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HELMUT MOJEM


Karl May: Satan und Ischariot
Über die Besonderheit eines Abenteuerromans mit religiösen Motiven




Der Name Karl Mays ist längst zum Begriff geworden; die Verbindung Karl-May-Roman, vielen schon geradezu gedankenlos geläufig, bezeichnet innerhalb des breiter greifenden, wissenschaftlichen Terminus Abenteuerroman Spezifisches, dem deutschen Leser - nach den Auflagezahlen geurteilt - Teures. Fragt man, was so faszinierend daran denn sei, so kommt man weniger auf eine übergreifende Aussage, eine Botschaft gar; geschätzt werden bei May neben der spannend und phantasiereich erzählten Story vor allem seine idealen und konstanten Helden Old Shatterhand, Kara Ben Nemsi und Winnetou. Ihr Kampf mit typisierten Indianern, Westmännern oder Beduinen, welcher an exotischen, dem versierten Leser aber bereits wieder vertraut gewordenen Schauplätzen stattfindet, meist im amerikanischen Westen oder im Vorderen Orient, vermag ständig aufs neue zu fesseln. Und auch die Art, wie erzählt wird, ist beliebt, der Humor des Autors, seine Deutschtümelei, die sich in solcher Nachbarschaft sonderbar genug ausnimmt; noch eigenartiger, gibt's doch kaum Humorloseres, auch sein Hang zu christlich-moralisierenden Einschüben und zu platter Religionsphilosophie.

   Die drei zusammenhängenden Erzählungen ›Die Felsenburg‹, ›Krüger-Bei‹ und ›Die Jagd auf den Millionendieb‹, die zwischen 1893 und 1896 in der Zeitschrift ›Deutscher Hausschatz‹ erschienen und unter dem Gesamttitel ›Satan und Ischariot‹ 1896/97 in die Fehsenfeld-Buchausgabe aufgenommen wurden, enthalten das alles in ausreichendem Maß: Sämtliche drei Helden treten in einer abwechslungsreichen Handlung auf, die Romane spielen sowohl im fernen Wildwest als auch in Nordafrika, daselbst agieren bereits bekannte Figuren (Emery Bothwell, Krüger-Bei), gleich zu Beginn findet der Leser eine humoristische Episode, nationales Empfinden sowieso überall, ein religiöser Hintergrund des Erzählten läßt sich allein schon von der Überschrift der Trilogie her ausmachen. Dennoch reicht die Bekanntheit dieser drei Bände bei weitem nicht an die anderer, zu Karl-May-Klassikern geworde-


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nen Werke heran, etwa an die des Orientzyklus, des ›Winnetou‹-Romans, des ›Schatz im Silbersee‹.

   Ein Grund dafür ist sicherlich der spröde Titel, der sich in biblisch-christlichen Bezügen bewegt und auf die Abenteuergeschichte nicht im geringsten verweist. Die Durchsetzung etlicher Werke Mays mit frommen Betrachtungen wurde vorhin als ein Merkmal benannt, das seine Leser schätzen. Das gilt sicherlich für viele. Andere hingegen nehmen sie lediglich der spannenden Handlung zuliebe in Kauf, ja pflegen sogar die entsprechenden Seiten zu überschlagen. Diesem Publikum sind vor allem die metaphysisch überfrachteten Spätwerke ein Greuel. Die durch den genährte Vermutung, es könne sich bei der vorliegenden Trilogie um einen solchen Roman handeln, mag manchen bestimmen, die Lektüre doch lieber sein zu lassen.

   Dabei ist ›Satan und Ischariot‹ durchaus eine Abenteuergeschichte, die viele Elemente der Mayschen ›Klassiker‹ enthält und vom Stoff und von der Machart her unbedingt Interesse beanspruchen kann. Das religiöse Moment ist aber zweifelsohne auch vorhanden, und zwar in merklich höherem Maß als in den früheren Werken. Wie diese beiden Komplexe miteinander verschmolzen sind und welches der Grund für diese seltsame Mischung ist, das soll im folgenden untersucht werden.

   Eine klare Ambivalenz tritt bereits im Titel zutage. Während die Gesamtüberschrift ›Satan und Ischariot‹ einen christlichen Rahmen anzeigt, sind die Einzeltitel der drei Teile Anreißer, die mit Exotik und Kriminalität gewürztes Abenteuer verheißen: ›Die Felsenburg‹, ›Krüger-Bei‹ ›Die Jagd auf den Millionendieb‹. Die Kapitelüberschriften beziehen sich lediglich auf das Geschehen und enthalten in der Regel keine weitergehenden religiösen Verweise. Nur manchmal kann man eine gewisse Zweideutigkeit erkennen: ›Ein Teufelsstreich‹ oder ›Unter der Erde‹ lassen an den ›Satan‹ des Titels und den dazugehörigen Ort der Hölle denken. Überhaupt scheint die gesamte Haupthandlung der ›Felsenburg‹ diese doppelte Lesart zu gestatten. Daß Harry Melton eine diabolische Figur sein soll, wird dem Leser durch den Hinweis auf seine Ähnlichkeit mit der Satansdarstellung Gustave Dores sehr nachdrücklich nahegebracht. Dieser ›Satan‹ bzw. ein von ihm Beauftragter verführt die deutschen Auswanderer zu einer Reise, die in der Unterwelt des mexikanischen Bergwerkes enden soll, das man somit wohl als ›Hölle‹ bezeichnen kann - gebietet doch Melton darüber. Die Emigranten sind dann als gefährdete Seelen zu sehen; es war ja früher durchaus üblich, eine Anzahl von z. B. zwanzig Menschen als ›zwanzig Seelen‹ zu bezeichnen, man denke an Gogols ›Tote Seelen‹; der Ausdruck ›Seelenverkäufer‹ war für ein unsicheres Auswandererschiff


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gängig. Der Ich-Erzähler befindet sich in Guaymas in einer Notsituation, er will fort und findet dazu keine Gelegenheit. Da wird ihm von Harry Melton ein scheinbar selbstloses Angebot unterbreitet, das ihm die Weiterreise ermöglicht, eigentlich aber nur dem Zweck dient, ihn ins Verderben zu stürzen - hat der Mormone doch längst in ihm den potentiellen Feind und Widersacher Old Shatterhand erkannt. Es ist ein Antrag Satans, eine Andeutung von Teufelspakt. Daran gemahnt auch der Schauplatz. In der Sonora ist das Kapitel überschrieben; das kann gelesen werden ›in der Wüste‹ und erinnert an die bekannte biblische Versuchungsszene. Dadurch bekommt Old Shatterhand die Position des Gegenspielers zu Harry Melton, der ja der Teufel ist zugeordnet; er erscheint als Lichtfigur, als Held Gottes, der die unterweltliche Herausforderung ohne Zögern annimmt - die Abenteuergeschichte wird zum Kampf Satans gegen den Streiter Christi.1

   Aber natürlich bleibt die Abenteuergeschichte als solche auch bestehen. Es genügt, sich die Handlungsstruktur des ersten Bandes zu vergegenwärtigen. Die Begegnung Old Shatterhands mit der rätselhaften, aber eindeutig negativ markierten Figur des Mormonen; die heimliche Auseinandersetzung der beiden mit Hilfe von List und Gegenlist; die Anschläge Meltons, die Old Shatterhand belauscht und daraus stückweise den verderblichen Plan der Schurken errät; die Fortschritte, die dieser Plan macht, während der positive Held anfangs nur Mißerfolge hat; die wachsende Zahl der Feinde, wogegen der Ich-Erzähler allein bleibt; schließlich der Triumph Meltons und die Gefangenschaft Old Shatterhands bei den Yuma-Indianern, eine hoffnungslose Situation, aus der heraus der Westmann doch noch alles zum Guten wendet und seine Feinde beherrscht - das folgt alles so spannend aufeinander, wie seine Aufzählung hier langweilig wirkt.

   Die beiden Lesarten, die religiös ausgerichtete und die rein auf das Abenteuer angelegte, bestehen aber nicht nur nebeneinander, sie verquicken sich auch im Detail, etwa wenn Harry Meltons Mordpläne gegen Old Shatterhand dadurch motiviert werden, daß dieser vor etlichen Jahren den Bruder Meltons, einen Spieler und Mörder, der strafenden Gerechtigkeit überliefert hat. Das ist ein einsichtiger Grund für den Haß des Mormonen. Es ist aber auch ein Hinweis auf die quasi mythische Tradition des Bösen in dieser Familie, welcher der Held immer wieder in erneutem Kampf gegenübersteht. Wie denn auch Harry Melton, der Gefangener bei den Yumas war und für den Leser eigentlich schon am Marterpfahl gestorben ist, unversehens wieder auftaucht und bei einem neuen Verbrechen mitwirkt, nachdem beiläufig sein Entkommen erwähnt worden ist.


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   Die Ursachen für solche Vermischung können klarer werden, wenn man den Verlauf der Handlung, die Art und die Struktur der einzelnen Abenteuer genauer untersucht. Ihr grobes Schema ist immer gleich. Old Shatterhand steht einer Gruppe von Hilfsbedürftigen gegen die Machenschaften irgendwelcher Schurken bei - meist der Meltons und ihrer Helfershelfer - und führt die Sache zu einem guten Ende. Dabei leitet ihn kein Eigeninteresse, er handelt rein moralisch, allenfalls durch nationale Sympathien bestimmt; die Auswanderer in der ›Felsenburg‹ sind Deutsche. Dadurch, daß es sich bei den Bedrohten um eine Gruppe handelt, wird das Abenteuer zum sozialen Ereignis. Ganz deutlich merkt man das im ersten Band. Die deutschen Arbeiter emigrieren aus wirtschaftlichen Gründen, es sind kleine Handwerker oder Pächter, die der ökonomischen Enge der Heimat entfliehen wollen und sich in der Neuen Welt ein besseres Leben erhoffen. Jakob Silberstein beschreibt trefflich diese Absicht und die Stimmung, die sie begleitet: Fällt doch ab drüben im alten Lande ein so geringer Gewinn, daß man muß schnallen den Leibriemen von Tag zu Tag immer enger, wogegen in Amerika, was hier Mexiko und Sonora heißt, die Pesos und Dollars liegen geradezu auf der Straße für den, welcher Augen hat, sie zu finden, um sie zu entdecken. (I, 44)2

   Das Schicksal der Auswanderer verläuft jedoch zunächst anders. Sie werden von Melton betrogen, von den Yumas verschleppt, im Quecksilberbergwerk gefangengehalten und müssen sich schließlich sogar des Haziendero und der Obrigkeit, vertreten durch den Juriskonsulto, erwehren. Old Shatterhand steuert allen diesen Gefahren, indem er in bewährter Einzelkämpfermanier, unter Umgehung und Mißachtung des ohnehin fragwürdig wirkenden offiziellen Gesetzes, die Dinge ins rechte Lot bringt und die bis dahin Betrogenen mit dem Besitz der Betrüger, den diese sich widerrechtlich angeeignet haben, entschädigt. Dabei erscheinen die amerikanischen Zustände im Resümee Old Shatterhands in einem anderen Licht als noch bei Jakob Silbersteins Lobeshymne:


Hier giebt es andere Verhältnisse und andere Menschen als drüben in der Heimat, wo man für die Armen sorgt und es überall tausend Menschen giebt, welche dem Bittenden eine Gabe reichen oder die hilfsbereite Hand entgegenstrecken. Ja, Sie würden hier sterben und verderben, ... ich habe sie [Melton und Komplizen] gefangen und müßte sie und ihr Geld nach den hier herrschenden Gesetzen dem Richter übergeben. Was würde die Folge sein? Das Geld würde verschwinden und die Schufte wahrscheinlich auch, um an anderm Orte wieder aufzutauchen und neuen Unfug zu treiben; Sie aber würden keinen Heller bekommen und hätten nichts, womit Sie Ihre Blöße bedecken und Ihren Hunger stillen könnten. (Il, 105f.)


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Zweifellos geht es May nicht darum, die Verhältnisse in Amerika zu verteufeln und die in Deutschland zu verherrlichen. Was im Roman als räumliche Distanz auftritt, muß eigentlich als zeitliche gelesen werden. Alte und Neue Welt, Deutschland und Amerika, stehen für die Behandlung, die die Arbeiter in ihrem ehemaligen und in ihrem jetzigen Land erfahren haben, für die Umstände, unter denen sie ihr Leben vormals verbrachten, bzw. die, in die sie sich nun einrichten müssen. In Deutschland führten sie ein zwar ärmliches, aber dafür friedliches und ruhiges Dasein; es hatte ein jeder ein kleines Eigentum und ein kleines Häuschen (II, 104), es war ein Leben im gewohnten Kulturkreis, überschaubar, heimelig und heimatlich. In Amerika, wohin sie die Hoffnung, viel Geld zu verdienen, gebracht hat, sind sie Fremde, verstehen die Sprache und kennen die Verhältnisse nicht. In der betrügerischen und gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen Melton und Timoteo Pruchillo geht es nicht zuletzt um die Arbeiter, die jeder der beiden Unternehmer - denn als solche treten sie auf - für seine Zwecke ausbeuten will, wobei der eine sich der Hilfe der gesetzlosen Indianer bedient, der andere auf die moralisch noch zweifelhaftere Polizei und Justiz zurückgreift. Es ist das Panorama eines höchst anarchischen Kapitalismus, mit den unzulänglichen Mitteln des Abenteuerromans gezeichnet.

   Selbstverständlich trifft diese Gegenüberstellung historisch so nicht zu. May hatte in seiner Kindheit und Jugend Elend genug erfahren, um zu wissen, daß eben dieser geschilderte Kapitalismus seinen Einzug längst auch in Deutschland gehalten hatte.3 Es ist wohl auch der heimische gemeint; Amerika dient nur als Metapher, verkörperte es doch gegen Ende des 19. Jahrhunderts geradezu beispielhaft industrielles Wachstum, expandierende Wirtschaft und soziale Spannungen. Ein deutsches Gegenbild dazu ist schlechthin irreal. In die diffuse Vergangenheit der ›guten alten Zeiten‹ versetzt, mag es allerdings die Folie für den Wunsch abgegeben haben, eine unübersichtlich gewordene gesellschaftliche Situation, eine als bedrohlich empfundene soziale Realität imaginär zu korrigieren, sie durch eine Welt zu ersetzen, in der klare Wertvorstellungen, einfache Rechtsnormen, überschaubare Handlungszusammenhänge und auf humanen Grundsätzen beruhende Lebensformen existieren. Träger und Verwirklicher dieser Utopie ist das souverän handelnde Individuum Old Shatterhand, selbst freilich wieder ein Reflex auf den ohnmächtigen, letztlich wirkungslos agierenden einzelnen im späten 19. Jahrhundert. Im Roman stehen sich zwar bei kriegerischen Auseinandersetzungen immer Kollektive gegenüber (Yumas - Mimbrenjos, Nijoras - Mogollons), so wie es auch wirklich


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die Zeit der Massen- und Materialschlachten war. Gelöst werden die Konflikte aber stets durch den Einzelkampf, durch die Einzelinitiative, und fast immer dankt der Held den Sieg seinen überragenden Eigenschaften; technische Überlegenheit spielt dabei eine geringe Rolle. Seine Aufgabe erschöpft sich aber nicht in der Überwindung des Gegners. Nachdem Old Shatterhand die Auswanderer aus allen Gefahren gerettet hat, ermöglicht er ihnen nicht nur eine materiell gesicherte Zukunft, er sagt ihnen auch, wie sie zu gestalten sei: »Wie sollen wir Ihnen dafür danken!«, fragen die im Wirbel der modernen Zeiten Orientierungslosen. »Dadurch, daß Sie drüben fleißig arbeiten und Ihrer deutschen Abstammung Ehre machen.« (II, 108) ›Deutsch‹ meint hier wieder ›Alte Welt‹ und vertraute heimatliche Verhältnisse. Im Roman steht somit der Exklave der Menschlichkeit inmitten der feindlichen, kapitalistischen Umwelt nichts mehr im Wege: Damit war die traurige Vergangenheit für sie alle verschwunden, und sie konnten einer zwar einfachen, aber doch bessern und früchtereichen Zukunft entgegenblicken. (II, 200)

   Das im zweiten Band erzählte Abenteuer in Afrika verläuft nach dem gleichen Schema und läßt sich auch auf ähnliche Hintergründe zurückführen. Hier hilft Kara Ben Nemsi den Uled Ayar gegen die Uled Ayun. Letztere sind reich, erstere unverschuldet arm; beide aber stehen sie unter der Oberhoheit des Pascha von Tunis, dem sie Steuern bezahlen müssen, was begreiflicherweise den Ayun leichter fällt. Darüber hinaus verfolgt der reiche Stamm den armen, der ohnehin bereits den Zorn des Machthabers auf sich gezogen hat, weil er seiner finanziellen Untertanenpflicht nicht nachgekommen ist. Es ist nicht allzu schwer, im gesellschaftlichen Leben des Deutschen Kaiserreiches Parallelen zu dieser fiktiven Konstruktion zu finden. Daß sie gar sehr mit dem Holzhammer gezimmert ist - was tut's; es liegt am Genre. Kara Ben Nemsi schafft auch hier mit leichter Hand Ordnung. Das Recht des Herrschers bleibt unangetastet, nur wird das Geld eben nicht von den armen guten, sondern von den reichen bösen Leuten genommen. Deswegen wird niemand May einen Sozialrevolutionär nennen wollen; in seiner Lösung, die einfacher noch ist als die Konstruktion, drückt sich wieder die Sehnsucht nach einer Welt aus, in der sich so handeln läßt, in der es gute Obrigkeiten (repräsentiert von einem Deutschen, Krüger-Bei) und zufriedene Untertanen gibt, altüberkommene Lebensformen und einfache, klare Gesellschaftsstrukturen. Letztlich auch der Wunsch, die Umstände, unter denen er lebte und arbeitete, solchen, wie in seinem Buch geschildert, anzunähern; ein Akt der Phantasie, den die Leser, welche mit den


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gleichen Verhältnissen konfrontiert waren und sind, begeistert und in Massen nachvollzogen.

   Auffällig ist an dieser Geschichte die Rolle, die der offiziellen Gewalt zugeschoben wird. Zwar ist der eigentliche Motor der Lösung natürlich Kara Ben Nemsi, zwar ist Krüger-Bei, der Vertreter des Pascha, sein Freund und obendrein ein Deutscher, es bleibt indes Tatsache, daß die Autorität des Souveräns und sein Recht, Abgaben zu verlangen, nirgends in Zweifel gezogen werden - ganz im Gegensatz zu den anderen Abenteuern, wo der Juriskonsulto oder der Anwalt Murphy bzw. die Rechtssysteme, die sie vertreten, ganz und gar negativ gezeichnet sind. Mays Wunschzustand schließt also Steuerpflicht und Gehorsam keineswegs aus; es ist eine recht zahme Vorstellung. Abgesehen davon, scheint sich mir aber in diesem Zug eine wichtige Charakteristik der Utopie des Autors auszudrücken: daß es nämlich nicht um die Änderung von Gesellschafts- oder Wirtschaftsordnungen geht, sondern um gerechtere und menschlichere Lebensformen. Da aber sind die Beduinen mit ihren archaischen Vorstellungen den neumodischen Zeiten - man denke an die Undankbarkeit Timoteo Pruchillos - noch allemal Vorbild; so meint May: Bei den Beduinen wird einer Dschemma die größte Ehrerbietung erwiesen, und mancher junge Civilisations-Fant könnte von diesen ungebildeten Leuten lernen, wie man das Alter zu achten und zu ehren hat. (II, 445)

   In ähnlichem Sinn löst Old Shatterhand auch den Konflikt zwischen den Nijoras und den Mogollons. Auch die Haupthandlung der letzten beiden Bände, die Verhinderung des Betrugs der Meltons an der Familie Vogel, fügt sich der gleichen Struktur. Der Held überwindet die Verbrecher mehr oder minder allein, nimmt ihnen das Geld ab und läßt es den rechtmäßigen Besitzern zukommen. Darüber hinaus kann man an der Vogel-Episode wieder sehr deutlich ablesen, wohin die Stoßrichtung dieses doch sehr simplen Handlungsgerüstes zielt.

   Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß nun einzelne Personen im Mittelpunkt stehen. Die Auswanderer und auch die Uled Ayar waren amorphe und passive Gruppen, die sich vom Ich-Erzähler auf den rechten Weg leiten ließen. Aus ihnen stachen lediglich Jakob Silberstein und seine Tochter Judith hervor, die sich vom Kapitalismus amerikanischer Prägung blenden ließen - es sind sinnigerweise keine Deutschstämmigen, sondern Juden - und mit denen es auch demgemäß ein schlimmes Ende nimmt. Als Parallel- und Gegenfigur zu Judith ist Martha Vogel angelegt, die der Versuchung des Reichtums zwar auch nicht widerstehen kann, aber noch rechtzeitig zu den wahren Werten zurückfindet und dabei auch Eigeninitiative entwickelt. Ent-


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scheidend ist zwar immer noch die Hilfe Old Shatterhands, doch läßt sich in dieser Weiterentwicklung des Typs Hilfsbedürftiger zur eigenständigen, handelnden Person ein Hinweis Mays vermuten, dem wohl klar geworden war, daß sein erträumter End- und Glückszustand Gefahr lief, unversehens zu einem Paradies für willenlose Schäfchen zu werden.

   Martha und Franz Vogel sind die Kinder armer, aber ehrbarer Leute aus dem sächsischen Erzgebirge, die von dem Ich-Erzähler als musikalisch begabt erkannt werden und mit seiner Hilfe einer zwar äußerlich bescheidenen, aber innerlich reichen Zukunft als Künstler entgegengehen. Gestört wird diese harmonische Entwicklung durch das Auftauchen Konrad Werners, eines jungen Ölprinzen und Dollarmillionärs, der Martha Vogel heiratet, sie der Heimat entzieht und nach Amerika mitnimmt. Werner ist zwar auch ein Deutscher, aber durch den Ort seines neugewonnenen Reichtums und mehr noch durch seine Lebensgeschichte ist er ein Bürger der Neuen Welt. Sein Aufstieg von bitterstem subproletarischem Elend zum Millionär ist ein Topos aus der kapitalistischen Zeit und folgerichtig verschließt der Ich-Erzähler, handlungsbedingt sein Konkurrent und Rivale um Martha, aber auch strukturell sein Gegenspieler als Repräsentant der alten, bescheideneren, menschlicheren Welt, davor seine Augen: »Ich meine, wir schweigen lieber darüber.« (II, 207); »... es ist besser, darüber zu schweigen.« (II, 206) So wehrt er sich gegen die Schilderung von Not und Armut und taut erst auf, wenn der reiche Amerikaner die Absicht zeigt, seinen ehemaligen Meister finanziell zu unterstützen, karitative Hilfe auf engstem, persönlich überschaubarem Raum zu leisten, so wie es der Ideologie der ›Heimat‹ und des Althergebrachten entspricht: »Ihre Geschichte beginnt, mich zu interessieren; der Anfang aber wollte mich abstoßen.« (II, 209)4

   Damit die Sache noch stimmiger wird, ist Konrad Werner zudem ein roher, gefühlloser Mensch, der nicht im entferntesten an die Qualitäten Martha Vogels heranreicht. Und da das Glück in der Neuen Welt dem schnellen Wechsel unterliegt - im Gegensatz zu der Alten, welcher die Beständigkeit als prägende Charakteristik zugesprochen wird - verliert Werner alsbald sein Vermögen, und Martha, die in dieser Konstruktion die zentrale Rolle einnimmt, steht nach einer gescheiterten Ehe mittelloser da denn je. Der amerikanische Traum ist ausgeträumt.

   Der Punkt der allergrößten Distanz von der Heimat ist damit erreicht, was man durchaus auch räumlich verstehen kann, Vogels wohnen nämlich in San Francisco; nun kann die Rückbewegung beginnen.


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Eingeleitet wird sie durch eine Erbschaft, die ihnen von ihrem Onkel aus New Orleans - das schon wesentlich näher zu Deutschland liegt zufällt, einem ebenfalls amerikanisierten Deutschen, der auch Dollarmillionär geworden ist. Das Schicksal dieser Familie und das ihres Vermögens steht - ebenso wie das Werners - unter keinem guten Stern, es ist amerikanisches Vermögen und amerikanisches Schicksal. Daß der alte Hunter stirbt, kann man noch als normal bezeichnen, sein Sohn jedoch wird umgebracht und sein Besitz von den Meltons, erzamerikanischen Bösewichtern, geraubt. Da bedarf es des Eingreifens Old Shatterhands, der das Geld den rechtmäßigen Erben verschafft, die sich damit in der Heimat niederlassen und sinnigerweise das tun, was Konrad Werner unterlassen hatte, nämlich tätige Hilfe im nächsten Umkreis leisten, mittellose Talente fördern und soziales Elend beheben.

   Dieses bürgerlich-familiensinnige Finale erscheint schlüssig, wenn man bedenkt, wie sehr eigentlich allesGeschehen in diesem Roman um die Instituiton der Familie kreist. Zwei Zentralmotive mögen dies verdeutlichen: Jonathan Melton wird als falscher Sohn und Erbe untergeschoben. Konrad Werner zerstört die bürgerlich-wohlanständige Existenz der Vogels. Darüber hinaus kann man feststellen, daß die negativen Personen des Buchs durch Roheit gegenüber ihren Verwandten gekennzeichnet sind. Judith Silberstein kümmert sich ebensowenig um ihren Vater, wie Werner sich Gedanken um den Tod seiner Mutter macht. Thomas Melton will den eigenen Sohn verkaufen, wie er auch seinen Bruder umbringt und seinen väterlichen Freund Krüger-Bei verrät. Und auch Harry Melton, der als Unternehmer der ›Vater seiner Arbeiter‹ sein sollte, ist alles andere eher als das. Das positive Gegenbild hierfür, Winnetou und Old Shatterhand, zeigt sich ja ebenfalls durch eine Verwandtschaftsstruktur geprägt; sie sind Blutsbrüder. Die patriarchalische Geste des Ich-Erzählers als Beschützer, Wohltäter und Gönner rundet das Tableau ab.

   Eine ähnlich wichtige Funktion gewinnt in diesen Passagen der Begriff des ›Deutschen‹. Es ist wohl nur zum Teil übersteigerter Nationalismus, der May bewogen hat, seinen Landsleuten so viele und so positive Rollen in seinen Werken zuzuteilen. Deutschland und mehr noch deutsches Wesen verkörpern für ihn - ebenso wie die heile Familie eine Art vorkapitalistischer Existenzform, die modernem, amerikanischem, d. h. kapitalistischem Treiben so entgegensteht, daß sie sich erfolgreich als Alternative dazu anbieten kann; man denke an den Leserzuspruch. Daß dies nur Augenwischerei ist, beweist am klarsten jene Szene, wo der Erzähler sich weigert, die Elendsgeschichte Konrad Werners anzuhören. Soziale Not gehört zur realen Sphäre des Kapita-


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lismus und hat in dem Konstruktionsplan des Romans keinen Platz, allenfalls dann, wenn die Mittel zu ihrer Beseitigung schon bereitstehen. Dann kann sie den fast schon pittoresken Hintergrund des schließlich erreichten Glückszustandes bilden, diesen durch die Möglichkeit gedankenvoller Rückerinnerung noch steigernd und vermehrend.

   Diesen Abenteuern kann, wie gesagt, auch eine religiöse Struktur unterlegt werden, indem man sie als Kampf zwischen der Satansgestalt Harry Melton und dem Ich-Erzähler liest, der dadurch zum Streiter Gottes wird. Gegenstand dieser Auseinandersetzung, dieses Ringens um Seelen, sind in der ›Felsenburg‹ die Auswanderer, die Melton ins Verderben, Old Shatterhand zu ihrem Heil führen will; aber auch die Yumas, die sich irreleiten und anschließend wieder läutern lassen. Die weltliche Gerechtigkeit erweist sich als unfähig, in diesen Kampf einzugreifen, sie erliegt zeitweilig sogar den Vorspiegelungen des Bösen. Es triumphiert dennoch die Lichtgestalt. Aber schon steht der nächste Vertreter der Hölle bereit, Thomas Melton, Ischariot, der die Uled Ayar zum Aufstand gegen den Pascha von Tunis treibt, seinen Wohltäter verrät und obendrein noch Small Hunter umbringt, unterstützt von seinem Sohn Jonathan Melton, der anstelle des Ermordeten untergeschoben werden soll. Der Ich-Erzähler siegt auch hier, rettet die Verführten und entschädigt sie auf Kosten reicher Schurken, kann aber nicht verhindern, daß die Haupt-Auseinandersetzung weitergeht. Es bedarf eines dritten Bandes und eines erneuten Schauplatzwechsels, um den Kampf zwischen Gut und Böse schließlich zu endigen.

   Wer als Leser nun erwartet hat, daß in ›Krüger-Bei‹ und der ›Jagd auf den Millionendieb‹ die Hinweise auf eine religiöse Lesart noch vermehrt auftreten würden, sieht sich allerdings enttäuscht; es werden im Vergleich zur ›Felsenburg‹ deutlich weniger. Zwar bleibt das Grundmodell des Kampfes zwischen Gott und Teufel erhalten, im zweiten Band kann man noch zur Not die Rettung der vom Bösen verführten Uled Ayar oder den Verrat Thomas Meltons geltend machen, aber im dritten Teil erscheint diese Deutung mehr als gezwungen. Bei den Konflikten Old Shatterhands mit den Komantschen und den Mogollons hat zwar beidesmal Jonathan Melton die Hand im Spiel, gefährdete Seelen, die gerettet werden müssen, lassen sich aber nirgendwo mehr ausmachen Auch fehlen sinnbildliche Handlungsorte, wie das unterirdische Bergwerk einer war, stringente, christlich interpretierbare Geschehenszusammenhänge und eine religiöse Einordnung der Verbrechensopfer. Die isoliert stehenden Verratshandlungen Thomas Meltons können das alles nicht ersetzen. Und auch in der Vogel-Geschichte geht es eben nicht um die Verführung Marthas durch irgendeinen


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Melton, sondern um ihre Faszination durch die prunkvoll glitzernde Sphäre der Neuen Welt, vertreten von Konrad Werner.

   Selbst da, wo sich biblische Bezüge festmachen lassen, besitzen sie nicht mehr die Schlüssigkeit jener im ersten Band. Das wichtige Motiv des Brudermörders verweist auf Kain; das Opfer erinnert aber keinesfalls an Abel, sondern es ist Harry Melton, der Teufel, welcher ja eigentlich unsterblich sein müßte. Der Selbstmord Thomas Meltons wiederum ist in dem Ende Judas Ischariots präfiguriert; Kain lebte bekanntlich weiter. Trotzdem hält May an seiner ursprünglichen Symbolik fest, indem er unverdrossen seinen Schurken ein satanisches Moment assoziiert; auch wenn es dabei stereotyp und recht bemüht zugeht: »Dein Bruder war der Teufel; ich habe ihn stets so genannt, vom ersten Augenblicke an, da ich ihn sah. Und du bist Ischariot, der Verräter« (III, 586f.) - so wird Thomas Melton entlarvt (ganz ähnlich III, 320). ›Satan und Ischariot‹ heißt es bereits im Titel; es sind damit die Melton-Brüder gemeint. Ein dritter Verbrecher gehört aber noch dazu, um die diabolische Dreieinigkeit dieses Romans zu bilden, nämlich Jonathan Melton. Er bekommt keinen religiösen Gleichnisnamen, und er wird auch anders präsentiert als sein Vater und sein Onkel. Bei Harry Meltons Äußerem fällt Old Shatterhand sofort Dores Satansdarstellung ein, Thomas Melton wird von dem Scheik der Uled Ayar als Ischariot denunziert, Jonathan Melton hingegen wirkt anders:


Er machte nämlich einen geradezu vortrefflichen Eindruck, und ich wunderte mich nun gar nicht mehr daraber, daß Emery ihn einen anständigen Mann genannt hatte. Es war weder in seinem Gesichte noch in seiner ganzen Erscheinung oder seinem Benehmen das Geringste zu entdecken, was unsern Verdacht hätte bestätigen können. Er zeigte sich frei, offen und ohne alle Spur irgend einer Unsicherheit oder gar Bangigkeit, wie man sie bei einem Menschen, welcher auf unsicherem Boden steht, zu erwarten pflegt. (II, 281f.)


Es ist ein moderner Missetäter, kein im Westen erfahrener Bösewicht, wie die andern beiden, sondern ein Mensch der Zivilisation, des amerikanischen Ostens. Auch sein Ende ist prosaisch: nicht durch Brudermord, nicht durch Selbsttötung, mythisch aufgeladenen Todesarten, stirbt er, sondern er geht schlicht im Gefängnis zugrunde. Die Figur Jonathan Meltons steht nicht mehr im biblischen Kontext, sie gehört durchaus zu dem Bild von Amerika, das May seinen Lesern als Gegensatz zur heimeligen Alten Welt entwirft. Jonathan ist ein Pfiffikus (III, 254), charakterisiert ihn seine Verlobte. ›Pfiffiger Jonathan‹ war lange Zeit die stehende Bezeichnung des nordamerikanischen Yankees, des skrupellosen Geschäftemachers, der ja eine Symbolfigur des modernen Kapitalismus überhaupt ist.


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   Das Thema vom Gegensatz der Alten und Neuen Welt, von vertrauten, überschaubaren Verhältnissen und unübersichtlichem, bedrohlichem Kapitalismus überlagert also die christliche Motivik des Buches bzw. es nimmt sie in seinen Dienst. Harry Melton hat als Mormone nicht nur die ›falsche‹ Religion, er gehört auch noch einer finanzkräftigen amerikanischen Sekte an. Und ungeachtet seiner biblischen Konnotation lockt er seine Opfer in das moderne Land der unbegrenzten kapitalistischen Möglichkeiten, um sie zu verderben. Ebenso erlebt die vom Reichtum geblendete Martha Vogel nach dem Zusammenbruch ihrer Träume die Verfolgungen der satanischen Meltons quasi als andere Seite der amerikanischen Wirklichkeit.

   Das religiöse Moment ist also keineswegs im gesamten Roman durchgehend vorhanden, noch strukturiert es ihn entscheidend. Es bleibt die Frage, weswegen der Autor sich bemüht hat, mittels des Haupttitels die ganze Romanhandlung in diese Perspektive zu rücken, dem Geschehen die biblische Symbolik geradezu aufzuzwingen.

   Möglicherweise liegt es daran, daß die Konzeption des herkömmlichen Abenteuerromans Mayscher Prägung zunehmend unglaubwürdiger zu werden drohte. Wie vorhin deutlich wurde, lebt ›Satan und Ischariot‹ aus der Kritik an der als unbewältigbar empfundenen, modernen Welt, aus der Ablehnung der sich rapide verändernden kapitalistischen Gesellschaft und aus der Orientierungslosigkeit angesichts des Verlustes althergebrachter Lebensformen. In der Romanwirklichkeit wird das anarchische Chaos der Realität korrigiert und in traditionell geordnete, übersehbare Verhältnisse überführt. Es sind dies keineswegs die Ordnungen der Feudalwelt, vielmehr Zustände, die von frühbürgerlicher Mentalität geprägt sind, von Vorstellungen, die da erzählen von ehrlicher Arbeit und ehrlichem Verdienst, von Tüchtigkeit und Erfolg, von Bescheidenheit und Gottesfurcht, von Familienglück, Nachbarschaftlichkeit, freundlichem Umgang miteinander, Hilfsbereitschaft. Es ist die Ideologie, mit der das Bürgertum seinerzeit gegen den Geburtsadel des Feudalabsolutismus angetreten war; verwirklicht und gegen das ständische, hierarchisch festgefügte Rollensystem durchgesetzt werden sollte sie von dem bürgerlichen Individuum. Folgerichtig ist auch das Individuum, der Einzelheld, Markenzeichen der Romane Mays, der einzelne in der gesteigerten Form dessen, der alles kann und alles weiß, was menschenmöglich ist, kraft der bürgerlichen Maxime, daß der Tüchtigkeit und Regsamkeit schließlich alles gelingen müsse.

   Diese Ideologie wird der Realität des ausgehenden 19. Jahrhunderts schon lange nicht mehr gerecht, ist diese doch von der Undurchsichtig-


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keit der gesellschaftlichen Prozesse geprägt, von der Handlungsohnmächtigkeit einzelner Menschen und von zunehmender Nivellierung vormals vorhandener Eigenständigkeit.

   Um so heftiger war also wohl das Verlangen der Leserschaft, tatkräftige und erfolgreiche Individuen vorgeführt zu bekommen - und um so irrealer mußten diese erscheinen. Als Identifikationsobjekt und als ideologische Vorgabe mußte der Ausnahmeheld erhalten bleiben, die ebenfalls erforderliche Plausibilität aber drohte dies unmöglich zu machen. Dem Umweg über die Aufwertung seines Protagonisten mittels technischen Geräts ist May - den Versuch mit dem Henrystutzen einmal ausgenommen - sorglich aus dem Weg gegangen, wohl wissend, daß dann die Technik und nicht der Akteur zum eigentlichen Helden des Romans würde.5 Ein anderes Mittel schien da geeigneter, nämlich der Rückgriff auf die Religion.

   Die private Gläubigkeit des Autors bleibt unbestritten. Aber er könnte auch durchaus sehr pragmatische Überlegungen angestellt haben - der Roman erschien in der katholischen Familienzeitschrift ›Deutscher Hausschatz‹; auch war im Zuge des Kulturkampfs bei vielen eine Rückbesinnung auf den Katholizismus eingetreten. Von dem allem aber abgesehen, war die Religion, ebenso wie das Vertrauen auf Wissenschaft und Technik, Teil der bürgerlichen Ideologie, mit der gegen den Feudalismus angekämpft wurde. Die gottesfürchtige Attitüde paßte also recht gut zu Mays alleskönnendem Helden, der nun, da der Herr selbst mit ihm war, auch glaubwürdiger wirkte. Und glaubwürdiger wirkte auch die Beurteilung der buchstäblich verteufelten Verhältnisse, gegen die der Held angeht. Harry Melton ist der Satan; seine beiden Verwandten sind ebenfalls Verkörperungen des Bösen. Aber gleichzeitig sind sie alle auch Teil der amerikanischen Wirklichkeit, der die Auswanderer wie auch Martha Vogel ausgeliefert sind. Dadurch erhält diese amerikanische Wirklichkeit, dieses Sinnbild der modernen Zeit und ihrer veränderten gesellschaftlichen Struktur, das Stigma des Satanischen.

   Der Kampf des Individuums gegen die Gesellschaft ist damit religiös unterlegt und bedeutungsträchtiger geworden. Die gleiche Generalisierung macht aber auch nötig, dem Helden wahrhaft individuelle Züge zu verleihen, da er sonst - zum Typ Gottesheld geworden - dem Leitstern der ganzen Konstruktion, der Feier des einzelnen widerspräche. Dazu paßt, daß May in diesem Roman zum ersten Mal klar das eigene Ich auftreten läßt. Die prägnant herausgearbeitete Identität des sächsischen Doktors und Ich-Erzählers mit den exotischen Helden Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand und mehr noch seine recht privat erschei-


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nende Liebesgeschichte mit Martha Vogel lassen deutlich werden, daß sich der Autor gedrängt fühlte, seinen Konflikten mit der ihn umgebenden Welt unverhüllter Ausdruck zu verleihen, als er es in den Abenteuerromanen herkömmlicher Machart getan hatte.6 Wie man weiß, fiel der Großteil der in Deutschland spielenden Episode der Zensur des verantwortlichen Hausschatz-Redakteurs zum Opfer. Stehen blieb jedoch jener sonderbare Besuch Winnetous in Dresden, wo er seinen Blutsbruder Old Shatterhand im Gesangsverein antrifft. Schon allein diese Situation verrät deutlich, daß es mit dem Roman ›Satan und Ischariot‹ und mit seinen Helden eine andere Bewandtnis hat als noch mit den früheren Erzählungen, und es scheint angebracht, zu fragen, ob die Änderung zum Besten des Buches ausgefallen ist.

   Was den romantischen Antikapitalismus anbetrifft, den May als Antwort auf die ihn und seine Leserschaft bedrängenden modernen Verhältnisse propagiert und popularisiert, so ist er weder neu, noch ist seine künstlerische Umsetzung so überzeugend geraten, daß es möglich wäre, darin einen Pluspunkt für das Werk zu sehen. Von größerer Bedeutung scheint mir dagegen die Sensibilität des Autors für die fragwürdig gewordene Gestalt des übermächtigen Einzelhelden zu sein, die sich in der aufgewerteten Rolle der Religion dokumentiert; zu einer Zeit, da viele und angesehenere Literaten dem ästhetischen Individuums- und Gewaltmenschenkult der Neorenaissance huldigten. C. F. Meyers ›Jürg Jenatsch‹ kann als folgenreiches Exempel dienen. Die Lösung, die May gefunden hat, vermag allerdings auch nicht zu überzeugen. Zum einen wegen ihrer ideologischen Brüchigkeit, zum anderen, weil sie den Abenteuerroman, die genuine Form Karl Mays, die er eigentlich retten wollte, zielsicher zerstört.

   Man mag die Tatsache, daß im zweiten und dritten Teil der Trilogie religiöse Sinnschichten nur punktuell und ziemlich grobschlächtig in die Romanhandlung eingefügt sind, der aus der ständigen Zeitnot Mays erwachsenden flüchtigen Konstruktion zuschreiben. Einleuchtender scheint mir jedoch die Begründung, daß der Abenteuerroman metaphysische Überfrachtung nicht verträgt. Die geschilderten Ereignisse sind für die Handelnden sinnlich erlebbar, sie bedrohen ihre Körper, erzeugen Todesgefahr. Die Plastizität solcher Darstellung wäre dahin, würde dem Leser allzudeutlich suggeriert, daß es eigentlich um blutleere Seelen geht. Das gleiche Problem taucht bei der Auflösung der einzelnen Geschichten auf. Die Entschädigung, die Old Shatterhand den Bedrängten nach ihrer Errettung zukommen läßt, besteht nur zum kleineren Teil in salbungsvollen Ermahnungen, fortan ein gutes Leben zu führen. Der entscheidende Rest ist materiell:7 die Aus-


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wanderer bekommen das Geld Meltons, die Uled Ayar die Herden der Uled Ayun, die Nijoras die Waffen und Pferde der Mogollons, Vogels schließlich die Millionenerbschaft. Wenn letztere aber der religiösen Tendenz des Romans zu Gefallen barmherzigst wohltätig sind, Martha ihrer Liebe entsagt und sich ihr Leben als eine Art Nonne einrichtet, quasi als himmlische Braut des Gotteshelden Old Shatterhand, so verstößt dies gegen ein weiteres Prinzip des Abenteuerromans: es kommt Langeweile auf und die Geschichte degeneriert zum frömmlerischen Schmachtfetzen:


»Endlich, endlich kommen Sie einmal!« sagte sie, unter schnell ausbrechenden Freudenthränen lächelnd und mir die beiden Hände zum Gruße entgegenstreckend. »Vor allen Ihnen wollte und mußte ich einmal mein selbstgeschaffenes, kleines Reich zeigen!«

   »Ich bin mit Freuden gekommen, denn ich werde den Erlöser sehen,« antwortete ich gerührt.

   »Den Erlöser? - Wieso!«

   »Sagt nicht Christus: ›Wer jemand aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf!‹ Hier ist eine heilige Stätte, Frau Werner. Ich möchte meine Schuhe ausziehen wie Moses, als er im Feuer den Herrn erblickte. Sie haben nach langem Irren die rechte Heimat gefunden und teilen dieselbe mit den Verlassenen. Ich habe Sie darob lieb, Martha! Bitte, zeigen Sie mir Ihr Haus!« (III, 614f.)


Man erinnere sich: In ›Winnetou‹ ließ der Autor Nscho-tschi, die ebenfalls in Old Shatterhand verliebt war, von Santer umbringen und schuf damit die Voraussetzung für eine unendliche Kette weiterer Abenteuer. Der gewaltsame Tod des Indianermädchens markiert in kruder Verkörperlichung das Ende seiner Hoffnungen und seines Lebensplanes. Genau so funktionieren Abenteuerromane. Am Ende jener Episode entsteht Trauer, nicht aber die schwülstige Sentimentalität des vorliegenden Romanschlusses.

   Eine weitere schwerwiegende Unvereinbarkeit des Abenteuerromans mit der religiösen Sinnschicht tritt zutage, wenn seine Protagonisten sich in ihrem Tun und Lassen christlichen Konstruktionsplänen unterordnen müssen. Wenn Harry Melton, der das dauernde Prinzip des Bösen zu verkörpern hat, nur mit einer dürftigen Erklärung bewaffnet, vom Marterpfahl der Yumas flieht und dem Leser in New Orleans unter die Augen tritt, so schadet das der Plausibilität der Abenteuerstory. Ebenso wird die Aura Winnetous rissig, wenn er auf einem Kamel durch die Sahara trabt oder gar in Sakko und Zylinder einen Dresdner Gesangsverein besucht. Das Image Old Shatterhands leidet darunter, daß er dem Leser als Verliebter, gar noch als erfolgloser, präsentiert wird. Daß die deutsche Heimat des Helden, die sonst allenfalls die Folie für das exotische Geschehen abgibt, hier szenisch


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anschaulich wird, tut ein übriges. Die Typen des Karl-Mayschen Abenteuerromans sind dem religiösen Anliegen verfügbar gemacht worden. Das, was im Rahmen der neuartigen Konstruktion damit erreicht werden soll (Individualisierung der zu Streitern Christi typisierten Romanhelden, ihr globaler Einsatz im Dienste Gottes und damit eine Loslösung von ihrer bisherigen geographischen und inhaltlichen Rolle), scheint mit der Entmythisierung der Markenzeichen Winnetou und Old Shatterhand zu teuer erkauft.

   May scheint diese Gefahr jedoch gespürt oder zumindest eingesehen zu haben, daß sich Abenteuer und Religion in dieser Weise kaum miteinander vertragen. Einerseits ist dadurch die christliche Motivierung der Romanhandlung wohl zurückgedrängt worden, andererseits wirkt sie da, wo sie belassen wurde, noch mehr aufgesetzt. Ein Vergleich mit anderen Werken, in denen May das Problem glücklicher gemeistert hat, wie etwa in den ersten sechs Orient-Bänden, macht es deutlich. Dort ist dem Geschehen keine metaphysische Symbolik aufgezwungen; wo Religion zur Sprache kommt, ist dies dann auch handlungsrelevant und -strukturierend. Die Spannung zwischen Kara Ben Nemsi und Halef rührt zu einem guten Teil aus ihren verschiedenen Bekenntnissen. Die Vielfalt an Sekten und Konfessionen, der die Helden auf ihrer Reise begegnen - Sunniten, Schiiten, Teufelsanbeter, libanesische Katholiken, orthodoxe Christen - schafft Lokalkolorit; zuweilen erwachsen aus den Konflikten der Angehörigen verschiedener Glaubensbekenntnisse umfangreiche Handlungskomplexe im Roman - etwa der Kurdistan-Abschnitt. Vor allem aber beansprucht diese im einzelnen durchaus bereichernde Facette niemals hauptsächlich zu sein, der Schlüssel für die Interpretation des Ganzen. Genau das ist aber bei ›Satan und Ischariot‹ der Fall, obwohl keineswegs solche Voraussetzungen gegeben sind. Bedenkt man dazu noch die ungleichmäßige und keinesfalls immer in sich stimmige religiöse Motivierung, so kann man die eigentliche Konstruktion des Werkes nur als verunglückt bezeichnen.

   Gerade dies scheint mir indes zu seinem Besten ausgeschlagen zu sein. Die vorhin beschriebenen Schwächen sind alle vorhanden und entgehen einem aufmerksamen Leser nicht, aber sie werden von den Spannungsbögen der traditionell strukturierten Abenteuerhandlung noch genugsam verdeckt. ›Satan und Ischariot‹ kann als Karl-May-Roman herkömmlicher Machart goutiert werden, und es ist keinesfalls der schlechteste davon - man denke nur an die köstliche Eingangsszene der ›Felsenburg‹ oder an so gelungene Figuren wie Harry Melton oder Judith Silberstein. Bald nach Erscheinen dieser Trilogie begann sich Mays Schreibweise zu ändern - es entstanden die symbolbeladenen


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Spätwerke. Wer diese schätzt, mag in ›Satan und Ischariot‹ erste Anzeichen eines solchen Stils wahrnehmen. Wer die klassische Abenteuererzählung sucht, findet hier eines der wohl letzten Exempel dafür. Der Roman lohnt also eigentlich immer.


1 Eine solche Markierung Old Shatterhands geht weit über die Eigenschaft des Charisma (in der gleichzeitigen Bedeutung von Gnadengabe und Ausstrahlungskraft) hinaus, durch die Volker Klotz den Abenteuerhelden im allgemeinen gekennzeichnet sieht, vgl. Volker Klotz: Abenteuer-Romane. Sue - Dumas - Ferry - Retcliffe - May - Verne. München-Wien 1979. Innerhalb der ›Legendenstruktur‹, die Gunter G. Sehm für den etwa gleichzeitig mit der ›Felsenburg‹ entstandenen ›Winnetou‹ herausgearbeitet hat, wird Old Shatterhand die Rolle des Heiligen, seinen Gegenspielern Santer und Tangua die von Teufeln zugeschrieben, vgl. Gunter G. Sehm: Der Erwählte. Die Erzählstrukturen in Karl Mays ›Winnetou‹-Trilogie. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG). Hamburg 1976, S. 9-28. Doch paßt auch dieser Deutungsversuch nicht auf den vorliegenden speziellen Fall, da May hier nicht nur die Hauptgestalten, sondern die gesamte Abenteuer-Handlung in ein christlich inspiriertes Sinngefüge zu zwängen versucht hat - sehr bewußt und mit deutlicher Absicht, was sich am Titel des Romans einfach belegen läßt.

2 Zitiert wird im folgenden nach Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XX. Bd. XXI, Bd. XXII: Satan und Ischariot I - III. Freiburg 1896/97. Die Band- und Seitenzahl erscheint in Klammern hinter dem Zitat; hier Band I, S. 44.

3 Zur Biographie Mays vgl.: Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens, Zürich 21977 - zur gesellschaftlichen Situation im Deutschland des ausgehenden 19. Jahrhunderts und ihrer Widerspiegelung im Abenteuerroman: Klotz, wie Anm. 1 - ferner: Jochen Schulte-Sasse: Karl Mays Amerika-Exotik und deutsche Wirklichkeit. Zur sozialpsychologischen Funktion von Trivialliteratur im wilhelminischen Deutschland. In: Karl May. Hrsg. von Helmut Schmiedt. Frankfurt a. M. 1983, S. 101-129 (der Aufsatz wurde erstmals 1976 veröffentlicht).

4 Man kann im Werk Mays sehr wohl auch die Darstellung von materiellem Elend und daraus geborener Verzweiflung finden - allerdings nur in den Kolportageromanen, die der Verfasser streng von seinen anderen, ›anspruchsvolleren‹ Erzählungen geschieden hat. Den Höhepunkt solcher Milieuschilderung erreicht wohl ›Der verlorene Sohn oder Der Fürst des Elends‹, der 1884-86, also ungefähr ein Jahrzehnt vor ›Satan und Ischariot‹ geschrieben wurde.

5 Vgl. dazu das Verne-Kapitel in Klotz, wie Anm. 1.

6 Zu möglichen biographischen Hintergründen der vorliegenden Erzählung vgl. die Nachworte Walther Ilmers in Karl May: Die Felsenburg. Deutscher Hausschatz. XX. Jg. (1894); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Regensburg 1980, und Karl May: Kruger Bei/Die Jagd auf den Millionendieb. Deutscher Hausschatz. XXI. Jg. (1895), XXII. Jg. (1896). Hamburg/Regensburg 1980, sowie die Aufsätze von Hans-Dieter Steinmetz: »Der gewaltigste Dichter und Schriftsteller ist das ... Leben«. Zur Deutung der Nebatja- und Martha-Vogei-Episode. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (M-KMG) 40/1979, S. 12-23, und Walther Ilmer: Der Professor, Martha Vogel, Heinrich Keiter und Mays Ich. In: M-KMG 47/1981, S. 3-12, fortgesetzt in M-KMG 48/1981 S. 3-10.

7 Man könnte meinen, dieser Zug widerspreche Mays bürgerlich-bescheidener Utopie. Doch erhalten die Beschenkten nie so viel, um richtige Kapitalisten werden zu können. Eine Ausnahme stellt die Familie Vogel dar, allerdings sind deren Angehörige von den durchgemachten Prüfungen bereits so geläutert und gefestigt, daß die Gefahr eines Mißbrauchs des Vermögens nicht besteht - es wird zum Guten verwendet. Zum Motiv des Schatzes oder des Geldes in den Romanen Mays vgl.: Volker Klotz: Durch die Wüste und so weiter. In: Karl May. Hrsg. von Helmut Schmiedt. Frankfurt a. M. 1983, S. 75-100 (der Aufsatz wurde erstmals 1962 veröffentlicht) - ferner Schulte-Sasse, wie Anm. 3, und Martin Lowsky: Problematik des Geldes in Karl Mays Reiseerzählungen. In: Jb-KMG 1978. Hamburg 1978. S. 111-141.





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