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JÜRGEN LEHMANN


Privatheit und Selbstenthüllung




Eine wichtige Rolle bei der Erörterung der Thematik ›Privatheit und Selbstenthüllung‹ spielt die Frage nach der Art ihrer sprachlichen Gestaltung. Hierbei besitzen Brief, Tagebuch und Autobiographie zweifellos einen besonders hohen Stellenwert, vor allem seit der spätestens mit dem 18. Jahrhundert einsetzenden Diskussion um Selbstbegründung und Selbsterhaltung des Subjekts. Gerade sie stellen die verschiedenen Erscheinungsformen von Privatheit nicht nur ausgiebig dar, sondern geben sich auf Grund struktureller und inhaltlicher Merkmale häufig genug auch als ein wichtiges konstituierendes Moment von Privatheit zu erkennen.

   Letzteres begegnet vor allem dann, wenn Autobiographie, Brief und Tagebuch von ihren Autoren als Medium einer intensiven Selbstbeobachtung verstanden werden. So artikulieren pietistische Autobiographien und Tagebücher des 18. Jahrhunderts Vorgänge aus der persönlichen Vergangenheit nicht so sehr, um das Informationsbedürfnis potentieller Rezipienten zu befriedigen, sondern um an ihrem Beispiel über das eigene Verhältnis zu Gott zu meditieren und um eigenes Denken und Handeln einer kritischen Revision zu unterziehen.

   In der Art der Bezugnahme auf Gefühle, Erinnerungen, Reflexionen und andere mentale Vorgänge unterscheiden sich die genannten Gattungen freilich recht deutlich voneinander. Während z. B. bei Brief und Tagebuch Perspektive, Erzählerstandort oder wie beim Brief die Adressaten ständig wechseln, entwirft der Autobiograph von einem u. a. durch Orts- und Zeitdeiktika markierten bestimmten Standort ein narrativ organisiertes Spektrum seines Lebens bzw. einer bestimmten Phase daraus und artikuliert auf diese Weise sowohl jene Vorgänge als auch ihre Entwicklung. So ist sein Text zugleich ein Akt der Reflexion und Konstruktion, der historische Ereignisse, individuelle Erfahrungen, Gefühle etc. zur Einheit einer Lebensgeschichte gestaltet und so - Wilhelm Dilthey zufolge1 - ein Modell dafür abgibt, wie unser Bewußtsein arbeitet, mit dem Leben fertig zu werden. Auf Grund dieser und anderer Eigenschaften galt diese Gattung in der Literaturwissenschaft lange Zeit vor allem als Dokument für die   E n t w i c k l u n g  des Persönlichkeitsbewußtseins der abendländischen Menschheit, ist z. B.


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vom Nestor der deutschen Autobiographie-Forschung Georg Misch und seinen recht einflußreichen Schülern als »Gegenstand einer geisteswissenschaftlichen Anthropologie« verstanden worden, »die an diesem Gegenstand das Studium der menschlichen Natur mit dem Versuch einer Erkenntnis der individuellen Persönlichkeitsstruktur verbinden sollte«.2

   Dabei ist dann allerdings lange Zeit übersehen worden, daß die Darstellung individueller, anderen Personen nicht zugänglicher und von diesen nicht artikulierbarer Erfahrungen und Gedanken in Autobiographien nicht ohne Bezug auf bestimmte literarische, soliale und historische Kontexte geschieht. Gerade Autobiographien sind als Dokumente sprachlichen Handelns zu verstehen, die zeigen, wie Autoren im Umgang mit persönlichen Erfahrungen auf ihr gesellschaftliches Umfeld reagieren. Die Darstellungsfunktion kann also in hohem Maße von der Appellfunktion tangiert sein, was dann zugleich bedeutet, daß das Private - hier verstanden als abgegrenzter und abgrenzender (sozialer) Raum - seine Bedeutung für Entstehung und Konstitution autobiographischer Selbstenthüllung verliert. Autobiographisches Schreiben ist so verstanden ebensowenig eine Form der Privatisierung, also des Rückzugs und der Abgrenzung eines Einzelnen von anderen Personen, wie rückhaltlose und voraussetzungslose Entgrenzung, sondern als Selbstaussage immer auch Anrede unter bestimmten, vom Außen nicht unabhängigen Voraussetzungen.

   Besonders deutlich erkennbar ist solche Verbindung von autobiographischer Selbstenthüllung und starkem Öffentlichkeitsbezug an der Autobiographie des deutschen Romanschriftstellers Karl May ›Mein Leben und Streben‹.3 Der 1910 geschriebene, kurz danach veröffentlichte und im gleichen Jahr verbotene Text ist eines der anschaulichsten Beispiele für die Funktion der Gattung ›Autobiographie‹, Dokument  u n d  Organon im Rahmen konfliktreicher Auseinandersetzungen zwischen Personen und Institutionen zu sein. Seine Entstehung ist eng verbunden mit den Streitereien um Mays kriminelle Vergangenheit, die seit der Jahrhundertwende das Leben dieses so überaus erfolgreichen und wirkungsmächtigen Autors verdunkelt, ja fast zerstört hatten. Die zwei Jahre zuvor ebenfalls in diesem Kontext entstandene ›Beichte‹ ist zu großen Teilen in ›Mein Leben und Streben‹ integriert worden.

   Die für Autobiographen so wichtige und deshalb auch in den meisten Texten dieser Gattung formulierte Standortbestimmung des Autors findet sich bei May zu Beginn des zweiten Kapitels und scheint den oben skizzierten Entstehungskontext völlig ausblenden zu wollen.


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Hier habe ich eine Pause zu machen, um mir eine ernste, wichtigere Bemerkung zu gestatten. Ich schreibe dieses Buch nicht etwa um meiner Gegner willen, etwa um ihnen zu antworten oder mich gegen sie zu verteidigen, sondern ich bin der Meinung, daß durch die Art und Weise, in der man mich umstürmt, jede Antwort und jede Verteidigung ausgeschlossen wird. Ich schreibe dieses Buch auch nicht für meine Freunde, denn die kennen, verstehen und begreifen mich, so daß ich nicht erst nötig habe, ihnen Aufklärung über mich zu geben. Ich schreibe es vielmehr nur  u m  m e i n e r  s e l b s t  w i l l e n ,  um über mich klar zu werden und mir über das, was ich bisher tat und ferner noch zu tun gedenke, Rechenschaft abzulegen. Ich schreibe also, um zu beichten. Aber ich beichte nicht etwa den Menschen, denen es ja auch gar nicht einfällt, mir ihre Sünden einzugestehen, sondern ich beichte meinem Herrgott und mir selbst, und was diese beiden sagen, wenn ich geendet habe, wird für mich maßgebend sein. Es sind für mich also nicht gewöhnliche, sondern heilige Stunden, in denen ich die vorliegenden Bogen schreibe. Ich spreche hier nicht nur für dieses, sondern auch für jenes Leben, an das ich glaube und nach dem ich mich sehne. Indem ich hier beichte, verleihe ich mir die Gestalt und das Wesen, als das ich einst nach dem Tode existieren werde. Da kann es mir wahrlich, wahrlichgleichgültig sein, was man in diesem oder in jenem Lager zu diesem meinem Buche sagt. Ich lege es in ganz andere, in die richtigen Hände, nämlich in die Hände des Geschickes, der Alles wissenden Vorsehung, bei der es weder Gunst noch Ungunst, sondern nur allein Gerechtigkeit und Wahrheit gibt. Da läßt sich nichts verschweigen und nichts beschönigen. Da muß man Alles ehrlich sagen und ehrlich bekennen, wie es war und wie es ist, erscheine es auch noch so pietätlos und tue es auch noch so weh.4


Der mit diesen Zeilen gepflegte Gestus des Selbstgesprächs, des rückhaltlosen Beichtens zum Behuf der Selbsterkenntnis und Läuterung artikuliert zunächst die Intention auf Privatheit, indem er einen nach außen abgeschlossenen sozialen und sprachlichen Handlungsraum in Anlehnung an eine gesellschaftlich genau kodifizierte Form der Abschließung entwirft. Die Charakterisierung der Sprechsituation als Beichtsituation bedient sich dabei eines Schemas, das spätestens seit Augustinus' ›Confessiones‹ in der autobiographischen Literatur immer wieder verwendet worden ist, um die Aufrichtigkeit des Autobiographen zu unterstreichen und den Wahrheitsgehalt des von ihm Ausgesagten zu beglaubigen. Der Entwurf einer die anderen ausgrenzenden - privaten - Schreibsituation suggeriert zudem Rückhaltlosigkeit, ja Rücksichtslosigkeit gegenüber der eigenen Person; vornehmlich die letzten Worte der zitierten Passagen lassen dies deutlich erkennen.

   Sieht man sich nun die über 300 Druckseiten umfassende Autobiographie etwas genauer an, so fällt auf, daß ihr Autor den oben zitierten Intentionen nicht einmal in Ansätzen gerecht geworden ist. May benutzt ein bewährtes literarisches Schema, um die Selbstenthüllung innerhalb eines privaten Rahmens lediglich anzukündigen; weder dieser Rahmen, noch die versprochene wahrheitsgetreue Darstellung indivi-


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dueller Vergangenheit werden in der Autobiographie sprachlich realisiert. Vielmehr geht May in einer Weise mit seiner Lebensgeschichte um, die man fast als Distanzierung von dem in der Standortbestimmung Gesagten bezeichnen kann: statt Privatheit extremer Außenbezug, statt rückhaltloser Selbstenthüllung hochgradige Stilisierung der eigenen Person und ihrer Geschichte. Ausmaß und Funktion dieser Distanzierung sollen im folgenden analysiert werden; betrachten wir zunächst Ausmaß und Formen der Stilisierung:

   Bereits ein flüchtiger Blick auf die Autobiographie läßt erkennen, daß May schon mit den historisch nachprüfbaren Fakten recht freizügig umgegangen ist. Er erzählt sein Leben nicht kontiniuierlich von der Geburt bis zum Zeitpunkt des Schreibens der Autobiographie, sondern wählt offenkundig sehr gezielt aus. Besondere Beachtung erfahren Kindheit und Jugend, die Jahre der Haft sowie die gerichtlichen Auseinandersetzungen während des letzten Lebensjahrzehnts. Dagegen wird die Zeit zwischen 1880 und 1899, in der die meisten der dichterischen Arbeiten entstanden, die May berühmt gemacht haben, nur gestreift. Gänzlich ausgespart sind die Reisen, denen ein zweiter, letztlich nicht geschriebener Band der Autobiographie gewidmet sein sollte. Andererseits hat May Fakten, Ereignisse und Handlungen in seine Autobiographie integriert, die es in Wirklichkeit nachweislich nicht gegeben hat, z. B. das in diesem Text so wichtige Märchenbuch ›Der Hakawati‹. Solche und andere Veränderungen von Sachverhalten begegnen derart häufig, daß sie hier im einzelnen nicht dokumentiert werden können. Da werden Personen verändert, Daten umgestellt, Handlungen und Ereignisse in ihren Abläufen manipuliert, kurzum, Mays Text reproduziert nicht persönliche Vergangenheit, sondern gestaltet sie neu.

   Nun ist solcherart Umgang mit Fakten und Vorgängen aus der eigenen Vergangenheit in autobiographischen Texten durchaus nicht ungewöhnlich, gelten doch ihre Autoren wenn nicht als notorische Lügner, so doch - in Anlehnung an Hegels bekannte Äußerung in den geschichtsphilosophischen Vorlesungen5 - zumindest als sehr subjektive Geschichtsschreiber, die Vergangenes nur aus einer ganz bestimmten Perspektive präsentieren können. Inwieweit dabei die seit Freud bekannte »Tendenzhaftigkeit des Erinnerns«6 oder ganz individuell bestimmte Intentionen eine Rolle spielen, kann hier nicht diskutiert werden; auf jeden Fall ist den meisten Autobiographen diese Problematik bewußt, denn kaum eine literarische Gattung verwendet schematisierte Wahrheitsbeteuerungen so häufig und intensiv wie die Autobiographie.


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   Was nun die von Karl May in ›Mein Leben und Streben‹ vorgenommenen Veränderungen so interessant macht, ist weniger ihr beträchtliches Ausmaß, als vielmehr ihre ungewöhnliche starke Bindung an die schriftliche und mündliche Rede anderer, eine Eigenschaft, die diesem Text ein hohes Maß an Dialogizität verleiht und von daher für die oben angekündigte Integration in umfassendere Handlungszusammenhänge von entscheidender Bedeutung ist. Diese Bindung ist auf verschiedensten Ebenen des Textes nachweisbar: stilistisch auf Satzebene, argumentativ für einzelne Kapitel, erzähltechnisch hinsichtlich der Gesamtstruktur. Dient dabei die genannte Bezugnahme zum einen dem Bemühen, gegenwärtiges, also auch das autobiographische, und zukünftiges Handeln besonders nachdrücklich zu begründen und zu erklären, so besitzt sie in anderen Fällen die Funktion, vergangenes Handeln und Verhalten zu entschuldigen und zu rechtfertigen. Letzteres prägt besonders  e  i n  ganz bestimmtes Kapitel der Autobiographie, mit dessen Betrachtung ich die eingehendere Analyse beginnen möchte.

   Bereits oben war darauf verwiesen worden, daß die Darstellung der von der Karl-May-Literatur besonders häufig angesprochenen kriminellen Vergangenheit dieses Autors auch in der Autobiographie einen bevorzugten Platz einnimmt. May hat bekanntlich zwischen 1862 und 1874 fast acht Jahre wegen Diebereien und Hochstapeleien in Gefängnissen und Zuchthäusern verbracht, eine Lebensphase, von der er vorwiegend im Kapitel ›Im Abgrunde‹ erzählt. Auffallend an dieser Darstellung ist zunächst, daß von den kriminellen Handlungen kaum bzw. nur sehr verschwommen die Rede ist. Das gilt vor allem für die schwereren Straftaten wie Betrug, Hochstapelei und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Verschwommen wirken die betreffenden Passagen vor allem deshalb, weil in ihnen die Erzählung der Vorgänge, die Reflexionen und Erläuterungen über die diese Vorgänge auslösenden Beweggründe und die Erklärungsversuche für diese Verschwommenheit eine nur schwer trennbare Mischung eingehen. So heißt es über die Zeit kurz vor der zweiten Verhaftung, die ihm dann eine vierjährige Zuchthausstrafe einbrachte:


Es kamen zunächst Tage, dann aber ganze Wochen, in denen es vollständig dunkel in mir wurde; da wußte ich kaum oder oft auch gar nicht, was ich tat. In solchen Zeiten war die lichte Gestalt in mir vollständig verschwunden. Das dunkle Wesen faßte mich an der Hand. Es ging immerfort am Abgrund hin. Bald sollte ich dies, bald jenes tun, was doch verboten war. Ich wehrte mich zuletzt nur noch wie im Traum. Hätte ich den Eltern oder doch wenigstens Großmutter gesagt, wie es um mich stand, so wäre der tiefe Sturz, dem ich entgegentrieb, gewißlich unterblieben. Und er kam, nicht daheim in der Heimat, sondern in Leipzig, wohin mich eine Theaterangelegenheit führte. Dort habe ich, der ich gar nichts derartiges


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brauchte, Rauchwaren gekauft und bin mit ihnen verschwunden, ohne zu bezahlen. Wie ich es angefangen habe, dies fertig zu bringen, das kann ich nicht mehr sagen; ich habe es wahrscheinlich auch schon damals nicht gewußt. Denn für mich ist es sicher und gewiß, daß ich ganz unmöglich bei klarem Bewußtsein gehandelt haben kann. Ich weiß von der darauf folgenden Gerichtsverhandlung gar nichts mehr, weder im Einzelnen noch im Ganzen. Ich kann mich auch nicht auf den Wortlaut des Urteils besinnen.7


Ähnliche Passagen sprechen von Bewußtseinsspaltungen, von inneren Stimmen, vom Kampf zwischen hellen und dunklen Gestalten in der Seele des Autors, ja vom ›Kampf zweier Heerlager gegeneinander‹,8 wobei die dunklen Mächte häufig die Oberhand gewannen und das Ich (also den jungen Karl May) zur Rache an der Gesellschaft aufforderten. Vornehmlich dem geschulten Psychologen dürfte bei der Lektüre dieser und verwandter Abschnitte der Bezug zu psychologischer Fachliteratur auffallen, ein Bezug, der auch konkret nachweisbar ist: May hat offensichtlich bei der Darstellung dieser für sein Leben so wichtigen Lebensphase ein in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts recht verbreitetes Werk benutzt, nämlich Wilhelm Griesingers ›Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten‹. Jedenfalls lassen die von Plaul im Nachwort der Olms-Ausgabe dokumentierten Textbelege frappierende Ähnlichkeiten erkennen.9 Besonders evident ist dieser Bezug bei der Darstellung von Halluzinationen, von denen May auffallend häufig und ausführlich spricht.10 May hat allerdings eine solche Verbindung nicht nur explizit, sondern auch implizit in der Weise dementiert, daß er die medizinisch-psychologisch geprägte Argumentation immer wieder durch sein ›symbolisches Sprechen‹, also durch die massive Verwendung von Metaphern und Vergleichen, überdeckt hat. Ein zu offenkundiger Bezug auf Griesingers Werk hätte ihn nämlich als Kranken erscheinen lassen, was der - noch zu zeigenden - Stilisierung zum Helden zutiefst widersprochen hätte. Die Verwendung psychologischer Fachliteratur ist also nicht so sehr Hilfsmittel einer tiefgründigen Selbstanalyse und der Dokumentation ihrer Ergebnisse, sondern dient vor allem dort der entlastenden Darstellung einer bestimmten Lebensphase, wo dies mit Hilfe literarischer Verfahren nicht bzw. nicht allein möglich war.

   Eine anders geartete Bezugnahme auf das Reden anderer betont auf stilistischer Ebene besonders die bereits mehrfach angesprochene Einbindung der Autobiographie in umfassendere Handlungszusammenhänge. Sie begegnet überall dort, wo die Darstellung des Lebensweges als Leidensweg durch ein Phänomen besonders akzentuiert wird, das der sowjetische Strukturalist Michail Bachtin als ›Polyphonie‹ bezeich-


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net hat, Polyphonie als eine besondere Form der Dialogizität, erkennbar an der Verschmelzung von Autoren- und fremder Rede.11 In ›Mein Leben und Streben‹ begegnet dieses Phänomen u. a. in der einfachen Aufnahme lexikalischer Elemente aus der Rede derjenigen Personen, die - vor allem mit ihrer Rede - die Leiden verursacht haben, von denen im Text immer wieder gesprochen wird. So heißt es z. B. in den Ausführungen über einen Dr. Gerlach, Anwalt des Verlages Münchmeyer, mit dem May seiner Kolportageromane wegen jahrelang in gerichtliche Auseinandersetzungen verstrickt war:


Er beschuldigte mich »frecher Anzapfungen«, »unberechtigter Forderungen«, zahlreicher »Dreistigkeiten« und »faulen Zaubers«. Er nannte mich »raffiniert«, »frech«, »dreist«, »verleumderisch«, »pathologisch zur Unwahrheit reizend«, »Lügner«, »Lügenmay«, »Renommist«, »Münchhausen«, »Aufschneider«, »Betrüger«, »Lump«, »Schwindler«, »Allerweltsschwindler«, »Einbrecher«, »Hochstabler«, »Zuchthäusler« usw. usw.12


Mit der hier zitierten Auswahl und mit der kumulierenden Aufnahme fremder lexikalischer Elemente in die eigene Rede akzentuiert May den aggressiven Charakter der gegnerischen Ausführungen. Auf diese Weise präsentiert, erzwingen sie eine rechtfertigende oder polemische Antwort und verleihen damit dem Text einen stark dialogischen Charakter. Gleichzeitig wird so Vergangenheit und Gegenwart des Autobiographen besonders eng aufeinander bezogen, der Autobiograph steht vergangenen Sachverhalten und Erfahrungen nicht souverän und distanziert gegenüber. Vielmehr zeigt er sich von ihnen in hohem Maße tangiert, was dem gesamten Text eine stark affektgeladene Färbung verleiht. Verstärkt wird diese Tendenz überall dort, wo er den wirkungsbezogenen Aspekt fremder Rede besonders herausstellt, also letztere z. B. als ›beleidigend‹, ›erschlagend‹, ›zerstörend‹, ›unwürdig machend‹, ›kaputtmachend‹ etc. charakterisiert.

   Ihren Höhepunkt erreicht diese Charakterisierung dann, wenn May mit Hilfe einer ›Zerstückelungsmetaphorik‹ auf die existentielle Gefährdung der eigenen Person durch die Reden anderer aufmerksam machen will, so, wenn er u. a. von einer Vivisektion spricht, die man mit seiner Person vorgenommen habe. Die Art der Argumentation ist allerdings nicht allein wegen der Verteidigungs- und Rechtfertigungsstrategie von Belang. Vielmehr erklärt sie eigentlich erst, warum May eine Autobiographie schreibt und warum er mit Hilfe von literarischen Verfahren, die im folgenden kurz vorgestellt werden, das Leben des Karl Friedrich May zu einer Einheit gestaltet. Dieses  e i n h e i t s s t i f t e n d e  autobiographische Reden ist die Antwort auf das zerstückelnde


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Reden der anderen, und so darf die zur Einheit geschriebene Lebensgeschichte als ein sprachlicher Akt verstanden werden, der personale Integrität herstellen bzw. wiederherstellen soll. Erst als ein Wesen, das sich durch sprachliches, autobiographisches Handeln wieder hergestellt hat, ist sich der Autobiograph seiner selbst (wieder) gewiß, ein Gedankengang, der seit Hobbes und Vico nicht nur die Legitimationsversuche bezüglich des neuzeitlichen Wissenschaftsbegriffs in den Naturwissenschaften, sondern auch - spätestens seit Rousseau - die europäische Autobiographie in nicht unwesentlichem Maße bestimmt.

   Diese Einheit wird nun nicht mehr durch die Bezugnahme auf fremde, sondern durch diejenige auf eigene Texte erreicht, die die Gesamtstruktur der Autobiographie in hohem Maße beeinflußt; von Belang sind in diesem Zusammenhang vor allem die fiktionalen Texte der Spätphase. Wichtig ist dabei das die Struktur und den Inhalt der Autobiographie nachhaltig prägende Märchen von Sitara, das Karl Mays dualistisches Weltbild kurz und anschaulich artikuliert: die Welt besteht aus ›Ardistan‹, dem Tiefland, dem Lebensraum der Gewalt- und Egoismusmenschen, dem Lebensraum der niedrigen Daseinsformen, sowie dem Hochland ›Dschinnistan‹, dem Bereich der sogenannten Edelmenschen. Alles menschliche Denken und Handeln - so jedenfalls hat es May in seinem letzten, eine Woche vor seinem Tod in Wien gehaltenen Vortrag ›Empor ins Reich der Edelmenschen‹ formuliert - ist auf die Stellung des Menschen zwischen beiden Bereichen und der Frage nach den Möglichkeiten bezogen, von Ardistan nach Dschinnistan zu gelangen.

   Es ist bezeichnend für die Orientiertheit der Autobiographie an dem genannten Weltbild, daß May ›Mein Leben und Streben‹ mit dem Märchen von Sitara beginnen und mit folgenden Worten ausklingen läßt:


Am Schlusse dieses Bandes komme ich auf den Anfang zurück, auf mein altes, liebes Märchen von »Sitara«, von dem ich ausgegangen bin. Nicht lange Zeit mehr, so wird man dieses Märchen als Wahrheit kennen lernen, und zwar als die greifbarste, die es gibt. Es ist die Aufgabe des begonnenen, gegenwärtigen Jahrhunderts, unsere ungeübten Augen für die große, erhabene Symbolik des alltäglichen Lebens zu schärfen und uns zu der beglückenden und erhebenden Erkenntnis zu bringen, daß es höhere und unbestreitbarere Wirklichkeiten gibt als diejenigen, mit denen der Werk- und Wochentag uns beschäftigt.13


Der Rahmung der Lebensgeschichte durch das Märchen korrespondiert die Akzentuierung bestimmter Lebensabschnitte durch ein am Märchen orientiertes ›symbolisches Erzählen‹. So werden negativ bewertete Phasen der Jugend als Abgrund bezeichnet, in dem die Sümpfe lagen und heut noch liegen, aus denen alle die Nebel und alle die Gifte


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stiegen, durch welche mein Leben mir zu einer ununterbrochenen, endlosen Qual geworden ist.14 In ähnlicher Weise wird der Beginn des ›Wegs nach oben‹, die Aufnahme in die Lehrerbildungsanstalt, als Anfang einer von Ardistan nach Dschinnistan verlaufenden Entwicklung oder der Gefängnisaufenthalt als tiefste(s), niedrigste(s) Ardistan bezeichnet.15

   Weitere Entsprechungen auf struktureller Ebene finden sich vor allem dort, wo die Lebensgeschichte als eine Abfolge der vom ›Helden‹ Karl May zu überwindenden Hindernisse gestaltet ist. Vornehmlich hier wird die Verbindung von Autobiographie und Reiseroman evident: sind die Romanhelden wie Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi im Grunde Inkarnationen des Autors Karl May, so wird letzterer in ›Mein Leben und Streben‹ zum Helden, dessen Leben durch den Kampf mit dunklen Mächten und deren Überwindung gekennzeichnet ist. Das gilt für die Darstellung der seelischen Verfassung vor und während der Haftzeit ebenso wie für die sprachliche Wiedergabe der Kämpfe mit seinen Gegnern Lebius, Cardauns u. a.

   Auch solche Veränderungen der eigenen Lebensgeschichte mit Hilfe von in fiktionaler Literatur verwendeten literarischen Verfahren sind - gerade in der autobiographischen Literatur des 19. Jahrhunderts - durchaus üblich. Goethes ›Dichtung und Wahrheit‹ hat dabei stilbildend gewirkt; vor allem, was die Konvergenz von Autobiographie und dichterischem Werk betriffl. Dabei ist dann allerdings bei den meisten Autoren, wie z. B. Stieglitz, von Schaden oder Holtei, die Goethes Text prägende Intention verlorengegangen, nämlich mit Hilfe einer ›symbolischen Darstellung‹ die Erfahrungswirklichkeit auf die sie bestimmenden Gesetzmäßigkeiten durchsichtig und die Vielfalt der eigenen Handlungen und Erlebnisse als historisch gewachsene Einheit verständlich zu machen. Vielmehr geht es diesen und anderen Autoren gerade bei der Berücksichtigung eigener Dichtung vornehmlich darum, den Unterhaltungswert der Autobiographie zu erhöhen.16

   Bei Karl May werden diese Verfahren in anderer Funktion eingesetzt. Sowohl die Berücksichtigung des Griesinger-Textes als auch die Verbindung von Dichtung und Lebensgeschichte dient offenkundig dem Ziel, den eigenen Lebensweg mit Hilfe von Wissenschaft und Kunst - denn als solche versteht er seine Spätwerke - zu einem exemplarischen zu gestalten, die eigene Person stellvertretend für die gesamte Menschheit leiden und handeln zu lassen. Die Identifizierung einzelner Lebensphasen mit Stufen des Wegs der Menschheit von Ardistan nach Dschinnistan macht aus dem Karl-May-Problem ein Menschheitsproblem, unterstreicht einmal mehr die Überzeugung des


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Autobiographen Karl May, daß ich kein billiges, ungestörtes Durchschnittsglück zu beanspruchen hatte, sondern das Menschheitselend in seinen tiefsten Tiefen kennen lernen mußte, um mich ebenso beharrlich und ebenso mühevoll aus ihm emporzuarbeiten, wie die Menschheit Ströme von Schweiß und Blut und die Zeit von Jahrtausenden braucht, sich aus dem ihrigen zu erheben.17

   Solche und ähnliche Passagen machen nochmals darauf aufmerksam, daß die skizzierte Stilisierung zum Helden unter besonderer Beachtung der erlittenen und überwundenen Leiden geschieht. Zugleich verweisen sie auf eine weitere, von May bei der Gestaltung seiner Autobiographie berücksichtigte Gattungstradition, nämlich die der Heiligenvita; diese Verbindung drängt sich vor allem immer dann auf, wenn May Ausmaß und Intensität seiner Leiden anspricht. Sie begegnet in Passagen, welche in einer zuweilen recht gewagt erscheinenden Metaphorik den Autor in die Nähe von Märtyrern stellen und seine Geschichte in diejenige der Passion Christi rücken, z. B. wenn May davon spricht, daß ihn die Ehrlosigkeit seiner Gegner an das Kreuz geschlagen habe.18

   Vornehmlich diese Verbindung von Held  u n d  Märtyrer ermöglicht die Funktionalisierung der Autobiographie innerhalb eines umfassenderen Kommunikationsrahmens. Erst als heldenhafte und altruistisch handelnde Person vermag May offenkundig in die Auseinandersetzungen um seine Person einzugreifen  u n d  zugleich stellvertretend für andere das Wort zu ergreifen. Dieses Eingreifen geschieht nun in recht massiver Weise, vor allem das letzte Kapitel der Autobiographie ist fast ausschließlich den Auseinandersetzungen mit den Gegnern gewidmet, die er auch ausführlich zu Wort kommen läßt. Er zitiert Briefe, Protokolle, Zeitungsartikel und andere Schriftsätze, um das Ausmaß der in der Tat abstoßenden Verleumdungskampagne gegen die eigene Person zu dokumentieren. Das verstärkt eminent den oben bereits angesprochenen dialogischen Charakter der Autobiographie, weil es May polemische Antworten ermöglicht, die an Deutlichkeit und Schärfe nichts zu wünschen übrig lassen. So heißt es über den Kölner Chefredakteur Cardauns, der May u. a. als ›Verführer der Jugend‹ hingestellt hatte:


Dieser Herr Dr. Hermann Cardauns ist von dem sehr dunkeln und sehr häßlichen Punkte, den man in der zeitgenössischen Literaturgeschichte als Karl May-Hetze bezeichnet, unzertrennlich. Er hat es nicht anders gewollt. Er steht da eng vereint mit Leuten, zu denen er eigentlich nicht gehört. Er hat auch das gewollt. Sein niederschmetternder Stil, seine infallible Ausdrucksweise, seine »abgrundtiefen« oder »evidenten« Verdoppelungsworte haben Schule gemacht, besonders bei denen, welche mir Stricke drehen, um mich »aus der deutschen Kunst hinauszupeitschen«. Aber alles, was er in Vorträgen und Zeitungen gegen mich zusammenge-


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sprochen und zusammengeschrieben hat, bildet nicht etwa eine feste Säule, an der niemand zu rütteln vermag, sondern einen aus lauter vagen Indizien zusammengeleimten Papierdrachen, dessen Schnur niemand mehr halten will, es sei denn Herr Cardauns selbst.19


Das von seinem Erzfeind Lebius und anderen Personen sofort nach Erscheinen der Autobiographie erwirkte Verbot erscheint von daher als eine voraussehbare Reaktion, die eine vollständige Veröffentlichung dieser Schrift zum Leidwesen aller ›Karl May-Freunde‹ jahrzehntelang verhindert hat.

   Auch die erwähnte Art der Selbststilisierung und die daraus resultierende Übernahme einer Stellvertreterfunktion fordert zurückweisende Antworten geradezu heraus. Die pathetische Zeichnung zu einer vom Schicksal erwählten Person, die dasjenige ausdrückt, was die Leidensgenossen nicht zu artikulieren wagen bzw. nicht vermögen, akzentuiert einmal mehr den narzißtischen Zug in Mays Persönlichkeit, seine sich beispielsweise bereits früh in den Hochstapeleien äußernde Eigenschaft, als Retter und Befreier aufzutreten, man denke in diesem Zusammenhang nur an den selbst zugelegten Titel und Namen Dr. med. Heilig. Ähnlich wie eine Vielzahl anderer Autobiographen vor und nach ihm, von Adam Bernd im frühen 18. Jahrhundert über Rousseau bis Tilmann Moser,20 erhebt May den Anspruch, mit der Selbstdarstellung nicht nur eigene, sondern umfassende gesellschaftliche Bedürfnisse zu artikulieren. In und mit der Rolle als Held und Sprecher für andere will er in stärkerem Maße ernstgenommen und beachtet, ja im Grunde als eine Identifikationsfigur angenommen werden, die nicht so sehr zu ihrem eigenen, sondern zum Nutzen anderer sprachlich handelt. Der Anspruch auf diese Rolle wird durch die Auffassung begründet, die mit vielen anderen gemeinsam gemachten Lebenserfahrungen in besonderer, einzigartiger Intensität erlebt zu haben. Ähnlich wie bei den genannten Autoren gilt dabei die gesellschaftliche Isolierung als Voraussetzung, in dieser Stellvertreterfunktion sozial tätig zu sein, eine paradoxe Situation, ohne die freilich weltbewegendes Handeln unmöglich erscheint:


Ich bin nicht töricht genug, mir zu verheimlichen, daß man mich als einen Ausgestoßenen betrachtet, ausgestoßen aus Kirche, Gesellschaft und Literatur. Der Eine schlägt auf mich los, weil er mich für einen verkappten Katholiken oder gar Jesuiten hält; der Andere greift zum Prügel, weil er meint, ich sei noch immer heimlich Protestant. Würden diese Beiden es wohl fertig bringen, sich immer grad nur zu denen zu bekennen, von denen sie die meisten Prügel bekommen? Daß man mich als gesellschaftlich tot betrachtet, rührt mich nicht. Ich habe nicht den geringsten Grund, partout zu der Gesellschaft gehören zu wollen, die ich in meiner Lei-


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denszeit gezwungen war, kennen zu lernen.... Und was meine literarische Ausstoßung betrifft, so kann ich mich auch mit ihr zufrieden geben. Den Weg, auf dem ich mich befinde, ist noch kein Anderer gegangen; ich wäre also auch ohne den Haß, den man auf mich richtet, gezwungen, ein Einsamer zu sein. Auch bin ich überzeugt, daß später, wenn man mich und das, was ich will, erst richtig kennen gelernt hat, sich Manche, vielleicht sogar Viele von dem großen Haufen absondern werden, um sich mir zuzugesellen.21


Solcherart frei von gesellschaftlichen Zwängen und Verpflichtungen jeglicher Art, kämpft der große Einsame nicht nur mit seinen persönlichen Widersachern, sondern mit staatlichen Institutionen, insbesondere mit dem Bereich der Jurisdiktion:


Aber ich fühle das Bedürfnis, das, was Andere Böses an mir taten, für meine Mitmenschen in Gutes zu verwandeln. Ich werde es denjenigen, die gleiches Schicksal, wie ich, hatten, ermöglichen, aus der unmenschlichen Hetze gegen mich diejenigen Schlüsse zu ziehen, die ihnen heilsam sind. Was nützt alle sogenannte »Gerechtigkeit«, alle sogenannte »Milde des Gerichtes«, alle sogenannte »Humanisierung des Strafvollzuges«, alle sogenannte »Fürsorge für entlassene Strafgefangene«, wenn es nur eines einzigen spitzfindigen Anwaltes oder eines einzigen fragwürdigen Paragraphen bedarf, um all das Gute, welches aus diesen Bestrebungen erwuchs, in einem einzigen Augenblicke zu vernichten? Wie kann man von dem Gefallenen verlangen, daß er wieder aufstehe und sich bessere, wenn man es unterläßt, auch die Verhältnisse, in die man ihn zurückversetzt, zu verbessern? Ist es eine Ermunterung für ihn, zu wissen, daß er trotz aller Besserung doch, so lange er lebt, der Geächtete, der Unterdrückte, der Rechtlose bleiben muß und bleiben wird, weil er gezwungen ist, zu allem zu schweigen und sich alles gefallen zu lassen? Denn falls er das nicht tut, ist er verloren. Wenn er hingeht, um gegen die, welche ihn beleidigen, bestehlen und betrügen, sein gutes Recht zu suchen, schleppt man seine alten Akten herbei und stellt ihn an den Pranger. ...

   Hier liegt der Punkt, an dem meine Aufgabe anzusetzen hat. Es hat schon Einige gegeben, die als »entlassene Gefangene« ihre Erfahrungen niedergeschrieben haben; aber was man da erfuhr, das war so unbedeutend, daß es der Allgemeinheit keinen Nutzen bringen konnte. Hier genügt es nicht, kleine Menschengeschicke zu zeigen, sondern schwere, gewichtige Menschenschicksale, die, auch im klassischen Sinne, wirkliche Schicksale sind.  U n d  d a s  m e i n i g e  i s t  e i n  s o I c h e s .  Ich fühle mich verpflichtet, und meine Aufgabe ist, es in den Dienst der Humanität zu stellen. Wie ich mir das denke, das wird man, hoffe ich, aus meinem zweiten Bande ersehen.22


Wenn May durch seine Autobiographie Gesetze, Strafvollzug und Resozialisierung in gleicher Weise der öffentlichen Diskussion überantworten möchte wie dies zuvor durch die Reden anderer mit der eigenen Person geschehen war, verbindet er diese eigene Person und ihre Geschichte endgültig und intensiv wie selten ein Autobiograph mit Belangen der ihn umgebenden bürgerlichen Gesellschaft. Zugleich versteht er allerdings diese Art der Verbindung von Selbstenthüllung und


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Öffentlichkeitsbezug nur als Vorstufe, als ›Skizzensammlung‹, als Bestandteil einer Darstellung höherer Wahrheiten, so wie sie in den Spätwerken ›Winnetou IV‹ ›Im Reiche des silbernen Löwen III, IV‹ sowie ›Babel und Bibel‹ versucht worden ist.

   Es ist die Aufgabe des begonnenen, gegenwärtigen Jahrhunderts, heißt es da am Schluß von ›Mein Leben und Streben‹,


unsere ungeübten Augen für die große, erhabene Symbolik des alltäglichen Lebens zu schärfen und uns zu der beglückenden und erhebenden Erkenntnis zu bringen, daß es höhere und unbestreitbarere Wirklichkeiten gibt als diejenigen, mit denen der Werk- und Wochentag uns beschäftigt. Die Skizzen, die ich zeichnete und veröffentlichte, sollen der Vorbereitung zu dieser Erkenntnis dienen. Darum sind sie symbolisch geschrieben und, um verstanden zu werden, nur bildlich zu nehmen ... Der Leser hat sich einfach aus seiner Alltagswelt in meine Sonntagswelt zu versetzen, und das ist doch wohl auch nicht schwerer, als Sonntags seine Werkelstube zu verlassen, um bei Glockenklang in die Kirche zu gehen.

   Wie dieser Kirchgang vom irdischen Druck befreit, so will ich durch meine Erzählungen das Innere meiner Leser vom äußeren Druck befreien. Sie sollen Glocken klingen hören. Sie sollen empfinden und erleben, wie es einem Gefangenen zumute ist, vor dem die Schlösser klirren, weil der Tag gekommen ist, an dem man ihn entläßt. So leicht es ist, diese Gefangenschaft bildlich zu nehmen, so leicht ist es auch, meine Bücher zu verstehen und ihren Inhalt zu begreifen. Ich will, daß meine Leser das Leben nicht länger als ein nur materielles Dasein betrachten. Diese Anschauung ist für sie ein Gefängnis, über dessen Mauern sie nicht hinaus in das von der Sonne beschienene freie, weite Land zu schauen vermögen. Sie sind Gefangene, ich aber will sie befreien. Und indem ich sie zu befreien trachte, befreie ich mich selbst, denn auch ich bin nicht frei, sondern gefangen, seit langer, langer Zeit.23


Diese Zeilen verweisen abschließend noch einmal auf Besonderheiten hinsichtlich Struktur und Funktion dieser Autobiographie. Das erneute Einbeziehen des Märchens von Ardistan und Dschinnistan ist als Teil jener Bemühungen zu verstehen, der Selbstdarstellung eine künstlerische Form zu geben, sie auf diese Weise noch einmal als ein ästhetisches Ganzes vorzustellen, um damit zugleich diesem mit ihr dargestellten Leben Kontur und seiner geschichtlichen Entwicklung Einheit zu verleihen. Art und Weise der ästhetischen Abrundung ist zudem als ein Versuch der Identifizierung von Leben und Werk zu verstehen, wobei die religiös geprägte Metaphorik - Schreiben und Lesen als Gottesdienst - mit der zu Beginn der Autobiographie etablierten Gleichsetzung von Schreib- und Beichtsituation korrespondiert.

   In bezug auf die Funktion belegen die zitierten Passagen, daß Karl May persönliche Erfahrungen, Gedanken und Gefühle nicht nur deshalb sprachlich artikuliert, weil er sich in der ›Darstellung seines wahren Selbst‹ von bestimmten, aus früher Kindheit datierenden Obsessio-


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nen befreien will. Vielmehr ist seine Autobiographie ›Mein Leben und Streben‹ eines der signifikantesten Beispiele für eine mit dem frühen 18. Jahrhundert beginnende Tendenz, mittels der publizierten Intimsphäre öffentlich wirksam zu werden. Durch die Veröffentlichung seiner Privatsphäre entlastet May eine bestimmte gesellschaftliche Gruppierung - nämlich ehemalige Strafgefangene - von sozialem Druck in Form von Verachtung und Diskriminierung und versucht zugleich damit, seine Reputation als in der Gesellschaft anerkannte bürgerliche Person wiederherzustellen.


1 Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften Bd. Vll: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Leipzig und Berlin 1927, S. 74

2 Georg Misch: Geschichte der Autobiographie. Bd. I, 1, Frankfurt a. M. 1949, S. 5ff

3 Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o.J. (1910), Reprint Hildesheim-New York 1975. Hrsg. von Hainer Plaul

4 Ebd., S. 11f.

5 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Frankfurt a. M. 1970, S. 543f.

6 Sigmund Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Frankfurt a. M.1975, S.45

7 May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 3, S. 119

8 Vgl. ebd., S. 114.

9 Plaul, wie Anm. 3, S. 522ff.

10 Ebd.

11 Vgl. dazu Jürgen Lehmann: Ambivalenz und Dialogizität. Zur Theorie der Rede bei Michail Bachtin. In: Friedrich A. Kittler/Horst Turk: Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Frankfurt a. M. 1977, S. 355-380.

12 May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 3, S. 302f.

13 Ebd., S. 316f.

14 Ebd., S. 66f.

15 Ebd., S. 135

16 Karl von Holtei: Vierzig Jahre. Breslau 1862-66 - Adolph von Schaden. Sentimentale und humoristische Rückblicke auf mein vielbewegtes Leben. Leipzig 1838 - Heinrich Stieglitz: Eine Selbstbiographie. Vollendet und mit Anmerkungen versehen von L. Curtze. Gotha 1865

17 May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 3, S. 300f

18 Ebd., S. 169

19 Ebd., S. 257

20 Adam Bernd: Eigene Lebensbeschreibung (1738). Vollständige Ausgabe. Mit einem Nachwort Anmerkungen, Namen- und Sachregister hrsg. von Volker Hoffmann München 1973 - Tilman Moser: Lehrjahre auf der Couch. Bruchstücke meiner Psychoanalyse. Frankfurt a. M. 1974

21 May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 3, S. 313f.

22 Ebd., S. 308f.

23 Ebd., S. 316ff.





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