte (Hg.): The Turn of the Century. German Literature and Art, 1890-1915. Bonn 1981, S. 192

20 Vgl. DuW S. 39f.

21 LuS S. 53

22 Vgl. ebd. S. 73

23 DuW S. 40

24 LuS S. 53 und 72

25 Vgl. die Belege bei Helmut Schmiedt: Karl May. Studien zu Leben, Werk und Wirkung eines Erfolgsschriftstellers. Königstein/Ts. 1979, S. 56f. - Was hingegen das arrivierte Bildungsbewußtsein von "Rinaldo" und seinem Autor hält, deutet sich in Thomas Manns "Lotte in Weimar" an. Dort überlegt der alte Goethe, wen er zu einem feierlichen Mahl einladen soll, bei dem er das reale Vorbild der Lotte im "Werther" wiedertreffen wird; auf den Hinweis des Sohnes: »Onkel Vulpius?« antwortet der Dichter barsch: »Abgelehnt, du bist nicht klug!« (Thomas Mann: Lotte in Weimar. Frankfurt a. M. 1982, S. 337)

26 DuW S. 39

27 LuS S. 34. Ebd. S. 32 berichtet May allerdings, er habe schon zuvor, da er noch blind war, auch »Erwachsene« mit seinen Erzählungen unterhalten, »die zu mir kamen, weil ich nicht zu ihnen konnte.« Wenn man dieser Passage überhaupt glauben will, so dürfte es sich hier weniger um die Anerkennung kreativer Phantasie als um das Bestaunen eines Kuriosums gehandelt haben: Daß das blinde Kind eloquent drauflos fabulierte, daß der beredte Knabe blind war, mag als Attraktion erschienen sein - ein gewiß recht zweifelhafter Triumph für den kleinen May.

28 DuW S. 54

29 LuS S. 55

30 Vgl. LuS S. 50f.; DuW S. 36

31 DuW S. 43

32 Vgl. Anm. 13

33 LuS S. 12, 11, 13, 81

34 Ebd. S. 8f.

35 Ebd. S. 27

36 Ebd. S. 39f.

37 Vgl. ebd. S. 360*, Anm. 78

38 Ebd. S. 93 und 46f.

39 Ebd. S. 169

40 Ebd. S. 109 (Titel des Kapitels)

41 Hainer Plaul in seinen Anmerkungen zu Mays Text: S. 349*, Anm. 54


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42 LuS S. 111 und 112

43 Ebd. S. 9 und 74

44 Vgl. Anm. 19; dazu mein Literaturbericht im Jb-KMG 1983, S. 252ff.

45 LuS, S. 136f.

46 Ebd. S. 146

47 Ebd. S. 8

48 Vgl. Helmut Schmiedt a.a.O. S. 192ff.

49 Vgl. LuS S: 106

50 Vgl. das bei Helmut Schmiedt a.a.O. S. 51f. angeführte Beispiel, das jeder May-Kenner aus eigenem Wissen wird ergänzen können.

51 LuS S. 9

52 Ebd. S. 55 und 140

53 Arno Schmidt: Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen, Werk & Wirkung Karl Mays. Frankfurt a. M.-Hamburg 1969 u. ö. (Erstausgabe 1963, Karlsruhe)

54 Heinz Stolte: Nachträgliches über ein böses Buch. In: Ders. und Gerhard Klußmeier: Arno Schmidt & Karl May. Eine notwendige Klarstellung. Hamburg 1973, S. 11 und 15.

55 Zusammenstellung der Zitate ebd. S. 12

56 Es sei hier eingeräumt, daß in dieser Arbeit zentrale Termini wie die der "Literarität" und "Poetizität", der schriftlich zu rekonstruierenden "Wahrheit" und "Wirklichkeit" nicht mit aller wünschenswerten Präzision abgegrenzt und erläutert worden sind, insofern mag ein gestrenger Kritiker Grund zur Klage finden. Freilich würde eine ausführliche Interpretation dieser Begriffe nicht nur die Abhandlung ungebührlich aufblähen, sondern am Ende dennoch fragmentarisch bleiben: Letztlich handelte es sich ja um nichts Geringeres als den Versuch, den Kunstcharakter bestimmter schriftlicher Hervorbringungen und ihren speziellen Zugriff auf die empirische Welt von der Beschaffenheit anderer Texte grundsätzlich und verbindlich zu unterscheiden, und dies ist noch niemandem hinreichend gelungen. Ich begnüge mich also mit der Hoffnung, das zentrale Problem meiner Überlegungen ergebe sich einigermaßen deutlich aus deren Gang.

57 Ralph-Rainer Wuthenow: Das erinnerte Ich. Europäische Autobiographie und Selbstdarstellung im 18. Jahrhundert. München 1974, S. 214

58 Roy Pascal a.a.O. S. 226f. Vgl. zum gesamten Komplex auch Bernd Neumann: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie. Frankfurt a. M. 1970.

59 Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 175


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