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MARTIN LOWSKY

»Paris oder London« · Weltstadt und
Weltstädtisches in Karl Mays Ardistan
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Im Juli 1906 schreibt Karl May an den Maler Sascha Schneider: Ich will ... Ihnen ... für meine nächste Arbeit einen gewaltigen Krieg mit einem der größten Helden und der Eroberung einer Millionenstadt versprechen.(1) Diese starken Worte des alten May stehen am Ende eines Briefes, in dem er die Kritik Schneiders an seinem Drama >Babel und Bibel< zurückweist, und um aber dem Freund, der sich von May mehr heldische Abenteuer wünschte, dennoch entgegenzukommen, macht er ihm diese Ankündigung. May hatte hier seinen >Kyros< vor Augen, den Plan eines neuen Dramas, den er aber bald danach fallen ließ. Sein Versprechen über den Krieg, die Riesenstadt und die Eroberung hat er indes erfüllt, in seiner großen allegorischen Reiseerzählung >Ardistan und Dschinnistan<. Im zweiten Band dieses Werkes, der 1908 begonnen wurde, erreicht der Held und Ich-Erzähler Kara Ben Nemsi die Hauptstadt von Ardistan namens Ard. Ard, in dem mehrere Kapitel spielen, ist in der Tat eine Weltstadt, denn der Erzähler zieht, als er und sein Freund mit ihren Begleitern durch die Straßen der Stadt traben, diesen Vergleich: Es war genau so, wie wenn zwei Deutsche mit einigen Einheimischen durch die Straßen von Paris oder London reiten.(2) Diese Riesenstadt wird dann auch erobert, nur nicht in kriegerischer Weise - wenngleich hier der Krieg gegen das edle Dschinnistan geplant wurde -: die Akteure sorgen dafür, daß in dieser Stadt, wo die Christen nur Druck und Leid (169) erfahren hatten, das Weihnachtsfest zum offiziellen Staatsfest erklärt wird. Zu Tausenden eilen die Bürger herbei, aus den erst geplanten drei Feiertagen wurden sieben (223). Nicht daß sie alle Christen werden wollten, es wirkt da eine andere Verlockung, über die noch zu reden sein wird. Doch ein politisches Ziel, die Rehabilitierung der christlichen Bevölkerung, wird bei diesem Siegeszug des Weihnachtsfestes erreicht.

Es ist ein bizarrer Gedanke, die Motive Großstadt und Weihnachten

*Vortrag, gehalten am 27.9.1991 auf der 11. Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Wiesbaden.


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zu verknüpfen, und wenn man bedenkt, welche psychische Brisanz Weihnacht und Weihnachtliches in Mays gesamtem Werk hat, so wird klar, daß dem alten May das Thema Stadt am Herzen gelegen haben muß. Diese späte Aktualität des Stadt-Motivs zeigt etwa der Schluß von >Winnetou IV<, wo in der Wildnis der Indianer eine Großstadt gebaut wird, und sie macht sich schon im Roman >»Weihnacht!«< (1897) bemerkbar, wo Old Shatterhand mitteilt, daß er nach den Abenteuern gern in den Städten pausiert, um für die Zeitungen Berichte zu schreiben.(3) Der Held, der sich selbst zum Poeten erklärt, braucht fortan die Stadt als Betätigungsfeld; und offenbar ist dies eine Rückbesinnung Mays an seine schriftstellerischen Anfänge in Dresden. Nach all dem lebenslangen Streben in die stadtfernen Abenteuerbezirke des Orients und des Wilden Westens kehrt der alte May literarisch in die Stadt zurück. Auch unser Ard ist der Ort schriftstellerischen Agierens, denn dort wird, so erzählt uns May, eine Weihnachts-Festschrift (174) entworfen. Er läßt sogar eigens die Frage erörtern, wer als ihr Verfasser zeichnen und wer sie drucken darf, und erinnert damit deutlich und unverkrampft an seine frühen Jahre als Redakteur und Heftchenautor.

   Doch wollen wir die Anklänge an Dresden nicht überbewerten; es gibt einen Hinweis von Hansotto Hatzig, der wieder Sascha Schneider betrifft. Hatzig interpretiert Ard als die Stadt Weimar und sieht in den Verwicklungen um den Fürsten von Ard das Schicksal des zur Flucht gezwungenen Sascha Schneider gespiegelt.(4) Mays eigene Worte im Roman greifen freilich noch ein Stück höher in der Skala der europäischen Städte, wenn er Ard mit Paris und London vergleicht.

   Es bietet sich auch eine andere Perspektive an. May hat sein Motiv der Großstadt mit den Mythen verbunden, und ein Vorbild ist besonders erwähnenswert. Da gibt es die andere berühmte Geschichte von einem Helden, der auf die Reise geschickt wird: Er bekommt den göttlichen Auftrag, in eine fremde Gegend zu ziehen, soll dort die Menschen warnen vor den Mißständen, die bei ihnen eingerissen sind, und sie zu retten versuchen. Nach mancherlei Abenteuern, unter anderen einer dreitägigen Fahrt übers Meer, gelangt er schließlich an das Ziel, eine große Stadt. Er hat Erfolg; die Menschen dort, vor allem ihr Herrscher, besinnen sich und tun Buße, auch Tiere treten auf - und sie tun Buße. Büßende Tiere? Vielleicht erst an dieser Stelle merken wir, daß soeben nicht von Mays >Ardistan und Dschinnistan< berichtet wurde, sondern aus dem Buch >Jona< des Alten Testamentes. Die Ähnlichkeiten zwischen Kara Ben Nemsis Fahrt nach Ardistan und Jonas Reise nach Ninive sind überraschend. Sogar die Unlust des Propheten Jona, zu den Leuten von Ninive zu reisen, findet sich bei May wieder, wenn


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im Laufe von Kara Ben Nemsis Vorbereitungen für die Abreise nach Ardistan Halef zu schmollen beginnt. Überhaupt wiederholt sich in der Figur des Halef, so wie er in >Ardistan und Dschinnistan< erscheint, der didaktische Zug des Geschehens um Jona, diesen allzu ichbezogenen Mann.(5) Doch bleiben wir bei dem Haupthelden! Dem' dreitägigen Aufenthalt Jonas im Walfisch, wo er um Hilfe betet, entspricht die dreitägige Fahrt Kara Ben Nemsis in dem alten Segler, wo er ethnographische Fachliteratur durcharbeitet. Aus dem passiv hoffenden Helden ist der lesende, mit dem Kopf schaffende Reiseheld geworden. In diesem Sinne hat die Stadt Ard dann drei Universitäten und, wie May weiter schreibt, eine Menge Schulen für den gewöhnlichen Mann. (167) Eine dreitägige Fahrt im Bauch eines Schiffes findet übrigens schon in Mays >Durch die Wüste< statt, auf dem Wege nach Mekka, so daß sich May schon damals vom Propheten Jona hat anregen lassen - ganz abgesehen davon, daß das bedrückende Abenteuer Jonas im dunklen Fisch samt dem abschließenden Ausgespienwerden das Thema der Initiation vorwegnimmt, das bekanntlich alle Abenteuerliteratur durchzieht.(6)

   Mays Anlehnung an das Buch Jona - die wohl noch wichtiger ist als die oft genannte Verbindung zu Bunyans >The Pilgrim's Progress< - gibt dem Stadt-Motiv einen mythischen Hintergrund. May selbst nennt gerade im Zusammenhang mit dem Reiseziel der Großstadt explizit das mythische Potential seines Werkes, wenn er im Roman verkünden läßt, daß seine Stadt Ard einstmals an den vier Flüssen des Paradieses gelegen habe (92). Die Mythisierung der modernen Stadt ist freilich nichts Außergewöhnliches in der Literatur der Jahrhundertwende, und die Verquickung der Jona-Geschichte mit einem modernen Großstadt-Entwurf hat auch ihre literarische Tradition. Voltaire wäre da zu nennen, der in seiner philosophischen Erzählung >Le monde comme il va< (>Der Lauf der Welt<, 1748) ebenfalls die Ausfahrt eines Helden beschreibt, der auf einen himmlischen Auftrag hin die hochzivilisierte Stadt Persepolis besucht, deren Untergang die Götter erwägen. Auch bei Karl May ist die Großstadt diejenige Etappe der Roman-Reise, die die am höchsten entwickelte Gesellschaftsform ihrer Zeit darstellen soll.


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Gehen wir in die Details. In welcher Weise hat May das Motiv der Großstadt erzählerisch entfaltet? Vor allem fällt, wenn Mays Held sich der Stadt nähert (S. 89-91), ein Hang zur genauen oder schon überge-


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nauen Angabe auf. Es war etwas über zwei Monate später, lesen wir, (u)nsere Eskorte hatte uns schon anderthalb Tage lang durch ein Land geführt, welches sich immer ... fruchtbarer zeigte, man trifft in der Nähe von Ard Menschen, die entweder dorthin gingen oder von dorther kamen, und dann ist die Rede vom großen Prozentsatz der Militärpersonen. Diese Exaktheit hört sich sogar schneidig-militärisch an, zumal zu Beginn dieses Kapitels vom stark vermehrten Heere des Dschirbani die Rede ist. Andererseits birgt diese Präzision mit all den Zahlenangaben - die wir schon bei Jona finden, wo es heißt, Ninive sei »drei Tagesreisen« groß - ihre mathematische Seite, und dieses Mathematische der Erzählweise greift schließlich auf das Stoffliche über: die Stadt präsentiert sich als eine geometrische Konstruktion. Im Mittelpunkt der Stadt steht nämlich, von weitem sichtbar, das Schloß, das nach Nord, Süd, Ost und West von vier gewaltigen Türmen flankiert wurde, die einander auf das Genaueste glichen ... (92) Das ist eine geometrisch präzise, aber auch eine phantasielos symmetrische Architektur; sie hat etwas Einschüchterndes an sich, vermittelt ein Gefühl der Stagnation und Verplanung. Man mag hier an Campanellas >Sonnenstaat< denken, jenes utopische Staatsgebilde, das den Zufall nicht bei sich dulden wollte und dies schon mit seiner exakt symmetrischen Architektur ankündigte. »Militärgeometrie« hat Ernst Bloch sie genannt.(7)

   Doch bei May entsteht dieser Eindruck des Verplant- und Fixiertseins nur für einen Augenblick. Denn er geht sogleich auf die vier Türme näher ein und schreibt, daß sie sich nach oben hin immer feiner und feiner filigranisierten, so daß ihre Spitzen sich in Aether zu verwandeln und ganz in ihm zu verschwinden schienen. (92) Die geometrische Konstruktion entgleitet unserem Blick, sie gibt ihre Starrheit auf und gewinnt doch eine eigene Schärfe. Aber May sagt noch mehr! An die vier Türme schließen sich kleinere Kuppeln an, die, wie es heißt, eine Interpunktion von gleichmäßig kleineren Türmen bekamen und in eine weitere Folge von immer tiefer herabsteigenden Kuppeln, Türmen und Türmchen verliefen, bis der hoch aufgeschwungene Grundgedanke die Erde wieder erreichte, aus der er gestiegen war. Was May mit diesen zarten und klaren Linien evoziert, diesen Punktreihen, die über einem Zentrum unsichtbar weit hochsteigen und wiederum fern von diesem Zentrum allmählich zur Erde zurückfinden, ist der Verlauf von Hyperbeln, also von mathematischen Kurven höherer Ordnung. So wie die vier Hyperbeläste angelegt sind, entstehen sogar die Umrisse eines räumlichen Gebildes, eines Baus von federleichter Monumentalität. Die konkreten Zahlenangaben und die simple Geometrie der vier Himmelsrichtungen, die zuerst erscheinen, werden in abstrakte Mathematik


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übergeführt. Es gibt keine andere Stelle bei Karl May, wo er visuelle Bilder von so ungegenständlicher Form ersinnt. Allenfalls vergleichbar mit den Hyperbel-Linien sind die ellipsenförmigen Felsenkesseln im 4. Band >Winnetou<, die für die Bündelung akustischer Linien sorgen, und daß bei May gerade die Hyperbel und die Ellipse auftreten, ist ein merkwürdiger Umstand: die eine ist ja, gemäß der Theorie der Kegelschnitte, das Gegenstück der anderen.

   Doch auch wenn wir die Mathematik beiseite lassen, beeindrucken die Linien, die oben und unten ins Unsichtbare verlaufen. Der Gegensatz zwischen Irdischem und Überirdischem scheint sich in der Vision aufzulösen. May war offenbar die Trennung zwischen unten und oben, zwischen dem ardistanischen Tiefland und dem dschinnistanischen Hochland nicht mehr so wichtig. Jedenfalls sind die hochstrebenden Linien eine Vorausdeutung auf die Evolution des Städtischen, die sich bald in Ardistan abspielen wird. Sagen wir kurz: in dieser Szene richtet sich der Blick nicht auf das, was ist, sondern das, was wird.

   Überhaupt sorgt der erzählerische Elan, den May vor den Toren Ards entfaltet und der sich von der Genauigkeit einfacher Namen- und Zahlenangaben bis zu geometrisch-abstrakten Visionen erstreckt, für einen besonderen Akzent im Romangefüge. Die Passage bildet ein Gegengewicht zu den vorausgehenden Erlebnissen in Ussulistan, dem Land der rutschigen Feuchtigkeiten, wo die Gebäude schief und dunkel sind und nicht einmal das Reiterdenkmal vollendet ist. Dahinter verbirgt sich der Kontrast zwischen Urmenschentum und entwickelter Zivilisation, und ihn hat May in einer Binnenepisode in schöner Weise wiederholt: kurz nach seiner Ankunft im Zentrum von Ard tritt der Held aus dem dunklen Schloßgang in den prächtigen Thronsaal mit seinen Licht- und Strahlenbrechungen (99), der sich plötzlich panoramaartig vor ihm auftut. Die >Panoramen< des 19. Jahrhunderts, die ihren Besuchern künstlich aufgebaute Szenerien zeigten, arbeiteten genau mit diesen Hell-Dunkel-Effekten. Das Licht bei May ist nicht nur ein Zeichen der Zivilisation, sondern es spielt auch, da es übermäßig grell ist, auf die Präsenz der politischen Macht an.

   Der Hang zur Präzision und zum Mathematischen, der die Szene vor der Stadt Ard prägt, ist ein grundsätzliches Zeichen für die entwickelte Zivilisation dieser Metropole. Dieser Gedanke läßt sich noch in eine Richtung vertiefen. Wir erwähnten schon den militärischen Anteil an dieser Präzision, also den verschiedentlich geradezu schneidigen Ton des Erzählers, und wenn wir jetzt noch bedenken, daß die geometrische Architektur, wie wir sahen, auch eine abstrakte Wissenschaftlichkeit vorführt, so können wir sagen, daß sich beim Blick auf Ard eine


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patriarchalische Kultur abzeichnet. Die Stadt Ard, wo, wie der Leser seit langem weiß, der Herrscher den Krieg gegen Dschinnistan präpariert und die später auch für Kara Ben Nemsi die Operationsbasis (May benutzt das Wort!, 533) wird, ist der Ort männlichen Denkens und Handelns. Das steht natürlich im Einklang damit, daß überhaupt unsere moderne Kultur, wie wir alle wissen, im Kern eine Männer-Kultur ist, und doch ist die These vom >männlichen Ard< kein Gemeinplatz. Denn es ging May - und da mag er an seinen Freund Schneider gedacht haben - auch darum, speziell den patrizentrischen Charakter des modernen Ard bloßzustellen. Um diese Tendenz und damit Mays Konzept der Weltstadt recht zu erfassen, müssen wir uns jener Stadt in Ardistan zuwenden, in der nicht nur die Männer schalten und walten, nämlich der sogenannten >Totenstadt<.

   In dieser alten, abseits der Verkehrswege gelegenen Stadt läßt May nicht eine Kriegsmaschinerie auf die Besucher warten, sondern Kammern voller Getreide, hier gilt nicht der Grundsatz des Erkämpfenmüssens, ja nicht einmal das Gebot der Gerechtigkeit (auch dieses ist ein männliches Prinzip), sondern der Grundsatz einer alliebenden Fürsorge. Hier ist es auch, wo in einer nächtlichen Gerichtsrunde der Mir von Ardistan selbstlos die Schuld aller seiner Ahnen auf sich nimmt. Und wenn wir, um nach konkreten Bildern zu suchen, in Ard die zum Himmel strebenden Türme sahen, so finden wir in der Totenstadt ein innerleiblich anmutendes Ambiente: die langen unterirdischen Gänge, die diesen Ort geheimnisvoll durchziehen und zunächst immer ihr Ende haben, sind Darstellungen des weiblichen Körpers. Auch der Eintritt in die Stadt (291), als sich ihre Torflügel auftun (zwei äußere und zwei innere), malt unübersehbar die weibliche Anatomie aus. Kurz zuvor, ehe es in die Höhlen dieser Stadt geht, sagt der Erzähler ausdrücklich, sie liege vor ihm wie der ohnmächtig zur Erde gesunkene Körper eines schönen Weibes (287). Als Gefängnis, als Ort der dunklen Abschließung, hat die Totenstadt ebenfalls feminine Züge; Christoph F. Lorenz hat darauf hingewiesen.(8) In dieser Stadt ist der Mir, so sagt er, einst als Knabe ... herumgekrochen (289) und hat alle Wege kennengelernt, doch seine Erinnerung erweist sich, wenn er und seine Freunde dann die Stadt durchstreifen, als trübe und trügerisch. Allen Menschen, so möchte man sofort diese Stelle interpretieren, geht es ebenso: sie meinen über ihre Herkunft von der Mutter gut Bescheid zu wissen, doch das mütterliche Prinzip, die bedingungslose Liebe, ist ihnen im Laufe ihres Lebens fremd geworden. Die Reise in die Totenstadt ist eine Reise zu den Müttern. Wenn die dort Eingeschlossenen im Tempel schließlich aufwärts steigen und plötzlich zu den hohen Bergen blicken


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können, so haben sie ihre zweite Geburt vollzogen. Später fließt das Wasser in die Totenstadt zurück und gibt ihr Leben - das weibliche Prinzip wird wieder in sein Recht gesetzt.

   Mit seiner Totenstadt, die ihren Namen bald nicht mehr verdient, unternimmt May eine Hommage an das Weibliche. Wir wollen dies festhalten, denn auf den ersten Blick könnte man denken, Mays Vision von einer fast abgestorbenen Metropole ließe sich in die Literatur der Dekadenz um die Jahrhundertwende einordnen, in der die zerfallende Stadt ein beliebtes Motiv war. Von ihm hat sich May anregen und sogar faszinieren lassen - das sieht man daran, daß er die Stadt personalisiert und einmal sogar angesichts dieser Siedlung von einer >verschmachtete(n) Fruchtbarkeit< spricht (270). Doch in seiner Romanhandlung macht er hieraus, ohne jegliches Pathos, das entwicklungsfreudige Bild einer wieder zu Kraft kommenden Weiblichkeit.

   In unserer Deutung arbeiten wir mit der bekannten Vorstellung, wonach das Weibliche den Bereich der bedingungslosen Liebe und Fürsorge und ferner das Stoffliche und die Erdverbundenheit vertritt, während das Männliche der Ausdruck von Recht und Härte und zugleich vom Streben nach Geistigem und Abstraktem ist. Diese Kennzeichnung und Unterscheidung der Geschlechter wurde von den Romantikern propagiert und erhielt ihre wissenschaftlichen Weihen von Johann Jakob Bachofens großem Werk >Das Mutterrecht< (1861), von jenem Werk also, das das Matriarchat zum Urzustand der Menschheit erklärte. Heute kommt uns eine solche Charakteristik der Geschlechter einseitig und klischeehaft vor, und eher sollte man, wenn man von den beiden Prinzipien und ihrer Antithetik spricht, die Worte >männlich< und >weiblich< als Metaphern ansehen. Jedenfalls sind sie als psychologische Beschreibungsmittel sehr nützlich; sie helfen uns, Mays Bilder zu verstehen.

   May hat seine Motive gut durchdacht. So deutet in Ard die aufgehende Sonne den Neubeginn an (etwa in der morgendlichen Szene, bei der der Mir auf die Tannenbäume aufmerksam wird(9)), während in der Totenstadt der zunehmende Mond für das Neue steht. Tatsächlich bedeutet in den Mythen der Antike und auch bei Bachofen die Sonne das männliche, der Mond das weibliche Prinzip (was von der deutschen Sprache her, in der es  d i e  Sonne und  d e r  Mond heißt, seltsam erscheinen muß): Apollo ist der Gott der Sonne, Artemis ist die Göttin des Mondes. Ferner bringt May in seiner Totenstadt immer wieder kreisförmige Anlagen zur Sprache, während in Ard zuerst die auf vier Ecken hin angelegte Turmgruppierung auffiel; und seit alters steht das Runde für das Weibliche, das Viereck für das Männliche. Auch wird


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dem männlichen Viereck mit der Zahl Fünf widersprochen, die beim Ritt in die Totenstadt (fünf Personen erreichen das Gefängnis Nummer Fünf, 230, 267f.) eine hervorragende Rolle spielt. Und noch eine Einzelheit: in der Totenstadt gibt es sogar eine Bibliothek; diese enthält nur Bücher, die über die Geschichte und Ausbreitung von humanitären Bestrebungen berichten (397). Einen solchen unmännlichen Bücherschatz könnte man heutzutage eine >alternative Bibliothek< nennen. Mancher schlaue Verleger würde sich auf ihn stürzen.

   Wir sagten, daß May mit der Totenstadt das weibliche Prinzip auferstehen lassen will. Zu beachten ist dabei, daß May keineswegs das weibliche Prinzip gegen das männliche ausspielen möchte. Gerade dieser Vorwurf spricht aus dem Brief, den Sascha Schneider anläßlich >Babel und Bibel< an May schrieb, und so einseitig auch Schneider über »so viele Weiber« in dem Drama wetterte,(10) May muß sich getroffen gefühlt haben. Im Roman nun sind die Universitäten von Ard ebenso wichtig wie die Kornkammern der Nekropole, und offensichtlich ist auch, daß der Held nach dem Aufenthalt in der alten Stadt sehr gern nach Ard zurückkehrt. Dabei wird seine Route von einer Kette sogenannter Telegrafenstationen bestimmt, an denen jeweils Nachrichtenraketen hochgeschossen werden (514.); das ist ein freudevolles Zeichen männlicher Potenz, und es ist zugleich die räumlich sinnfällige Gegenkonstruktion zu der Reihe von Zisternen und Wasserstellen mit ihrem Wasser in der Tiefe, die den Weg hin zu der Totenstadt markieren. Auch die militärischen Aktionen berichtet der Erzähler mit durchaus froher Anteilnahme, wobei dieser Krieg des Mir von Ardistan, nachdem der Panther sich als der oberste Weltfeind erweist und Dschinnistan kein Angriffsziel mehr ist, der letzte Krieg auf Erden sein soll. Diese Theorie vom letzten Krieg, der den ewigen Frieden herbeizwingen soll - sie war gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Schwange und unter Berufung auf sie hat dann der amerikanische Präsident sein Land in den Ersten Weltkrieg geführt -, diese Theorie wurde von May nicht realiter verfochten, er fand sie nur als literarisches Sujet interessant und hat sie bei der ziemlich unblutigen Niederwerfung des Panthers vor Augen gehabt. Immerhin läßt May die Männer ihre Stärke zeigen, und auch das Wort von der stählerne(n) Faust des Friedens, das Marah Durimeh zu Beginn des Romans ausspricht, weist in diese Richtung.(11) Entsprechend stellt May auch klar, daß allein die Rückkehr zu den Müttern noch nicht die Lösung unserer menschlichen Probleme bringt: der Mir erscheint in der Totenstadt zunächst als ein hilfloses Kind (326), ehe er, angeregt von seinen Gefährten, eine Initiative ergreift. Sein nächtlicher Richter ist gleichfalls ein Mann, der für-


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sorgliche >Vater des Friedens<, den der Erzähler mit Kyros (402) vergleicht, dem Helden des früher geplanten Dramas. May warnt also vor der simplen Regression. Ein soziales Happy-End dagegen ist, daß schließlich beide Städte bewohnbar sind, was ja bedeutet, daß Männlichkeit und Weiblichkeit gleichberechtigt sind. Notierenswert in Mays Ardistan ist noch, daß der Held von der Frau Marah Durimeh in das männliche Ard, aber von dem Mann Panther in die weibliche Totenstadt geschickt wird. Das ist ein Chiasmus im Großen, der unterstreicht, wie sehr das weibliche und das männliche Prinzip aufeinander angewiesen sind.

   Über dieses gegenseitige Angewiesensein wäre noch viel zu erwähnen, etwa die von einigen Interpreten diskutierte Präsenz der Marah Durimeh und des Mir von Dschinnistan, einer Frau und eines Mannes, die beide ganz oben in der Romanhierarchie stehen. Doch damit entfernen wir uns zu weit von unserem Thema. Allerdings ist es May selbst, der seine Leser von dem Thema der modernen Weltstadt gern ablenkt. Mit den Bewegungen des Romans, der Reise in die Totenstadt und der Rückkehr von dort, will May die sich wandelnde Stadt darstellen. Mays Weltstadt Ard ist nicht endgültig festgelegt, sie tritt mit jener anderen Stadt in eine gemeinsame Entwicklung ein. May macht uns die Geschichtlichkeit der Stadt sichtbar. Die aufstrebenden Linien, die May am Stadteingang erscheinen läßt, deuten auf dieses Sichentwickeln hin.


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Da May offenbar die Geschichtlichkeit und die Entwicklung das Wichtigste am Thema Stadt ist, können wir von ihm nicht erwarten, daß er uns das Leben in der Weltstadt konkret und ausführlich beschreibt. In der Tat stellen wir fest, wenn wir uns von May in die Straßen von Ard führen lassen, daß die Schilderungen der Weltstadt und der weltstädtischen Atmosphäre karg ausfallen. Da ist zu lesen: Wir ... hatten während des Rittes durch Ard bei den Verschiedenheiten und den Gegensätzen, die uns da überall und in jeder Form und Beziehung entgegentraten, das Gefühl, uns in einer Weltstadt zu befinden, die Alles in sich vereinigt, was die Erde ihren Bewohnern bietet. (94) Oder: Wir kamen aus dem engen Häusergewirr in einen Teil der Stadt, in dem die Gassen breiter waren. (149) Oder über die Neugier der Bewohner heißt es: Sie pflanzte sich schnell weiter, von Straße zu Straße, durch die ganze Stadt und noch weit über sie hinaus. (166) Mays Entwurf der Stadt bleibt also weitge-


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hend unausgefüllt, der >Erfahrungsraum Großstadt< wird nicht beschrieben, sondern nur benannt. Wir spüren kaum etwas von der Bewegung der Massen auf den Straßen und Plätzen, von sozialen Gegensätzen und anonymen Begegnungen, die in solch einer Stadt zu erwarten wären, fast nichts von all den großstädtischen Motiven, die in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende in der Literatur auftauchten, bei Baudelaire, Heinrich Mann und Döblin. Mays Abstraktheit in der Stadtbeschreibung könnte man dazu in Beziehung setzen, daß er kurz vor dem Eintritt in die Stadt mit seiner Schloßbeschreibung die Abstraktheit von mathemathischen Kurven für seine Beschreibung benutzt. Die Abstraktheit des Erzählstoffes wird zur Abstraktheit der Erzählweise.

   Zu diesem Verfahren der bloßen Benennung (statt der Schilderung) gehört natürlich auch die bereits zitierte Äußerung des Helden, er komme sich vor, wie wenn er als Deutscher durch die Straßen von Paris oder London reite. Was läßt sich bis jetzt über diesen Vergleich, den May nicht direkt erläutert, sagen? Wir bemerkten schon, daß damit die weltstädtische Zivilisation von Ard bezeichnet werden soll. Bis 1815 jedenfalls waren für den deutschen Reisenden Paris und London  d i e  Weltstädte, wie ja 1798 in Weimar eine kosmopolitische Zeitschrift gegründet wurde, die >London und Paris< hieß. Doch seit der Reichsgründung galt auch Berlin als Weltstadt. Warum hat May sein Ard nicht mit Berlin oder etwa Wien verglichen, was doch auch hinsichtlich seiner Leserschaft nahe gelegen hätte? Zum einen deswegen, weil der Rückgriff auf die beiden traditionellen Weltstädte ein Stück in die Vergangenheit zurückführt und damit wieder ein Anklang an Mythisches geschieht; und man mag sich jetzt daran erinnern, daß Paris von Heinrich Heine »das moderne Jerusalem« genannt worden war (und von manchen als babylonischer Sündenpfuhl angesehen wurde).(12) Zum anderen, und dies ist wichtiger, berief sich May auf Paris und London, um seine Nennungstechnik aufzuwerten. Denn das Ganze ist, solange man die späteren Kapitel noch nicht kennt, ein blinder Vergleich: May selbst war nicht in Paris gewesen, sein Aufenthalt in London (November/Dezember 1908) stand ihm noch bevor, und vor allem: welcher seiner Leser hatte die hier zur angeblichen Verdeutlichung beschworene Szene erlebt, in der man nach Paris oder London einreitet? May behandelt also, wider alle Realität, den Leser so, als hätte er Reiseerfahrungen, wäre zumindest ein Europareisender und könnte mit dem Paris- und London-Vergleich etwas anfangen. Mit seinem Vergleich schaltet May zwischen dem Hier des deutschen Lesers und der entlegenen Exotik des Romans eine fremde Welt von >mittlerer Ferne< dazwischen.


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Mit diesem geschickt kalkulierten Zwischenschritt fühlt sich der Leser zum Vertrauten des Mayschen Helden gemacht. Ein ähnliches Verfahren finden wir in den Schlußbänden von >Im Reiche des silbernen Löwen<, wo May gern die weit entfernte persische Örtlichkeit mit den Stätten vergleicht, die er auf seiner Palästina-Reise gesehen hat; auch hier wird dem Leser eine >mittlere< Reiseerfahrung zugetraut.

   Der Vergleich mit Paris und London hat also seine psychologische Raffinesse, und May hat dieses Vorgehen wohl von den Märchen gelernt, wo auch solche letztlich informationsleeren Anspielungen auftauchen: Schneewittchens Haar war »schwarz wie Ebenholz«: welches Kind weiß schon, wie Ebenholz aussieht, und dennoch wird dieser unklar-zauberische Vergleich mit Behagen hingenommen. Überhaupt ist die Nennungstechnik, die nicht schildern will, sondern einfache Begriffe vorträgt, typisch für das Märchen (»es war einmal ein armer Holzhacker«), so daß also auch von daher Mays Behandlung des Stadtmotivs in die Nähe der Mythen rückt.

   Umgekehrt sieht man rasch, welchen Vorteil sich May durch den Verzicht auf die Stadtschilderung eröffnete. Er, der Autor von Heldengeschichten, konnte sich auch in seinen Stadt-Kapiteln auf personale Bezüge, auf das Geschehen um einzelne Individuen konzentrieren, und dies tat er ausgiebig, indem er in seinem Roman eine weitere Hauptperson hinzuschuf, den Fürsten Schedid el Ghalabi, den Mir von Ardistan. Der zweite Teil des Werkes ist, auch wenn es dort in die moderne Welt geht, zuvörderst nicht der Bericht von kollektiven Verstrickungen, sondern die Geschichte dieses Individuums. In dieser einen Person kristallisiert May seine Vorstellung von einer Menschheitsentwicklung. »Du bist ein Tyrann ... Aber du bist noch mehr wert ... : du bist ein groß angelegter Mensch« (143), sagt Kara Ben Nemsi zu dem Mir, der ganz bewußt und selbstkommentierend seine eigene Wandlung erlebt. Zum Vorbild hat sich May hier einen Großen der Literaturgeschichte genommen, nämlich Shakespeare: der Mir ist als Anti-Macbeth konzipiert. Macbeth ist der ebenfalls edle Mensch, der sich bei vollem Bewußtsein zum Bösen hinentwickelt. Auch die sagenhaften Prophezeiungen samt dem Erdbeben und den geologischen Umtrieben im Roman, dieses kosmische Tosen also, erinnert an >Macbeth< mit seinen heidnischen Natur- und Hexenpassagen. Unsere Gegenüberstellung ist riskant, aber den Anstoß hierzu hat May selbst gegeben, denn er hat ein Zitat aus >Macbeth< in die Mir-Handlung eingebaut. In der Ausmalung psychischer Prozesse ist Mays Darstellung der eines Shakespeare hoffnungslos unterlegen, denn allzu glatt und unkompliziert ist ihm der Verlauf der seelischen Entwicklung des Mir ge-


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raten. Es ist völlig unwahrscheinlich, daß Kara Ben Nemsi so rasch persönlichen Zugang zu dem Herrscher finden kann (auch wenn die Ankunft der hilfreichen Tiere ein hübscher Erzähltrick ist) und sich auf diese Weise das gute Ende des Abenteuers schon ankündigt, als der Mir noch als finsterer Tyrann gilt. Derartige Situationen ist man von Mays Erzählungen gewohnt: die Dinge stehen nicht schlimmer, sondern besser als sie scheinen. Die Märchenforschung spricht in solchen Fällen von >Konträrironie<.(13)

   Der Mir erlebt die entscheidenden Phasen seiner Wandlung in der Totenstadt. Damit ist sein Werdegang mit dem Motiv der Stadt verknüpft. Die Geschichtlichkeit der Stadt spiegelt sich in dem Werdegang eines Individuums. Stadtentwicklung und Menschheitsentwicklung sind im Bedeutungsgefüge dieses Romans aufeinander bezogen. Die Großstadtatmosphäre ist in der Mir-Handlung, so scheint es, nicht von Belang.


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Und doch geraten wir ausgerechnet mit dem Mir in die Atmosphäre der Großstadt hinein. Denn der Mir ist nicht nur Fürst und nicht nur der Mensch schlechthin, sondern May gibt ihm noch eine dritte Funktion, die in eine neue, unerwartete Richtung führt: der Mir ist auch der reichste Mann des Landes. Damit sind wir bei dem Abschnitt von >Ardistan und Dschinnistan<, in dem sich May in die Niederungen großstädtischen Lebens begibt. Dies geschieht im Zusammenhang mit dem Christfest, von dem wir eingangs gesprochen haben, und zwar in einer Binnenhandlung von 25 Seiten, die die Vorbereitung dieses Festes erzählt. Die Festvorbereitung besteht nämlich aus einer Geld- und Warenwirtschaft. May läßt eine, genau besehen, kapitalistisch gesteuerte Weihnachtsartikel-Industrie entstehen, die rasch erblüht und die Bevölkerung zum Handeln und Kaufen und dann zum Feiern der Weihnacht verlockt. Der Mir, eben als der reichste Mann des Landes, ist der Schutzherr für die Produktion, die beim Tannenbaum-Schlagen beginnt - der Mir sagt: »Der Wald hat mir noch niemals Etwas eingebracht: jetzt wird er mich bezahlen!« (157) - und die alle möglichen Berufszweige umfaßt. Von den Konditoren bis zu den Zimmerleuten, von den Goldschmieden bis zu den Buchdruckern ist die ganze Stadt in Bewegung. Dazu gibt es ein »Weihnachtsbureau« (168), das Kara Ben Nemsi mit zugewiesenen Schreibern innehat und das für die Koordination der Arbeit und der Reklame zuständig ist und wo auch die erwähn-


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te Weihnachts-Festschrift entworfen wird. Hören wir ein paar Sätze von der Geschäftigkeit dieses Arbeitskollektivs: Der letzte Tag war für uns der schlimmste von allen. Wir hatten veröffentlicht, daß an diesem Tage um sechs Uhr nachmittags der Verkauf überhaupt geschlossen werde. An diesem Nachmittage wurden unsere Verkaufsstände fast gestürmt. Aber es ging glatt ab. Schon lange vor sechs Uhr war kein Bäumchen, kein Engelchen, kein Sternchen mehr zu haben. Alles verkauft, Alles, bis auf das letzte, bunte Papierschnitzel! Wir atmeten auf! (187)

   Das ist nun, wenn man auf die Sternchen und Engelchen achtet, sehr konkret gesprochen, und es schwingt eine gutmütige Ironie bei dieser Arbeitsfreude mit. Ein großes Maß an Selbstironie liegt sogar vor, wenn May das Gerangel um die Veröffentlichung der Festschrift (174f.) beschreibt. Aber ernst ist der Erzähler, wenn er - und darin wird er nicht müde - den materiellen Gewinn beschwört, der sich für die fleißigen Leute ergibt: Das zahlreiche Personal, welches uns nötig gewesen war, erhielt, was wir ihm versprochen hatten, und ein Jeder noch eine Geldsumme dazu als unsere Christbescherung. Sie jubelten. (187) Im Weihnachtsbureau brennt dann ein Weihnachtsbaum, und vor ihm stehen die Kisten, Körbe und Körbchen voll Geld, welches wir eingenommen ... hatten ... (187) Dieser Moment ist sozusagen das geschäftliche Weihnachtsfest; später geschehen die Bescherung im Familienkreis des Mir und die religiöse Feier im Dom, die beide nicht mehr zu den städtisch-betriebsamen Episoden gehören, sondern die geistige und moralische Frucht des vorherigen frohen Planens und Schaffens und Kaufens sind.

   Auffällig ist, daß beim Mir gerade drei Weihnachtsbäume geschmückt werden, die in hellem Glanz erstrahlen. Man fühlt sich an die drei Vulkane von Dschinnistan gemahnt, so daß die Weihnachtsstimmung beim Mir, der sich jetzt seiner Familie und vor allem endlich seiner Frau widmet, eine Vor-Phase des dschinnistanischen Glücks ist. Vorher, bei der Weihnachtsartikel-Produktion, läßt der Erzähler, wir sagten es, Ironie anklingen; er spricht sogar von der primitiv beginnenden Weihnachtsarbeit (169) und spottet einmal über die Teig-Figuren, die aus der Tertiärzeit der menschlichen Phantasie (170) geschnitten seien. An dieser Stelle weht also der Geist des vorzeitlichen Ussulistans. Insgesamt zeigt sich: die Binnenhandlung mit der Christfestvorbereitung, mit der, wie wir zu Beginn sagten, Eroberung Ards durch die Weihnacht, faßt den Weg vom primitiven Ussulistan bis zum edlen Dschinnistan zusammen, sie birgt vollständig das Konzept des menschheitlichen Aufstiegs, das dem Roman zugrundeliegt. Damit wird der profitorientierten Verkaufsplanung, die zwischen der Handwerker-


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tätigkeit und der Christtagsfeier steht, auch die Endgültigkeit abgesprochen. Sie steht historisch in der Mitte, hat ihre Funktion nur in Ardistan, genauer: dem männlich orientierten Ard, wie ja diese Episode noch vor der Reise in die Totenstadt spielt. In Dschinnistan oder auch in dem besseren Ardistan am Ende des Romans wäre die Geldwirtschaft als Glücksbringerin fehl am Platze. Beachten wir noch, daß auch insofern Ussulistan am Beginn der Episode anklingt, als es Ussul-Soldaten sind, die die geschlagenen Christbäume in die Hauptstadt bringen. Sie halten die Bäume beim Ritt senkrecht vor sich, so daß sie eine Art >Wald von Dunsinan< mit (sich führen), wie May uns erklärt (165); das ist das famose >Macbeth<-Zitat.

   All diese Unternehmungen werden ermöglicht durch die Order des Mir, der auf diese Weise schließlich die bisher in seinem Reich unterdrückt lebenden Christen befreit. Oder sollen wir sagen: erlöst? Diese Vokabel steht im Raum, denn das Weihnachtsfest wird hier öfters das Fest der Geburt des Erlösers genannt, und gehen wir einen Schritt weiter, so drängt sich der Gedanke auf, daß nicht eigentlich Christus der Erlöser sein soll, sondern der Mir von Ardistan. Mit dieser Sicht, die man angesichts anderer auffälliger Erlöserfiguren im Roman anzweifeln mag, verträgt sich nicht nur die spätere historische Schuldübernahme des Mir in der Totenstadt, sondern auch der Umstand, daß der Gegenspieler des Mir, der Panther, als der Empörer bezeichnet und damit dem Teufel gleichgesetzt wird. Erlöser Mir und Empörer Panther, so präsentieren sich zwei große Antipoden des Romans. May wagt hier eine drastische Profanisierung sakraler Begriffe, die sich etwa auch kundtut, wenn während der Weihnachtsvorbereitung der Mir seinen Prokuristen Kara Ben Nemsi zu meinem Weihnachtsengel erklärt und Halef zum Kommandanten der Engelschar befördert (159). Das ist die Sprache der Werbung in der Vorweihnachtszeit; der Mir beherrscht sie!

   Überhaupt ist der ganze Ablauf der Produktionsplanung, die sich auf die materiellen Profitaussichten und die Kapitalkraft des Mir stützt, den man schmeichlerisch Finanzgenie nennt (158), eine Umfunktionalisierung des Weihnachtsgedankens. Es ist ein Materialismus, der May Freude gemacht hat, denn es ist bekannt, daß es bei seinem ersten Diebstahl in seinen Jugendjahren um Weihnachtskerzen ging und daß er im ersten Jahr seines Bestsellererfolges den häuslichen Weihnachtsbaum auch mit Geldscheinen behängte. Überdies hatte er von seinen Verlegern gelernt, wie wichtig für die Buchproduktion das Weihnachtsgeschäft ist. In seiner Stadt Ard kultivierte er diese Freude am weihnachtlich Materiellen.


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   Gewiß ist das, was May hier erzählt, nicht Großstadtvision der modernsten Art. Das Weltstadttreiben ist nirgends so mächtig und irritierend, daß es der kluge Held und der selbstbewußte Erzähler nicht fest im Griff hätten. May wählt insofern ein konventionelles Erzählverfahren; es erinnert, trotz der selbstironischen Wendungen, an seine früheren Kolportageszenen à la Eugène Sue, von denen sich dieser Roman aber doch entscheidend abhebt. Denn von klassischer Modernität ist der Satz, mit dem die Festvorbereitung schließt. Kara Ben Nemsi spricht ihn gegenüber dem Mir aus: »Das ist die wahre Religion, die nicht nur nach dem Tode selig macht, sondern auch schon hier im Erdenleben für das Glück ihrer Bekenner sorgt!« (189) Diese Losung, eine nüchtern-theoretische Formel, in der das Christentum nicht genannt wird - und die erstaunlicherweise die katholische >Hausschatz<-Redaktion nicht wegzensiert hat (dafür gibt es eine spätere Ausgabe des Romans, die den Satz getilgt hat) -, diese Losung führt schnell und zwanglos auf die Vorstellung, daß ebensogut für irgendeine andere Religionsgemeinschaft sich ein Fest vorbereiten und dabei Profit machen ließe. Man möchte also Mays Satz auch so lesen: >Jede Religion, die schon hier im Erdenleben für das Glück ihrer Bekenner sorgt, ist gut.< Dabei sind die Leute, die May ihr Glück laut feiern läßt (Sie jubelten), größtenteils nicht einmal Bekenner, sondern nur Angestellte des Christentums.

   An dieser Stelle befindet sich May nicht weit von der Position eines Mannes, dessen Name fiel und der sich auch in die literarischen Spuren Jonas begeben hatte, nämlich Voltaire. Er hatte, nachdem er von Paris nach London geflohen war, seine >Lettres Anglaises< (1734) verfaßt und darin, in dem berühmten 6. Brief, das Treiben an der Londoner Börse beschrieben, wo nur die Geschäftstüchtigkeit, nicht aber die Konfession zählt. »Alle sind zufrieden«, lautet sein Kernsatz über die dort miteinander tätigen Angehörigen verschiedener Glaubensrichtungen.(14) Der französische Aufklärer preist hier das, was später einmal >englischer Krämergeist< genannt wird. Das Geschäft ist danach für das Glück wichtiger als die Religion.

   So weit geht May gewiß nicht, aber er läßt Christen und Nichtchristen über den Profit am Weihnachtsgeschäft jubeln und erzählt ausgerechnet von erwirtschaftetem Geld, um für eine Religion Reklame zu machen. Vielleicht kannte May die Voltairesche Beschreibung der Londoner Börse, vielleicht hat ihn Paris als die Stadt der Aufklärung angezogen. In der Weltstadt Ard, in der sich glückbringender Materialismus und aufklärerischer Geist durchsetzen, dort konnte sich der kundige Leser tatsächlich wie in Paris oder London fühlen.


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   Jean Paul sagte einmal, es sei »Paris der geistige, London der körperliche Marktplatz Europ(a's)«.(15) Der Ausspruch hätte am Beginn dieses Vortrags stehen können - und nun ist er das Schlußwort geworden.



1 Zit. nach Hansotto Hatzig: Karl May und Sascha Schneider. Dokumente einer Freundschaft. Beiträge zur Karl-May-Forschung Bd. 2. Bamberg 1967, S. 126

2 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXXII: Ardistan und Dschinnistan II. Freiburg 1909, S. 94; Seitenangaben im Text beziehen sich auf dieses Werk.

3 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXIV: »Weihnacht!« Freiburg 1897, S.123

4 Hatzig, wie Anm. 1, S. 165

5 Zu Recht bezeichnen Bernhard Kosciuszko und Christoph F. Lorenz den Halef dieser Erzählung als »Demonstrationsobjekt« des belehrenden May. Siehe Großes Karl-May-Figurenlexikon. Hrsg. von Bernhard Kosciuszko. Paderborn 1991, S. 210 (Artikel >Hadschi Halef<).

6 Vgl. meine Überlegungen in: Martin Lowsky: Von Helden und Kindern. Abenteuererzählungen in der Psychologie Erich Fromms. In: Erich Fromm und die Kritische Pädagogik. Hrsg. von Johannes Claßen. Weinheim/Basel 1991, S. 105-126 (S. 123ff.).

7 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Gesamtausgabe Bd. 5. Frankfurt a. M. 1959, S. 865; vgl. S. 866: »Campanellas autoritäre Utopie« - Zur >Stadtgeometrie< siehe auch Götz Müller: Gegenwelten. Die Utopie in der deutschen Literatur. Stuttgart 1989, S. 3-5.

8 Christoph F. Lorenz: Von der >Messingstadt< zur >Stadt der Toten<. Bildlichkeit und literarische Tradition von >Ardistan und Dschinnistan<. In: Karl May. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1987, S. 235f. (Sonderband Text + Kritik)

9 Vgl. S. 161: ...tauchte über dem dunkeln Streifen des Waldes die neugeborene Sonne auf...die Flut des Lichtes... Später bei der Rückkehr nach Ard heißt es (517): In diesem Augenblicke stieg die Sonne ganz plötzlich, wie mit einem schnellen freudigen Sprunge, hinter den jenseitigen Bergen empor; Millionen und Abermillionen goldener Strahlen überfluteten die Stadt...

10 Zit. nach Hatzig, wie Anm. 1, S. 120

11 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXXI: Ardistan und Dschinnistan I. Freiburg 1909, S. 17

12 Siehe etwa Wulf Wülfing: Reiseberichte im Vormärz. Die Paradigmen Heinrich Heine und Ida Hahn-Hahn. In: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Hrsg. von Peter J. Brenner. Frankfurt a. M. 1989, S. 333-362. Überdies galt Paris als die weibliche, London als die männliche Stadt (Gert Ueding macht mich nachträglich darauf aufmerksam).

13 Max Lüthi: Märchen. Stuttgart 81990, S. 26 (Sammlung Metzler 16)

14 Voltaire: Lettres philosophiques. Paris 1972, S. 47: »et tous sont contents«.

15 Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. 2. Abt. 5. Bd. Bemerkungen über den Menschen. Weimar 1936, S. 419


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