//182//

CHRISTOPH F. LORENZ
BERNHARD KOSCIUSZKO

Kara Ben Nemsi*



»Karl, Sohn der Deutschen« – unter diesem stolzen Namen, der nicht durch eine besondere körperliche Verfassung oder Stärke seines Trägers (wie bei Old Shatterhand) legitimiert ist,(1) agiert in den meisten Orienterzählungen der weiße Held, das Traum-Ich des Schriftstellers Karl May. May ließ sich 1896 von dem Linzer Photographen Schießer auch als Kara Ben Nemsi ausstaffiert photografieren; das exotische Kostüm – langer, weißer Umhang (quasi ein Burnus), hohe Lederstiefel, drohend gezückte Pistole, Krummsäbel im breiten Gürtel – wirkt wie eine arabisch-türkische Mischung nach deutschem Geschmack: jedenfalls wild-verwegen, abenteuerlich.

   Die Figur Kara Ben Nemsi taucht erst 1880 im Werk Mays auf, in den Reise-Erinnerungen aus dem Türkenreiche »Giölgeda Padishanün«.(2) Es lassen sich zwei Vorläufer ausmachen: der noch namenlose Ich-Erzähler in der Erzählung »Die Gum«, die 1878 in der Zeitschrift »Frohe Stunden« erschien,(3) und der Erzähler der 1876/77 veröffentlichten Novelle »Leilet«. In »Die Gum« ist der als Franke bezeichnete Erzähler mit einem Bärentödter und einem 25-schüssigen Henrystutzen bewaffnet. Mit seinem einheimischen Diener Mahmud el Kebihr durchquert er die Sahara, erlegt einen Löwen und entlarvt den Führer einer Karawane als Verbündeten von Wüstenräubern. Im Gegensatz zu Kara Ben Nemsi reagiert er selbst sofort auf die Bezeichnung »Giaur« mit einem Peitschenhieb ins Gesicht des Beleidigers; er tötet den Verräter auch ohne Zögern durch einen Messerstich. In der Hausschatz- und Buchfassung der Erzählung ändert sich daran nichts, der Held wird dort jedoch ausdrücklich als Deutscher bezeichnet. Darüber hinaus wird die Identität Kara Ben Nemsi – Old Shatterhand hier durch eine Verabredung des Helden mit Emery Bothwell und durch den berühmten Jagdhieb des Westmanns klargestellt.

Die frühe Erzählung »Leilet« hat May zu der Senitza-Episode des Padishanün-Romans umgearbeitet. Die Handlung selbst basiert auf

* Essay-Artikel aus: Großes Karl-May-Figuren-Lexikon. Hrsg. von Bernhard Kosciuszko. Paderborn 1991 (Igel-Verlag)


//183//

Motiven des Märchens »Fatmes Errettung« von Wilhelm Hauff und der Episode »Eine Rose des Morgenlandes« von Alfred Brehm.(4) Der Ich-Erzähler ist Arzt, als Kapitän-Effendi reist er auf Befehl seines Königs in Egypten, Nubien und Habesch. Er besitzt einen Ferman, dessen Präsentation zu gleichen Reaktionen bei den einheimischen Behörden führt wie später bei Kara Ben Nemsi das Vorzeigen von Budjeruldu und Ferman.(5) Der Protagonist in »Leilet« hat wie Kara Ben Nemsi beste Kenntnisse von Land und Leuten erworben und spielt auf vorangegangene Abenteuer an, die dem Leser nicht bekannt sind – ein Erzähltrick, der die Anwesenheit und mehr noch die Souveränität im Auftreten des Helden im Orient erklären soll. Auch in »Durch die Wüste« wird mit ähnlichen Mitteln gearbeitet.

   Trotz aller Parallelen, die sich zwischen dem »Mehrzweckhelden« aus »Leilet« und Kara Ben Nemsi ermitteln lassen: das frühere Ich ist mit Zügen ausgestattet, die noch stark am exotischen Abenteuerroman Suescher Prägung orientiert sind. Typisch für »Leilet« ist ein weicher Grundton, eine gegenüber den späteren Orientromanen stärkere Sentimentalität, von der auch der Held nicht ausgenommen bleibt. Zwar charakterisiert ihn sein Bruder Bernhard als »Mann der Tat«. doch durch die Begegnung mit Leïlet (Warde) ändert sich der Charakter des Erzählers, er verliebt sich Hals über Kopf in das schöne Mädchen und steigert sich in eine gefühlsbetonte Stimmung hinein. Geradezu typisch für die Sentimentalität – und die entsprechenden Passagen haben auch ganz den »empfindsamen« Ton der »Herz-Schmerz«-Trivialliteratur – ist der Moment, in dem der Erzähler Zeuge des Wiedersehens zwischen Leilet und Bernhard wird: Ich ... fühlte, wie mir das Blut das Herz zu zersprengen, zu zerreißen drohte; es wurde dunkel vor meinen Augen – die Wände wirbelten mit sausender Schnelle um mich herum – die Füße fühlten den Halt unter sich weichen – die Hände suchten vergebens nach einem Stützpunkte – und wie von einer riesigen Faust niedergestreckt, brach ich zusammen und schlug besinnungslos auf den Boden nieder. Wie lange ich gelegen, ich weiß es nicht; aber als ich erwachte, lag ich auf dem Divan, fühlte meine Hand in derjenigen des Bruders und blickte in das liebevoll auf mich gerichtete, thränenfeuchte Auge Leïlets ... (71) Solche Ohnmachtsschilderungen finden wir später auch bei Kara Ben Nemsi, doch sind sie entscheidend anders begründet. So etwa in einem durch eine tödliche Krankheit bedingten physischen Erschöpfungszustand, wie ihn Kara Ben Nemsi in »Von Bagdad nach Stambul« durchmacht, oder durch einen beinahe tödlichen Kolbenhieb wie in der Hütte des Bettlers Saban (»In den Schluchten des Balkan«). In »Leilet« aber geht es um die »Ohnmacht aus Liebe«, jenes beliebte Thema des


//184//

sentimentalen Zeitalters. Der Held, der sich in selbstloser Ritterlichkeit in das Glück der Liebenden findet, entspricht ganz dem Ideal der französischen Abenteuerromane der Zeit.

   Demgegenüber präsentiert May mit Kara Ben Nemsi einen in sich geschlossenen, charakterfesten Helden, dessen Energie auf die Durchführung schwieriger Abenteuer und die Aufklärung bedeutender Verbrechen gerichtet ist und dessen Gefühle höchstens dann die Oberhand gewinnen, wenn er seine Religion gegen die Angriffe der Mohammedaner verteidigt. In diesen Fällen ist er auch eher bereit, Gewalt (meist durch einen Fausthieb) anzuwenden. Kara Ben Nemsis Verhalten gegenüber Frauen ist distanziert und kühl: In der Senitza-Episode (der für »Durch Wüste und Harem« umgearbeiteten »Leilet«-Erzählung) hat May alles gestrichen, was auf eine emotionale Beteiligung des Helden deuten könnte. Kara Ben Nemsi rettet das schöne Mädchen nur aus Mitleid, Abenteuerlust und Pflichtgefühl. Wenn überhaupt eine persönlichere Beziehung Kara Ben Nemsis zu einer Frau angedeutet wird, dann bleibt sie – wie bei Ingdscha – rein platonisch: man verspricht, einander beim Anblick des Mondes zu gedenken (»Durchs wilde Kurdistan«, 585); oder das Verhältnis wird – wie bei Schakara in »Im Reiche des silbernen Löwen III/IV« als schwesterliche Beziehung, zudem mit symbolischer Bedeutung befrachtet, dargestellt.(6)

   Zusammenfassend kann gesagt werden, daß May für seinen neuen Helden eine Reihe von Eigenschaften und Motiven aus seinen frühen Orienterzählungen übernommen hat, so dessen Funktion als Retter in der Not (mit Märchenheldcharakter), sein Auftreten als dem Orientalen in Wissen, Intelligenz und Tatkraft überlegener Europäer und den Habitus des kampferprobten Abenteurers.

   Doch ist damit die Figur noch nicht vollständig in ihrer Genese beschrieben. Bei der Entdeckung der ersten Indizien, die Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar (künftig Halef) auf die Spur der Mörder Galingrés und seines Sohnes führen, erweist sich die Sorgfalt, mit der Kara Ben Nemsi »clues«(7) sammelt, durch genaueste Beobachtung und durch logische Schlußfolgerungen Erkenntnisse gewinnt und die gefundenen Spuren Stück für Stück zu einem Gesamtbild zusammenfügt, als eines Meisterdetektives vom Range eines Sherlock Holmes würdig. Über die »deduktive Methode«, die Conan Doyle in den Holmes-Geschichten so ausführlich beschreibt und zu einer Art Theorie der »detective story« ausweitet, theoretisiert Kara Ben Nemsi zwar nicht,(8) aber er wendet sie an:

   Ich stieg ab. Es waren die Fährten dreier Tiere zu bemerken, eines Kamels und zweier Pferde. Das erstere war jedenfalls ein Reitkamel, wie ich


//185//

an der Zierlichkeit seiner Hufeindrücke bemerkte. Bei genauer Betrachtung fiel mir eine Eigentümlichkeit der Spuren auf, welche mich vermuten ließ, daß das eine der Pferde an dem »Hahnentritte« leide. Dieses mußte meine Verwunderung erregen, da ich mich in einem Lande befand, dessen Pferdereichtum zur Folge hat, daß man niemals Tiere reitet, welche mit einem Uebel behaftet sind. Der Besitzer des Rosses war entweder kein oder ein sehr armerAraber. (»Durch Wüste und Harem«, 11)

   Die aus dem Detektivroman übernommene »Spurensuche« und -auswertung ist der rote Faden, der die Abenteuerromane Mays durchzieht. Während im Wilden Westen jedoch die berühmten Westläufer den Fähigkeiten Old Shatterhands im Spurenlesen zumindest nahekommen (solange dieser noch nicht aufgetreten ist), ist im Orient Kara Ben Nemsi der einzige, der sich auf diese Art – oft von Spott und Hohn der Gefährten oder der Gegner begleitet – Informationen verschafft. Es versteht sich von selbst, daß alle Zweifler anschließend der Allwissenheit des Helden gehörigen Tribut zollen. Das gleiche gilt auch für das Anschleichen. Während Old Shatterhands Westmannsgefährten diese Kunst weitgehend beherrschen, kann Kara Ben Nemsi sich auch in dieser Hinsicht nicht auf seine Begleiter und Mitstreiter verlassen.

   Es ist jedoch bemerkenswert, daß trotz dieser größeren Überlegenheit die Reisegefährten im Orient enger zusammenwirken als im Wilden Westen. Omar Ben Sadek, Mohammed Emin und Osco sind am Geschehen persönlich interessiert, da es jeweils um ihr eigenes Anliegen geht. Dazu kommt, daß Kara Ben Nemsi bei seinen Aktionen stets berücksichtigen muß, daß seine Begleiter von ihrem Naturell her aufbrausender und hitzköpfiger sind als die Westmänner, mit denen Old Shatterhand zu tun hat. Auch muß er ständig die Moral- und Ehrvorstellungen seiner Gefährten, die von den seinen ganz erheblich abweichen, im Auge behalten. Hier wird immer wieder seine Neigung, Missetätern aus christlicher Nächstenliebe heraus zu verzeihen, Verbrechern eine zu milde Strafe zuzumessen, Anlaß für Diskussion und Verstimmung unter den Gefährten. Für Amerika- wie für Orienterzählungen gilt allerdings gleichermaßen: solange der deutsche Held als uneingeschränkter Führer akzeptiert wird, ist der erfolgreiche Verlauf der Aktionen und das Erreichen der jeweiligen Ziele gesichert. Eigenmächtiges Handeln einzelner Gruppenmitglieder hat in der Regel unangenehme, manchmal sogar katastrophale Folgen: so beispielsweise in »Von Bagdad nach Stambul«, als Mohammed Emin die Führung übernimmt, und im Anhang von »Der Schut«, als Amad el Ghandur Kara Ben Nemsi die Gefolgschaft verweigert.

   Nicht nur die Charaktereigenheiten der Gefährten stehen der Frei-


//186//

heit [Freiheit] und Selbstherrlichkeit des Mayschen Helden entgegen. Der Orient ist im Gegensatz zum Wilden Westen von staatlicher und gesellschaftlicher Ordnung der unterschiedlichsten Art geprägt. Ein Hauptmotiv der Kara-Ben-Nemsi-Abenteuer ist die Auseinandersetzung mit Behörde, Gericht und Militär, mit mehr oder weniger hochstehenden Potentaten; ein Motiv, das May entweder als humoristische Einlage gestaltet oder aber (und dabei leitete ihn die Erinnerung an eigene, schmerzliche, wenn auch nicht unverschuldete Erfahrungen mit Behörden und Gerichten) als großspurige Abrechnung mit Korruption, Amtsmißbrauch und Überheblichkeit:

   Die Herren vom Gericht befanden sich im Innern des Hauses. Unsere Ankunft wurde ihnen gemeldet. Die Khawassen postierten sich so um uns, daß sie den Weg nach dem Thor versperrten ... Lautlose Stille herrschte rund um. Jetzt erschienen die fünf Herren, und sofort zogen die Khawassen blank. »O Allah!« sagte Halef in ironischem Tone. »Wie wird es uns ergehen, Sihdi! Ich zittere vor Angst.« »Ich ebenso.« »Soll ich diese dummen Menschen, die da glauben, uns mit ihren Säbeln bange zu machen, meine Peitsche schmecken lassen?« »Keine Dummheit! ...« Die fünf Richter hatten Platz genommen ... Der Kodscha Bascha wackelte mit dem Kopfe und räusperte sich auffällig. Dies war das Zeichen, daß die Verhandlung beginnen solle. Er begann mit krähender, weithin schallender Stimme: »... Selim tritt vor! Du bist der Ankläger. Erzähle ...« ... Als er geendet hatte, fragte ihn der Kodscha: »Und welcher ist es, der dich schlug?« »Dieser hier ist es,« antwortete er, auf Halef deutend. »So kennen wir nun ihn und seine That und werden zur Beratung schreiten.« Er begann, mit seinen Beisitzern zu flüstern, und erklärte nach einer Weile mit lauter Stimme: »Die Kasa hat beschlossen, daß der Verbrecher auf jede Fußsohle vierzig Hiebe erhalten und dann vier volle Wochen eingesperrt werden soll. Das verkündigen wir im Namen des Padischah. Allah segne ihn!« Halefs Hand fuhr an den Griff seiner Peitsche. Ich mußte mir Mühe geben, nicht laut aufzulachen. »Jetzt kommt das zweite Verbrechen« verkündete der Beamte. »Mawunadschi tritt vor und erzähle!« Der Fährmann gehorchte dieser Aufforderung. ... Aber ehe er ... beginnen konnte, wendete ich mich in sehr höflichem Ton an den Kodscha Bascha: »Willst du vielleicht die Gnade haben, dich einmal zu erheben?« Er stand ahnungslos von seinem Stuhl auf. Ich schob ihn zur Seite und setzte mich nieder. »Ich danke dir,« sagte ich. »Es ziemt dem Niedrigen, dem Hohen Ehrerbietung zu erweisen. Du hast ganz recht gethan.« Jammerschade, daß es unmöglich ist, sein Gesicht zu beschreiben ... Er wollte reden, brachte aber vor Entsetzen kein Wort hervor ... Kein Mensch sagte ein Wort ... Man wartete auf den Zornesausbruch


//187//

des Gebieters. Dieser fand glücklicherweise die Sprache wieder. Er brach in eine Reihe unbeschreiblicher Interjektionen aus und schrie mich dann an: »Was fällt dir ein! Wie kannst du eine solche Unverschämtheit begehen und – –« »Hadschi Halef Omar!« unterbrach ich ihn laut. »Nimm deine Peitsche. Denjenigen, welcher noch ein einziges unhöfliches Wort zu mir sagt, beschenkst du mit Hieben, bis ihm die Haut zerplatzt; mag er sein, wer er will!« ... Der Kodscha Bascha wußte offenbar gar nicht, wie er sich verhalten sollte ... »Nehmt ihn gefangen! Schafft ihn in den Keller!« Er deutete auf mich. Die Polizisten traten herbei, mit blanken Säbeln in den Händen. »Zurück!« rief ich ihnen zu. »Wer mich anrührt, den schieße ich nieder!« ... im nächsten Augenblick sah ich keinen einzigen Khawassen mehr ... »Was erregt deinen Zorn?« fragte ich den Kodscha ... [Kara Ben Nemsi entlarvt nun den als Beisitzer fungierenden Mübarek, der als Heiliger gilt, vor aller Augen als Verbrecher] ... Der Kodscha Bascha wußte nicht, was er thun und was er sagen sollte. Er ließ mich machen ... Die Khawassen ... kamen ... wieder herbei. »Bindet den Kerl!« befahl ich ihnen. (»Durch das Land der Skipetaren«, 2–11)

   Akte der Amtsanmaßung sind auch die Auftritte Kara Ben Nemsis als Arzt: dem Vorbild aus »Leilet« folgend, aber auch einem alten Wunschtraum seines Autors entsprechend, der in seiner Jugend unter anderem auch als »Dr. med. Heilig« Straftaten begangen hatte. Für Kara Ben Nemsis Verhalten wird als Erklärung die angebliche orientalische Gewohnheit angegeben, jeden Deutschen für einen Gärtner und jeden Ausländer für einen großen Arzt zu halten: Nun war mir unglücklicherweise in Kairo eine alte, nur noch halb gefüllte homöopathische Apotheke von Willmar Schwabe in die Hand gekommen; ich hatte hier und da bei einem Fremden oder Bekannten fünf Körnchen von der dreißigsten Potenz versucht, dann während der Nilfahrt meinen Schiffern gegen alle möglichen eingebildeten Leiden eine Messerspitze Milchzucker gegeben und war mit ungeheurer Schnelligkeit in den Ruf eines Arztes gekommen, der mit dem Scheidan im Bunde stehe, weil er mit drei Körnchen Durrhahirse Tote lebendig machen könne. (»Durch Wüste und Harem«, 85) Diese begrenzten ärztlichen Künste, verbunden mit dem unerschöpflichen »public-relation-Geschick« Halefs, werden im Laufe des Orientzyklus mehrfach zum handlungsrelevanten Motiv: Sie leiten in »Durch Wüste und Harem« die Senitza-Episode ein, lassen Kara Ben Nemsi durch zahnärztliche »Kunst« die Gunst des Paschas von Mossul erlangen und führen in »Durchs wilde Kurdistan« letzlich zur Begegnung mit Marah Durimeh. Einige seiner ärztlichen Hilfeleistungen verhelfen dem Deutschen zu Freunden, die ihn aus Dankbar-


//188//

keit [Dankbarkeit] später aus Todesgefahr retten, so in »Im Lande des Mahdi I« und in »Der Kutb«. Aber auch gelungene humoristische Episoden gestaltet May mit dem Arzt-Motiv: man lese nach, wie Kara Ben Nemsi dem dicken und gefräßigen Haushofmeister des Paschas von Siut helfen kann (»Im Lande des Mahdi I«, 189ff., 201f.). Höhepunkt der medizinischen Eskapaden ist, daß May seinen Helden den Gipsverband auf dem Balkan einführen läßt (»Durch das Land der Skipetaren«, 210f.).(9)

   Es gehört zur Strategie des Abenteuers bei Karl May, daß es – bei geschickter Vorausplanung – zu 90 % durch Geistesgegenwart bewältigt werden kann. Darüber hinaus benötigt der Held aber noch besondere körperliche Fähigkeiten und eine spezielle Ausrüstung, die ihn jeder Lage gewachsen sein lassen. Sind es bei Old Shatterhand der berühmte Jagdhieb und der Ruf seiner »Zaubergewehre«, die oft vorab ausschlaggebend für ein Kampfgeschehen sind, so besteht Kara Ben Nemsi (der selbstverständlich bei Bedarf auch Bärentöter und Henrystutzen,(10) den Jagdhieb und den im Orient unbekannten Lasso einsetzt) gefährliche Situationen – die jedoch nicht so häufig wie bei Old Shatterhand Zweikämpfe sind – vor allem durch seine körperliche und geistige Gewandtheit und Vielseitigkeit. In »Durch Wüste und Harem« trifft er auf Abu Seïf, den »Vater des Säbels«:

   Ich nahm den Säbel. Es war eine eigentümliche Situation ... Der »Vater des Säbels« mußte nach orientalischen Begriffen ein ausgezeichneter Fechter sein, aber ich wußte, daß der Orientale durchschnittlich ein ... schlechter Fechter ... ist ... wenn mir auch der dargereichte ... Säbel ziemlich ungewohnt war, so hatte ich dennoch große Lust, dem »Vater des Säbels« die Ueberlegenheit der europäischen Waffenführung zu beweisen ... Er drang so schnell, wild und regellos auf mich ein, daß ich keinen Moment Zeit hatte, Position zu nehmen. Ich parierte seine unreine Winkelquart und versuchte, mir sofort eine Blöße zu verschaffen; zu meinem Erstaunen aber ging er bei meinem Zirkelhiebe ganz prachtvoll unter meiner Klinge durch. Er traversierte und gab eine Finte; sie gelang ihm nicht. Nun traversierte ich ebenso und schlug Espadon; mein Hieb kam zum Sitzen, obgleich es meine Absicht nicht war, ihn sehr zu verletzen. Voll Wut darüber vergaß er sich, trat zurück und gab im Sprunge abermals Winkelquart; ich trat einen halben Schritt vor, setzte mit harter Festigkeit in die Linie ein, und – die Waffe flog ihm aus der Hand und über Bord in das Wasser. (»Durch Wüste und Harem«, 204f.). Es muß hervorgehoben werden, daß nicht die Fähigkeiten als Fechter allein, sondern mehr noch die große Besonnenheit und das ausgeglichenere Temperament dem Deutschen die entscheidenden Vorteile über Abu Seïf verschaffen. Diese Grundhaltung entspricht dem Anliegen Mays,


//189//

eine vollkommene Heldengestalt zu schaffen: Tapferkeit und Besonnenheit sind neben Weisheit die klassischen Tugenden nach Platon.

   Diesen Tugenden wurden durch das Christentum die Werte Glaube, Hoffnung, Liebe übergeordnet. Daß Kara Ben Nemsi in besonderer Weise auch diese christlichen Werte repräsentiert, braucht nicht eigens belegt zu werden. Zunächst jedoch ist festzuhalten, daß die Tugend der Besonnenheit in religiösen Angelegenheiten nicht Leitgedanke Kara Ben Nemsis ist. Nach der Senitza- und Abu-Seïf-Episode folgt das Mekka-Kapitel. Der Wunsch, Mekka zu sehen, ist für Kara Ben Nemsi so stark, daß er jede rationale Überlegung außer Kraft setzt:

   ... mir (machte) die Nähe Mekkas viel zu schaffen. Da lag sie, die »Heilige«, die Verbotene! Sollte ich sie meiden, oder sollte ich es wagen, sie zu besuchen? Ich zuckte in allen Gliedern nach ihr hin, und dennoch mußte ich die Bedenklichkeiten, welche dagegen aufstiegen, ernstlich berücksichtigen. Was hatte ich davon, wenn der Besuch gelang? Ich konnte sagen, daß ich in Mekka gewesen sei – weiter nichts. Und wurde ich entdeckt, so war mein Tod unvermeidlich, und was für ein Tod! Aber hier konnte ein Ueberlegen und Abwägen der Gründe zu nichts führen, und ich beschloß, mich nach den eintretenden Verhältnissen zu richten. (»Durch Wüste und Harem«, 287f.)

   Die Freveltat wird ausgeführt, und Kara Ben Nemsi gerät in tödliche Gefahr; ein überraschender Zug in der so durchdacht konzipierten Figur. Aber die Abweichung ist erklärbar. May wollte seinen Helden nicht nur als Phantasieprodukt sehen, er wollte ihr auch einen Hauch von Realität verleihen. Dazu bot sich die Anlehnung an Forscher an, die – manchmal durchaus in Kara-Ben-Nemsi-Manier (z. B. Alfred Brehm) – den Orient bereisten. Einer davon war Sir Richard Burton (1821–90), der zu den außergewöhnlichsten und faszinierendsten Persönlichkeiten unter den berühmten Reisenden des 19. Jahrhunderts gehört. Als arabischer Arzt verkleidet machte er die Pilgerfahrt nach Mekka mit, besuchte unerkannt das für Weiße unzugängliche Härrär und schockierte durch seine Berichterstattung über männliche und weibliche Prostitution in Karatschi nicht nur die überaus prüde Queen, sondern das gesamte Empire. Als Spion im Sindh riskierte er mehr als einmal sein Leben. May kannte Burtons Reisewerk.(11) Wenn er auch Burtons Mekkabeschreibung nicht direkt als Quelle für »Durch Wüste und Harem« benutzte, so darf doch angenommen werden, daß Burton die Anregung für das waghalsige Abenteuer Kara Ben Nemsis in Mekka lieferte. Die seltsame Lust, verbotene Heiligtümer anderer Religionen um jeden Preis kennenzulernen, beschränkt sich nicht auf Mekka, dem Kara Ben Nemsi später in »Am Jenseits« einen zweiten Besuch


//190//

abstatten will, wozu es aber nicht kommt.(12) In den Erzählungen »Der Kutb« und »Eine Befreiung« betritt der deutsche Held die heilige Stadt Kaïrwan, wird auch dort als Christ erkannt und kann den Verfolgern nur knapp entkommen. In »Von Bagdad nach Stambul« will er unbedingt mit Hassan Ardschir-Mirza die den fanatischen Schiiten heiligen Stätten von Kerbela besuchen, was dann aber wegen der Ermordung des Persers nicht mehr ausgeführt werden kann. Daß May berühmte Reisende imitieren wollte, kann nicht der alleinige Grund für dieses Kara-Ben-Nemsi-Motiv sein. Es taucht hier ein Moment der religiösen Intoleranz auf: eine Art heimlicher Lust, die Heiligtümer anderer zu entweihen, scheint hinzuzukommen. Dies hängt wohl mit dem missionarischen Charakter der Figur(13) zusammen, der sie stark von der Figur Old Shatterhand unterscheidet, der zwar auch ab und zu Gespräche über Religion mit Westmännern (z. B. mit Old Surehand und Old Wabble) und – kurz vor dessen Tod – mit Winnetou führt, aber nicht in der (vor allem in den Marienkalendergeschichten) so eindringlichen – manchmal sogar den Leser eher peinlich berührenden – Art wie Kara Ben Nemsi, der offenbar ständig ein Neues Testament in der Satteltasche mitführt, da er es mehrfach auf seinen Reisen als »Samenkorn« an Mohammedaner verschenkt. Die missionarische Ausrichtung der Figur ist nicht peripher, sondern konstitutionell: der Held führt sich beim Leser so ein. Der Orientzyklus beginnt mit der Frage Halefs: »Und ist es wirklich wahr, Sihdi, daß du ein Giaur bleiben willst, ein Ungläubiger ...?« Diese Frage wird in einem Gespräch bejaht, das Kara Ben Nemsi als profunden Kenner des Koran und dessen Auslegungen erweist, der im weiteren Verlauf seiner Reise im Türkenreiche immer wieder selbst islamischen Gelehrten Vorträge über die Bedeutung mohammedanischer Gebräuche und Vorschriften hält, so daß sie ihn nur noch staunend anhören und bewundern können. Dabei geht es in der Regel darum, zu beweisen, daß das Christentum dem Islam überlegen ist, was Kara Ben Nemsi gern schon allein rein logisch daraus ableiten will, daß nach der Prophetologie des Islam am Jüngsten Tag Christus und nicht Mohammed der Weltenrichter sein wird. Die intellektuelle Seite ist jedoch nicht das Wesentliche, in erster Linie versteht sich Kara Ben Nemsi als Christ der Tat, der durch vorbildliche christliche Haltung andere überzeugen will und überzeugt:

   »... Gott teilt die Gaben nach seiner Weisheit aus. Dem einen giebt er die erobernde Rede und dem andern befiehlt er, zu wirken, bevor die Zeit kommt, da er nicht mehr wirken kann. Mir ist die Gabe der Rede versagt, aber ich muß wuchern mit dem Pfunde, das Gott mir verliehen hat. Darum läßt es mich in der Heimat nimmer ruhen; ich muß immer


//191//

wieder hinaus, um zu lehren und zu predigen, nicht durch das Wort, sondern dadurch, daß ich jedem Bruder, bei dem ich einkehre, nützlich bin ... ich war der Gast von Christen, Juden, Moslemin und Heiden; bei ihnen allen habe ich Liebe und Barmherzigkeit gesäet. Ich ging wieder fort und war reich belohnt, wenn es hinter mir erklang: "Dieser Fremdling kannte keine Furcht; er konnte und wußte mehr als wir und war doch unser Bruder; er ehrte unsern Gott und liebte uns; wir werden ihn nie vergessen, denn er war ein guter Mensch, ein wackerer Gefährte; er war – – ein Christ!" Auf diese Weise verkündige ich meinen Glauben. Und sollte ich auch nur einen einzigen Menschen finden, der diesen Glauben achten und vielleicht gar dann lieben lernt, so ist mein Tagewerk nicht umsonst gethan ...« (»Durchs wilde Kurdistan«, 635f.)

   Es kann wohl bestätigt werden, daß dieses Programm von der Figur weitgehend erfüllt wird. Das Sendungsbewußtsein des Helden wird gestützt durch seine Ansicht, daß Gott dem Gerechten beistehe. Er grenzt sich aber gegen den Kismet-Glauben der Mohammedaner ab: Gott hilft nur demjenigen, der selbstbestimmend auf sein Schicksal einzuwirken vermag, der aber auch daran denkt, daß eine mächtigere Hand ihn immer hält und leitet (»Durch das Land der Skipetaren«, 87).

   Ein unduldsamer Eiferer für den Glauben ist Kara Ben Nemsi nicht. Wenn er erkennt, daß einer religiösen Handlung Andersgläubiger echte Andacht zugrundeliegt, und nicht – wie er es freilich in den meisten Fällen behauptet – oberflächliches Getue, dann beteiligt er sich sogar daran. Beispiel dafür ist das Begräbnis Mohammed Emins, bei dem Kara Ben Nemsi das Gebet spricht. Kara Ben Nemsi tritt für das Christentum ein, weil es die Menschen glücklicher mache als z. B. der nach seiner Ansicht strenge, allzu lieblose Islam. Das zeigt sich auch in den Gesprächen mit Frauen (insbesondere mit Hanneh), denen er Trost spendet, wenn sie an der Ansicht des Islam, sie hätten keine Seele, verzweifeln.

   Ein spezielles, mit der religiösen Überzeugung verbundenes Motiv – das Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand gemeinsam haben – ist die Milde gegenüber Feinden, der Hang, Verbrecher nicht hart zu strafen, die Scheu, Menschenblut zu vergießen. Das ist sicherlich in der religiösen Haltung des Helden angelegt und eine eines wahren Christen würdige Einstellung, aber auch, das sollte nicht vergessen werden, für die Handlung von besonderer Bedeutung, da die Verbrecher so immer wieder Gelegenheit finden zu entkommen – die Verfolgungsjagd kann weitergehen. Dem Helden wird dann in der Regel die Schlußabrechnung erspart: die Bösen werden quasi durch Gott selbst gerichtet, ein Schluß, der allerdings im Wilden Westen öfter vorkommt; im Orient


//192//

üben die Gefährten des Deutschen häufig ihr vermeintliches Recht auf Rache aus. Dennoch: Der Held selbst bleibt in der Regel rein.

   Rein bleibt er auch in anderer Hinsicht. Seine Hilfe, seine Aktionen werden uneigennützig durchgeführt. Einige seiner Freunde kann er vor großen Verlusten an ihrem Vermögen bewahren. Die bei der Abreise heimlich zugesteckten Geldgeschenke nimmt Kara Ben Nemsi jedoch für seine Person nicht an; genau wie die Gelder, die man Verbrechern abnimmt und die niemandem zurückgegeben werden können, läßt Kara Ben Nemsi sie durch Halef an Bedürftige und von Verbrechern Geschädigte verteilen. Auch von seinem schwerreichen Freund und Begleiter, dem englischen Lord Sir David Lindsay, nimmt er nur dann Geld an, wenn es um Reiseausrüstung oder um Ab- und Belohnung von Einheimischen geht. Ein einziges Mal macht Kara Ben Nemsi eine Ausnahme. Das wertvollste Geschenk, das ihm auf seiner Reise angetragen wird, akzeptiert er: den Rappen Rih, den er von Mohammed Emin als Dank für die Hilfe im Kampf gegen die Feinde der Haddedihn erhält. Mehr als etwa Hatatitla bei Old Shatterhand ist Rih Teil des Mythos Kara Ben Nemsi. Der Beginn der Freundschaft zwischen dem Helden und seinem Wunderpferd wird daher auch als quasi-religiöser Einweihungsvorgang geschildert.

   ... ich aber ging zu dem Hengste, welcher auf der Erde lag, und nahm Platz zwischen seinen Füßen. Habe ich ihm die hundertste Sure wirklich in die Nüstern gesagt? Versteht sich! Dabei hat mich nicht etwa der Aberglaube geleitet, bewahre! Das Pferd war an diesen Vorgang gewöhnt: wir wurden also durch denselben schnell vertraut miteinander; und indem ich beim Recitieren der Worte hart an seinen Nüstern atmete, lernte es, wie man sich auszudrücken pflegt, die Witterung seines neuen Gebieters kennen. Ich lag zwischen seinen Füßen, wie ein Kind zwischen den Beinen eines treuen, verständigen Neufundländers. (»Durch Wüste und Harem«, 369)

   Die besondere Beziehung zwischen Kara Ben Nemsi und seinem Pferd wird beim Tode Rihs noch einmal deutlich. Der Rappe stirbt an einer Kugel, die dem Helden gegolten hat, er bleibt im Kampfgeschehen zunächst für tot liegen, kommt dann aber schwerverwundet seinem Herrn nach:

   Ja, er kam, der Rappe, in langsamem Trabe, wankend und strauchelnd; die Liebe zu mir hatte ihn noch einmal auf- und mir nachgetrieben. Es war ein Anblick zum Herzbrechen. Wir sprangen ihm entgegen; aus seiner Brust floß ein fingerstarker Blutstrahl. Ich war der erste bei ihm und schlang ihm beide Arme um den Hals. Er schnaubte mich freudig an und leckte mir die Wange und den Hals; dann brach er langsam


//193//

erst hinten und dann vorn zusammen. Nach einer vergeblichen Anstrengung, sich wieder aufzuraffen, hob er den schönen, kleinen Kopf, sah mit brechenden Augen zu mir auf und wieherte leise, leise und ersterbend, wie ich noch nie ein Pferd habe wiehern hören. Ich warf mich neben ihn nieder und bettete seinen Kopf an meine Brust, während Halef das rinnende Blut zu stillen suchte. Wir alle weinten, weinten so, als ob ein lieber, lieber Mensch im Sterben liege. Des Rappen Maul lag in meiner Hand; er leckte sie fort und fort, immer leiser und langsamer, bis er die Zunge nicht mehr bewegen konnte; dann noch ein letztes, sich verhauchendes Schnauben, ein krampfhaftes Zucken – – – Rih war tot! Ich nahm das Keffije (Kopftuch), welches ich unter dem Turban trug, hielt es an die Wunde und fing das letzte aus derselben fließende Blut auf. (»Der Schut«, 638f.)

   Die Parallelen zu Winnetous Tod sind unverkennbar. Auch die Bestattung des Pferdes erinnert an die des großen Apachen: Rih wurde mit Hilfe von Holzstützen aufrecht gestellt und, gesattelt und gezäumt, wie er war, mit Steinen umgeben, wie wir einst mit Mohammed Emin gethan hatten. Seine starren, einst so feurigen und verständigen, treuen Augen thaten mir bitter wehe; ich drückte ihm die Lider zu. (»Der Schut«, 642)

   Zum Mythos der Figur Kara Ben Nemsi gehört seine Omnipotenz, das im wesentlichen ungebrochene Bewußtsein, aller Probleme durch Geistesgegenwart, Mut und »göttliche Fügung« selbst Herr werden zu können. Doch (auch) um die Gestalt nicht gänzlich in den Bereich des Mythischen abgleiten zu lassen (schließlich gibt May seinen Reiseerzählungen durch geographische, historische, ethnologische etc. Ausführungen einen quasi-realistischen Anstrich) benötigt auch Kara Ben Nemsi Helfer. Der wichtigste Gefährte des Helden – im Bewußtsein der Leser untrennbar mit ihm verbunden – ist der kleine, redegewandte und tapfere, aus dem Moghreb stammende Beduine Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawud al Gossarah. Am Beginn der Reise ist Halef der Diener und Wegweiser des Helden, den er – und das bleibt stets so – »Sihdi«, also »Herr und Gebieter«, nennt. Kara Ben Nemsi behandelt ihn jedoch mehr als Freund denn als Diener (»Durch Wüste und Harem«, 2). Und im Verlauf der Abenteuer im Türkenreiche wird aus dem freundschaftlich behandelten Diener der aufopferungsvolle Freund, der sich selbst zum Beschützer seines »Sidhi« ernennt und für ihn seine Frau und (später) sein Kind monatelang verläßt, um an seiner Seite gefahrvolle Abenteuer zu erleben. Belohnt wird er für diese Haltung durch die tiefe Zuneigung des Helden und den Ruhm, den er an dessen Seite erringt. Ein Ruhm, der ihm letztlich


//194//

die Würde eines Scheiks der Haddedihn einbringt. Die Freundschaft zwischen Halef und Kara Ben Nemsi verringert jedoch den Abstand zwischen beiden nicht; Kara Ben Nemsi bleibt stets der Herr, und wenn beide bei Vornehmen zu Gast sind, muß Halef bei den Bediensteten absteigen (»Ardistan und Dschinnistan I«, 3). Für die Figur Kara Ben Nemsi hat Halef über die Tätigkeit als Diener im engeren Sinne (Koch, Lagerbereiter etc.) hinaus die Funktion, Vollstrecker und Liktor des Helden zu sein: Halefs Nilpferdpeitsche verschafft Kara Ben Nemsi Respekt und enthebt ihn seiner nicht würdiger Strafaktionen.

   Rekapituliert man die Szenenfolge des ersten Bandes des Orientzyklus (Religionsgespräch mit Halef – Auffinden eines Ermordeten, Verfolgung des Mörders – Befreiung Senitzas – Kampf mit Abu Seïf – Mekka – Kämpfe bei den Haddedihn), so erkennt man, daß May seinen neuen Helden nach und nach, Szene um Szene, in all seinen Eigenschaften, Fertigkeiten und Meriten dem Leser bekannt macht, bis dann mit dem Rappen Rih die Figur in ihrer halbgottähnlichen Vollkommenheit Mythos wird. Ein Kurde erzählt am Ende des ersten Bandes die Fama vom fremden Feldherrn Kara Ben Nemsi:

   »Mohammed Emin, der Scheik der Haddedihn, saß vor seinem Zelte, um Rat zu halten mit den Aeltesten seines Stammes. Da that sich eine Wolke auf, und ein Reiter kam herab, dessen Pferd grad mitten im Kreise der Alten die Erde berührte ... Das Pferd des Reiters war schwarz wie die Nacht; er selber aber trug ... einen Helm aus gediegenem Golde. Um seinen Helm war ein Shawl gewunden, den die Houri des Paradieses gewebt hatten; denn tausend lebendige Sterne kreiseten in seinen Maschen. Der Schaft seiner Lanze war von reinem Silber; ihre Spitze leuchtete wie der Strahl des Blitzes, und unter derselben waren die Bärte von hundert erlegten Feinden befestigt. Sein Dolch funkelte wie Diamant, und sein Schwert konnte Stahl und Eisen zermalmen. »Ich bin der Feldherr eines fernen Landes,« antwortete der Glänzende. »Ich ... hörte vor einer Stunde, daß dein Stamm ausgerottet werden soll. Darum setzte ich mich auf mein Roß, welches zu fliegen vermag, wie der Gedanke des Menschen, und eilte herbei, dich zu warnen.« »Wer ist es, der meinen Stamm ausrotten will?« ... Der Himmlische nannte die Namen der Feinde. »Weißt du dies gewiß?« »Mein Schild sagt mir alles, was auf Erden geschieht. Blicke her!« Mohammed sah auf den goldenen Schild. In der Mitte desselben war ein Karfunkel, fünfmal größer als die Hand eines Mannes, und in diesem sah er alle seine Feinde, wie sie sich versammelten, um gegen ihn zu ziehen. »Welch ein Heer!« rief er. »Wir sind verloren!« »Nein, denn ich werde dir helfen,« antwortete der Fremde ... Er gab hierauf seinem Pferde ein Zeichen, worauf es wieder emporstieg und


//195//

hinter der Wolke verschwand ... Am andern Morgen kam der fremde Held geritten. Er leuchtete wie hundert Sonnen, und dieses Licht blendete die Feinde, sodaß sie die Augen schlossen und ihm folgten mitten in das Thal der Stufen hinein. Dort aber kehrte er seinen Schild um; der Glanz wich von ihm, und sie öffneten die Augen. Da sahen sie sich in einem Thale, aus dem es keinen Ausweg gab, und mußten sich ergeben ...« (»Durch Wüste und Harem«, 630f.)

   Seine Fähigkeiten als Feldherr stellt Kara Ben Nemsi im Anschluß an das Abenteuer bei den Haddedihn gleich noch einmal unter Beweis, indem er den vom Pascha von Mossul bedrohten Dschesidi (Teufelsanbetern) hilft, die türkischen Soldaten in eine ausweglose Situation zu manövrieren und den Pascha zum Friedensschluß zu zwingen. Frieden stiftet der Held auch zwischen Nestorianern und Kurden; dabei trifft er auf Marah Durimeh, die als mysteriöser Ruh' i Kulyan (Geist der Höhle) wirkt, einem in der gesamten Region für überirdisch angesehenen Helfer der Bedürftigen und Bedrängten. Kara Ben Nemsi, der als einziger um die Identität des »Höhlengeistes« weiß, führt eine ganze Nacht lang auf einem hohen Berg mit der geheimnisvollen alten Königin religionsphilosophische Gespräche. Auch Marah Durimeh stellt das Christentum der Tat über das des Wortes; die beiden mythischen Figuren sind durch Seelenharmonie miteinander verbunden. Mays Umgestaltung der Figur Marah Durimeh in späteren Auflagen von »Durchs wilde Kurdistan« und im Spätwerk, die Veränderung ihrer äußeren Erscheinung vom Schreckgespenst, von der furchteinflößenden Uralten, zur »hohen Frau« stimmt überein mit der im Orientzyklus in der Figur Kara Ben Nemsi angelegten Tendenz, den traditionellen Abenteuerhelden, der eben nur ein tapferer Mann ist, zum »Überzeugungstäter« umzugestalten, was dann im Spätwerk zur symbolischen Überhöhung Marah Durimehs zur Menschheitsseele und Kara Ben Nemsis zur Menschheitsfrage führt.

   Der erste Band des Orientzyklus stellt den Helden vor, der zweite zeigt ihn in Aktion; als glorreichen militärischen Berater, als listigen Befreier unschuldig Gefangengehaltener, als kenntnisreichen Chemiker (er fabriziert Schaumwein), als Arzt, als Sprachgenie (er lernt innerhalb weniger Tage Kurdisch) und natürlich als unbesiegbaren Kämpfer und umsichtigen Anführer der Gefährten. In »Von Bagdad nach Stambul« ändert sich die Atmosphäre des Geschehens, Mohammed Emin stellt Kara Ben Nemsis Führerschaft in Frage, da er an der christlich-milden Einstellung des Deutschen Anstoß nimmt. Der tief gekränkte Held gibt die Leitung des Geschehens ab, der »Aufrührer« fällt im folgenden Kampf mit Kurden. Der Perser Hassan Ardschir-


//196//

Mirza [Ardschir-Mirza] und seine Familie, die Kara Ben Nemsi, der im Kampf verletzt wurde, zunächst pflegen, dann aber seine Hilfe und seinen Schutz benötigen, folgen seinen Ratschlägen nicht und büßen das mit dem Tode. Die in den vorangegangenen Bänden so kunstvoll in Szene gesetzte Omnipotenz und Souveränität des Helden wird in einer nicht weniger konsequenten Negativ-Dramaturgie in Ohnmacht und Aporie umgewandelt. Die »Krise des Helden« wird allerdings nicht durch im Helden selbst oder seinen Aktionen liegende Ursachen hervorgerufen, sondern durch schicksalhaftes Unglück: Kara Ben Nemsi und Halef werden von der Pest heimgesucht. Am Rande von Bagdad ringen sie – von allen bisherigen Gefährten verlassen – mit dem Tode:

   Mir brannte der Kopf; die blutgetränkte Ebene flog im Kreise um mich herum; ich selbst schien um meine eigene Achse zu wirbeln; meine Hände, auf welche ich mich im Knieen gestützt hatte, verloren den Halt, und ich sank langsam, langsam nieder. Es war mir, als ob ich allmählich tiefer und immer tiefer sinke, in einen nebligen und dann immer schwärzer werdenden Schlund hinab. Da gab es keinen Halt, kein Ende, keinen Boden, die Tiefe war unendlich ... (»Von Bagdad nach Stambul«, 329)

   Während seiner Krankheit wird der Held von ängstlichen Bildern und Vorstellungen eingenommen (Ebd., 333). Diese verräterische Formulierung gibt den Anhaltspunkt für eine Deutung der ungewöhnlichen Atmosphäre des dritten Bandes. Wohl durch die Figur Marah Durimeh, die ihn an seine geliebte »Märchengroßmutter« erinnerte, geriet May aus dem euphorischen Traum vom Weltverbesserer und Übermenschen May alias Kara Ben Nemsi in den Bereich verdrängter Erinnerungen an die dunklen Kapitel seines Lebens. Der Versuch des Schriftstellers May, mit der gloriosen Ich-Utopie die tiefe Beschädigung seines Selbstwertgefühls zu kompensieren, war wohl zu überschwenglich geraten. Seine reale Seelenlage stoppte den Höhenflug und verwies den Konstrukteur des Helden in seine Grenzen; von den mythischen Höhen Kurdistans galt es herabzusteigen in die Wüsten des Zweistromlandes.

   Die Schwäche des Helden ist nur vorübergehend, durch frische Luft, gute Reinigung der Haut durch fleißiges Baden und einen Schnitt in den Karfunkel (Ebd., 334) gelingt es Kara Ben Nemsi, sich und Halef zu retten. Danach geht es dann im alten Abenteuerstil weiter, allerdings nicht mehr ganz so selbstherrlich wie in Kurdistan. In Damaskus beginnt eine Verbrecherjagd, die sich bis zum Schluß des Orientzyklus hinzieht. Es geht dabei nicht mehr nur um die Bestrafung eines Einzeltäters (Hamd el Amasat); ab »In den Schluchten des Balkan« erhält die Jagd eine andere Dimension, da es gegen den Schut geht, der eine gan-


//197//

ze [ganze] Region mit seiner Verbrecherbande in Angst und Schrecken versetzt. Die »Krise« ist jedoch noch nicht vollständig überwunden; zwischen zwei gelungenen humorigen Szenen (mit der dicken Bäckersfrau Tschileka und im Meneliker Taubenschlag) wird Kara Ben Nemsi in der Hütte des Bettlers Saban schwer niedergeschlagen. Den Traum vom Sterben schildert May wie beim Pestanfall in der seltsam intensiven Weise, die später die Visionen des Spätwerkes kennzeichnet:

   Ich war gestorben; ich besaß keinen Körper mehr; ich war nur Seele, nur Geist. Ich flog durch ein Feuer, dessen Glut mich verzehren wollte, dann durch donnernde Wogen, deren Kälte mich erstarrte, durch unendliche Wolken- und Nebelschichten, hoch über der Erde, mit rasender, entsetzlicher Schnelligkeit. Dann fühlte ich nur, daß ich überhaupt flog, grad so, wie der Mond um die Erde wirbelt, ohne einen Gedanken, einen Willen zu haben. Es war eine unbeschreibliche Leere um mich und in mir. Nach und nach verminderte sich die Schnelligkeit. Ich  f ü h l t e  nicht nur, sondern ich  d a c h t e  auch. Aber was dachte ich? Unendlich dummes, ganz und gar unmögliches Zeug. Sprechen aber konnte ich nicht, so sehr ich mich auch anstrengte ... Nach und nach kam Ordnung in das Denken. Mein Name fiel mir ein, mein Stand, mein Alter, in welchem ich gestorben war ... Ich sank nach und nach tiefer. Ich wirbelte nicht mehr um die Erde, sondern ich näherte mich ihr wie eine leichte Feder, welche langsam, immer hin und her gehaucht, von einem Turme fällt ... Und je tiefer ich sank, desto mehr vergrößerte sich die Erinnerung an mein nun beendetes irdisches Dasein. Personen und Erlebnisse fielen mir ein, mehr und mehr. Es wurde klarer in mir, immer klarer ... Und wunderbar! Ich sank durch das Dach der Hütte ... (»In den Schluchten des Balkan«, 177f.)

   In solchen Momenten manifestiert sich eine »Ur-Angst« Mays, die Angst, aus der Höhe des mühsam erarbeiteten Ruhms durch Bekanntwerden seiner unrühmlichen Vergangenheit herabzustürzen in das Nichts, aus dem er kam. Die Pestszenen in »Von Bagdad nach Stambul« und auch der Todestraum in »In den Schluchten des Balkan« nehmen bereits jenen Zusammenbruch des »Ich-Ideals« (wenn auch noch nicht in deutlicher Form) vorweg, mit dem May später in »Im Reiche des silbernen Löwen III« den »Sprung über die Vergangenheit« besiegeln wird.(14) Im frühen Orientzyklus bleiben solche Momente jedoch noch vereinzelt, und sie werden durch um so kräftigeres Auftreten des Helden bald wieder überspielt.

   So fällt in den Balkan-Bänden Kara Ben Nemsis Freude am Rollenspiel auf; im Gegensatz zu Old Shatterhand, der fast ausnahmslos das Greenhorn spielt, wenn er in eine Rolle schlüpft, bevorzugt Kara Ben


//198//

Nemsi die großspurig theatralische Ich-Inszenierung. Sein Auftritt vor Gericht in Ostromdscha wurde schon ausführlich dargestellt; die Rolle eines Verbrechers nimmt er in Stambul bei den Derwischen, als Schmuggler beim Färber Boschak und als Anhänger des Schut in Ismilan an. Einmal versteckt auch er sich unter der Maske des ungeschickten Tölpels, als er nämlich die beiden gefährlichen Aladschy als armer, unbedarfter Scherif (islamischer Religionslehrer, direkter Nachkomme Mohammeds) täuscht. Er legt sich einen langen arabischen Namen zu, läßt sich von Halef die Haare färben und kostümiert sich: als ich mich dann in dem kleinen Taschenspiegel besah, war ich hochblond geworden. Nun setzte ich den Fez auf, und Halef mußte mir das grüne Turbantuch um denselben winden, so daß rechter Hand das ausgefranste Ende desselben herabhing ... Um die Verwandlung zu vollenden, setzte ich nun die Brille auf und schlang die Reitdecke um meine Schultern, ungefähr so, wie ein Mexikaner seine Serape trägt. (»Durch das Land der Skipetaren«, 118f.) Es gelingt ihm so, den Hinterhalt der Aladschy kennenzulernen und beide im Faustkampf zu besiegen. Dem Motivkreis Ich-Inszenierung ist auch die Vorführung von Zauberkunststückchen vor der vollständig versammelten Einwohnerschaft von Ostromdscha zuzurechnen. Kara Ben Nemsi macht »Geisterkugeln« aus Quecksilber und läßt auf sich schießen, so daß er und seine Gefährten – er läßt in diesem Falle auch sie an dem Spiel teilnehmen – als kugelfest gelten.

   Der Orientzyklus endet mit dem Sprung über die Verräterspalte: (15) ein nahezu irrwitziger Akt des Mutes, mit dem May sich in das Reich der Mythen zurückbegibt. Der Sprung über die Verräterspalte ist ein Gottesurteil im besten Sinne der Legende, ein Test auf die Reinheit der im Kampf verwendeten Waffen, wobei Kara Ben Nemsi als dem Vertreter des Guten der Sieg zukommt, während der Vertreter des Bösen, der Schut, in die Spalte stürzt: Der Todessturz des Don Giovanni und der Höllensturz Luzifers erscheinen hier im Gewande des Abenteuerromans.

   Der Charakteristik Kara Ben Nemsis, wie sie im Orientzyklus gegeben wird, hat die Mahdi-Trilogie, in der der Held erst in den (nachgeschriebenen) beiden letzten Kapiteln den »Orientkriegsnamen« trägt, nichts Bedeutendes hinzuzufügen. Der Deutsche tritt »Im Lande des Mahdi« als Helfer im Kampf gegen ein »Urübel« des schwarzen Kontinentes, gegen den Sklavenhandel, auf. Seine Mission ist eigentlich eine politische, aber – wie immer bei May – auch hier findet die Geschichte mit der Bestrafung von einzelnen Verbrechern ihr Ende: Nicht das System als solches wird abgeschafft, sondern lediglich besonders abstoßende Auswüchse werden ausgemerzt. Bemerkenswert ist jedoch die


//199//

geänderte Einstellung Kara Ben Nemsis zum Islam, der in diesem Roman gegenüber dem Orientzyklus bedeutend negativer dargestellt wird. Hier ist sicherlich der Einfluß der Marienkalendergeschichten, die etwa im gleichen Zeitraum entstanden, ursächlich. Ganz deutlich wird das im für die Buchausgabe neugeschriebenen Schluß der Trilogie. Die Wandlung des islamischen Gottsuchers Ssali Ben Aqil vom eifernden Verfechter der Lehre des Propheten zum überzeugten Christen und (später) Missionar, der mit Kara Ben Nemsi die heiligen Stätten der Christenheit in Palästina besucht, ist allzu tendenziös und aufdringlich gestaltet: im Orientzyklus waren die religiösen Elemente subtiler in die Abenteuerhandlung eingearbeitet. Die Dominanz des Missionarischen höhlt die Figur Kara Ben Nemsi aus, zerstört ihre Ausgewogenheit.

   Ein besonderes Motiv des Mayschen Helden ist die Jagd auf gefährliche Tiere. Es geht in der Regel dabei – etwa wie im Wilden Westen – nicht nur um die Jagd an sich, sondern das furchtlose Erlegen von Löwen, Panthern und Bären demonstriert, daß ein Europäer den Orientalen überlegen ist: Der sonst so tapfere Sohn der Wüste wagt es nämlich nie, wie es der kühne europäische Jäger zu thun stets vorzieht, den Löwen allein anzugreifen; es treten die sämmtlichen waffenfähigen Männer des Dorfes zusammen, suchen das Lager des Thierkönigs auf, locken ihn durch lärmendes Brüllen, Rufen, Pfeifen und Schießen aus demselben hervor, und jagen ihm, sobald er erscheint, aus ihren langen, unsicher treffenden Flinten so viel Kugeln wie möglich auf den Leib. Der Löwe stürzt nie sofort. Selbst wenn er zum Tode verwundet ist, besitzt er noch so viel Kraft, sich auf Einen oder auch Mehrere zu werfen und den an ihm verübten Mord blutig zu rächen. Die Furcht, welche man vor ihm hegt, geht sogar so weit, daß man bei dem Entschlusse eines Angriffes nur leise spricht; man meint, er könne es hören. (»Die Gum«, 204) Der (anonyme) Ich-Erzähler in der frühen »Gum«-Erzählung macht es so, wie es sein literarischer Nachfolger Kara Ben Nemsi auch tun wird: Ich bekümmerte mich nicht um die Andern ... sondern eilte grad auf den Löwen zu. Dieser bemerkte mich und trat ... von seinem Opfer zurück. Ich knieete nieder und legte an. Es war nicht Furcht und nicht Angst, was ich empfand; es gibt keine Bezeichnung für das Gefühl, welches in diesem Augenblicke jede Faser in mir anspannte. Die rollenden Augen glühten mir vernichtend entgegen, der Schwanz krümmte sich verrätherisch; die kraftvollen Pranken zogen sich zum Sprunge zusammen; ein kurzes Zucken ging über den sich niederduckenden Leib. Ich drückte los, und der zweite Schuß traf das Thier, als es schon in der Luft schwebte. Zurückspringend riß ich das Messer aus der Scheide. Der Löwe war


//200//

mitten im Sprunge gestürzt, wälzte sich zuckend noch einige Male hin und her und hatte dann verendet. (»Die Gum«, 205) Gelegentlich wird das Motiv Raubtierjagd auch mit dem »Missionsanliegen« Kara Ben Nemsis verknüpft: So wird ein fanatischer Muslim (Abd el Fadl) dadurch bekehrt, daß Kara Ben Nemsi dessen Kind vor einem Panther rettet (»Christus oder Muhammed«), oder May inszeniert eine Löwenjagd als Gottesgericht, das die Überlegenheit des christlichen Gottes über Allah zeigen soll (»Im Reiche des silbernen Löwen I, 345).(16)

   Die Identifikation des Schriftstellers May mit seinem Helden war nun (»Im Lande des Mahdi I« erschien 1896) so weit fortgeschritten, daß er sich kostümiert als Kara Ben Nemsi (und Old Shatterhand) fotografieren ließ und diese Fotos im Nachwort zum dritten »Mahdi«-Band seinen Lesern empfahl. Auch in den Romanen finden sich nun häufiger und direkter Passagen, die den fiktiven Helden Kara Ben Nemsi mit dem realen Schriftsteller May in Dresden in eins setzen. So erfahren Halef und die erstaunten Leser 1897, daß Kara Ben Nemsi eine Ehefrau hat. Diese Neuigkeit trifft Halef wie ein Schlag: Er trat zwei Schritte zurück, bückte sich halb nieder, sah mir ... erstaunt in das Gesicht und fragte: »Was – – was – – hast – – du?« ... »Ein Weib?« ... »Welch ein Scherz!« »Es ist kein Scherz.« Da ließ er vor Verwunderung die Peitsche aus der Hand fallen ... »Sidhi, erlaube, daß ich mich wieder niedersetze! Dein so ganz unerwartetes Weib ist mir in die Kniee gefahren; ich fühle, daß sie zittern!« ... »Sidhi, laß mich Atem holen! Sag mir, ob ich vielleicht schlafe – – ob ich träume! Ich möchte weinen, bitterlich weinen!« (»Im Reiche des silbernen Löwen I«, 390f.) Halef ist zunächst eifersüchtig. Das kann noch schnell ins Reine gebracht werden; für die mythische Figur Kara Ben Nemsi ist jedoch das Todesurteil gesprochen. Der aus den Omnipotenz- und Kompensationsträumen der gebrochenen Persönlichkeit des Dichters May entstandene Halbgott wird durch das übersteigerte Geltungs- und Liebebedürfnis seines Schöpfers, der die seinem Geschöpf von den Lesern entgegengebrachte Liebe auf sich lenken wollte, zum aufschneiderischen Reisegeschichtenerzähler.

   May hat das wohl selbst gespürt. Mit »Am Jenseits«, dem nächsten Band seiner Reiseerzählungen, wollte er mit seinen eigentlichen Absichten herausrücken, beabsichtigte, keine Indianergeschichten sondern »Predigten an die Völker«(17) zu verfassen. Der Plan eines schriftstellerischen Neuanfangs beinhaltete auch den Versuch, die Ich-Fiktion Kara Ben Nemsi neu zu gestalten. Kara Ben Nemsi, dessen Name in früheren Romanen allein schon Furcht unter den Bösen verbreitete, reist nun ängstlich unter einem Pseudonym nach Mekka, um dort nicht


//201//

als Christ erkannt zu werden. Er will mit dieser Reise seinen Wanderstudien ... einen befriedigenden Abschluß (»Am Jenseits«, 9) geben. Das Pseudonym Hadschi Akil Schatir el Megarrib(nis) Ben Hadschi Alim Schadschi er Rani Ibn Hadschi Dajim Maschhur el Azami Ben Hadschi Taki Abu Fadl el Mukkaram bedeutet in der Übersetzung Hadschi Vernünftig Klug, der Erfahrene, Sohn des Hadschi Weise, Tapfer, der Reiche, Sohn des Hadschi Unsterblich, Berühmt, der Herrliche (»Am Jenseits«, 16): all die Eigenschaften des Mythos Kara Ben Nemsi werden hier noch einmal zusammengetragen, was wie ein wehmütiger Nachruf auf den einstigen Helden anmutet. Die Zurücknahme des Helden hinter ein Pseudonym entspricht seiner Aktionsabstinenz und -schwäche: er überläßt wichtige Entscheidungen Hanneh, wird von El Ghani mehrfach getäuscht und vom Münedschi dreimal angespuckt, ohne daß er sich wehrt; sein Ziel, Mekka, erreicht er nicht, der geplante Abschluß seiner Wanderungen im Orient findet nicht statt. Nachdem der Roman fertiggestellt war, begab sich der Schriftsteller May selbst auf eine mehrmonatige Orientreise (1899/1900).

   Der Versuch, von den Abenteuergeschichten, mit denen May berühmt wurde, Abstand zu gewinnen, ist das Ergebnis einer mehrjährigen Entwicklung. Der Maysche Schreibstil änderte sich ab etwa Mitte der neunziger Jahre. Innerlich wandte sich May in dieser Zeit immer stärker von den Über-Helden-Figuren ab und begann, seine autobiographischen Träume, Erfahrungen und Ängste auf andere, manchmal scheinbar nebensächliche Figuren zu verlagern. So hinterlassen Old Wabble (»Old Surehand I–III«) und von Hiller (»"Weihnacht!"«) als »gebrochene Charaktere« oder der lebensuntüchtige Carpio (»"Weihnacht!"«) stärkere Eindrücke beim Leser als die immer siegreichen Ich-Helden. Und auch der blinde Münedschi in »Am Jenseits« ist als Symbol Mayscher Lebensblindheit und Lebensangst bedeutsamer als der Ich-Held Kara Ben Nemsi.

   Die lange Orientreise (Mays erste längere Auslandsreise) führte durch die Konfrontation seiner Phantasiewelt mit der Wirklichkeit zu einem inneren Zusammenbruch. Er überstand die Krise, während der er zeitweise in psychotische Zustände verfiel. Nach der Heimkehr änderte er auch sein privates Verhalten. Zunächst wurde die Ineinssetzung seiner Ich-Helden mit der Person Karl May aufgegeben: die Kostümfotos verschwanden, die Auftritte als Old Shatterhand resp. Kara Ben Nemsi hörten auf. Die persönliche Situation und die sich nun häufenden Angriffe gerade auch der May früher gewogenen katholischen Presse bewirkten zudem eine Neuorientierung des Selbstverständnisses des Schriftstellers. An seinen Verleger Fehsenfeld schreibt er am


//202//

10.9.1900: Zu ihrer Orientierung kurz Folgendes: Alle meine bisherigen Bände sind  n u r  Einleitung, nur Vorbereitung.(18) 1901 erscheint der Gedichtband »Himmelsgedanken«, es folgt der direkt durch die Reise inspirierte Roman »Et in terra Pax« (später: »Und Friede auf Erden!«), ein bewußt gegen die chauvinistische Zeitstimmung gerichtetes Werk der Völkerverständigung und der religiösen Toleranz.

   Mit seiner Figur Kara Ben Nemsi setzt May sich erst im Jahre 1902 bei der Konzeption der Bände III und IV des Romans »Im Reiche des silbernen Löwen« wieder auseinander. Das Eingangskapitel des Bandes III gehört noch ganz zu den in alter Abenteuermanier geschriebenen Bänden I und II (entstanden 1898) dieses Romans. Der Anschluß gelingt jedoch nicht; die neue Weltsicht verlangt eine neue Konzeption – nicht zuletzt auch der Figur Kara Ben Nemsi. Mit dem zweiten Kapitel des Romans, »Über die Grenze« überschrieben, beginnt der eigentliche, der neue »Silberlöwe«, in dem May – anders als in den weitgehend unbewußten traumatischen Sequenzen der früheren Romane – bewußt seine seelische, seine geistige, seine private und seine öffentliche Situation literarisch reflektiert. Auf mehreren, kunstvoll miteinander verflochtenen Ebenen werden symbolisch überfremdete Autobiographica, philosophische Gespräche über Mensch und Gesellschaft, religionsphilosophische Parabeln, allegorische Tableaus, Märchen, Träume und Elemente des Abenteuerromans zu einem Werk gestaltet, dem Arno Schmidt hohen literarischen Rang zuspricht.

   Kara Ben Nemsi tritt nicht als Held auf. Zu Beginn wird er in gänzlich ungewohnten Situationen vorgeführt; sein Pferd, seine Waffen, seine Kleider werden gestohlen, zu Fuß und durchnäßt läuft er den Dieben hinterher. Er merkt nicht, daß plötzlich auftauchende Helfer, die ihn durch in Kaffee gemischtes Opium betäuben, mit den Dieben identisch sind. Erklärt wird der Abbau der Figur durch Krankheit: Kara Ben Nemsi (und mit ihm Halef) sind an Typhus erkrankt. Dem Tode nahe, raffen beide sich mit letzten Kräften auf und entkommen ihren Feinden, indem sie mit ihren Pferden waghalsig eine tiefe Schlucht überspringen. Auf der anderen Seite der Schlucht empfängt der Pedehr, der Scheik der Dschamikun, Kara Ben Nemsi und kommentiert den Sprung: »Dein Rappen ging in kühnem, festem Bogen in die Luft. Es war nur ein Moment, aber doch so hell, so deutlich, was ich sah: du warst es zwar, doch war's auch ein Gesicht, ein Blick ins ferne Land, das wir die Zukunft nennen: du warst das Abendland, auf fehlerfreiem, morgenländischem Pferde! Der Abgrund zwischen hier und dort, er schwand; dein Assil trug das Christentum mir zu ... Ich heiße dich, den Westen, hoch willkommen ...« (»Im Reiche des silbernen Löwen III«,


//203//

257f.) Kara Ben Nemsi bricht dann zusammen. Er wacht erst nach langem, teilweise in Bewußtlosigkeit verbrachtem Siechtum im Hause des Ustad, des geistigen Führers der Dschamikun, wieder auf; die Rekonvaleszenz zieht sich bis zum Ende des IV. Bandes hin.

   Die Worte des Pedehr deuten darauf hin, daß May der Figur Kara Ben Nemsi eine menschheitsgeschichtliche Bedeutung geben will. May führt die Figur langsam in die neue Bedeutungssphäre hinüber. Zunächst wird sie im Rahmen eines individualpsychologischen(19) Konzeptes auf die neue Aufgabe vorbereitet. Der Roman beginnt mit dem Abbau der Dimension des glänzenden Abenteuerhelden auf der Handlungsebene. Dann hat Kara Ben Nemsi – gewissermaßen wie in einem Initiationsprozeß – ein Todesnähe-Erlebnis, aus dem er als neue Persönlichkeit hervorgeht. Nach dem Erwachen begegnet er Schakara, die ihn pflegt und dem Pedehr, der ihn (mit dem Ustad) ärztlich betreut. Mit dem Pedehr führt er ein langes Gespräch über das Verhältnis von Seele und Körper (»Im Reiche des silbernen Löwen III«, 321 pass.), in dem er noch der Lernende ist. Der Orientale erklärt, daß die Seele sich vor allem Bösen (auch vor Krankheiten) scheue, sie ziehe sich zurück und verlasse im Extremfalle den Körper, so daß der Tod eintrete. Auf im buchstäblichen Sinne traumatische Weise erhält diese Theorie für Kara Ben Nemsi Bedeutung. In Halefs »Madentraum« wird ihm drastisch die nächste Stufe seiner Entwicklung vorgegeben:

   »... Von den Feinden kam einer nach dem andern auf dich zu. Sobald er dich erreichte, verlor er seine menschliche Gestalt und verwandelte sich in eine häßliche Made, welche sich tief in dein Fleisch fraß ... Deine Augen waren hell und die Züge deines Angesichts freundlich. Man sah dir an, du freutest dich; du fühltest keine Schmerzen. Du hattest Mitleid mit den Menschen, welche sich durch ihren Haß zu Würmern machten, um dich völlig aufzuzehren, wie ein Leichnam im Grabe von den Maden aufgefressen wird ... Einmal bemerkte ich, daß du plötzlich und zufällig an mich dachtest ... Da riefst du mir zu: "Sorge dich nicht um mich! Das alte Fleisch muß herunter! ... Du weißt es ja: der »Hadschi« hat zu sterben; ich gebe ihn hier den Würmern, die seine Totengräber sind. Der »Halef« aber bleibt! Dem können sie nichts thun, weil er nicht sterblich ist. So werde ich schon vor dem Tode frei vom Tode sein!"« (»Im Reiche des silbernen Löwen« III, 48Sf)(20)

   Das Bild ist hier zwar in erster Linie biographisch gedacht; dargestellt wird der Mensch und Schriftsteller May, wie er von der publizistischen Öffentlichkeit angegriffen wird, doch die »höhere« Bedeutung des Bildes zielt auf die Figur Kara Ben Nemsi: Um vollkommen zu werden, muß sie sich von den Fehlern der Vergangenheit lösen. Kara Ben


//204//

Nemsi ist dazu bereit. Der Ustad fragt: »Du bist Old Shatterhand?« ... »Ich war es« ... »Du bist Kara Ben Nemsi Effendi?« »Ich war es« ... »Bist es nicht mehr? Beides nicht mehr?« ... »Beides nicht mehr!« ... »Seit wann? Sage es mir!« »Seit diese beiden Namen das geleistet haben, was sie leisten sollten und leisten mußten! In diesen zwei Namen habe ich denen, die es lösen wollen, ein Rätsel aufgegeben, aus dessen Thür das von seinen psychologischen Fesseln befreite Menschheits-Ich wie ein im Freudenglanze strahlender Jüngling hervorzutreten hat. Dieses so viel verachtete und so grimmig angefeindete "Ich" in meinen Büchern hat allen denen, welche Ohren haben, von einer neuen, ungeahnten Welt zu erzählen, in welcher Leib, Geist und Seele nicht ineinander gekästelt und ineinander geschachtelt sind, sondern Hand in Hand nebeneinander stehen und miteinander wirken ...« (»Im Reiche des silbernen Löwen IV«, 67) Nach dieser Erklärung verlangt der Ustad auch noch die berühmten Gewehre von Kara Ben Nemsi, und dieser gibt sie – gern – her: »Diese Embleme meiner bisherigen Thätigkeit, sie sind – – – ich! Das Ich, welches ich war!« (Ebd., 70)

   Der Abschied von den Insignien seiner Abenteuerherrlichkeit ist zugleich ein Neubeginn: »Ich ging in diesem Augenblicke in ein anderes Leben über, und dieses andere wird ein höheres, schöneres, edleres, unendlich wertvolleres sein.« (Ebd., 70) Schon in dem der Übergabe vorangegangenen Gespräch zeigte sich Kara Ben Nemsi als der überlegene »Geist«, der dem Ustad zum Beichtvater wird und dessen Lebensirrtümer schonungslos analysiert. Der Ustad ist auf der biographischen Ebene des Romans ein Bild des Schriftstellers May vor der Orientreise; auf der individualpsychologischen Ebene stellt er den in seinem Denken und Handeln unglücklich in Kämpfe mit gesellschaftlichen und religiösen Kräften verwickelten und nach Anerkennung, nach Berühmtheit strebenden »Geist« dar, der sich verbittert von der Welt zurückgezogen hat, die seine Botschaft nicht hören wollte, ihn verspottete und vertrieb, der seine Geisteskraft nur noch seiner Gemeinde widmet. Nach Kara Ben Nemsis »Stufen-Philosophie« vom »Geist« steht der Ustad auf einer zweiten Stufe, auf der der Mensch eine Verbindung von »Geist« und Körper ist: Der Körper, das Irdische, das Niedrige, bestimmt sein Handeln genauso stark wie das Denken. Die höhere, dritte Stufe des Menschseins ist dadurch gekennzeichnet, daß der »Geist« zusammen mit der »Seele«, dem Göttlichen, wirkt. Kara Ben Nemsi hat diese höhere Stufe erreicht, denn all seine Gedanken und Taten sind an einem idealchristlichen Glauben orientiert – nichts anderes bedeutet in diesem Zusammenhang für May »Seele« (»Der Geist wird ohne Seele nie den Weg empor zum Geiste aller Geister finden!«) (Ebd., 163).


//205//

   So wie die Figur Kara Ben Nemsi auf den zwei Ebenen »Handlungs-Ich« und »Symbol individualpsychologischer Bedeutung« eingesetzt wird, so meint May, auch in der autobiographischen Dimension des Romans allgemeinmenschliche Aussagen zu machen: Das Karl May-Problem ist das Menschheitsproblem, aus dem großen, alles umfassenden Plural in den Singular, in die einzelne Individualität transponiert. (»Mein Leben und Streben«, 12) Das klingt hybrid – und viele Kritiker haben May gerade deswegen harsch »ins Gebet genommen« –, aber im Grunde handelt es sich nur um eine veränderte Form der Ich-Mythen der früheren Werke. Ist in den Abenteuerromanen der Held der exemplarische Heros, an dessen Figur der Leser bewundernd eigenen Träumen nachgehen kann, so repräsentiert der Ich-Erzähler im Spätwerk den mit sich selbst ringenden Menschen Karl May, der exemplarisch aus den Tiefen eines gebrochenen Lebens in die Höhen reinen Menschentums (May nennt das Edelmenschentum) emporstrebt – und so wieder vorbildhaft wird für eine Menschheit, die sich – so Mays Ethik – aus den Banden eines kleinlichen Nationalismus und haßerfüllten Machtstrebens lösen soll.

   Nachdem er dem Ustad durch weitere Gespräche den rechten Weg zur Vervollkommnung gezeigt hat, ist Kara Ben Nemsis Funktion auf der individualpsychologischen Ebene beendet. Mit einem Traum wird der Übergang der Figur Kara Ben Nemsi in ein neues Bedeutungsfeld verdeutlicht: Ich weiß, ich träumte nicht, und dennoch war es mir, als ob ich träume. Wer war ich wohl, und wo befand ich mich? Ich atmete nicht, und doch war alles Odem! Ich bewegte mich nicht, und doch wallten tausend und abertausend Wogen unendlichen Glückes in mir. Meine Augen waren geschlossen, und dennoch sah ich Herrlichkeiten rings um mich her, die unbegreiflich sind. Und plötzlich hatte ich Flügel. Ich flog. Wohin? Durch Ewigkeiten! (»Im Reiche des silbernen Löwen IV«, 197) Kara Ben Nemsi ist nun – im Traum, d. h. auf der symbolischen Ebene des Romans – reines (utopisches) »Geistwesen«; er stellt das »Menschheits-Ich« dar, von May später auch »Menschheitsfrage« genannt:

   Ich teilte mir die Erde für ... meine besonderen Zwecke in zwei Hälften, in eine amerikanische und eine asiatisch-afrikanische ... In Amerika sollte eine männliche und in Asien eine weibliche Gestalt das Ideal bilden, an dem meine Leser ihr ethisches Wollen emporzuranken hätten. Die eine ist mein Winnetou, die andere Marah Durimeh geworden ... Die Hauptperson aller dieser Erzählungen sollte der Einheit wegen eine und dieselbe sein, ein beginnender Edelmensch, der sich nach und nach von allen Schlacken des Animamenschentumes reinigt. Für Amerika sollte er Old Shatterhand, für den Orient aber Kara Ben Nemsi heißen,


//206//

denn daß er ein Deutscher zu sein hatte, verstand sich ganz von selbst. Er mußte als selbst erzählend, also als »Icherzähler« dargestellt werden. Sein Ich ist keine Wirklichkeit, sondern dichterische Imagination. Doch, wenn dieses »Ich« auch nicht selbst existiert, so soll doch Alles, was von ihm erzählt wird, aus der Wirklichkeit geschöpft sein und zur Wirklichkeit werden. Dieser Old Shatterhand und dieser Kara Ben Nemsi, also dieses »Ich« ist als jene große Menschheitsfrage gedacht, welche von Gott selbst geschaffen wurde, als er durch das Paradies ging, um zu fragen: »Adam, d. i. Mensch, wo bist Du?« »Edelmensch, wo bist Du? Ich sehe nur gefallene, niedrige Menschen!« Diese Menschheitsfrage ist seitdem durch alle Zeiten und alle Länder des Erdkreises gegangen, laut rufend und laut klagend, hat aber nie eine Antwort erhalten ... Einmal aber muß und wird die Menschheit doch so hoch gestiegen sein, daß auf die bis dahin vergebliche Frage von irgendwoher die beglückende Antwort erfolgt »hier bin ich. Ich bin der erste Edelmensch, und Andere werden mir folgen!« So geht auch Old Shatterhand und so geht Kara Ben Nemsi durch die Länder, um nach Edelmenschen zu suchen. Und wo er keinen findet, da zeigt er durch sein eigenes edelmenschliches Verhalten, wie er sich ihn denkt. Und dieser imaginäre Old Shatterhand, dieser imginäre [!] Kara Ben Nemsi, dieses imaginäre »Ich« hat nicht imaginär zu bleiben, sondern sich zu realisieren, zu verwirklichen, und zwar in meinem Leser, der innerlich Alles mit erlebt und darum gleich meinen Gestalten emporsteigt und sich veredelt. (»Mein Leben und Streben«, 143ff.)

   Die Umsetzung dieser Idee im »Silberlöwe«-Roman erfolgt als großangelegte Auseinandersetzung mit dem Thema Religion(en). Auf der Handlungsebene tritt Kara Ben Nemsi als Vertreter des Ustad dem anmaßend auftretenden Scheik ul Islam entgegen und weist den Mächtigen furchtlos in seine Schranken. Der Scheik ul Islam ist als heuchlerisches, macht- und besitzgieriges Oberhaupt der Taki-Kurden (Taki = fromm) Symbol für in Hierarchie verknöcherte, inhaltlich entleerte, die Gläubigen in Dummheit und Abhängigkeit haltende Religionen. Diese Art der Religion wird – das sei vorweggenommen – am Ende des Romans durch den Tod des Scheik ul Islam und den Einsturz der Ruinen vernichtet. Die Ruinen sind ein monumentales Bauwerk im Tal der Dschamikun, das die Religionen der verschiedenen Zeitalter, jeweils ihre Stufe auf die der vorhergehenden setzend, auftürmten. Kara Ben Nemsi erforscht mit Kara Ben Halef das Fundament der Ruinen. Sie wurden auf riesigen, stark einsturzgefährdeten Säulen, die in einem Wasserbassin stehen, gebaut: Bei der Untersuchung der Grundlagen der historischen Religionen der Menschheit findet Kara Ben Nemsi nur


//207//

Dunkelheit, Moder und Haltlosigkeit. Nach der anstrengenden Exkursion fällt Kara Ben Nemsi in einen tiefen Schlaf; er träumt einen »Großen Traum« (»Im Reiche des silbernen Löwen IV«, 314 pass.).

   Er träumt zunächst, er sei identisch mit dem Ustad. Dieser dringt in die Ruinen ein und trifft dort auf die »Schatten« und den Zauberer, Symbole für nur noch auf Lüge, Herrschaft, Reichtum und Ausbeutung ausgerichtete Religionsstrukturen. Der Zauberer will ihn verführen, auch ein »Schatten« zu werden. Der Ustad lehnt ab; vor die Wahl gestellt, mitzumachen oder zu sterben, wählt er den Tod. Jetzt ändert sich der Traum: nicht mehr der Ustad, sondern Kara Ben Nemsi selbst handelt. Er stößt den Zauberer in die Tiefe, in das Bassin, und springt freiwillig hinterher. Er rettet sich und den Zauberer auf einen Sockel. Von überall aus dem Bassin drängen sich nun plötzlich unzählige Skelette um den Sockel: Die von den »Schatten« ins Bassin gestürzten gescheiterten Gottsucher, Religionskritiker, Abtrünnigen. Kara Ben Nemsi nahm im Gegensatz zu diesen versteinerten »Geistern« den Sprung in die Tiefe (in den Tod) freiwillig auf sich. Damit überwindet er den Tod und kann sie, indem er sie beten lehrt, ihrem Fluch den Segen entgegensetzt, erlösen.

   Im »Großen Traum« wird die Figur Kara Ben Nemsi zum Christusnachfolger. Er erlöst die Menschheit aus falschen Gottesvorstellungen und führt sie auf den rechten (christlichen) Glaubensweg.

   Als Menschheits-Ich tritt Kara Ben Nemsi im Roman nicht mehr auf, nach dem Erwachen widmet er sich – jetzt wieder auf der Handlungsebene (und der autobiographischen Ebene) des Romans – einem Wettrennen: Die Dschamikun veranstalten ein Wettrennen mit den verschiedensten Reittieren, zu dem sämtliche Feinde der Dschamikun erwartet werden. Auch Kara Ben Nemsi will, obwohl er noch nicht wieder völlig gesundet ist, an dem Rennen teilnehmen. Er wird ein besonderes Pferd reiten, das ihm vom Schah-in-Schah zur Verfügung gestellte Wunderpferd »Syrr« (Geheimnis). Dieses Pferd ist als »Roß der Himmelsphantasie« Symbol der neuen Werke Karl Mays. Mit diesem Rappen (mit der neuen Art zu schreiben) tritt Kara Ben Nemsi (May) gegen Ahriman Mirza, den Hauptfeind der Dschamikun (biographisch: ein scharfer Kritiker der Abenteuerromane Mays), der das Pferd »Teufel« reitet, an und besiegt ihn.

   Zusammenfassend darf gesagt werden, daß die Umgestaltung der Figur Kara Ben Nemsi – gemessen an Mays Konzept (was immer man davon hält) – durchaus gelungen ist. Der Einsatz auf den verschiedenen Ebenen des Romans in genau konzipierten, abwechslungsreichen Funktionen hebt die Figur literarisch gesehen über die bisher von May


//208//

gestalteten Charaktere hinaus. Daß man der Figur dennoch nicht recht froh wird, liegt daran, daß es sich nun nicht mehr um eine den psychischen Bedürfnissen des Autors entspringende (und damit gewissermaßen »natürliche«) Kompensationsfigur handelt, sondern um ein für ein theoretisches Konstrukt geschaffenes Demonstrationsobjekt. Carl Zuckmayer charakterisiert das Faszinosum der Mayschen Ich-Helden so: »(...) eine bleibende Wirkung (entsteht) nur dann, wenn der Leser oder Hörer sich blindlings und ohne weiter darüber nachzudenken mit der geschaffenen Gestalt, ihren Gefühlen, Schicksalen und Handlungen, gleichsetzt; wenn er um ihr Leben bangt, wie um sein eigenes; wenn er sich ihrer Fehler schämt, ihrer Erfolge freut, als hätte er sie selbst erlebt und erlitten; wenn er sich insgeheim, vielleicht ohne klarbewußte Vorstellung, wünscht, so zu sein wie der, von dem er da liest (...) ja, wenn er im tiefsten Innern glaubt, so zu sein (...) dieses »Ich« gleicht der Idealvorstellung, die jeder Mann im Grunde seines Herzens als Wunsch, Traum oder Einbildung von sich selber trägt (...)«(21) Eine solche Wirkung hat der neue Kara Ben Nemsi nicht mehr. Dem Leser wurde die Lesefreude an einer der gelungensten May-Figuren genommen.

   Genau hierin liegt eines der Hauptprobleme, mit dem May sich in seinem Spätwerk auseinandersetzen mußte: auf der einen Seite hatte er ganz neue, »höhere«, literarische Intentionen, andererseits konnte er sich von den alten Figuren und Motiven, die ihm vertraut waren, die »typisch« für ihn waren, nicht trennen. Der »Silberlöwe« war der erste Versuch, die Figur Kara Ben Nemsi in das »eigentliche« Werk zu integrieren. Daß die Figur noch nicht vollständig dem neuen Konzept entsprach, kann man einer Bemerkung Schakaras gegen Ende des »Silberlöwe«-Romans (»Im Reiche des silbernen Löwen IV«, 505f.) entnehmen; sie weist Kara Ben Nemsi darauf hin, daß auch er noch Stufen zu steigen hat: hinauf zu Marah Durimeh nämlich, der Menschheitsseele. Dem »Geist-Seele-Konzept« Mays zufolge sollen ja »Geist« und »Seele« harmonisch miteinander agieren, um Vollkommenes schaffen zu können. Im »Silberlöwen« agiert jedoch nur das Menschheits-Ich, die Menschheitsseele wird nur erwähnt; sie läßt (durch Schakara) das Geschehen beobachten und sendet aus der Ferne Hilfstruppen.

   Nachdem er sich in seinem Drama »Babel und Bibel« intensiver mit der Figur der Menschheitsseele beschäftigt hatte, schrieb May den Roman »Der 'Mir von Dschinnistan« (1907–09). Der »Dschinnistan«-Roman spielt im mythischen Reich Sitara, dessen Herrscherin Marah Durimeh ist. Zu Sitara gehören die Gebiete Ardistan und Dschinnistan (und das Grenzgebiet Märdistan). Von Marah Durimeh erhält Kara


//209//

Ben Nemsi als ihr Sonderbotschafter den Auftrag, einen drohenden Krieg zwischen Ardistan (Land der Gewaltmenschen) und Dschinnistan (Land der Edelmenschen) zu verhindern. Auf dem Weg nach Ard, der Hauptstadt Ardistans, kommt Kara Ben Nemsi (begleitet von Halef) zu den Ussul, den »Körpermenschen«, die den Dschirbani, den werdenden Edelmenschen, gefangenhalten. Kara Ben Nemsi befreit ihn. Eine Schlacht zwischen den Ussul, den Tschoban und den Dschunub wird in alter May-Manier durch Einschließen in ein Tal verhindert. In Ard deckt Kara Ben Nemsi eine Revolution gegen den Mir von Ardistan auf und beeinflußt den Mir (den Gewaltmenschen) durch die Inszenierung eines Weihnachtsfestes in christlichem Sinne. Der Krieg mit Dschinnistan wird verhindert, und der Mir ist bereit, die beschwerliche Wandlung zum Edelmenschen durchzumachen.

   Wie man sieht, arbeitet May in diesem Roman wieder verstärkt mit Abenteuerroman-Motiven. Doch ist der »Dschinnistan«-Roman kein Abenteuerroman im gewohnten Sinne; es geht darin »einmal um die Veranschaulichung des Wesens und Werdens des  E i n z e l m e n s c h e n  und seiner ihm von der Menschheitsidee aufgetragenen Entwicklung vom primitiven Körper- und Gewaltmenschen zum Edelmenschen als dem Abbild des Göttlichen; zum anderen um die Entwicklung der Gesamtmenschheit aus dem Leid scheinbar unaufhörlichen Kriegszustandes zum »Weltfrieden« (...) Nun besteht Mays »neue Psychologie« darin, daß er den Menschen auffaßt als die Integration der vier konstituierenden Elemente Körper, Anima (= Triebleben), Geist und Seele. Diese vier werden allegorisch als Einzelfiguren verbildlicht, die zusammenkommen und zusammenwirken müssen, um den Menschen zu ergeben, der dann sein Ziel der Veredelung anzustreben vermag.«(22) Kara Ben Nemsi figuriert in diesem Konzept als der »Geist«, der in Zusammenarbeit mit Gott (Mir von Dschinnistan), Menschheitsseele, Seele (Dschirbani), Anima (Halef) und einer Ussul-Tschoban-Dschunub-Armee (Körper) die hohen Ziele der Menschheitsseele verwirklicht.

   Gegenüber dem »Silberlöwe«-Roman gelang es May im »Dschinnistan«-Roman, die symbolisch-allegorische Ebene und die Abenteuerhandlungsebene ausgewogen miteinander zu vermischen, so daß der Roman auch Lesern, die stärker den Abenteuerromanen Mays zugeneigt sind, gefallen kann. Die Figur Kara Ben Nemsi wird wieder Hauptakteur auf der Handlungsebene. Die Figur wurde von einigen Übertreibungen der Abenteurer-Phase befreit, ihre Symbolfunktion nicht so sehr in langen Gesprächen und Träumen, sondern mehr in Bildern und Aktionen ausgedrückt. So schuf May »eine ins Mystische wei-


//210//

sende [weisende] literarische Objektivierung seiner omnipotenten Ich-Gestalt (...) »die Verwirklichung der immer gesuchten vollen Integration des Ichs in der Utopie.««(23)

*

Der Wortlaut des Lexikon-Textes wurde beibehalten. Da für das Lexikon jedoch mit Sigeln auf die jeweils zitierten Texte verwiesen wird, mußten für das Jahrbuch die bibliographischen Angaben im Text und in den Zitaten ergänzt werden (das Lexikon enthält zu diesem Zwecke ein Sigelverzeichnis mit ausführlichen bibliographischen Daten).

Im Text wird aus folgenden May–Werken zitiert:

Karl May: Leilet. In: Feierstunden am häuslichen Heerde. 1. Jg. (1876/77); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1972

Karl May: Die Gum. In: Frohe Stunden. 2. Jg. (1877/78); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1971

Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. I: Durch Wüste und Harem. Freiburg 1892

Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. II: Durchs wilde Kurdistan. Freiburg 1892

Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. III: Von Bagdad nach Stambul. Freiburg 1892

Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. IV: In den Schluchten des Balkan. Freiburg 1892

Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. V: Durch das Land der Skipetaren. Freiburg 1892

Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. VI: Der Schut. Freiburg 1892

Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XVI: Im Lande des Mahdi I. Freiburg 1895/96

Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXV: Am Jenseits. Freiburg 1899

Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXVI: Im Reiche des silbernen Löwen I. Freiburg 1898

Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXVIII: Im Reiche des silbernen Löwen III. Freiburg 1902

Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXIX: Im Reiche des silbernen Löwen IV. Freiburg 1903

Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o. J. (1910); Reprint Hildesheim-New York 1975. Hrsg. von Hainer Plaul

*

1   Halef konnte den Namen Karl nicht aussprechen und verballhornte ihn zu Kara, der Zusatz »Sohn«/Nachkomme der Deutschen stammt ebenfalls von ihm. Bemerkenswert ist, daß »Nemsi« eigentlich nicht einen Deutschen, sondern einen Österreicher bezeichnet. Vgl. Karl May: Durch Wüste und Harem, wie Vorbemerkung, S. 39. In »Eine Befreiung« wird folgende Erklärung gegeben: Kara heißt »schwarz« und Ben Nemsi »Sohn der Deutschen.« Ich trug einen dunklen Bart und war ein Deutscher, daher dieser Name. (Karl May: Eine Befreiung. In: Die Rose von Kairwan. Osnabrück 1894, S. 246, Reprint Hildesheim-New York)

2   1892 erschien der Roman mit seinen Fortsetzungen als Band 1–6 der Gesammelten Reiseromane Mays.

3   Unter dem Titel »Unter Würgern« erschien sie 1878/79 – erweitert und überarbeitet – im »Deutschen Hausschatz« und wurde 1893/94 mit dem Titel »Die Gum« in den Band »Orangen und Datteln«, Band 10 der Gesammelten Reiseromane, übernommen.

4   Alfred Brehm: Eine Rose des Morgenlandes. In: Die Gartenlaube (1858)

5   Die Legitimationen hat Kara Ben Nemsi von Mustapha Moharrem Aga, einem Türsteher der »Hohen Pforte«, bezogen (Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXVII: Im Reiche des silbernen Löwen II. Freiburg 1898, S. 98f.).


//211//

6   Das Verhältnis Kara Ben Nemsi/Marah Durimeh gehört einer anderen Ebene an, das zu Hanneh, der Frau seines Freundes und Gefährten Halef, fällt ebenfalls aus dem Rahmen dieser Betrachtung. Der Umgang mit Hanneh ist von Zuneigung und Freundschaft geprägt, er gewinnt jedoch erst im Spätwerk Konturen, als Hanneh mit Kara Ben Nemsi Gespräche über Religion und über die Seele der Frau führt. – Eine einzige Ausnahme gibt es: In »Krumir« (Karl May: Der Krumir. In: Gesammelte Reiseromane Bd. X: Orangen und Datteln. Freiburg 1893/94) küßt Kara Ben Nemsi Dschumeilah auf die warmen, nicht widerstrebenden Lippen (345). Er ist fasziniert von der schönen Beduinin: Wäre ich ein Beduine gewesen, so hätte es leicht sein können, daß sie meine Mochallah geworden wäre. (346 – Mochallah ist die Geliebte von Kara Ben Nemsis Begleiter Achmed es Salah.) Es ist jedoch zu beachten, daß der Ich-Erzähler originär nicht Kara Ben Nemsi ist, zu dem er erst durch die Aufnahme der Erzählung in die Gesammelten Reiseerzählungen wird. (Textänderung gegenüber dem Lexikonartikel)

7   Wichtige, aufschlußreiche Spur im Detektivroman

8   Allenfalls könnte man den gelegentlichen »Unterricht« im Spurenlesen, den Kara Ben Nemsi Halef und Kara Ben Halef erteilt, in diesem Sinne deuten.

9   Kara Ben Nemsi selbst wird zweimal ernsthaft krank. Darauf wird weiter unten näher eingegangen.

10   Das zeigen die sehr häufigen Schießdemonstrationen, mit denen Eindruck bei den nur mit einfachen Flinten bewaffneten Einheimischen geschunden wird.

11   May hat Burtons Reisebeschreibung (Burtons Reisen nach Mekka und Medina und in das Somaliland und Härrär in Ostafrika. Leipzig 1861. Hrsg. von Karl Andree) für die Gestaltung der Härrär-Episode des »Waldröschen« benutzt. Burtons Werk stand in Mays Bibliothek.

12   In dem Roman »In Mekka«, der in die Radebeuler/Bamberger Reihe als Band 50 aufgenommen wurde, hat Franz Kandolf einen zweiten Besuch Mekkas geschildert.

13   Das erinnert etwa an die Herausforderung der heidnischen Götter durch die frühchristlichen Missionare.

14   May hat solche – gewissermaßen entkörperlichten – Zustände häufiger beschrieben, so in den Fieber-Phantasien Wallers (»Und Friede auf Erden«) und Halefs (»Im Reiche des silbernen Löwen III«) und zu Anfang von »Der 'Mir von Dschinnistan« in den Gedanken Halefs über das »Unterbewußtsein« und die Psychologie. Die zitierte Stelle belegt, daß auch im scheinbar nur aufs Äußerlich-Abenteuerliche beschränkten Orientzyklus schon die »Schwelle« vom Körperlichen zum Geistig-Seelischen, jene »Übergangsangst« aus der das Spätwerk »menschheits-psychologische« Theorien schmiedet, angelegt ist.

15   Der für die Buchausgabe aus Umfanggründen neugeschriebene »Anhang« mit dem Tod Rihs ist kein integraler Bestandteil des Orientzyklus.

16   Auch das Bärenabenteuer in »Im Lande des Mahdi III« dient diesem Zweck.

17   Brief Karl Mays an Fehsenfeld vom 13.3.1899; zitiert nach Roland Schmid: Nachwort (zu »Am Jenseits«). In: Karl May: Freiburger Erstausgaben Bd. XXV. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1984, N18

18   Karl May: Brief an Fehsenfeld vom 10.9.1900. Faksimile in: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1984. Husum 1984, S. 167–70 (167)

19   Der Begriff »individualpsychologisch« wird hier nicht als Fachterminus verwendet, er steht für Mays Vorstellung von der Seele des Einzelmenschen, die durch seine Gedanken zur Menschheitsseele ergänzt wird. Vgl. zum »Leib-Seele-Konzept« Mays: Sybille Becker: Karl Mays Philosophie im Spätwerk. Materialien zur Karl-May-Forschung. Band 3. Ubstadt 1977, S. 10–22.

20   Es wird auf ein Gespräch Kara Ben Nemsi/Halef angespielt, in dem Halef sein Wesen als zweigeteilt sieht: Der »Hadschi« ist der unbesonnene, prahlerische, rachsüchtige Teil, der überwunden werden muß. Der »Halef« stellt die freundliche, edle, aufopferungsvolle Seite dar (Karl May: Im Reiche des silbernen Löwen III, wie Vorbemerkung, S. 110).

21   Carl Zuckmayer: Palaver mit jungen Kriegern über den großen Häuptling Karl May. In: Karl-May-Jahrbuch 1930. Radebeul 1930, S. 41f.


//212//

22   Heinz Stolte: Werkartikel, Ardistan und Dschinnistan I–II«. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 315

23   Martin Lowsky: Karl May. Stuttgart 1987, S. 117 (Sammlung Metzler 231); das Binnenzitat: Hans Wollschläger: Das »eigentliche Werk«. Vorläufige Bemerkungen zu »Ardistan und Dschinnistan«. In: Jb-KMG 1977. Hamburg 1977, S. 63


Inhaltsverzeichnis


Alle Jahrbücher


Titelseite

Impressum Datenschutz