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HELMUT SCHMIEDT


Literaturbericht*


Zu den nennenswerten Neuerscheinungen im Berichtszeitraum (Ende 1984 - Mitte 1986) gehören eine Dissertation, die speziell Karl May gilt, je eine Dissertation und Habilitationsschrift, in denen er eine Hauptrolle spielt, und mehrere kleinere Arbeiten, vom Lexikonartikel bis zum Zeitschriftenbeitrag. Rein quantitativ entspricht das etwa den Verhältnissen, die von den Literaturberichten unserer Jahrbücher in den achtziger Jahren regelmäßig registriert werden konnten. Wie aber steht es mit dem sachlichen Ertrag dieser neuen Publikationen zu Karl May?

   Die ausschließlich ihm geltende Dissertation ist in Bochum entstanden, ihr Autor heißt Reinhold Frigge.1 Nachdem wir in zahlreichen Studien letzthin vor allem über die psychologischen, geistesgeschichtlichen, ideologischen, pädagogischen u. a. Implikationen des Mayschen Werkes sowie über das Ab- und Hintergründige des Meisters selbst informiert worden sind, ist es das Verdienst von Frigges Untersuchung, den Blick wieder einmal auf die ungeheure Popularität der May-Bücher zu lenken: Es geht ihm primär um den ›Erfolgsschriftsteller‹ Karl May, um den Verantwortlichen für »die Lektürebiographie von mehr als fünf Lesergenerationen«, der »Leitfiguren einer millionenzählenden Lesergemeinde« (1) geschaffen hat; der ›Literat‹ May, der ›Künstler‹ May, seine komplizierte Persönlichkeit und die entsprechenden Elemente seines Werkes interessieren Frigge nur insoweit, als sie für das Verständnis dieser gewaltigen Beliebtheit von Gewicht sind.

   Um sich von älteren Bemühungen hinreichend abzugrenzen, die gleichfalls dem ›Problem der Massenwirkung Karl Mays‹ gelten (Emanuel Kainz, 1949) und dem ›Geheimnis seines Erfolges‹ nachgehen (Viktor Böhm, 1955, 21979), stellt Frigge zunächst auf weit über hundert Seiten theoretische Vorüberlegungen an. Er rekapituliert neuere Entwicklungen im Bereich der Trivialliteratur- und Rezeptionsforschung und will dabei das aus ihnen herausfiltern, was seinem Projekt besonders dienlich ist. Sein Leitgedanke kreist um das Anliegen, »textuell erschließbare Komponenten systematisch mit der Position realer Leser zu verbinden« (2); er will also weder nur ästhetisch-werkimmanent argumentieren noch ausschließlich Leserforschung treiben,




* Probleme bei der Darstellung von diakritischen Zeichen wurden zunächst dadurch gelöst, daß sie vor den Buchstaben gesetzt wurden, sofern es nicht anders möglich war. Außerdem wurden dann beide Zeichen fett und in [ ] gesetzt. Wenn also ein Sonderzeichen und ein Buchstabe in [ ] und fett gesetzt sind, sind sie als ein Zeichen zu lesen. Nicht fett gesetzte Zeichen in [ ] wurden vom jeweiligen Autor in die entsprechenden Klammern gesetzt; die Internet-Redaktion



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sondern beides miteinander verknüpfen. Frigge reflektiert - ich zitiere einige Kapitelüberschriften - über so weitreichende und anspruchsvolle Probleme wie »die literarischen Interessen des Lesers als rezeptionsrelevante Konstituenten im Erwartungshorizont«, über »Bedürfnis und Interesse«, »Ebenen des literarischen Interesses« und »gesellschaftliche Erfahrung und Bedürfnisstruktur«; zu Wort kommen diverse Koryphäen von Roman Ingarden bis Hans Robert Jauß und eine kaum überschaubare Vielzahl anderer Autoren, die sich zu den anstehenden Grundfragen geäußert haben. Angesichts dieses komplexen Ausgriffs - der auch über die in derartigen Arbeiten üblichen wissenschaftlichen Rituale weit hinausgeht, mit denen die Verfasser ihre Kompetenz unter Beweis zu stellen versuchen - wirkt das schlichte Fazit dann um so überraschender: es seien »textuelle Eindeutigkeits- und Erwartbarkeitsmerkmale« für die Massenrezeption der Schriften Mays verantwortlich, da sie dem »literarischen Interesse einer Mehrzahl der Leser« (142) entsprächen. Ein geradezu grotesker Widerspruch ergibt sich: Da war über Dutzende von Seiten und viele Kapitel hinweg von so subtilen Dingen wie einer »sozialhistorisch differenzierten Leserforschung« (63), von »interessegeleitete[n] Entscheidung[en] über bestimmte Präferenzen« (83) und von »genretypologischen ästhetischen Aspekten der massenrezipierten Texte« (100) die Rede - und dann folgt die (wie sich zeigen wird: auch noch aus älterer Forschungsliteratur ohne weiteres zu beziehende) These, May finde so viele Leser, weil in seinen Büchern alles klar und überschaubar zugeht und der Leser zudem weiß, was ihm begegnen wird. Mit geringer Böswilligkeit kann man dazu sagen, perfekter habe noch selten jemand gewisse neuere Verfahrensweisen der Literaturwissenschaft ad absurdum geführt; und mit viel gutem Willen kann man sagen, immerhin komme es am Ende darauf an, was Frigge aus seiner Einsicht macht. Doch auch darum ist es schlecht bestellt.

   Zunächst einmal bemerkt man, daß die Verbindung des ersten Teils zum zweiten, in dem es nun speziell um Mays Texte geht, sich tatsächlich nur über jene These von den Eindeutigkeits- und Erwartbarkeitsmerkmalen vollzieht; die zahlreichen und z.T. komplizierten Überlegungen, die dem Resümee vorausgingen, spielen keine Rolle mehr. Frigge untersucht die May-Bücher, von ihrem Titelbild über die Personenkonstellation bis zur Sprache, auf die vermuteten Merkmale hin und wird natürlich stets fündig: Das Titelbild »macht spezifische Struktur- und Handlungsmomente erwartbar« (204), der Leser erhält mancherlei »Lesehilfen« (224), die hierarchische Organisation der Reisegruppen verdeutlicht das »geordnete Weltmodell Mays« (267), und



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auch Mays Sprache dient in verschiedenster Hinsicht dem Zweck, »Dinge, Personen oder Sachverhalte eindeutig [zu] erklären.« (314) Zum Schluß greift Frigge dann noch einmal weiter aus: Zwar will er Ernst Blochs Thesen über die Aufsässigkeit in der Kolportageliteratur »nicht grundsätzlich in Zweifel [ziehen]« (340), aber letztlich erscheint ihm doch recht fragwürdig, was bei der Lektüre der May-Bücher geschieht: »Der Text versöhnt den Leser affirmativ mit der von ihm erfahrenen Welt, aus der Forderungen nach Eindeutigkeit und Erwartbarkeit gerade durch ihre fehlende gesellschaftliche Repräsentanz zum kompensatorischen Wunschbild erwachsen.« (344)

   Vermutlich ist kaum eine der Friggeschen Detailbeobachtungen, für sich betrachtet, als falsch einzustufen; daß Mays Texte weder ihrem Inhalt und ihrer Form noch ihrer Präsentation in den Büchern nach Vexierrätseln gleichen, wie sie die Literatur häufig bietet, wird durch jede Lektüre bestätigt (wenn man vom Spätwerk absieht, aber für Frigge sind verständlicherweise die populären Old-Shatterhand- und Kara-Ben-Nemsi-Geschichten vorrangig von Interesse). Fraglich ist indessen, ob die von Frigge herangezogenen Merkmale ausreichen, die besonderen Umstände der Beliebtheit gerade der May-Bücher zu erklären. Die differentia specifica etwa zur Jerry-Cotton-Heftserie, zu den Romanen von Johannes Mario Simmel oder auch - um ein Beispiel aus der Vergangenheit zu nehmen - zu denen der Marlitt läßt sich mit den Kategorien der Eindeutigkeit und Erwartbarkeit allein wohl kaum fassen; da nutzt es auch wenig, wenn Frigge im einzelnen herausarbeitet, wie es speziell im Falle Mays um diese Faktoren bestellt ist. Anders gesagt: wer Mays gewaltigem Publikumserfolg in einer möglichst komplexen Analyse auf die Spur kommen will, wird die genannten Elemente nicht ignorieren können, er wird sich jedoch auch nicht auf sie beschränken dürfen.

   Vor allem aber ist der Arbeit ein weiteres Bedenken entgegenzuhalten: Vieles von dem, was Frigge mit dem Anspruch der Originalität und Innovation zu den May-Büchern sagt, ist von der Forschung längst gesehen worden. Als Vorgänger in diesem Sinne müssen insbesondere die schon erwähnten Dissertationen von Kainz und Böhm gelten, über die Frigge also keineswegs so weit hinausgelangt, wie er anstrebt. Kainz notiert z. B., bereits die Deckelbilder der May-Bücher lenkten »die Phantasie des Betrachters zwar in eine bestimmte, vom Verfasser gewünschte Richtung, lassen aber der Einbildungskraft in dieser weitherzigen Begrenzung freien Spielraum« (146); Frigge spricht - in freilich abweichender Terminologie - weitgehend analog von »Vorausinformationen« (202) auf den Buchdeckeln und davon, deren »einfache



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Gestaltungsform« lasse »Rückschlüsse bezüglich der Dekodierbarkeit des folgenden Textes zu« (204). Böhm schreibt über die Mitspieler des Helden: »Der Schriftsteller nimmt den Vorteil wahr, Typen zu benützen, die in der Volksliteratur schon gut eingeführt sind und die unter verschiedenen Umkleidungen immer wieder erscheinen« (21979: 126); sie sind also, mit Frigge zu reden, erwartbar und eindeutig. Ich selbst habe in meiner Dissertation (1979) ein Kapitel über das ›Prinzip Eindeutigkeit‹ in Mays Exotik stehen, in dem von Ereignissen die Rede ist, mit denen der Leser »rasch [. . .] vertraut wird« (171), von einer »auf die Spitze getriebene[n] Durchsichtigkeit der Wildnis« und von Mays Verfahren, »alles eindeutig erscheinen [zu lassen]« (176).

   Zweifellos setzt Frigge in einigen Einzelheiten, etwa in seinen Bemerkungen über Mays Sprache, eigene Akzente, und er bewertet das Beobachtete meistens auch anders, als es in den genannten Arbeiten geschieht. Aber im wesentlichen gilt eben doch, daß er sich in seit langem bekannten Bahnen bewegt und der May-Forschung kaum neue Erkenntnisse oder auch nur größere Anregungen vermittelt. Das ist um so ärgerlicher, als er ganz andere Erwartungen weckt: Wer einleitend fundamentale Mängel der bisherigen literaturwissenschaftlichen »Untersuchung massenphänomenologischer Erscheinungen« beklagt und sich dann anschickt, mit einem »eigene[n], Text und Leser integrierende[n] Methodenplan [. . .] die Untersuchung literarischer Massenphänomene« (2) neu zu begründen, der sollte schon erheblich mehr bieten als alten Wein in neuen Schläuchen. Manchmal steht Frigge kurz vor der Erschließung weiterführender Einsichten: etwa wenn er das »Konfrontationsmotiv ›belauschen‹« als »artverwandt zur Kategorie der Binnenerzählung« identifiziert, weil damit »eine Komplementärperspektive zur einseitig ausgerichten Heldenhandlung aufgebaut wird« (219), wenn er also auf Grundfragen der Mayschen Erzähltechnik stößt, die noch keineswegs hinreichend diskutiert worden sind aber dann schlägt er unbarmherzig wieder mit der Keule seiner Standardkategorien zu, und der gute Ansatz bleibt folgenlos.

   Auf die Beziehung zwischen Werk und Leser geht gleichfalls - wenn auch unter völlig anderem Aspekt - die Osnabrücker Habilitationsschrift des Anglisten Hartmut Lutz ein.2 Das thematische Spannungsfeld, mit dem sich der Autor befaßt, wird bereits in den zwei Substantiven des Titels umrissen: Unter ›Native Americans‹ versteht Lutz »die Menschen verschiedenster Kulturen [. . .], welche Nordamerika seit Jahrtausenden bewohnen« (2), während sich auf den ›Indianer‹ die »Klischeevorstellung« konzentriert, »die sich Europäer und Euroamerikaner von Native Americans machten und die sich zwischen den



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Extremen ›blutrünstige Rothaut‹ und ›bronzener edler Wilder‹ bewegen« (2f.). Diese in zahllosen Texten verbreitete Klischeevorstellung in ihrer Geschichte und Beschaffenheit näher zu ergründen, zu analysieren und zu kritisieren: das ist das zentrale Anliegen der Untersuchung, die sich speziell der amerikanischen und deutschen Literatur widmet. Sie verfolgt also - freilich in einem viel größeren, über Karl May weit hinausreichenden Rahmen - ähnliche Absichten wie die Dissertation von Ferozan Gündo[`´g]ar (vgl. Jb-KMG 1985, 376ff.), bei der es um nationale und rassische Klischees und Vorurteile in Mays Orienterzählungen ging.

   Lutz bietet zunächst einen historischen Abriß der Beziehungen zwischen den Eingeborenen Nordamerikas und den weißen Eroberern. Es ist, wie jeder weiß, der die Materie auch nur ein wenig kennt, eine Geschichte der Gewalt und des Betrugs, der skrupellosen Ausbeutung und Unterdrückung; wir lesen von furchtbaren Massakern, die ungesühnt blieben und von der Legende sogar verklärt wurden, von immer neuen Rechtsbrüchen bis ins 20. Jahrhundert hinein, und Lutz stellt in bezug auf unsere Zeit fest, die Native Americans seien »nach wie vor die ärmste, am schlechtesten ausgebildete, gesundheitlich am dürftigsten versorgte, gerichtlich am meisten verfolgte Bevölkerungsgruppe der USA« (121). Er arbeitet ferner heraus, daß die Literatur über die Eingeborenen, handle es sich nun um Reiseberichte, Romane oder Schriften anderer Art, im wesentlichen der ideologischen Sanktionierung dieses gewaltigen Unterdrückungsprozesses gedient hat: durch die schon in den Zeiten von Kolumbus beginnende Entwicklung von Stereotypen, von Klischeevorstellungen über  d e n  Indianer, die bis in die Gegenwart weitergegeben werden und sich dabei zunehmend verfestigen. Diese Klischees sind keineswegs in jedem Fall von vornherein mit einer abwertenden Beurteilung verbunden: Es gibt zwar, so berichtet Lutz, in den USA »das Klischee vom ›dumb and drunken Indian‹«, aber viele Stereotype haben in der Meinung derer, die sie verwenden, einen durchaus positiven Klang: »Indianer gelten als tapfer, wild und fleißig«, sie »werden überwiegend im Kontext von Krieg und Kampf (zumeist gegen Weiße) gesehen« (7). Auch bei einer solchen Betrachtungsweise werde jedoch die Realität verfehlt; die Vielfalt, die Originalität des kulturellen und sozialen Lebens der Native Americans werde ignoriert, diese selbst würden damit degradiert, und insofern füge sich das verbreitete Indianerbild passend zu der gräßlichen Behandlung der Betroffenen in der historischen Wirklichkeit. In Lutz' Tour d'horizon tauchen bekannteste Namen auf: Cooper - der sich zunächst »an die Quellen hielt, die derzeit als die besten angesehen werden konnten,



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[. . .] sich aber immer weiter von ihnen entfernte und zu immer stärker romantisierten oder dämonisierten Stereotypen kam« (155) -, Walt Whitman, Catlin, aus dem deutschen Bereich S. Wörishöffer, Fritz Steuben, Frederik Hetmann. Hetmanns Bücher stehen repräsentativ für die immerhin festzustellende »Tendenz, die heutigen Indianer als entrechtete Minderheit ernst zu nehmen« (427), aber im übrigen gebe es auch gegenwärtig noch eine schlimme ›Indianertümelei‹, und die Gesamtbilanz sei, wie gesagt, erschreckend.

   Lutz' historische und literaturhistorische Einsichten sind in ihrem Kern vermutlich zutreffend, und sie gewinnen insofern noch an Gewicht, als der Autor eine überwältigende Fülle von Materialien ausbreitet. Freilich hätte man sich, da Lutz immer wieder die Differenz zwischen der empirischen Realität der Native Americans und dem Indianerbild in der Literatur hervorhebt, eine nähere Erläuterung zu dem gewünscht, was er denn eigentlich erwartet: Der Sinn insbesondere von Romanen kann ja letztlich nicht darin liegen, ein ethnologisch korrektes, wissenschaftlich exaktes Bild von den Native Americans zu liefern, wie dies von Reiseberichten und dergleichen zu erwarten ist; Fiktionen haben ihre eigenen Gesetze, und man wird ihnen nicht gerecht, wenn man immer nur wieder feststellt, daß sie die ›Tatsachen‹ nicht adäquat wiedergeben und dabei bestimmten Tendenzen folgen. Das soll keine Rechtfertigung der von Lutz herausgearbeiteten Klischees sein, aber eine Relativierung ihrer von ihm formulierten Beurteilung; das Klischee des ›edlen Wilden‹ z. B. wäre noch unter ganz anderen Aspekten zu prüfen als dem der Nicht-Übereinstimmung mit den wirklichen Eingeborenen Nordamerikas.

   Und Karl May? Die meisten May-Leser werden wohl spontan vermuten, er müsse in dieser Arbeit als eine mehr oder weniger leuchtende Ausnahme von der tristen Regel erscheinen, da er doch ständig seine tiefe Sympathie zu den Indianern - so heißen sie bei ihm nun einmal zum Ausdruck gebracht, z. B. gleich in der Einleitung zum ersten ›Winnetou‹-Band das Unrecht ihrer Verfolgung beklagt und sein Ziel erläutert habe, ihnen in der Gestalt Winnetous ein Denkmal zu setzen. Weit gefehlt: May fügt sich völlig ein in die von Lutz kritisierten Tendenzen der Indianerdarstellung, leistet in dieser Hinsicht sogar besonders Schlimmes, und das erscheint um so folgenreicher, als er bei jugendlichen Leser(inne)n noch immer der verbreitetste Autor« (320) einschlägiger Texte ist. Wenn also ein Native American heute die Bundesrepublik bereist und dann »bestürzt [ist] über den Mangel an Sensibilität und Respekt ihm gegenüber als Angehörigem einer fremden Ethnie« (7), so läßt sich dies im wesentlichen auf Karl May zurückführen.



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   Gerade auch May muß sich vorhalten lassen, an den wirklichen Lebensverhältnissen der Indianer kaum interessiert zu sein; Lutz erläutert das anhand des von ihm exemplarisch herangezogenen ›Winnetou I‹ und speziell mit dem Hinweis auf Mays irreführende Schilderung des Lebens der Mescaleros. May habe die Indianer und den ›Wilden Westen‹ lediglich als Projektionsfläche für eigene Bedürfnisse psychischer und politischer Art mißbraucht; Lutz nennt, unter Berufung auf Arno Schmidts ›Sitara‹, latente homosexuelle Anliegen sowie einiges, was sich als nationalistische und rassistische Anmaßung rubrizieren läßt. Daß ›Winnetou I‹ von einer nur vordergründig platonischen Liebschaft zwischen Old Shatterhand und Winnetou getragen wird, aber auch generell von »Männerliebe« (332), steht für Lutz außer Zweifel: Das Buch »appelliert an die verdrängte, polymorphe Sexualität zumindest der männlichen Leserschaft und wendet sich an das homosexuelle Potential, welches die Mehrzahl aller Männer hierzulande auf dem Weg zum leistungsbewußten starken Mann unwiderruflich verschüttet haben dürfte« (332f.). Der Schlußteil des Satzes macht bereits auf die ideologiekritischen Implikationen in Lutz' Argumentation aufmerksam, und in diesem Punkt finden sich nun erst recht drastische Urteile, die darauf zielen, May biete für »die bürgerlichen Leser« (325) einen auf die zeitgenössischen Verhältnisse genau abgestimmten »faschistoiden nationalen Chauvinismus« (346): Wenn er bei der Beschreibung der schönen Nscho-tschi hervorhebe, ihre Haartracht sei der des Bruders ähnlich und sie sehe europäisch aus, so demonstriere er »eine ebenso frauenfeindliche wie eurozentrisch-rassistische Sichtweise« (334); mit der Gestalt Klekih-petras, der die Revolution von 1848 verrate, propagiere er stures Obrigkeitsdenken; der omnipotente Old Shatterhand sei ein »rechter Herrenmensch, wie geschaffen, ein Kolonialreich zu verwalten« (349); Winnetou sei der Realität der Native Americans längst entfremdet, »ein kolonialisierter Renegat, der für seine Leute keine Zukunft kennt und der die Rassenhierarchien der Unterdrücker bereits internalisiert hat« (351); May predige »Anpassung an Obrigkeitliches sowie ein geradezu missionarisches Deutschtum. Seine deutschen Supermänner verweisen ideologisch schon dorthin, wo Deutsche mit Hitler ankamen« (356) - eine Schlußpointe zu all diesen Überlegungen, die Lutz mit dem Rückgriff auf Klaus Manns Wort vom Dritten Reich als »Karl May's ultimate triumph« erfolgreich abrundet.

   Niemand sollte sich durch die Heftigkeit dieser Anwürfe sogleich zu dem Urteil verleiten lassen, Lutz habe völlig und in jeglicher Hinsicht unrecht. Daß Nscho-tschi ein wenig ›männlich‹ und ›europäisch‹ aus-



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sieht, daß Winnetou ganz anders, ebenfalls ›europäischer‹ auftritt, als es einem Native American entspräche, daß Klekih-petra sich von seiner politischen Vergangenheit kraß distanziert: das alles ist ja schlechterdings nicht zu bestreiten, und so sieht denn Mays Romanwelt bei einer ideologiekritischen Analyse in der Tat erheblich zwiespältiger aus, als May selbst in der Einleitung glauben macht. Lutz freilich begeht den Fehler, seinerseits mit ausgesprochen eindimensionalen Analyserastern zu operieren und der kruden Begeisterung naiver May-Fans damit ein ebenfalls wenig erkenntnisträchtiges Gegenmodell in den Weg zu stellen. Die Fragwürdigkeit seiner Darlegungen zeigt sich vor allem in drei Punkten.

   Zunächst einmal wirken sie schon im Kern ihrer Argumentation wenig überzeugend. Lutz verfolgt nach eigenem Bekunden das Ziel, »Gründe für die unvergleichliche Faszinationskraft gerade der Winnetou-Romane zu suchen, um so der Antwort näher zu kommen, weshalb gerade Winnetou als Prototyp deutscher Indianergestalten so omnipräsent und unverrückbar unsere Vorstellungswelt beherrscht« (321f.). Da Lutz nun, neben der homosexuellen Komponente, vor allem eine Tendenz zu faschistischen, rassistischen, nationalsozialistischen Gedanken herausarbeitet, müßten also die begeisterten May-Leser zumindest in ihrer großen Mehrheit von entsprechenden Bedürfnissen erfüllt sein; das hätte für Mays Zeitgenossen genauso zu gelten wie für die späteren Leser bis in unsere Zeit, für ältere genauso wie für die jugendlichen. Mays Leserscharen als eine Gemeinde verkappter Faschisten oder zumindest als eine riesige Gruppe von Menschen, deren Bedürfnisse - mit Lutz zu sprechen - »ideologisch schon dorthin [verweisen], wo Deutsche mit Hitler ankamen«?

   Zum zweiten geht Lutz nicht sorgfältig genug mit Mays Text um. Ich habe bei der Vorstellung der gedanklichen Grundzüge des Buches darauf hingewiesen, daß der Autor z. B. bei der Kommentierung des ›edlen Wilden‹ jene Aspekte schlicht ausblendet oder vernachlässigt, die seine Argumentation behindern könnten. Ähnliches gilt für seine ›Winnetou‹-Analyse, und hier kommt noch hinzu, daß er - in Umkehrung dieses Verfahrens - Dinge in den Text hineinliest, die er gar nicht enthält; ich will das, um es besonders deutlich zu machen, an einem Beispiel näher erläutern. Bekanntlich verliebt sich im Lager der Mescaleros Winnetous Schwester in Old Shatterhand und möchte ihn heiraten. Winnetou jedoch ist skeptisch, ob sein Blutsbruder sich dazu bereitfinden mag; er werde allenfalls eine Weiße heiraten. Auf Nscho-tschis Frage, ob sie denn nicht unter den Frauen das sei, was Old Shatterhand unter den Männern ist, antwortet Winnetou: »Unter den roten



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Mädchen, ja. Da steht meine schöne Schwester über allen. Hier aber gilt es den Vergleich mit den Töchtern der weißen Rasse. Was hast du gesehen und gehört? Was hast du gelernt? Du kennst das Frauenleben der roten Völker, aber nichts von dem, was eine weiße Squaw gelernt haben und wissen muß« (zit.351). Der leitende Gesichtspunkt des Vergleichs, den Winnetou anstellt, ist bei vorurteilsfreier Betrachtung die kulturelle und soziale Differenz: Da Weiße anders leben, andere Neigungen und Erfahrungen haben als Indianer, werde Old Shatterhand unter den gegebenen Umständen nicht bereit sein, sich mit einer Indianerin zu verbinden; von Andersartigkeit, nicht aber - oder zumindest nicht primär - von einer Superiorität der Weißen ist die Rede. Bei Lutz lautet der Kommentar zu diesem Zitat hingegen so: »Die von Winnetou internalisierte rassistische Argumentationsweise geht [. . .] vordergründig und unkritisch davon aus, daß Europäerinnen den Indianerinnen überlegen sind« (352). Dieses krasse Mißverhältnis zwischen dem Text und seiner Deutung legt die Vermutung nahe, daß Lutz' Analysekategorien irgendwann einmal zu Schablonen geworden sind, die ihm - hier und an anderen Stellen - nur noch das zu sehen erlauben, was er zu finden erwartet.

   Das dritte Bedenken ließe sich als eines von philologischer Art im engeren Sinne bezeichnen. Erst einmal ist da die Vielzahl der Fehler in Zeichensetzung und Rechtschreibung zu beanstanden, die das Buch durchzieht. Auch wenn man, wie der Berichterstatter, aus eigener trüber Erfahrung weiß, daß man vollständige Makellosigkeit in dieser Hinsicht oft selbst bei größtem Bemühen kaum zu erreichen vermag, ist das im vorliegenden Fall doch ein besonders unerfreulicher Punkt: Das Buch wirkt da geradezu rekordverdächtig, und ich habe bei den wenigen Zitaten, die ich anführe, schon ein halbes Dutzend derartiger Stellen stillschweigend korrigieren müssen. Wichtiger ist Lutz' merkwürdiger Umgang mit der Karl-May-Literatur, und zwar im Hinblick sowohl auf den herangezogenen Text  v o n  May, eben ›Winnetou l‹, als auch auf Arbeiten  ü b e r  May, also die Forschungsliteratur. Lutz zitiert den Roman nach der Ausgabe des Wiener Tosa-Verlags, die die Bamberger Version bringt; er tut dies, weil sein Interesse »dem gilt, was bei uns (noch) heute am erreichbarsten, gängigsten und verbreitetsten ist« (322): ein akzeptables Argument. Nun weist freilich, wie auch Lutz' Gewährsmann Arno Schmidt ausführlich dargelegt hat, die Bamberger Ausgabe ganz erhebliche Veränderungen gegenüber dem zu Mays Lebzeiten erschienenen Text auf, und dies hätte Lutz unbedingt berücksichtigen müssen: Seine Analyse geht ja wesentlich aus vom Autor Karl May und von der Wirkung des Textes im damaligen histori-



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schen Umfeld, und da läßt sich nicht ignorieren, daß May ganz andere Texte geschrieben hat, die damaligen Leser ganz anderes gelesen haben, als es heute in der Bamberger Version zu finden ist. Daß diese Abweichungen keineswegs nur Nebensächlichkeiten betreffen, wissen wir, was den ›Winnetou‹ betriffl, spätestens seit der Entdeckung, daß z. B. die »Ideen der Aufklärung«, über deren Aneignung Klekih-petra im Rückblick bitter klagt, eine Zutat der Bamberger Bearbeiter sind (vgl. Claus Roxin: Vernunft und Aufklärung bei Karl May. Zur Deutung der Klekih-petra-Episode im ›Winnetou‹. In: M-KMG 28/1976, 25 - 30); daß hingegen Lutz sich in diese Problematik auch nicht im Ansatz eingearbeitet hat - trotz ausdrücklichen Bezugs auf Schmidts einschlägige Darlegungen (322) - , erhellt aus dem Umstand, daß er im Zusammenhang mit der Editionsgeschichte des ›Winnetou‹ vom Münchmeyer-Verlag spricht und im Literaturverzeichnis die Originalausgabe »Radebeul, 1876-1893« (508) erscheinen läßt: eine Fehlinformation, die ihren Ursprung vermutlich in der Angabe des ›Winnetou‹-Artikels in ›Kindlers Literatur Lexikon‹ hat.

   Lutz verweist an einer Stelle darauf, daß er ein »Nicht-Germanist« (304) ist, und wenn man dies berücksichtigt und auch noch die Fülle des gesamten von ihm studierten Materials betrachtet, dann wird man es ihm nachsehen, daß er die mittlerweile höchst umfangreiche Forschungsliteratur zu May nicht bis ins einzelne durchgearbeitet hat. Andererseits ist May für ihn zu Recht eine Schlüsselfigur zum Verständnis des deutschen Indianerbildes, und so dürfte man zumindest erwarten, daß er solch fundamentale Fehlleistungen, wie die gerade genannten, vermeidet, zumal sie eben durchaus von substantieller Bedeutung für die Plausibilität seiner Überlegungen sind. Drastischer noch zeigt sich Lutz' oberflächliche Beschäftigung mit May, wenn er jene Arbeiten kommentiert, die er nach eigenem Bekunden ausgewertet hat. Da findet sich z. B., als unzweideutiger Hinweis auf die KMG, die Bemerkung, die seit 1969 erscheinenden Vierteljahreshefte seien in bestimmter Weise »aufschlußreich« (320); für Lutz reicht dieser Aufschluß nicht einmal so weit, daß er die KMG eindeutig identifizieren und vom Karl-May-Verlag abgrenzen kann: Er spricht von einer »Bamberger Gesellschaft« (320). Lutz lehnt sich, wie schon erwähnt, an »Arno Schmidts ebenso hervorragende wie erbauliche« (320) ›Sitara‹-Studie an; von der vielfältigen Diskussion um diese Arbeit weiß er offenbar nichts. Lutz lobt Wollschlägers Biographie als »die zuverlässigste, kritische Darstellung von Mays Leben und Werk« (321); daß Wollschläger den ›Winnetou I‹ »hervorragend« nennt - in Abgrenzung von den Folgebänden -, hat Lutz entweder nicht bemerkt, oder es ist ihm gleich-



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gültig erschienen. Pauschale Zustimmung finden die Arbeiten von Bernd Steinbrink, ›Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts in Deutschland‹ (304), und Gert Ueding, ›Glanzvolles Elend‹ (321, 355), die freilich, wenn man sie genauer liest, völlig andere Akzente in der May-Deutung setzen als Lutz; das stört diesen jedoch nicht, er ordnet beide Studien mit großer Selbstverständlichkeit in den Gang der eigenen Argumentation ein. Wie gesagt: daß Lutz beim Rückgriff auf die May-Literatur selektiv vorgeht, wird man ihm nicht verübeln können; daß ihm aber bei der Beschäftigung mit dem, was er heranzieht, so fundamentale Irrtümer und Versäumnisse unterlaufen, diskreditiert erneut weite Bereiche seiner Argumentation zum ›Winnetou‹. Es ist ein wenig kurios, daß sich in diesen philologischen Defiziten ein zweites Mal eine Verbindung zu der Arbeit von Feruzan Gündo[`´g]ar ergibt.

   Man kann zu dem Urteil gelangen, Lutz biete, von seinen Bemerkungen zur realen Historie der Mescaleros abgesehen, wenig mehr als eine auf den eigenen Kontext zugeschnittene Aufarbeitung der Thesen von Arno Schmidt und Klaus Mann; und man mag sich dann zu erheblichen Zweifeln im Hinblick auf die Dignität der übrigen Teile des Buches genötigt fühlen, die in diesem Rahmen allerdings nicht untersucht werden können. Bedauerlich ist auf jeden Fall, daß eine Arbeit, die in ihrem zentralen Anliegen so viel Beifall verdient, im Hinblick auf Karl May so wenig haltbare Erkenntnisse einträgt. Karl May wären zu seinen Lebzeiten, da er sich mit geschickten Kontrahenten, wie Hermann Cardauns, auseinandersetzen mußte, kompetentere publizistische Helfer zu wünschen gewesen, als es die Wagner, Dittrich usw. waren; heute möchte man ihm unter denen, die seine Schriften nach wie vor ablehnend betrachten, umsichtigere Kommentatoren gönnen.


   Harald Eggebrecht räumt gleich im ersten Satz seines Buches ›Sinnlichkeit und Abenteuer‹ ein, daß er in einer bestimmten Deutungstradition steht.3 Aber hier geht es nicht um eine Konstellation, die ich oben mit dem Wort vom alten Wein in neuen Schläuchen umrissen habe, und auch nicht um die Einpassung alter Thesen in einen neuen Kontext; hier geht es um die gründliche Ausarbeitung einer Kolportagetheorie, deren Urheber nur Umrisse und Grundlinien gezeichnet hat: Eggebrecht »versucht die skizzenhaften Thesen und Aphorismen Ernst Blochs zu entfalten anhand von vier prominenten Beispielen des Abenteuerromans im 19. Jahrhundert« (7), bei denen es sich um Cooper, Gerstäcker, Sealsfield und May handelt. Er greift auf Blochs vielzitierte Worte vom revolutionären Impetus der Abenteuerliteratur, von ihrem Oppositions- und Aufsässigkeitsgeist zurück und reflektiert darüber mit einem ganz bestimmten Akzent: Er thematisiert »das Aben-



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teuer als ›philosophische‹ Praxis, als Gesellschaftskritik, als phantastische Utopie, dargestellt« - und nun folgt der Leitgedanke - »am zentralen Aspekt der fünf Sinne, von denen ich meine, daß ihre Anwendung, ihre entfaltete ›Sinnlichkeit‹ das Abenteuer der Lederstrumpf, Old Shatterhand oder Assowaum konstituieren. Hat man erst einmal sein Augenmerk auf die Seh-, Hör-, Tast-, Geruchs- und Geschmacksaktionen gerichtet, entdeckt man ihre die ganzen Romane bestimmende Kraft und Wichtigkeit« (7). In diesem elementaren Punkt will Eggebrecht Blochs Thesen weiterdenken: Die fünf Sinne »sind recht eigentlich Konstitution und Gegenstand der sogenannten Abenteuerliteratur, denn allein sinnliche Wahrnehmung auf allen Ebenen der Sinne garantiert Sicherheit und Freiheit« (12); und in dieser Sicherheit und Freiheit für die in der Wildnis sich bewährenden Protagonisten konkretisiere sich der Traum vom Ausbruch aus den Zwängen des gesellschaftlichen Status quo: »Ahnungsvoll erzählt der Abenteuerroman von einem Reich der Nichtentfremdung, manchmal von einem Reich der Freiheit, das sich in atemberaubender physischer Aktion oder phantastischer Wunscherfüllung erstellt« (15).

   Bevor Eggebrecht seine Gedanken in textanalytischen Kommentaren zu den genannten Romanciers ausführt, schaltet er weitere grundsätzliche, der präzisen Bestimmung seiner Kategorien dienende Überlegungen ein. Dabei treibt er einigen Aufwand: Er greift zurück auf Feuerbachs Überlegungen zu einer ›emanzipatorischen Sinnlichkeit‹; er reflektiert mit Marx und Herbert Marcuse über »die Trennung des Menschen von seinen sinnlichen Fähigkeiten [. . .] in der kapitalistischen Sozialstruktur« (23) und macht so deutlich, daß eine Literatur, die diese Trennung aufhebt, einem konkreten historisch-gesellschaftlichen Ort zugehört; er grenzt das Abenteuer in der Literatur des 19. Jahrhunderts von dem in älteren Texten ab, wie den mittelalterlichen Epen um die Helden Erec und Iwein, denen es nicht um einen fundamentalen Ausbruch, sondern um die Bestätigung der sozialen Verhältnisse gegangen sei; er stellt heraus, daß der Abenteurer eine stabile und zufriedenstellende Ich-Identität über die psycho-physische Einheit der Lebensverhältnisse in der Wildnis findet.

   Es folgen die Ausführungen zu den vier Autoren der Abenteuerromane, wobei Eggebrecht jeweils konkrete Beobachtungen zu einzelnen Texten und Textstellen mit generalisierenden Bemerkungen mischt; auf diese Weise ergeben sich, gleichsam nebenbei, Bausteine zu einer Geschichte des Abenteuerromans im 19. Jahrhundert. Zunächst geht es um Cooper: Sein Held zeige »die wahren Möglichkeiten eines freien, befreiten Menschen als realisiert vor« (81f.), doch erfahre



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er auch die Gefahr der Isolation als Preis für sein mobiles, selbständig verantwortetes Leben, und Cooper deute zudem das Ende der »historische[n] Möglichkeit [an], Natur als außerzivilisatorisches Remedium zu nehmen« (90). Gerstäckers Berichte in seinen ›Streif- und Jagdzügen‹ wie auch seine Romane seien zu lesen als »Psychogramme einer Fluchtbewegung, die in der eigenen physischen Aktion so etwas wie Ruhe oder Glück erlebt und zum Ende gelangt« (109). Bei Sealsfield indessen werde das Abenteuer in erheblichem Maße problematisiert; es erscheine zwiespältig, denn es sei »nahezu immer Leiden, nämlich Verlust erleiden, Verlust an ›Identität‹,« - hier kehrt sich das oben Erwähnte nahezu um - und »zugleich Raum der Erneuerung, des Sich-Findens, das fast stets in politischem Tun aufgeht« (160). Man sieht: Eggebrecht bestätigt nicht einfach mit Hilfe der herangezogenen Werke seine Grundgedanken, sondern präzisiert und modifiziert sie jeweils durch die Ergebnisse seiner Textanalysen.

   Karl May erscheint in diesem Zusammenhang geradezu als ein Extremist des Abenteuers: Hat Eggebrecht zuvor mit einschränkenden Etikettierungen gearbeitet und das Cooper-Kapitel »Abenteuer als historischer Auftrag« überschrieben, das Gerstäcker-Kapitel »Fragmentierung des Abenteuers« und das Sealsfield-Kapitel »Abenteuer im Zwischenraum«, so notiert er zu May, er gestalte »das totale Abenteuer«. Um dies zu verdeutlichen, legt Eggebrecht zunächst dar, daß sich bei May auch im Leben Reales und Phantasie unauflöslich miteinander verschränken und daß diese Verknüpfung im Werk radikale Konsequenzen hat: »Die Substanz Sinnlichkeit wird emphatisch einem Traum-Ich zugeschlagen, das als Wunschidentität solche Intensität erhält, daß es ihren Autor in diese Wunschidentität leibhaftig treibt« (169); der völlige »Mangel an Distanz zwischen Autor und Phantasie, zwischen Realität und Phantasie« (172) erkläre denn auch die suggestive Wirkungskraft der May-Bücher und die Erfahrung der Leser, die bei diesen Texten das Lesen »als reine Lust« (173) genießen.

   Die Werke, die Eggebrecht sodann näher untersucht, sind ›Das Waldröschen‹ - der mittlerweile wohl am ausführlichsten kommentierte May-Text überhaupt - , ›Winnetou I‹ und ›Satan und Ischariot‹. Am ›Waldröschen‹, speziell an den Ereignissen um die Pyramide des Sonnengottes, beobachtet Eggebrecht, wie hier die Welt durch das Abenteuer überhaupt erst ›ganz‹ wird, Totalität erhält; es handle sich »um die Eskalierung, die Stauung des Prinzips Abenteuer, all seiner Möglichkeiten auf jenen Moment hin: Durchbruch, Ausbruch, Triumph« (193). Im ›Winnetou‹ dagegen werde radikal die Union des Autors mit seinem Traum-lch wirksam, so daß sich eine neue Konstel-



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lation ergibt: »Die Schaffung der Welt als totales Abenteuer wird ersetzt durch das totale Ich des Abenteurers«; May phantasiere jetzt »Wunscherfüllung direkt und über die Grenze der Fiktion hinaus, die Phantasie produziert nicht nur Old Shatterhand, sondern schließlich auch Karl May«, und so rette May die »letzthin revolutionäre Traumkraft« (196) des Abenteuerromans noch am Ende des 19. Jahrhunderts. In ›Satan und Ischariot‹ schließlich versuche May, die Konzeption von ›Waldröschen‹ und ›Winnetou‹ miteinander zu verbinden: »In den atemberaubenden sinnlich-körperlichen Aktionen Old Shatterhands wirken Meltons Intrigen wie überlebte Schachzüge aus der Kolportage; die Ichkonzeption zeigt ihre Progressivität angesichts solcher Schuftereien, die einer anderen, älteren Konzeption entstammen« (218). Auf der letzten Seite seiner Arbeit hebt Eggebrecht noch einmal hervor, May greife zwar einerseits »auf Cooper, Gerstäcker u. a. zurück«, andererseits aber gewinne er dem Abenteuerroman »in der durch reale Abenteuererfahrung ungestörten Phantasie die Dimension der Totalität hinzu, für jeden Leser neu und allumfassend. Konsequenter als alle vor und nach ihm traut er der eigenen Traumkraft mehr zu als dem realen Abenteuer. Darin vollendet er die Botschaft von der Substanz Sinnlichkeit, dem Terrain Abenteuer und dem Ziel psychophysische Einheit« (222).

   Mag es auch in dieser knappen Zusammenfassung der Eggebrechtschen Textanalysen nicht immer hinreichend deutlich geworden sein: der Autor verliert seine Grundgedanken von der ubiquitären Macht der ›Substanz Sinnlichkeit‹ nie aus den Augen, und so gewinnen sie zunehmend an Evidenz. Fraglich erscheint allerdings, ob er sie nicht manchmal gar zu gewalttätig verfolgt und verabsolutiert, um ihnen immer neue Überzeugungskraft zu verschaffen. Z. B. nutzt er den Umstand, daß Reflexionen in der Regel nun einmal mit Sinneseindrücken zu tun haben, dazu aus, einseitig den Primat dieser gegenüber jenen zu betonen; als sei Old Shatterhand nicht auch - pragmatisch im Hinblick auf die Erfordernisse des wildwestlichen Lebens gesehen - ein ›Denker‹, der sich auf gründliche ›Vorbildung‹ stützt. Der Satz: »All seine Beobachtungen, Kundschaftereien sind Aktionen der Substanz Sinnlichkeit, nicht aber bedächtig-wägende Betrachtungen eines ethnographisch-geographisch interessierten Reisenden« (218) unterschlägt durch eine falsche Oppositionsbildung, daß Shatterhand z. B . vor seinen Reisen ethnographisch-geographische Studien treibt und daß ihm diese in den Details seiner Erlebnisse immer wieder zugute kommen.

   Das zentrale Bedenken gegen Eggebrechts Studie muß freilich an anderer Stelle liegen: Er ist, gerade in seinen Beobachtungen zu May,



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gar zu euphorisch-einseitig in seiner Fixierung auf die revolutionären Tendenzen des Werkes; schließlich hat doch schon sein Gewährsmann Bloch - mit einer weniger häufig zitierten Anmerkung - von der politischen »Kehrseite« der Kolportage gesprochen und davon, daß Old Shatterhand »einen sehr deutschen Bart« trage und daß seine Faust »imperialistisch« herabschmettere. Lutz hat sich in seinem ›Winnetou‹-Kommentar allein an diese Kehrseite gehalten und ihr damit überdimensionales Gewicht verliehen; Eggebrecht nun hält sich mit ähnlicher Ausschließlichkeit an die andere, und auch das trifft die Verhältnisse in Mays Werk nicht genau. Seine These, »daß die Maysche Antiwelt [. . .] keinesfalls und nirgendwo das Bestehende verdoppelt« (173), daß sie der »Realitätspartikel« (196) gänzlich entbehre, verkennt, wie viel an Ideologiesegmenten aus der deutschen Heimat des Autors in die Konstruktion der Wildnis eingebracht wird, wie sehr sich Mays Werk gerade aus der Dialektik von Rebellion - oder auch Revolution - und Affirmation entwickelt. Wie steht es denn mit der Überwindung der Entfremdungsmechanismen bei den Figuren, die unterhalb der Schwelle des leitenden Helden agieren; erfahren sie nicht täglich, daß sie sich vor allem an Old Shatterhands Weisungen halten sollen und daß dies, wenn sie es tun, objektiv dem Wohle aller dient? Wie steht es mit dem ständigen Protzen um Shatterhands deutsche Herkunft, wie - vielleicht weniger in den hier besprochenen Texten als etwa im ›Mahdi‹ - mit Mays penetrantem Herbeifabulieren von Szenen, in denen der Held mitteilt und auf das schlagendste beweist, daß er als Christ und gebildeter Europäer exotischen Nichtsnutzen in jeder Hinsicht überlegen ist? Gewiß: man kann zu alldem Stellen anführen, die diese Tendenzen deutlich relativieren; man kann darauf verweisen, daß andere Autoren, z.B. Retcliffe, es viel schlimmer treiben; man kann sagen, daß sich dies zeitgenössischen Konstanten des Denkens verdankt, denen man bei einer Charakterisierung des Werkes nicht zu viel Gewicht beimessen darf. Dennoch ist schlechterdings nicht zu bestreiten, daß auch diese Seite - gerade unter den von Eggebrecht gewählten Perspektiven - für Mays Werke konstitutiv ist, und wer sie, wie unser Autor, a priori übersieht, kann der Komplexität der Mayschen Texte nicht gerecht werden: ihrer Mischung von - aus jener ›linken‹ politischen Sicht, auf die die Argumentation mit Marx und Marcuse verweist - extrem progressiven und extrem reaktionären Zügen.

   Es kann kein Zweifel bestehen, daß Eggebrecht in seinen Textanalysen und den Schlußfolgerungen daraus einer selbst vorgegebenen Leitidee zum Opfer fällt; ähnlich ist es, bei ganz anderer Orientierung in der Sache, Lutz ergangen. Ebensowenig kann freilich ein Zweifel dar-



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an bestehen, daß der May betreffende Ertrag der Eggebrechtschen Arbeit gegenüber dem bei Lutz wie auch bei Frigge unvergleichlich viel größer ist: Was man bei ihm liest, erschließt in manchen Punkten neue Einsichten und damit neue Anregungen für künftige May-Lektüre und May-Analyse. Was er über die Rolle der sinnlichen Wahrnehmung im Abenteuerroman generell und ihre Zuspitzung bei May speziell sagt, ist ja grundsätzlich ebenso originell wie überzeugend (wenn auch manchmal etwas lang geraten); nur hat er eben nicht bedacht, daß es eine andere Seite, vielleicht auch mehrere andere Seiten gibt. Fraglich bleibt - dies ist nun nicht mehr ein Problem der vorliegenden Arbeit -, warum - und ob tatsächlich - die Dominanz der Sinnlichkeit ausgerechnet vor dem Thema haltmacht, das vermutlich am häufigsten mit diesem Begriff assoziiert wird: vor der Erotik; eine Antwort, die nur auf Publikationsrücksichten und kommerzielle Zwänge verwiese, würde wohl zu kurz greifen.

   Unter den kleineren Arbeiten, die hier zu besprechen sind, verdient zunächst einmal Ulf Abrahams Aufsatz über Franz Kafka und May Aufmerksamkeit.4 Abraham selbst faßt seine Gedanken zur überraschenden Gegenüberstellung dieser Autoren so zusammen: »Kafka, der ›seriöse‹ Romanschriftsteller, und May, der notorische Geschichten- und Selbsterfinder, haben ein Motiv gemeinsam: die Angst vor dem Entlarvtwerden - sowohl in den Werken beider wie auch als Motiv dafür, überhaupt zu schreiben. Aber während May aus der Lüge Literatur, Lebensform und Methode gemacht und sich dabei immer wieder verraten hat, gelang es Kafka, sich hinter einem Gestus der Geständnisse verborgen zu halten« (313). Man sieht: Abraham versucht nicht etwa gewaltsam, die großen Differenzen zwischen den Autoren zu verwischen; es geht ihm vielmehr darum, an einem bestimmten Punkt identische Ausgangskonstellationen und geradezu diametral entgegengesetzte Entwicklungen daraus zu verfolgen. »Es geht um die Frage, wie zwei Männer, die einander in nichts so ähnlich sind wie in ihrer Angst und die beide offenbar auf dieselbe Weise traumatisiert sind, sich ihr Leben lang auf (bekanntlich) sehr produktive Weise daran abarbeiten« (314).

   Abraham - der mittlerweile auch ein Buch über Kafka publiziert hat, ›Der verhörte Held‹, - wendet sich zunächst Kafkas ›Amerika‹ und dessen Protagonisten Karl Roßmann zu. Er stellt fest, »daß Kafka den ganzen Roman hindurch ein Ritual der Entlarvung und Stigmatisierung wiederholt«, in dem Roßmann als »verdächtig, unzuverlässig, untauglich, unbrauchbar [. . .] entlarvt [wird]«; Abraham erklärt sich dieses Phänomen aus der Psyche des Autors: mit dem Bedürfnis, »im-



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mer wieder das auszusprechen, was der Verfasser selber am meisten auf der Welt fürchtet: eben das Entlarvtwerden«. Der Fall sei exemplarisch, denn generell gelte: »Entdeckungen sind allemal Entlarvungen für Kafka« (315), man habe sie stets zu fürchten, und Kafkas Gesamtwerk weise denn auch zahlreiche Beispiele auf für das »Motiv der Angst vor der Entdeckung« (316); den autobiographischen Hintergrund dazu findet Abraham vor allem in Kafkas jüdischer Herkunft, die später mit der »Übernahme aller Rollen und Regeln und Verhaltensweisen« (318) einer ganz andersartigen Umwelt zwar kaschiert worden, als mögliches Objekt der Entdeckung und Entlarvung jedoch stets präsent geblieben sei. Letztlich handle es sich um das Problem einer vom Schein nachhaltig geprägten Identitätsfindung, die permanent vom Zusammenbruch, vom Scheitern bedroht werde.

   Daß auch May - sogar in einer Weise, die auf den ersten Blick noch eher einleuchtet - unter diesem Problem zu leiden hatte, braucht hier nicht näher erläutert zu werden: Von den Bemühungen des Vaters, aus dem Proletarierkind etwas ›Besseres‹ zu machen, über die kriminellen Hochstapeleien bis zur späten Old-Shatterhand-Legende reicht die Spanne der einschlägigen Ereignisse; Abraham legt es, unter Verweis auf die relevanten Arbeiten aus der KMG, ausführlich dar. Entscheidend im Vergleich zu Kafka sei aber nun, daß May auf diese Ausgangssituation literarisch mit einer völlig anderen Variante des Schein-Sein-Konflikts reagiert habe: Er arbeite zwar gleichfalls mit dem Thema der Entdeckung, rücke aber an die Stelle des Angsttraums einen Wunschtraum. Bei Mays literarischem Rollen-Ich würden nicht vermeintliche oder wirkliche Schwächen und Inkompetenzen entlarvt, sondern immer neue überragende Fähigkeiten entdeckt. Immer wieder konstruiere May Szenen, in denen der Held zu seinem Vorteil enttarnt wird: Er spielt seine Leistungen herunter - und wird der gigantischen Verdienste überführt, die er sich tatsächlich um andere erworben hat; er präsentiert sich als argloses Greenhorn - und wird als omnipotenter Old Shatterhand entlarvt. »Der Held, der selber nichts ist als eine Rolle, liebt das Rollenspiel, den lustbesetzten Wechsel von Verstellung und Enttarnung« (330). Der pointierte Vergleich zwischen ›Amerika‹ und ›Winnetou‹ lehrt, was dabei herauskommt: »Während Kafkas Karl die soziale Stufenleiter immerzu abwärts fällt, weil man ihn (angeblich) nirgends brauchen kann, fällt Mays Held hinauf und kann's genauso wenig verhindern« (327). Daß auch diesen auftrumpfend daherkommenden Konstellationen letztlich noch »die Angst vor der Entdeckung« (334) der Vergangenheit des Autors zugrunde liegt, zeigt Abraham anhand einiger Textstellen in ›Mein Leben und Streben‹.



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   Auf den Schlußseiten behandelt er die Vergleichbarkeit von May und Kafka noch einmal unter leicht verändertem Aspekt: Er fragt danach, was die beiden Autoren selbst über ihre Verfahrensweisen gewußt bzw. welche Erkenntnisse diese ihnen eingetragen haben. Karl May wird dabei ein wenig schmeichelhaftes Urteil gesprochen: »Die Verstellung [. . .] verstellt ihm zugleich auch den Blick auf den wahren Sachverhalt, und aus bewußter Hochstapelei wird allmählich und unmerklich Lebenslüge«; May hat demnach nicht gesehen, wie es um das zentrale Agens und Motiv seiner Arbeit bestellt war. Kafka hingegen habe schließlich ein höheres Reflexionsniveau erreicht: »Kafkas späte Texte [. . .] sind nichts Geringeres als die Entdeckung der Angst. Was bei früheren Helden (Georg Bendemann im ›Urteil‹, Josef K. im ›Prozeß‹) noch ›Schuld‹ genannt wurde, wird jetzt erkannt als Angst vor dem Erkannt- und Ausgestoßenwerden« (338).

   Nicht in allen Punkten wirken diese Beobachtungen und Reflexionen vollständig überzeugend. Ob Kafkas jüdische Herkunft tatsächlich die hier beschriebene Funktion besaß, mag man mit einigem Recht bezweifeln; aus den Selbstzeugnissen des Autors ließen sich vermutlich auch andere wichtige Beweggründe der ›Angst vor der Entdeckung‹ erschließen. Im Falle Mays ist zu bedauern, daß Abraham das Spätwerk, von der Autobiographie einmal abgesehen, außer acht gelassen hat: Ihm wäre zu entnehmen, daß May am Ende doch sehr viel mehr über die Antriebe und Mechanismen seines Schreibens gewußt hat, als Abraham ihm zugestehen will. Von solchen Details abgesehen, erscheint die Arbeit jedoch sehr plausibel, und dies gilt um so mehr, als der Autor den Vergleich ja nicht auf irgendwelche abseitigen oder spektakulären Aspekte stützt; es geht um Dinge, die von beträchtlichem Gewicht für das Verständnis der beiden Autoren sind und auch schon von anderen Kommentatoren gründlich und zuverlässig behandelt wurden. Das Verfahren, May vergleichend neben andere Schriftsteller zu rücken, hat eine längere teils erfreuliche, teils unerfreuliche Tradition: eine erfreuliche insofern, als solche Konfrontationen der genaueren Bestimmung von Mays literaturgeschichtlichem Ort dienlich sein können, eine unerfreuliche, weil dabei oft allzu sorglos und mit der wenig durchdachten Absicht verfahren wurde, May auf Umwegen höhere Reputation zu verschaffen. Abraham legt überzeugend dar, welche Möglichkeiten es hier gibt, indem er eine Konstellation wählt, die auf den ersten Blick geradezu absurd anmutet. Daß er seinen Text in einer der renommiertesten Fachzeitschriften der deutschen Literaturwissenschaft hat publizieren können und mit einem Minimum an Vorbeugungsmaßnahmen gegenüber skeptischen Fachkollegen auskommt -



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»Franz Kafka und Karl May? Der Germanist stutzt« (313), heißt es zu Beginn -, sagt einiges aus über den Erfolg der neueren Karl-May-Forschung.


Wie ernst May jetzt auch da genommen wird, wo man es nicht unbedingt vermuten möchte, erhellt ebenfalls aus dem ihm geltenden Artikel in der neuesten Ausgabe des ›Deutschen Literatur-Lexikons‹5: Erich Heinemanns Beitrag füllt vierzehn Spalten, und das ist nicht weniger Raum, als auch unseren größten literarischen Koryphäen, etwa Luther, zur Verfügung gestellt wurde. Der Artikel bietet zunächst über zwei Spalten einen stichwortartigen Abriß zu Mays Leben und Wirkung und läßt dann eine Bibliographie von wahrhaft furchteinflößenden Ausmaßen folgen. Sie beginnt mit einer Vorstellung der Schriften Mays nach ihrer Erstveröffentlichung in Buchform (was z.B. den merkwürdigen Effekt hat, daß man das ›Waldröschen‹ unter den Jahren 1902/03 findet), registriert dann die diversen größeren Ausgaben von der Freiburger Edition über die Fischer-Ausgabe und die Bamberger Reihe bis zu den neueren Reprints und bringt schließlich ein nach Themen gegliedertes Verzeichnis der Forschungsliteratur, das die letzten neun Spalten des Beitrags füllt.

   Eine kurze Überblicksdarstellung zur Karl-May-Rezeption in der DDR vermittelt Margy Gerber.6 Sie berichtet über die langjährige Verfemung dieses Autors, die sich vor allem auf weltanschauliche Einwände gestützt habe, und über seine zu Beginn der 80er Jahre mächtig einsetzende Rehabilitierung, die kurioserweise die alten Argumente einfach umdrehe: Aus dem Prä-Faschisten sei ein Opfer des Kapitalismus und - jedenfalls beinahe - ein Wegbereiter der Arbeiterbewegung geworden. Die Autorin hält dieses neue Verständnis für »as forced and contrived as the old one« (245), und damit hat sie vermutlich recht. Bei der Suche nach Erklärungen für die sensationelle Wende stößt sie auf zwei Aspekte: auf das Bemühen maßgeblicher DDR-Stellen, durch die Zulassung neuer Formen von Unterhaltung die Jugend zu gewinnen; und auf die generellen Tendenzen, ein neues Geschichtsbild zu erarbeiten, das z. B. auch schon zur Annäherung an Luther und Bismarck geführt hat. Gerbers Ausführungen sagen dem Kenner nichts Neues, fassen aber pointiert und verläßlich eine Entwicklung zusammen, an die man vor einem Jahrzehnt noch nicht zu denken gewagt hätte.

   In einem neuen ›Abenteuer-Almanach‹, der sich einer ganzen Reihe von Themen aus dem Bereich der Unterhaltungsliteratur auf überwiegend populärwissenschaftliche Art annimmt, finden sich zwei Beiträge über Karl May. Siegfried Augustin7 behandelt die publizistische Auseinandersetzung, die 1910 zwischen May und John Ojijatekha Brant-



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Sero ausgetragen wurde, einem Mohawk-Indianer, der mit Rudolf Lebius verbündet war und als vermeintlicher Experte gegen Mays »indianische Schauerliteratur« (zit. 53) vom Leder zog. Der Beitrag bietet - ohne große Kommentierung - die wichtigsten Dokumente dieses Streits, darunter auch Mays Flugblatt mit dem ergötzlichen Titel ›Herr Rudolf Lebius, sein Syphilisblatt und sein Indianer‹. Gerhard Klußmeiers Arbeit8 beginnt mit den von diesem Autor nun schon seit Jahren regelmäßig wiederholten Attacken gegen die angeblichen psychoanalytischen Irrwege der May-Forschung und stellt dann, in ihrem ertragreicheren Teil, eine bisher übersehene Quelle zum ›Winnetou‹-Roman vor: W. F. A. Zimmermann, Malerische Länder und Völkerkunde, Berlin 1863. Die wiedergegebenen Auszüge lassen vermuten, daß May in der Tat manche Einzelheiten seiner Darstellungen auf diese Arbeit gestützt hat, doch handelt es sich wohl nicht, wie Klußmeier nahelegt, um  » d a s  Quellenwerk [Hervorhebung H. S.]« (78) schlechthin, sondern um eines von mehreren (vgl. Jb-KMG 1985, 348ff.).

   Zu einem denkwürdigen Sachverhalt der neueren May-Forschung dringen wir in und mit den nächsten Absätzen dieses Berichts vor. Bekanntlich tituliert man Forschungsarbeiten über literarische Werke gelegentlich - zur Unterscheidung von diesen selbst: der ›Primärliteratur‹ - als ›Sekundärliteratur‹. Überblicke und Kommentare zur Sekundärliteratur verdienen sich dementsprechend das Etikett ›Tertiärliteratur‹. Mit den folgenden Seiten nun erreichen wir noch eine weitere Stufe, die rare Spezies der ›Quartärliteratur‹. Dergleichen hat es in der May-Forschung bisher höchst selten gegeben: einen Text, der einen Text vorstellt, in dem über Texte gehandelt wird, die May-Texte kommentieren.

   Erwähnenswert ist da erst einmal eine Studie von Rudi Schweikert.9 Der Autor hat ein ganzes Buch über literaturwissenschaftliche Arbeiten publiziert, die nach seiner Meinung in vieler oder in jeder Hinsicht unsinnig sind und die Schriftsteller, mit denen sie sich befassen, gar als bedauernswerte ›Opfer‹ erscheinen lassen: Arno Schmidt, Kurd Laßwitz, Karl May. Um May geht es en passant im Kommentar zu einer Arno-Schmidt-Studie, in erster Linie aber in Schweikerts Attacke gegen Christoph F. Lorenz, die unter dem anspielungsreichen Titel ›Ein Schmetterling entpuppt sich als Made‹ steht (83ff.). Schweikert hält Lorenz vor, er sei zu vergleichen mit »einem Maurer, der seinen Mörtel nicht anzumachen versteht [. . . ] der mit seinem Werkzeug nicht umgehen kann«; er sei ein Philologe, »der einfachste wissenschaftliche Grundregeln [. . .] nicht beherrscht, der fahrlässigen Umgang mit wertenden, meist abwertenden Worten pflegt und sich nachweislich nicht



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darüber klar ist, was er mit zahlreichen seiner Sätze sagt« (84): das ist starker Tobak, der sogleich deutlich macht, daß wir es mit der altehrwürdigen Gattung der polemischen Streitschrift zu tun haben. Die Attacke stützt sich im wesentlichen auf Lorenz ›Silberlöwe‹-Aufsatz (Jb-KMG 1984, 139ff.), bezieht aber auch einige andere seiner Arbeiten ein. Es würde zu weit führen, den Fall an dieser Stelle ausführlich zu kommentieren, denn man hätte sich dabei in eine Vielzahl von Details zu vertiefen, deren Ausleuchtung zwar manches über die Einsichten der Herren Schweikert und Lorenz, aber relativ wenig über Karl May zu erkennen gäbe; im übrigen ist die hier thematisierte Auseinandersetzung in anderer Form auch schon in den ›Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft‹ ausgetragen worden (vgl. M-KMG 62/1984, 44ff.; 63/1985, 41ff.; 64/1985, 40ff.; 65/1985, 44), so daß sich die meisten Leser dieses Berichts ohne große Mühe aus erster Hand informieren können. Von Belang für die May-Forschung im engeren Sinne ist vor allem Schweikerts in einem abschließenden Exkurs ausgeführte Überlegung, Mays ›Hiob‹-Gedicht sei »ein durch ›Prometheus‹ gekonterter ›Ganymed‹ Goethes« (116).

   Geht es hier vor allem um angebliche oder wirkliche individuelle Fehlleistungen einzelner Kommentatoren, so befaßt sich die nächste Arbeit, die zur Diskussion steht,10 mit einem grundlegenden Problem literaturwissenschaftlicher und -geschichtlicher Forschung; sie soll deshalb ausführlicher vorgestellt werden. Der in Fribourg tätige Germanist Harald Fricke hat schon seit längerem darüber geklagt, »daß sich Literaturwissenschaftler in der Alternative zwischen literarischem oder aber wissenschaftlichem Schreiben mit mehr oder weniger Erfolg für eine Art Sekundärpoesie zu entscheiden pflegen« (138). Er hat in seiner Dissertation, ›Die Sprache der Literaturwissenschaft‹ (1977), dargelegt, daß die Diktion in germanistischen Interpretationen und Analysen »nicht nur dem allgemeinen Objektbereich ›Poesie‹ angenähert [wird], sondern nach Gattung, Stilregister und autorspezifischen Merkmalen auch dem speziell untersuchten literarischen Gegenstand: man redet über das Komische witzig, über das Tragische pathetisch, über das Dramatische dialogisierend, über das Lyrische rhythmisierend, über Thomas Mann ironisch, über Brentano klangspielerisch und über Trakl in syntaktischen Ellipsen«. Das erscheine vor allem deshalb bedenklich, weil es der Eindeutigkeit und Überprüfbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse abträglich sei: »Argumentation wird durch Suggestion ersetzt, Sachadäquatheit durch Stiladäquatheit vorgetäuscht« (139). Mit einem Wort: zu viele Literaturwissenschaftler schreiben eher poetisch oder pseudo-poetisch als wissenschaftlich-präzise, und das ist von Übel.



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   Der letztgenannte Gedanke kulminiert in der These, daß auch der Grad der Zustimmung, den literaturwissenschaftliche Publikationen bei ihren Lesern finden, eher von solchen ›Poetisierungen‹ abhängig ist als von der Argumentation selbst. Um diese These - die ja nun in der Tat ins Zentrum der Beschäftigung mit Literatur zielt - prüfen zu können, hat der Autor ein Experiment unternommen: Er hat »einen literaturwissenschaftlichen Aufsatz in zwei alternativen Fassungen veröffentlicht, die zwar zu Tarnungszwecken unterschiedliche Titel, Einleitung und Schluß erhalten mußten, die sich sonst aber im wesentlichen nur in Hinsicht auf den Grad ihrer sprachlichen Poetisierung radikal voneinander unterschieden«; Gegenstand dieser Arbeit(en) ist Karl Mays ›Old Surehand‹. Jene Fassung des Aufsatzes, die »von allen Elementen sprachlicher Poetisierung freigehalten [wurde]«, erschien im Jb-KMG 1981 unter dem Titel ›Karl May und die literarische Romantik‹; die andere, die »durchgehend den bewährten suggestiven Leserstrategien germanistischer Interpretationen angeglichen [ist]« (140) und bis in Eigentümlichkeiten des Stils und der im Aufsatz selbst »beschriebene[n] typische[n] Ablaufstruktur eines May-Romans« (141) dem Duktus des besprochenen Werkes folgt, erschien 1984 (Wie trivial sind Wiederholungen? Probleme der Gattungszuordnung von Karl Mays Reiseerzählungen. In: Erzählgattungen der Trivialliteratur, hg. v. Zdenko [`´S]kreb und Uwe Baur, Innsbruck 1984, 125ff.; vgl. Jb-KMG 1980, 203ff., und Jb-KMG 1984, 267). Die Reaktionen auf diese beiden Fassungen »lassen nun an Eindeutigkeit leider nicht zu wünschen übrig« (141): Erstens seien die Poetisierungen in der 1984 veröffentlichten Version kaum jemandem aufgefallen; zweitens habe diese schon rein quantitativ erheblich mehr Reaktionen hervorgerufen als die andere, von Leserbriefen bis zu Einladungen zu Vorträgen; und drittens - dies ist wohl der gewichtigste Aspekt - habe die ›poetisierte Fassung‹ überwiegend Zustimmung gefunden, während die andere durchweg Skepsis und Ablehnung hervorrief und dem Verfasser sogar »mehrere massive Attacken mit persönlichen Angriffen« (144) eintrug. Frickes Fazit geht dahin, daß sich die oben erwähnte These über die ungebührliche Rezeption poetisierter Literaturwissenschaft ganz und gar bestätigt hat und daß es also im Interesse des wissenschaftlichen Fortschritts um so wichtiger ist, die »Wissenschaftsliteratur« nicht länger »als ein[en] Zweig von Literatur« zu pflegen und statt dessen - da sie »dem Ideal der Wahrheit verpflichtet ist« - für eine »schrittweise vorgehende Präzisierung der eingeführten Redeweisen über Literatur« (146) zu sorgen.


Frickes grundlegende Thesen werden nicht unwidersprochen blei-



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ben: Man wird darauf verweisen, daß sein Exaktheitsideal vor vielen Objekten naturwissenschaftlicher Erkenntnis adäquat erscheinen mag, im Hinblick auf ästhetische Werke aber - die sich nach weitverbreitetem Urteil durch Offenheit und Vieldeutigkeit auszeichnen - zumindest in der hier geforderten Strenge verfehlt sei; daß Fricke über die Form des Essays nichts sagt, der geradezu per definitionem ›poetisiert‹ ist und dennoch erkenntnisträchtige Überlegungen zur Literatur formulieren kann; daß er überhaupt mit einer unangemessenen Alternativkonstellation operiert. Das Grundanliegen freilich, vor einer schwammigen und unsinnig stilisierten Terminologie zu warnen, sollte überwiegend Beifall finden: Die Fachliteratur umfaßt eine Unzahl von Arbeiten, denen man mit diesem Postulat entgegentreten könnte.

   Indessen konzentriere ich mich auf zwei Aspekte. die in engerer Beziehung zu Frickes May-Kommentar stehen. Der Autor deutet zwar in seinen einleitenden Überlegungen an, eine poetisierte Schreibweise schade der Stringenz der Argumentation; im Hinblick auf seine Texte zu May aber bleibt er den Beleg dafür schuldig, und die vergleichende Lektüre der beiden Versionen läßt denn auch keineswegs erkennen, daß der 1984er Fassung weniger Argumentationskraft innewohnt als der anderen. Ob Fricke nun »derselbe/dieselbe/dasselbe« schreibt (1984), wie May, oder die heute üblichen Wortformen benutzt (1981), ob er von »Wiederholungen, Wiederholungen und nochmals Wiederholungen« spricht (1984) oder einfach nur von Wiederholungen (1981), ob er er den Gang seiner Überlegungen »als abenteuerliche Enträtselung eines Geheimniskomplexes« (141) à la ›Surehand‹ anlegt (1984) oder nicht (1981): für den Erkenntnisertrag der Arbeit(en) spielt es am Ende keine Rolle. Ist diese Beobachtung zutreffend, so erscheint zumindest im vorliegenden Fall Frickes Feststellung fragwürdig, die poetische Formulierung literaturwissenschaftlicher Texte spiele einen »›Tiefsinn‹ vieler germanistischer Arbeiten« (139) nur vor und sei generell für allerlei Unfug in der Germanistik verantwortlich; wenn sie aber das sachliche Ergebnis der Analyse nicht beeinträchtigt, dann bleiben die Differenzen der Sprache allein im Hinblick auf die Leserreaktionen von Belang. Was aber ist eigentlich gegen eine Sprechweise zu sagen, die im wesentlichen die gleichen Einsichten artikuliert wie ihr Pendant und die dabei noch den Erfolg hat, mehr Zustimmung zu ernten als jene? Anders gesagt: Fricke müßte schon präzise darlegen, inwiefern ›Wie trivial sind Wiederholungen?‹ der Jahrbuch-Fassung inhaltlich unterlegen ist, um seine schweren Bedenken gegen eine sich poetisch gerierende Darstellungsweise der Literaturwissenschaft auch in diesem Fall überzeugend begründen zu können.



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   In  e i n e m  Punkt allerdings gibt es einen gravierenden inhaltlichen Unterschied, der die abweichenden Reaktionen erklären dürfte - doch er hat nichts mit der Frage der Poetisierung zu tun. Fricke spricht selbst von der »etwas unterschiedlich akzentuierten Schlußthese der beiden Fassungen« (144) und meint damit, daß er »Karl Mays im Haupttext beschriebene Gattungsmischung einmal als ›nichttrivial‹ [1984], einmal als ›in der Nachfolge der Romantik stehend‹ [1981]« (144) bezeichnet hat. Diese Wendung relativiert ganz erheblich die tatsächlich vorhandene Differenz zwischen den Schlußüberlegungen: Während es in der 84er Version mit der Feststellung der ›Nichttrivialität‹ weitgehend sein Bewenden hat, konstatiert Fricke in der 81er expressis verbis, May habe mit ›Old Surehand‹ jenen romantischen Roman verfaßt, den die Romantiker selbst »nur  b e s c h r e i b e n,  aber nicht  s c h r e i b e n  [konnten]« (Jb-KMG 1981, 33) - die Formulierung, er habe Mays »Gattungsmischung [. . .] als ›in der Nachfolge der Romantik stehend‹ bezeichnet«, ist da viel zu schwach. Ich vermute, daß ein großer Teil der skeptischen Reaktionen auf die nicht-poetisierte Fassung primär dieser Schlußpointe zu verdanken ist; einige der von Fricke mitgeteilten Kommentare - »gewagte These [. . .] These nicht ernst zu nehmen [. . .] geradezu aberwitzig« (143f.) - scheinen eindeutig in diese Richtung zu verweisen. Nicht überzeugend ist demgegenüber Frickes Hinweis, er habe die Romantik-These seinerzeit ja auch bei der Mitgliederversammlung der KMG vorgetragen und dennoch gewaltigen Beifall geerntet, sie könne also nicht für die negativen Kommentare verantwortlich sein: Spontane Reaktionen auf derartige Vorträge sind kein verläßlicher Gradmesser für die spätere fundierte Bewertung des Gehörten, und wer die Mitgliederversammlungen der KMG regelmäßig besucht und sich ihre Atmosphäre in Erinnerung ruft, der weiß - mit allem Respekt sei's gesagt - , daß dort auch die weniger gelungenen Vorträge stets eine zumindest freundliche Aufnahme finden. Um es zu wiederholen: die im Vergleich abwertenden Antworten auf die Jahrbuch-Fassung dürften eher mit der These von der Verwirklichung romantischer Konzepte durch Karl May zusammenhängen als mit dem Verzicht auf einen poetischen Duktus. Frickes weit ausgreifende Überlegungen finden also, so sehr man sein Anliegen im Grundsätzlichen für wichtig halten mag, in dem skizzierten Experiment wenig Bestätigung.

   Zur Abrundung der Berichterstattung gehört auch in diesem Jahr der Hinweis auf Texte, über denen Mays Name als der des Autors steht: mit mehr oder weniger Berechtigung, wie aus gegebenem Anlaß hinzuzufügen ist.



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-Die Karl-May-Gesellschaft hat die Reihe ihrer Reprints mit den Bänden ›Der Krumir‹ und ›Unter den Werbern‹11 fortgesetzt. Sie enthalten kürzere Erzählungen, die einst in diversen entlegenen Publikationen erstmals erschienen sind, z. B. in Kalendern und wenig verbreiteten Zeitschriften, und die deshalb in den bisherigen Reprintserien unberücksichtigt blieben oder auch bleiben mußten, weil sie erst jüngst von eifrigen Fahndern wiederentdeckt wurden. ›Der Krumir‹ bietet Texte, deren Handlung auf exotische Schauplätze führt, wie wir sie aus Mays berühmtesten Werken kennen, während ›Unter den Werbern‹ Humoresken, Dorfgeschichten und Erzählungen um den ›Alten Dessauer‹ umfaßt. Beide Bände sind drucktechnisch hervorragend gelungen. Instruktive Vorworte verschiedener Autoren stellen jeweils die Publikationsgeschichte der einzelnen Texte vor und geben erste Hinweise zur Interpretation und Analyse, wobei leider gar zu oft, vor allem im ›Werber‹-Band, dem anscheinend unausrottbaren Vorurteil gehuldigt wird, ein literarisches Werk sei schon ob der puren Existenz autobiographischer Implikationen zu loben.
-Bernhard Kosciuszko erwarb sich bereits mit seiner bei Reclam publizierten Studienausgabe des Geist des Llano estakado‹ editorische Verdienste (vgl. Jb-KMG 1985, 382f.). In der Reihe der ›Hamburger Lesehefte‹ hat er nun - als ›Heftbearbeiter‹ - Mays ›Im wilden Westen‹12 erscheinen lassen, die frühe Fassung der Erzählung von Winnetous Tod. Die ›Hamburger Lesehefte‹ dienen, wie ›Reclams Universalbibliothek‹, Zwecken des Unterrichts in Schule und Universität, und so sind denn auch die beiden Bände in mancher Hinsicht ähnlich konzipiert. Allerdings fallen die Erläuterungen und Kommentare der ›Lesehefte‹ - vermutlich aufgrund der Vorgaben des Verlags - erheblich kürzer aus als die zum ›Geist‹.
-Der Bamberger Karl-May-Verlag hat seine ›Gesammelten Werke‹ um den seit langem angekündigten 74. Band ergänzt: ›Der Verlorene Sohn‹13, den nach ›Das Buschgespenst‹ und ›Der Fremde aus Indien‹ dritten Text, der auf Mays großen Kolportageroman gleichen Titels (1883-85) zurückgeht. Über Sinn und Unsinn der bearbeiteten Ausgaben des Karl-May-Verlags ist bekanntlich viel gestritten worden, und gerade die Münchmeyer-Romane sind ja von den Textveränderungen in besonders hohem Maße betroffen. Über diesen neuen Band im einzelnen zu urteilen, setzte deshalb voraus, die grundsätzliche Diskussion noch einmal aufzurollen und dabei einen ausführlich begründeten Standpunkt einzunehmen; das kann hier nicht geschohen. Alles in allem fügt sich ›Der Verlorene Sohn‹ wohl


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-- und das kann man nun so oder so verstehen - würdig in die Reihe seiner Vorgänger ein. Wer von der Bamberger Editionsstrategie grundsätzlich nichts hält, mag sich immerhin dadurch besänftigt fühlen, daß Lothar Schmids ›Geleitwort‹ und Christoph F. Lorenz' ›Nachwort‹ zu erkennen geben, daß und unter welchen Aspekten diesmal in Mays Text eingegriffen wurde; das war in solcher Eindringlichkeit sonst nicht der Fall. Überhaupt scheint mir die Hinzufügung derartiger kurzer Erläuterungen, wie wir sie hier vor allem in Lorenz' Ausführungen finden, ein verdienstvolles Verfahren zu sein, das auch bei Neuauflagen der übrigen Bände Schule machen sollte: Es würde dem Charakter der an ein möglichst großes Publikum adressierten Leseausgabe nichts nehmen und dem Interessierten doch zugleich wertvolle Aufschlüsse im Hinblick auf ein weiterführendes Textverständnis vermitteln.


1Reinhold Frigge: Das erwartbare Abenteuer. Massenrezeption und literarisches Interesse am Beispiel der Reiseerzählungen von Karl May. Bonn 1984
2Hartmut Lutz: ›Indianer‹ und ›Native Americans‹. Zur sozial- und literarhistorischen Vermittlung eines Stereotyps. Hildesheim-Zürich-New York 1985
3Harald Eggebrecht: Sinnlichkeit und Abenteuer. Die Entstehung des Abenteuerromans im 19. Jahrhundert. Berlin-Marburg 1985
4Ulf Abraham: Die Angst vor der Entdeckung und die Entdeckung der Angst. Ein Motiv bei Franz Kafka und Karl May. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 59/2,1985 S. 313-340
5Erich Heinemann: May, Karl. In: Deutsches Literatur-Lexikon. Biographisch-bibliographisches Handbuch. Bd. 10, hg. v. Heinz Rupp und Carl Ludwig Lang. Bern 31986 Sp. 614-628
6Margy Gerber: Old Shatterhand Rides Again! The Rehabilitation of Karl May in the GDR. In: Studies in GDR Culture and Society. Bd. 5. Lanham-London 1985 S. 237-250
7Siegfned Augustin: Old Shatterhands Kampf mit der ›Brennenden Blume‹. Dokumentation eines Zweikampfs. In: Vom Old Shatterhand zum Sherlock Holmes. Ein Abenteuer-Almanach, hg. v. Siegfried Augustin und Walter Henle. München 1986 S. 47-69
8Gerhard Klußmeier: Karl May, Schriftsteller - kein Psychopath. In: ebd. S. 71-112
9Rudi Schweikert: Germanistisches Elend. Wider die Pseudo-Wissenschaftlichkeit. Mit den ›Opfem‹ Arno Schmidt, Kurd Laßwitz und Karl May. Frankfurt a. M.1985
10Harald Fricke: Suggestion statt Argumentation. Beobachtungen zur Wirkung literaturwissenschaftlicher Prosa. In: Akten des VII. Intemationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Kontroversen, alte und neue, hg. v. Albrecht Schöne. Bd. 10, hg. v. Wilhelm Vosskamp und Eberhard Lammert Tübingen 1986 S. 138 - 147
11Karl May: Seltene Originaltexte. Bd. 1: Der Krumir. Bd. 2: Unter den Werbern, hg. v. Herbert Meier im Auftrag der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg o. J. (1985/1986)
12Ders.: Im Wilden Westen (Hamburger Lesehefte. Nr. 169). Husum o. J. (1986)
13Ders.: Der Verlorene Sohn (Gesammelte Werke. Bd. 74), hg. v. Lothar Schmid. Bamberg 1985




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