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ULRICH SCHMID

Kupferstecher, Kuhhirt, Seelenführer
Nachdenken über Willy E. und Wiltrud von B.*

für
Annelotte Pielenz,
Irene Frankenstein
sowie
Ulrike Müller-Haarmann
und
Gerhard Haarmann
im Westen
                            für
Angelika und Steffen
Bocklesch

sowie Uli Nebert

und Hainer Plaul
im Osten


1

»Tief ist der Brunnen der Vergangenheit.« Mit diesem Satz eröffnet, mythisch raunend, Thomas Mann bekanntlich seinen Bericht von den Schicksalen des biblisch-ägyptischen Joseph.

   »Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?« fragt der von seiner Familie ›der Zauberer‹ genannte Weltenbeschwörer Thomas Mann im Anfang dieses Romans ›Joseph und seine Brüder‹. Und sogleich, im Fortgang, stellt das Wort sich ein, über das ich heute phantasieren will: »das Menschenwesen«, »dessen Vergangenheit in Rede und Frage steht: dies Rätselwesen, das unser eigenes natürlich-lusthaftes und übernatürlich-elendes Dasein in sich schließt und dessen Geheimnis sehr begreiflicherweise das A und O all unseres Redens und Fragens bildet, allem Reden Bedrängtheit und Feuer, allem Fragen seine Inständigkeit verleiht.«(1)

   »Rätselwesen« ist das eine, »natürlich-lusthaftes und übernatürlich-elendes Dasein« sind die anderen beiden Stichwörter, zwischen denen unsere freischweifende Betrachtung pendeln wird. Zu erwarten sind dabei keine sensationellen neuen Ergebnisse der May-Forschung, zu erhoffen keine tiefsinnigen Reflexionen, keine subtilen Motivjagden durch die Buchstabenprärien der grünen Bände und keine wortgewaltigen wissenschaftlichen Dekonstruktionen. Statt dessen sollten wir uns gemeinsam im Sinne von Mays assoziativ planendem Schreiben einlassen auf ein Spiel mit Vergangenheiten, deren Bewegungen wir an der Hand von Zitaten und daran sich knüpfenden Sätzen nachdenken wollen.

* Vortrag, gehalten am 17. 10. 1993 auf der 12. Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Dresden.


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2

›Brunnen‹ ist das Stichwort für die Richtung, in die unser Forschen geht: hinab in die Tiefe der Zeit.

   Absturz und jäher Fall, Eintauchen, Untergang und Sich-Wiederfinden als Bewegungen, denen wir uns aussetzen wollen, um in Abgrundforschung und Höllenfahrt die Reiche des Unterirdischen zu erkunden.

   Stürzen wir uns hinunter in diesen Brunnen, so mag es durchaus sein, daß uns zunächst das Hören und das Sehen vergeht und daß wir uns, erwachend, auf einer schönen Wiese wiederfinden, wo die Sonne scheint und vieltausend Blumen stehen. Vom Sturz noch etwas benommen: so zittert das Bild vor unsrer Pupille, und wir zweifeln, ob da weißblühende Asphodelosblümchen stehen oder treudeutsche Sommerblumen. Aber während wir noch dem verschwimmenden Bild nachsinnen, hören wir bereits einen Backofen rufen, und es gilt, ihn rasch zu leeren, einen – ebenfalls lauthals rufenden – Apfelbaum zu schütteln und schließlich Federbetten flattern zu lassen, daß »die Federn wie Schneeflocken« herumfliegen.(2) Dafür geht es uns dann freilich da unten auch gleich gut, wenn wir fleißig sind und uns wacker tummeln, »vieltausendmal besser (. . .) als zu Haus«.(3)

   Sie alle haben schon längst gemerkt, in welcher Brunnen-Unterwelt wir da gelandet sind: gleich kommt der Goldregen als Belohnung für Fleiß und Schönheit, und gar nicht lange danach kommt der Pechregen als Strafe für Faulheit, die mit häßlichem Aussehen gepaart ist, und die Gaben aus der Unterwelt der Frau Holle, Hulda oder Hel bleiben kleben und wollen, solange man lebt, nicht von einem abgehen.

   Hier halten wir inne und blenden aus mythischen Märchen-Urzeiten zurück in Jüngstvergangenes: Als ich mich im Frühling dieses Jahres bereit erklärte, hier in Dresden das Schlußreferat zu übernehmen, mußte ich mich selbst sehr streng zur Ordnung rufen. Die Idee nämlich, Gold- und Pechmarie schlicht und einfach mit den beiden deutschen Exstaaten gleichzusetzen, schien, so naheliegend sie war, doch allzu plump und allzu simpel-verfälschend zugleich!

   Der goldene Westen und der häßliche Osten, der klingend-klebende Goldregen und der zäh haftende Kessel voll Pech – sie entsprechen ja so manchem Klischee, das bei den Besser-Wessis, aber vielleicht auch bei frustrierten Ossis im Schwang war. Daß dies Bild freilich ein Trugbild ist, weiß jeder, der die beiden deutschen Staaten, sei's vor, sei's nach der Wende, scharf ins Auge faßte.

   So war ich schon dabei, die Frau Holle samt ihren zwei gegensätzlichen Hausbediensteten in der Rumpelkammer für die Versatzstücke der Weltgeschichte unterzubringen und aus meinem Vortrag zu streichen.

   Da fiel mir ein Buch in die Hände zum Thema ›Dresden als Kunst-


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stadt‹, herausgegeben von der honorigen Sächsischen Landesbibliothek in Dresden. Den Abschluß dieses Buchs bildet ein Bericht über ein alternatives Kulturzentrum in der damaligen Bezirkshauptstadt. Es existierte einige Jahre, mißtrauisch beäugt und schließlich geschlossen von Behörden, denen das Treiben darin allzu verdächtig, unkontrollierbar und kreativ-staatsgefährdend erschien.

   ›Villa Marie‹, der Name dieses wohl nur in Maßen konspirativen Treffs, fand sich abgewandelt wieder in einer Illustration des Kunststadt-Bands, tatsächlich mit dem Titel ›Pechmarie‹.(4)

   Und die beste Pointe zu meiner Frage ›Frau Holle – ja oder nein?‹ lieferte schon vor mehr als 100 Jahren – wer sonst als Karl May selbst, der bereits in seiner frühesten Zeit seine ›Einstige Grabschrift‹ entwarf:

Ich war ein Dichter, ernst und heiter,
Das Schicksal spielte mit mir frech;
Mein ganzes Leben war nichts weiter,
Als nur ein großer – Klumpen Pech!
(5)

Durch diese vorweggenommene Bilanz eines Dichterlebens getröstet oder auch verstört, könnten wir Frau Holle und ihre beiden mehr oder minder diensteifrigen Jungfrauen beinahe schon wieder entlassen, wenn wir nicht rasch noch einen kurzen Blick in Eugen Drewermanns kluge Deutung des Holle-Märchens werfen müßten.

   Der Sturz in den Brunnen, zu dem ich Sie alle eingangs verführt habe (und Sie sind mir ja auch staunenswert blindlings gefolgt), dieser Sturz sei, so Drewermann, ein »Erwachen«, ein »Zu-sich-selber-kommen«, ein »Ende der Besinnungslosigkeit und Angst«. Das Mädchen, das sich da in die unerkennbare Tiefe des Brunnens stürzt, sei in diesem Moment »vollkommen isoliert und allein; aber eben deshalb ist es zugleich vollkommen frei.«(6)


3

Behalten wir das Wort vom Freisein und der Isolation im Ohr, wenn wir uns nunmehr in einen zweiten Schacht unseres Vergangenheitsbrunnens hinunterstürzen. Wir landen hinter der Schulter eines Herrn, der Tagebuch schreibt, und wir flüstern leise mit, was er da auf dem Papier notiert:

Was ist das: dieses Zu-sich-selber-Kommen des Menschen? Es ist die Erfüllung aller der Möglichkeiten, wie sie dem Menschen gegeben sind. Unlust und Unbehagen schaffen Traurigkeit, und die Traurigkeit steigert sich zur Angst, zur Schwermut und zur Verzweiflung, da wir das Leben nicht leben, das uns zu leben gegeben wäre. Das sind die Anzeichen zum Aufstand im Menschen. (. . .)


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Wir können und wollen nicht mehr so weiterleben wie bisher. (. . .) Wir wollen uns verändern und wandeln von Grund auf.

Von ferne wispert ein Echo, wenn wir ganz leise sind und horchen: »Da ging das Mädchen zu dem Brunnen zurück, und wußte nicht, was es anfangen sollte; und in seiner Herzensangst sprang es in den Brunnen hinein (. . .).«(7)

   Noch einmal, mit den eben erlauschten Worten: »Was ist das: dieses Zu-sich-selber-Kommen des Menschen?« Diese »Erfüllung aller der Möglichkeiten, wie sie dem Menschen gegeben sind«?

   Die mit der DDR-Literatur Vertrauten unter Ihnen wissen sicher, daß sich der Satz gleich zweimal an bedeutsamen Stellen finden läßt. Die von Johannes R. Becher, dem Schriftsteller und Kulturminister der fünfziger Jahre, in seinem Tagebuch ›Auf andre Art so große Hoffnung‹ geäußerte Frage nach dem ›Zu-sich-selber-Kommen‹(8) des Menschen stellte Christa Wolf als Motto ihrem Buch ›Nachdenken über Christa T.‹ voran, das Ende der sechziger Jahre erschien.(9) Dieser Roman, vielen von Ihnen sicher vertraut, stellt mit großer Intensität die Frage nach dem Rätselwesen Mensch, unter einem Fluchtpunkt, der das Namenskürzel der Antiheldin Christa T. mühelos in die Rätsellösung ›T = Tod‹ verwandelt.


4

Wenn ich Ihre Geduld nun noch ein weiteres Mal strapazieren darf, möchte ich Sie noch einmal zum Sturz in den Vergangenheitsbrunnen verlocken. Was paßte besser zum Erwachen in der Unterwelt, bei aller Einschränkung durch den luftigen Zusatz »3 Treppen« hoch, als die Adresse ›Thomaskirchhof 12‹? Es ist eine ganz reale, ganz und gar nicht märchenhaft-mythische Adresse, mitten in Leipzig gelegen, ganz nahe bei der Stelle, wo einst der Thomaskantor Johann Sebastian Bach die ›süße Todesstunde‹ und ihre Lockung in betörend erotischen Melodien besingen ließ.

   Steigen wir in dem Haus ›Thomaskirchhof 12‹ die drei Treppen hinauf, nicht ohne ein wenig Ächzen und Schnaufen, so erwartet uns hinter der Wohnungstür der Essigfabrikantenwitwe Johanne Rosine Hennig eine »gut ausmeublirte Stube nebst Alkoven« samt dem neuen Mieter der Stube und des Meublements. Ein junger Mann, »c. 25 Jahr alt, mit blassem Gesicht, blondem halblangen Bart, c. 73 Zoll groß, u. von schlanker Statur, bekleidet mit brauner Tuchtwine, grauen Hosen u. einer Deckelmütze«. So wird ihn, wenige Stunden, nachdem wir in die Stube eingetreten sind, der Essigfabrikantenwitwensohn bei der Polizei beschreiben.

   Aber jetzt steht der so Beschriebene noch in der Stube, eben im Be-


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griff, »einen Biberpelz mit Biberfutter« und dazu »Aufschlag u. schwarzen Tuchüberzug« entgegenzunehmen. Die Rechnung dafür freilich, ausgestellt über die Summe von 72 Talern am heutigen 20. März 1865, sollte uns stutzig machen, würde uns sogar, wären wir nicht auf so ungewöhnlichem Wege auf den Thomaskirchhof und in die Stube gekommen, zu einem Ruf des Schreckens, der Warnung oder zumindest des Erstaunens veranlassen. Aber da wir stumme Zuschauer der Szene bleiben müssen, verschwindet der junge Mann aus der Stube und mit ihm der Pelzmantel, und unsere Befürchtungen bestätigen sich endgültig, als sich beide erst am nächsten Tag und nach eingehenden polizeilichen Nachforschungen wiederfinden und als sie vom flüchtigen in den festen Zustand des Polizeigewahrsams überführt sind. In der Stube jedoch steht nun noch immer der von seinem Pelzmantel und seinem Kunden verlassene Kürschner und dreht nervös eine Visitenkarte zwischen den Fingern, auf der, mit Bleistift gekritzelt, die Namens- und Berufsbezeichnung Hermes Kupferstecher steht.

   Der Polizei freilich, zumal der findigen sächsischen, bleibt der wahre Name dieses Kupferstechers nicht lange verborgen. Nach der Arretierung am darauffolgenden Tag muß er bald zugeben, »daß er Carl Friedrich May heiße, in Ernstthal heimatberechtigt u. dort Lehrer gewesen sei . . .«

   Schon im Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1972/73 (aus dem wir soeben zitiert haben)(10) hat Hainer Plaul auf den »komödiantische(n) Zug« der Namenswahl ›Hermes‹ hingewiesen: die Benennung des Trickbetrügers mit dem griechischen ›Gott der Diebe‹ lasse »Ähnlichkeit mit einem Schalk« erkennen, der »seine Opfer noch während der Tat belacht«.(11) Ganz zwanglos fügt sich da an, was wir beim Blättern in ebendiesem frühen Jahrbuch von 1972/73 entdecken: Als Schriftstellernder Schalk und alles personificierender oder symbolisierender Bücherschreiber läßt sich das weltreisende ›Ich‹ dieses Carl Friedrich May da, Jahrzehnte nach dem Leipziger Kriminalfall, von Sir John Raffley in ›Et in terra pax‹ apostrophieren.(12) Und dann entdecken wir in einem der sächsischen Steckbriefe, die nach dem »unwürdigen Mitglied des Lehrerstands« fahnden, noch dazu die Bemerkung: »hat auch häufig ein Lächeln um den Mund«.(13)


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Spätestens hier wird klar, daß uns bisher keineswegs der Zufall, sondern vielmehr der Gott des ›glücklichen Fundes‹, auf griechisch des ›Hermaion‹, die Hand geführt hat. Der Gott Hermes, lateinisch Mercurius, ist nämlich weit mehr als nur der Gott der Diebe. Er ist auch der Patron der Wanderer und der Reisenden, der »menschenfreundli-


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che Begleiter und Bewahrer reisender Könige und abenteuernder Heroen« (so ein Antikenlexikon, der ›Kleine Pauly‹(14)), der flügelbeschuhte Unbehauste zwischen den Welten der Götter und Menschen, insbesondere aber der Gott, der die Seelen geleitet, hinab in das dunkle Reich des Unterirdischen, über das bei den Griechen der Gott Hades mit seiner Gemahlin Persephone, bei den Germanen dagegen die Göttin Hel, auch Hulda, Perchta oder Holle, regiert.

   Darüber hinaus ist Hermes aber auch der Gott der Schelmenstreiche, der Erfindungen und – nicht zuletzt – der Redner, so daß ich vielleicht doch hoffen darf, unter seinem mächtigen Schutz diesen weit schweifenden Vortrag zu einem glücklichen Ende zu führen. Daß der Sohn des olympischen Zeus und der Nymphe Maja schließlich auch noch als Vater der Dolmetscher und Herolde gilt, zieht nur noch eine weitere Querverbindung zu Karl Mays (nicht zuletzt von ihm selbst) weithin gerühmten Sprach- und Übersetzungskünsten.

   Werfen wir einen kurzen Blick in die mythische Kindheit des trickreichen Gottes, dessen Urenkel übrigens, abstammend vom Hermes-Sohn Autolykos, dem Mythos zufolge, der so listenreiche wie weitgereiste Odysseus war. Dabei folgen wir der mythischen Spur des Göttersohns nach der Darstellung des ungarischen Altphilologen Karl Kerényi, der dem Thema ›Hermes, der Seelenführer‹ eine tiefschürfende Studie gewidmet hat: Maja, deren Name eher auf eine Urmutter, eine »weise und gute alte Frau«, als auf eine gewöhnliche Nymphe hindeutet, Maja also gebar ihr göttliches Kind Hermes in der Unterwelt einer »tiefbeschatteten Höhle«: »Frühmorgens wurde er geboren, mittags spielte er auf der Leier, abends stahl er die Rinder des Gottes Apollon« – alles an einem einzigen Tag, dem seiner Geburt!

   Dabei zeichnet sich der Rinderdiebstahl durch einige Züge aus, die dem May-Kenner recht rasch vertraut erscheinen: Er treibt die Kühe nämlich rückwärts »auf dem sandigen Boden, so daß ihre hinteren Hufe vorne waren und die vorderen hinten«.(15) Sich selbst machte er dazu geflochtene Sohlen aus Tamarisken- und Rindenzweigen, die er sich unter die Füße band, um seine Spur unkenntlich zu machen.

   Sein Halbbruder, der Gott Apollon, der den Dieb verfolgte, war denn auch, dem Homerischen Hymnos über Hermes zufolge, reichlich verdutzt über das sonderbare Fährtenbild im sandigen Boden:

Ei, potz tausend! Welch seltsames Wunder erblickt da mein Auge!
Ist das denn nicht die Spur meiner Kühe, der gradegehörnten?
Aber sie ist ja nach rückwärts gekehrt zur Asphodeloswiese.
Schritte sind das! So treten nicht Männer, nicht Weiber; die Löwen
spuren nicht so; grauhaarige Wölfe und Bären doch auch nicht!
Wars ein Kentaur mit zottigem Nacken – ich will es nicht hoffen;
Der auf eilenden Füßen plump und so ungeschlacht stapft.
Schrecklich ist's diesseits des Weges, noch schrecklicher jenseits des Weges.(16)


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Apoll freilich läßt sich nicht täuschen, sondern folgt, ein anderer Old Shatterhand alias Kara Ben Nemsi, der Spur des Räubers. Der freilich hat sich, als er den Verfolger hört, rasch in seiner Wiege versteckt und in seine Windeln gewickelt. Als Apollo ihn nach dem Verbleib der Rinder fragt, antwortet er scheinbar harmlos und kindlich naiv: »Gestern bin ich geboren, zart sind meine Füße und hart der Boden!«(17) Apoll allerdings glaubt ihm kein Wort, sondern droht:

Komm heraus aus der Wiege, Genosse der schwärzesten Nacht du!
Denn die Unsterblichen werden nunmehr auf folgende Weise dich ehren:
Räuberhauptmann heißen sie dich in künftigen Tagen!«(18)

Nachdem dann freilich der zürnende Apoll das Kind aus der Wiege gehoben hat, läßt der göttliche Schalk in die Hand des Bruders »ein Zeichen fahren, einen bösen Boten des Bauchs«, so daß Apoll ihn vor Schreck gleich fallen läßt. Gemeinsam gelangen sie schließlich zu Zeus, ihrem Vater, der Schiedsrichter spielen soll zwischen den beiden. Apoll schildert noch einmal den Rinderdiebstahl mit den trickreichen Spuren, während Hermes erbost seine Unschuld beteuert: »Ei, potztausend, ich wars nicht! Der Kuckuck hol euer Rindvieh!« »Zeus aber«, so fährt der Hymnos fort, »lachte schallend heraus beim Anblick des Kindes, das voll übler Gedanken so findig und trefflich daherlog«.(19) So befiehlt der Göttervater den beiden, sich zu versöhnen. Aus einer Schildkröte, die ihm gleich nach der Geburt über den Weg lief, hat Hermes eine Leier gefertigt; sie überläßt er dem Halbbruder Apoll, der ihm dafür den Rinderdiebstahl verzeiht. Zeus freilich nimmt Hermes den Schwur ab, nie mehr so unverschämt zu lügen, was der Göttersohn auch verspricht, allerdings mit dem einschränkenden Zusatz, was er nicht versprechen könne, sei, stets die volle Wahrheit zu sagen. Zum Zeichen der Versöhnung verleiht ihm Apoll den Heroldsstab und macht ihn zum Geleiter der Seelen, zum Psychopompos, mit der »Vollmacht als Bote zum Hades«,(20) der unterirdischen Welt der Toten, der Schatten.


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So sind wir denn wieder in der Unterwelt angekommen, wo wir kurz innehalten, um noch einmal Karl Kerényi zuzuhören:

Die Nacht des (seelenführenden) Psychopompos, die Nacht des Zeugens und die Nacht des Sterbens – tragen wir diese nicht in uns? Als eine ungetrennte Nacht, die sich der Nacht da draußen, wie eine Schwestererscheinung der großen, allumfassenden Welt, gern zugesellt? (. . . ) Es ist wohl dieselbe dunkle Tiefe, der auch wir entstammen. Vielleicht kann Hermes darum so überzeugend vor uns schweben, uns auf unseren Wegen führen, goldene Schätze in jedem mit Finder- und Räubergeist ergriffenen Augenblick zeigen, weil er seine Welthaf-


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tigkeit aus uns, oder richtiger: durch uns schöpft, wie man Wasser aus einem Brunnen, richtiger aber noch: durch den Brunnen aus noch viel tieferen Tiefen der Welt hat.(21)

Damit haben wir freilich die Spannweite der Hermeswelt noch lange nicht erschöpft. Er ist vor allem auch der Gott des Künstlertums, insbesondere der erzählenden, phantasieerfüllten Verwandlung der Welt. Dabei umfaßt die Realität der Hermeswelt extreme Pole: die phallische Fruchtbarkeit und Zeugungskraft ebenso wie die einfühlsame Seelenbegleitung, die über den Tod hinaus in Jenseitiges hinüberweist; das täuschende und tricksende Hochstaplertum ebenso wie die Fülle der Wahrheit und die Vielfalt der Erkenntnis.

   Verzichten wir darauf, allen Parallelen dieser Hermes-Wirklichkeit zu Karl May, wie sie gelegentlich wohl schon zwischen den Zeilen aufblitzten, penibel nachzuforschen, auch wenn der sächsische Schullehrer den Namen des Gottes in hermesgemäßer Frechheit als ›glücklichen Fund‹, freilich mit letztlich wenig wirklichem Glück, in Anspruch nahm. Sprechen wir nicht über den phallischen Aspekt der weithin zielenden und unfehlbar treffenden Gewehre, vernachlässigen wir den mächtig ragenden Bärentöter und den schnellschüssigen, allzeit bereiten Henrystutzen, lassen wir auch die vielfach bemerkten hermaphroditischen Züge der Mayschen Figuren, von Winnetous küßlichen Lippen bis zur zwielichtigen Geschlechtsidentität der Tante Droll, außer acht, um uns auf nur wenige, zu Ort und Anlaß dieses Vortrags passende Aspekte der Beziehung May – Hermes zu beschränken.


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»Was ist das, dieses Zu-sich-selber-Kommen des Menschen?«

   So eröffnet Christa Wolf ihre kritische Reflexion der DDR-Realität in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, mit der Frage als Leitmotiv für ihr Thema ›Nachdenken über Christa T.‹

   Es geht in diesem Erzählwerk um das Schicksal einer jungen Frau, die mit Mitte Dreißig an Leukämie stirbt. In fragmentarischen, vielfach gebrochenen und teilweise aus verschiedenen Perspektiven erzählten Passagen ersteht das Lebensmosaik eines Menschen, der sich mit den real existierenden Verhältnissen nicht zufriedengeben will. Christa T. glaubt an die Macht der Phantasie, an den aufrechten Gang, und sie sucht nach dem Sinn ihrer Existenz; die Ich-Erzählerin dagegen macht sich, Jahre später, getrieben von der Erinnerung und gequält vom frühen Tod der Schulfreundin, daran, die Trauerarbeit schreibend zu leisten, die im letzten Satz des Buchs in die Frage mündet: »Wann, wenn nicht jetzt?« Dabei setzt Christa Wolf das Leben ih-


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rer Vornamensschwester in präzisen Bezug zur Geschichte der DDR: im »Frühsommer dreiundfünfzig« etwa läßt sie ihre Hauptfigur in einem (bezeichnenderweise nicht abgeschickten) Brief an deren Schwester schreiben: »Du weißt, wie das ist: Die Zeit geht schnell, aber an uns vorbei. Diese Atemlosigkeit oder diese Unfähigkeit, tief einzuatmen. Als ob ganze Teile der Lungen seit Ewigkeiten nicht mehr mittun. Kann man aber leben, wenn ganze Teile nicht mehr mittun? (. . . ) Mir steht alles fremd wie eine Mauer entgegen. (. . .) Ich weiß nicht, wozu ich da bin.«(22)

   Die Depression treibt Christa T. in die Nähe des Selbstmords, aus der sie auch der Arzt nicht befreit, der ihr erklärt: »Am besten, mein Fräulein, sie kommen zu mir in die Therapie. Sie werden begreifen müssen, worauf es ankommt. Bei ihrer Intelligenz (. . .) Sie werden sich anpassen lernen.«(23) Aber Christa T. überwindet trotz dieses Arztes die Depression mit der trotzigen Entschlossenheit der Gegenfrage: »Und wenn nicht ich es wäre, die sich anzupassen hätte?«(24)

   Das Buch Christa Wolfs, heute noch äußerst lesens- und nachdenkenswert, wurde der DDR-Führung zum Ärgernis, wobei der westdeutsche Kritiker Marcel Reich-Ranicki mit seiner Schnellschußdiagnose »Christa T. stirbt an der Leukämie, aber sie leidet an der DDR«(25) den Kern der Sache ebenso verfehlt wie die Worthülsen, mit denen die Kulturfunktionäre teilweise auf das Buch reagierten: »Das Revolutionäre zeigt sich heute darin, wie in harter ökonomischer, politischer und ideologischer Auseinandersetzung mit dem Imperialismus das entwickelte gesellschaftliche System des Sozialismus in der DDR zugleich als Modell für das künftige Deutschland gestaltet wird. Und zwar als das Werk wissender und bewußter Menschen, als Ergebnis wissenschaftlicher Planung und komplexer Leitung gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse unter der Führung der marxistisch-leninistischen Partei. Daraus ergeben sich auch Kriterien für die Gestaltung des sozialistischen Menschenbildes, das seine Maßstäbe aus Zügen des Revolutionären in unserer Epoche ableitet.«(26)

   Wo so gesprochen wird, ist Hermes ebenso fern, wie die Grundwahrheiten von Leben und Tod verfehlt werden. Sicher leidet Christa T. an der sich in den fünfziger Jahren formierenden, sich verfestigenden und schließlich selbst einmauernden DDR; aber daß das sanfte Pathos, mit dem dieses Buch mahnt, weit mehr ist als eine bloße Kommunismus-Schelte, hat der westdeutsche Kritiker Rolf Michaelis schon 1969 in der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹ präzis benannt, auch wenn er das Kürzel ›DDR‹ zeittypisch (und inzwischen wieder aktuell) zwischen die berüchtigten Anführungszeichen setzt: »Da gibt es keinen Zweifel: Dies ist eines der wichtigsten Bücher aus der »DDR« seit langem. Es stellt die Wahrheitsfrage – und ein Gesellschaftssystem auf die Probe. Wer die Berechtigung dieser Frage erkennt, wird sich, zu-


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mal als Leser in der Bundesrepublik, hüten, dieses Buch mit dem Händereiben der Schadenfreude zu lesen. Was leuchtet an unserem Himmel? Menschlichkeit, Güte? Oder Verachtung gegenüber dem Lebendigen, Mord«?(27)

   Christa T. stirbt an der Blutarmut, der Leukämie; sie leidet aber an dem, was ein ehemaliger Schüler von ihr, jetzt Medizinstudent, stolz als neugewonnene Einsicht verkündet: »Der Kern der Gesundheit ist Anpassung (. . .) Anpassung um jeden Preis.«(28)

   War das nur, so stellt sich uns die Frage, der Kernsatz der einstigen DDR, undenkbar westlich des Stacheldrahts und des Todesstreifens? Paßt der Satz nicht fugenlos in jede Management- und Firmenphilosophie und in so manche westdeutsche Schulstube?


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Damit stellt sich die Frage nach der rechten Erziehung des Menschengeschlechts, und wir kehren zu unserem Autor zurück, der sich selbst gern als Lehrer seiner Leser bezeichnete. Wir kommen damit zugleich endlich zu den beiden mehr oder weniger rätselhaften Kürzeln im Untertitel meines Vortrags, Willy E. und Wiltrud von B., die, nicht ganz absichtslos, Christa Wolfs Titel nachahmen.

   Ihre Königliche Hoheit, Wiltrud, Prinzessin von Bayern, Tochter des letzten bayerischen Königs Ludwigs III., und Willy Einsle, Sohn des Münchner Amtsgerichtsrats Julius Einsle, beide im Abstand weniger Jahre 1884 beziehungsweise 1887 geboren, standen von der Zeit der Jahrhundertwende an bis zu Mays Tod mit dem Radebeuler Schriftsteller in regem brieflichem und persönlichem Kontakt.

   Die Prinzessin ist bei ihrem ersten May-Kontakt dreizehn Jahre alt, Willy Einsle gerade fünfzehn, und so beschränken sich Wiltruds erste Anfragen denn auch durchaus auf die abenteuerlich-stoffliche Seite von Mays Werk: »Wie alt ist Kara Ben Halef? Lebt Osko und wo? Lebt Amad el Ghandur? Wann starb Marah Durimeh?«(29)

   Gleichzeitig führt die Prinzessin freilich fleißig Tagebuch, und so überliefert sie uns selbst ihre Reaktion und die ihrer Schwestern auf Mays Brief vom 9. 8. 1902: »Ich muß nachholen, daß vorigen Abend, als ich ins Bett ging und mich zum Beten anschickte (Helmi war vorausgegangen) Helmi so aufgeregt war. Nachher zeigte mir Josepha und Helmi einen Brief – den längsterwarteten vom Karl May. Helmi hüpfte im Zimmer umher, ich war aufgeregt, während Josepha den Brief las. Anfangs klang es, als ob May spinne, nach und nach versteht man das Geschriebene ganz gut.«

   Die Gefühle der zu diesem Zeitpunkt achtzehnjährigen Prinzessin und ihrer Schwester Helmtrud lassen sich ohne größere Probleme


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nachvollziehen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die beiden auf abenteuerliche Auskünfte eingestellt waren und nun Sätze lasen wie: Der Mensch soll lieben wie die Rose, deren Duft aufwärts steigt, wenn dieser Strahl sie öffnet. Wessen Liebe ist wie Rosenduft, der will nur erfreuen, denn er kennt keine Selbstgedanken. So will ich heut in diesem Briefe wie eine Blüthe vor meiner gütigen Leserin stehen.(30)

   Das Erstaunliche dieser beiden Korrespondenzen ist nun freilich, wie rasch sie einen ganz neuen Ton und eine vibrierende Intensität erhalten. Den Ausgangspunkt skizziert Willy Einsle in seinem Brief vom 29. 12. 1902: »Lieber Herr Doktor, wenn Sie nur in meiner Seele lesen könnten. »Himmelhochjauchzend, bis zum Tode betrübt!« Bisher betrachtete ich alles nur als Spielerei, ein bischen auf geistigem Gebiete nachdenken, das gefiel mir. Aber jetzt soll es anders werden, gewiß!«(31)

   Hier spricht ohne Zweifel jemand, der, wie auch die Prinzessin, mit großem, fast verzweifeltem Ernst seinen Weg sucht durch das so schwierig, kaum zugänglich erscheinende Gelände der verlogenen bürgerlichen Moral des wilhelminischen Deutschland. Und Karl May beantwortet diese Hilferufe nicht als fabulierender Schwätzer mit hohlen Phrasen (wie ihn die Kritik gerade zu dieser Zeit bevorzugt darstellt), sondern als psychologisch einfühlsamer, beinahe analytischer Seelenführer. Seine Antworten eröffnen uns eine neue Perspektive auf seine Hermes-Gestalt: in ihr steckt auch ›Karl May als Erzieher‹, eine Rolle, die er selbst in seinen Erzählungen, theoretischen Schriften und Briefen mit großer Beharrlichkeit immer wieder für sich reklamiert. Seine Bedeutung für die beiden jungen Korrespondenzpartner wird schlaglichtartig deutlich in zwei Zitaten aus seinen Briefen an Adele Einsle, Willys Mutter, der ihr Sohn übrigens jeden Einb1ick in seinen Briefwechsel mit dem verehrten Radebeuler ›Onkel‹ verwehrte. Als sie sich einst besorgt in Radebeul mit der Frage beklagte, was denn die Welt bloß einmal aus ihrem guten Jungen machen werde, da antwortete ›Onkel Karl‹ zwei Tage später (11. 2. 1906) zugleich lakonisch und drastisch, mit zusätzlich vorangestelltem Ausrufezeichen: !Nix soll sie aus ihm machen! Sie kann doch nur das aus ihm machen, was er aus sich machen läßt!(32) Und schon einen Monat vorher hatte er Willys Mutter in ihren Zukunftsängsten getröstet:

Glauben Sie mir, meine Freundin: Das Größte und das Wichtigste, was im Innenleben Ihres Kindes geschehen kann, vollzieht sich eben jetzt: Es wird der Geist in ihm geboren, der Geist, den Gott für ihn, für ihn allein bestimmte. Erlauben Sie, daß ich hierzu Hülfe leiste! Lassen Sie keine Pfuscher heran, keine erzieherischen Dummköpfe, keine knöchernen Pedanten! Der Geist, der jetzt erscheinen will, soll nicht als ordinäre Raupe durchs Leben kriechen. Er soll Flügel bekommen, Flügel, die ihn tragen, so wie der Tag vom Morgen- und vom Abendroth zu Gott emporgetragen wird.(33)


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Und Mays Hinweise, obwohl in nur wenigen Briefen artikuliert, tragen so reife Frucht, daß der Zögling am Ende nicht nur die schwierige Balance zwischen Phantasie und Realität immer besser bewältigt, sondern daß er auch den Seelenführer selbst ohne Schwärmerei und Verklärung zu sehen vermag (8. 6. 1908): »Mein Ideal bist Du immer noch, aber jetzt eins von Fleisch und Blut, das in der Realität existiert, das wohl auch Fehler haben darf, ohne deshalb etwas einzubüßen (. . .)«.(34)

   Und die Fehler bezeichnet Willy in der Folgezeit dem nach wie vor hochverehrten und bewunderten Onkel so präzis, daß Klara May ihm dafür prompt Kindlichkeit und Unreife attestiert.(35)

   Seine Berufswahl – Mediziner und Psychiater – ist ebenso intensiv von dem durch das Schicksal Karl Mays geweckten Interesse am Rätselwesen Mensch bestimmt wie sein weiterer Geistesweg. 1912 bricht er zwar alle Verbindungen nach Radebeul ab, als er erkennt, daß es Klara May nach dem Tod ihres Mannes nicht ›um die Wahrheit‹ geht, sondern darum, den Toten glorifizierend zu verfälschen; er bleibt aber lebenslang Karl May und vor allem dem Gedankengut von dessen humanistischem Spätwerk zutiefst verbunden.


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Auch Prinzessin Wiltrud wandelt sich unter Karl Mays Einfluß. Während die Tagebucheintragungen der Achtzehnjährigen noch deutlich eine unter der behüteten Schutzhaube der Hoferziehung retardierte Entwicklung erkennen lassen (»Wir unterhielten uns famos, am besten mit dem ›Schwarzenpeterspiel‹«), dekretiert sie mit 24 Jahren, nach einer ab 1906 stark intensivierten Korrespondenz mit May, in ihrem Tagebuch (23. März 1908): »Von heute an erkläre ich mich als erwachsen, ich bin kein Kind und kein ganz junges Mädchen mehr. Es ist der Wendepunkt in meinem Leben eingetreten, den ich so bald nicht zu erwarten hoffte, ich weiß jetzt, was ich will. Ich nahm Abschied von dem, was meinen Geist früher beschäftigte, und sehe jetzt, wenn Gott es so zuläßt, einer neuen Arbeitszeit entgegen. Abgeschlossen liegen Kindheit und Jugend mit ihren Zukunftsplänen hinter mir. Als auf eine meist glückliche Zeit blicke ich zurück. Die lange schmerzvolle geistige Häutung ging zu Ende und mit erneuerten Ansichten trete ich heute den ersten Tag dieser neuen Epoche an.«(36)

   Ob dieser Entschluß, den die Prinzessin, wohl aus Angst vor unerwünschten Mitleser/innen, in ihrem Tagebuch nicht genauer benennt, auf Mays ausführlichen Brief an sie vom 7. März 1908 zurückgeht, sei dahingestellt; ihre Fragen an May bei dessen Besuch in München am 10. Dezember 1909 zeigen aber ebenso wie ihre im Tagebuch immer wieder erwähnten wissenschaftlichen Studien, daß sie recht genaue


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und wohl recht unprinzeßliche Vorstellungen über ihren künftigen Lebensweg hatte. Aus ihren Andeutungen wird deutlich, daß es sich bei der Tätigkeit, auf die sie sich mit großem Ernst und sehr gezielt vorbereitet, nur um drei Möglichkeiten handeln kann: Forschungsreisende, Missionarin oder Schriftstellerin, eventuell auch alles drei in beliebiger Kombination.

   Dabei ist die erste dieser drei Möglichkeiten, so may-nah und absonderlich sie auch auf den ersten Blick klingen mag, keinesfalls abwegig: Für die Existenz als abenteuernde Forschungsreisende hatte Prinzessin Wiltrud ein ganz nah verwandtes Vorbild ständig vor Augen. Ihre Tante Therese von Bayern hatte, mit minimalem Gefolge, mehrere große Reisen unternommen, die sie für längere Zeit nach Rußland und Sibirien, aber auch mehrfach nach Süd- und Mittelamerika geführt hatten. Von diesen Reisen brachte sie einen reichen Fundus an ethnologischen und naturwissenschaftlichen Sammelobjekten mit nach München, wo sie heute ein Teil der Sammlungen des Völkerkundemuseums sind. Ihre Erlebnisse schilderte sie in mehreren Publikationen, zum Teil unter dem (leicht durchschaubaren) Pseudonym Therese von Bayer, zum Teil unter ihrem wirklichen Namen. Sie hielt Vorträge in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und war Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Vereinigungen. 1897 verlieh ihr die Universität München, als der ersten Frau in der Geschichte dieser Institution, das Ehrendoktorat, »in Würdigung der selbständigen Forschungen auf dem Gesamtgebiet der beschreibenden Naturwissenschaften, speziell der Botanik und Zoologie, sowie der Anthropologie«.

   Es ist sehr wahrscheinlich, daß diese Tante, die ihre gesammelten Objekte auch selbständig wissenschaftlich auswertete und elf Sprachen beherrschte, für Wiltrud zum unmittelbaren Vorbild wurde. Daß diese darüber hinaus freilich auch schriftstellerische Ambitionen hatte, zeigen mehrere, erstaunlich gelungene und deutlich an Mays freie Jambenketten angelehnte Texte in ihren Tagebüchern: »Das starre Bild der Felsenwände, die kalte Schlucht, des Wassers Sprache (. . . ) Wir sprachen wenig; gingen nicht mehr höher – und erst im Thale mußt ich reden, wie mir zu mute war, dem wilden Mädchen, das schon als Kind der Berge Kahlheit liebte. Umjagte mich der Sturm, so wollt ich jauchzen, ging hoch die See und schäumten weiße Wellen den Felsenstrand empor, so wars mir wohl zu Mute . . .«

   Im Zusammenhang mit diesen Zukunftsplänen steht auch ihr Wunsch, das Ehepaar May solle doch nach dem Augsburger Vortrag im Dezember 1909 nach München kommen und bei ihr Station machen.

   Ihrem äußerst ausführlichen Tagebucheintrag über diesen Besuch der Mays in der Münchner Residenz geht eine aufschlußreiche Passa-


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ge unmittelbar voraus, wobei sie die Stelle dieses Eintrags extra mit einem Merkzettel »Karl May Besuch« gekennzeichnet hatte: »Bibliotheksgeruch war mir oft schon widerlich (. . .) Trotz aller Prosa, allem Leid bin ich doch zusehr Idealist, um mich ohne Spezialinteressen, Arbeit, Liebe mit einem unthätigen sogenannten ›Prinzessinnenleben‹ abzufinden. Schließlich wenn sich mir anderweitig nichts mehr bietet als eben dies u. ich zuhause bleiben soll – dann verlege ich mich ganz aufs Schriftstellern und werde auf diese Art schauen, das Beste zu geben, was in mir ist, um Andern so zu nützen.«

   So galt ihr Interesse bei Mays Besuch, der tatsächlich zustandekam und am 10. Dezember 1909 stattfand, vor allem dem Ziel, den berühmten Schriftsteller über seine konkrete Schaffensweise zu befragen und von ihm Bestätigung für die eigenen Pläne zu finden: »(. . .) nach Tisch ging ich mit Bertha [von Wulffen] spazieren und es war mir bei der nicht kalten Luft und der starkbeschneiten Stadt so eigen zu Mute – als wollte ich K. May so vieles sagen und hätte doch nicht die Kraft dazu (. . .) Mein Kopf war gespannt. Um 4 Uhr kamen die Mays zu uns, so einfach, so gemütlich, daß beiderseits die Scheu schwand und man redete ohne Steifheit – so eben, wie wenn gute Menschen gut mitsammen sein wollen. Wir zeigten unsere Eidechsen, Pflanzen und indianischen Bücher, was letztere ihn natürlich interessierte. »Endlich einmal jemand der mich versteht« entfuhr es mir vor Freude »ich studiere die Sprachen, um den Indianer besser zu verstehen«. »Ganz richtig (übersetzt)« meinte er über meine Versuche, das Siux [!] Gebetbuch zu entziffern. (. . .) Was mich interessierte, war, daß er neben seinem Schreiben ununterbrochen Geschichts-, Sprachwerke und morgenländische Literatur, den Landescharakter studiert, bis spät in die Nacht hinein; im Krumir z. B. steckt in den ersten 4 Seiten eine Unmenge wissenschaftlicher Arbeit.«

   Anschaulich beschreibt sie in ihren umfangreichen Notizen das »Ehepaar May«: »Klara May, das ›Herzle‹, ist sehr groß und stark, aber nicht gerade dick. Ihre Züge sind scharf u. breit und die Augen – gar nicht norddeutsch – dunkelblau und klar. Unendlich sympathisch – war dieses ›Herzle‹, von großer Ruhe und praktischer Auffassung – eine Frau so recht wie ich sie mir denke – doch gar nicht hübsch. Schön, gut, und von wohlthuender Schärfe waren die Augen (. . .) Die Sprache verrät die nördliche Abkunft (sie ist glaube ich die Tochter eines Arztes aus Leipzig) Karl May selbst spricht so nicht, doch manchmal kommt ein Anklang an den sächsischen Dialekt. Sehr alt ist May geworden – sein Bart und sein langes Kopfhaar ist weiß geworden aber dieselbe Jugend, der unbesiegliche Humor die Heiterkeit seines Wesens, die uns aus den Büchern anspricht, sind ihm in aller Frische eigen. Die graublauen kleinen Augen – so unruhig und beobachtend – sind dieselben geist- und witzreichen geblieben.«


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   Haben Sie ihn erkannt? Den schriftstellernde(n) Schalk mit den geist- und witzreichen kleinen graublauen Augen? Hermeshaft waren offenbar auch die Geschichten, die der hier nicht schriftstellernde, sondern erzählende Schalk sich entlocken ließ: Alles, alles aus der legendenumwobenen Shatterhand-Zeit taucht wieder auf, von der Wundnarbe am Hals, erlitten im Zweikampf mit Winnetou, über den unglaublichen Ortssinn bis zu den umfassenden wissenschaftlichen Kenntnissen. Wiltruds gläubiges Staunen lockt ihn immer weiter ins Erzählen hinein, und so überliefert uns die Prinzessin auch eine Story, die auf ganz eigene Weise unser Thema von May als dem Seelenführer spiegelt – diesmal sogar ganz real als dem Führer über die Schwelle des Todes, in die Welt des Jenseitigen, Überirdischen. Die Elemente und die Stilebene der Kolportage bzw. der Erbauungsliteratur sind unüberhörbar: eine Erzgebirgische Dorfgeschichte bzw. ein anderer ›Weg zum Glück‹ mitten in der Zeit des Spätwerks:

Von den vielen Freuden, die Karl May erlebt, teilte er uns eine mit, die sich auch in Südbayern, vielleicht sogar in München, zugetragen hat. Ein sehr reicher Herr war am Sterben und auf die Mahnung seiner Köchin hin, die K.M.Leserin war, hätte er an die Vorbereitung zum Tode denken sollen, doch davon wollte er nichts wissen – er glaube nicht an Gott. Früher schon hatte er seiner Köchin, einer guten Katholikin, verboten, »von dem Kerl« (K. M.) Bücher zu lesen, doch sie that es eben dann des abends. Da das Testament gemacht war auf die Versicherung des Arztes, der Herr habe nur mehr 4 Tage zu leben, entschloß sich die Haushälterin, doch den Pfarrer kommen zu lassen, doch der Sterbende ihn sehend, richtet sich auf u. droht mit dem Stuhle in den Händen dem Eintretenden, den er also »hinauswarf«, doch meint der Pfarrer zu ihr: probieren wirs mit einem Buche. Er meinte ein K.M.Buch. »Doch das kennen Sie nicht!« Da sagte sie sie habe alle Bände, von welchen der Pfarrer ›In den Cordilleren‹ nahm und sie aufgeschlagen dem inzwischen Eingeschlafenen auf die Decke legte, sodaß beim Erwachen er die Stelle sah, wo ? ? [der Sendador, U. S.] am Seile über dem Abgrund hing und die Erinnerung an das vergangene Leben auftauchte. Als die Köchin vor der Thüre saß, vernahm sie das Wenden von Blättern und ein Schnüfeln, ging hinein u. der Erwachte frägt: wer hat das Buch hergelegt, dann: gehen sie jetzt und holen sie mir den Herrn Pfarrer. – Sie thut es und wie der Pfarrer herauskommt vom Sterbenden, sagt er, daß der Herr gerettet ist. – Schuld daran war das Buch und die unendliche Gnade Gottes. Aber der so mit Gott Versöhnte ließ einen Anhang seinem Testamente machen u. nach dem Tode – erbte die Köchin 30 000 M. aus Dankbarkeit, da ihr seine Bekehrung zu danken war. Sie that nichts Schleunigeres als nach Radebeul zu fahren und ihrem May alles zu erzählen. – Sie hat dann einen Bahnvorstand bei Amberg geheiratet und ihr erster Sohn wurde natürlich Karl getauft.

Das Ende von Prinzessin Wiltruds Aufzeichnungen im Dezember 1909 führt uns bezeichnenderweise wieder zurück zu der Stellung des Gottes Hermes zwischen Leben und Tod, zu den Grenzen, die ›Am Tode‹ und ›Am Jenseits‹ liegen, zu den Fragen, die Christa Wolfs ›Nachden-


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ken über Christa T.‹ bestimmen und die auch das zentrale Thema des späten May sind:

Ich sehe ihn noch vor mir im halb erleuchteten Zimmer – wo ich eben schreibe – stehen und mich mit ängstlicher Spannung ansehen: »Darf ich fragen – wollen Sie mir eine Frage ganz der Wahrheit gemäß beantworten?« »Ja«, sagte ich, in seine guten Augen blickend. Dann ein Moment des Innehaltens: »Glauben Sie an ein Jenseits?« »Ja« »Das ist recht, das ist recht von Ihnen.« »Wissen Sie, es ist mir nicht immer ganz bewußt, aber sehen Sie, ohne den Tod könnte ich mir gar kein Leben denken, es ist mir der Tod ein lieber Gedanke.« »Der Tod ist mein Geburtstag für die Ewigkeit – Werde ich noch den rechten Weg finden fast scheint es mir, als werde ich ihn nicht mehr erreichen.« Mir ist entfallen, was wir über so Hohes miteinander gesprochen, aber ich sagte doch: »Warum sollten Sie nicht dazu kommen?«


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Kehren wir aus der Münchner Residenz zurück in die Wirklichkeit der beiden deutsch-deutschen Staaten, von denen der eine ganz unübersehbar verstorben ist, der andere aber, genau besehen, ebenso tot ist, ohne daß das seine Repräsentanten und seine Bewohner so recht gemerkt haben. Die Frage nach dem Zu-sich-selber-Kommen des Menschen ist nicht zuletzt eine nach der Fülle an Wirklichkeit, nach den Grenzen der Wahrheit und der Erkenntnis, die dem Menschen zugemutet werden können. Karl May vertritt hier, Grenzen überschreitend in die exotischen Fluchträume des erträumten Abenteuers wie in die unendlichen Traumreiche des Unbewußten, eine letztlich romantische Position, wie sie beispielsweise August Wilhelm Schlegel formulierte: »Die romantische Poesie gefällt sich in unauflöslichen Mischungen: alles Entgegengesetzte, Natur und Kunst, Poesie und Prosa, Ernst und Scherz, Erinnerung und Ahndung, Geistigkeit und Sinnlichkeit, das Irdische und das Göttliche, Leben und Tod, verschmilzt auf das innigste miteinander.«(37)

   Wo anders als hier in Dresden wäre der Ort, dieses Gesamtprogramm für das Rätselwesen Mensch einzuklagen? Ein Programm, das zwar der Staat DDR, verkörpert in seinen Funktionären, in der Formel von der allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeit ständig auf den Lippen führte, seinen Bürgern aber im real existierenden Alltag ebenso permanent verweigerte. Nicht zufällig ist der sich in den achtziger Jahren, nach den skandalösen Vorkommnissen um die Biermann-Ausbürgerung, artikulierende Protest im literarischen Bereich entscheidend von der Neuentdeckung der einst verfemten Romantik geprägt (und die Rehabilitierung Mays ist hier vielleicht auch ein ganz kleines bißchen symptomatisch): Christa Wolfs Günderode-Novelle


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›Kein Ort. Nirgends‹ ist hier stellvertretend ebenso zu nennen wie Franz Fühmanns Neubewertung E. T. A. Hoffmanns.

   Den eben zitierten Satz August Wilhelm Schlegels habe ich übrigens vor zwei Tagen hier im schönen Museum der Dresdner Frühromantik von einer Wandtafel abgeschrieben, drüben in der Neustadt über der Elbe, im Haus ›Gottessegen‹, das der Maler Gerhard von Kügelgen mit seiner Familie bewohnte und das ein Brennpunkt der Dresdner Romantik war.

   Und nun ließe sich das Verwirrspiel mit Namen und Bezügen ins Labyrinthische fortsetzen, wenn wir in Wilhelm von Kügelgens (höchst lesenswerten) ›Jugenderinnerungen eines alten Mannes‹ gleich zu Anfang lesen, daß Karl Mays Landsmann Gotthilf Heinrich Schubert, der romantische Naturphilosoph und Psychologe, längere Zeit mit den Kügelgens im gleichen Hause wohnte und den Kindern stundenlang »wundersame Geschichten (. . .) zum besten gab«, aber den kleinen Jungen auch lehrte »Purzelbäume schießen«.(38)


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Schneiden wir die Verwirrfäden in die Vergangenheit ab und kehren wir in die deutsch-deutsche Gegenwart zurück. Daß auch die einstige Bundesrepublik mit ihren walkmanverstöpselten Ohren und ihren mattscheibenverklebten Augen das universale Menschen-Programm der Romantik nicht einlöst, brauche ich sicher nicht noch ausdrücklich darzulegen: die Poesie ist in den Werbefunk gewandert, Leben und Tod sind zum versicherungstechnischen Problem verkommen, und die Sinnlichkeit ist im Sexshop per Katalogbestellkarte zu ordern.

   Beide deutsche Staaten waren und sind Meister im Verdrängen und Verleugnen des Todes als der letzten Wahrheit, die am Grund des Brunnens der Vergangenheit als unsere Zukunft auf uns wartet. Hermes ist dem wiedervereinigten Getriebe und Geschiebe ebenso fern wie einst der DDR, die ihn mit Selbstschußanlagen und Todesstreifen auf bizarre Weise fernzuhalten suchte, die zugleich damit das Überschreiten von Grenzen als grundlegende Notwendigkeit des Rätselwesens Mensch zu leugnen suchte.


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Fassen wir in drei Texten noch einmal die Themen dieses Vortrags, aber auch die dieser Dresdner Tagung der Karl-May-Gesellschaft zusammen: Schon 1953, nach dem Juni-Aufstand und nachdem die


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DDR-Behörden ihm seinen Plan einer großen Faust-Oper ganz und gar zerschlagen hatten, komponierte Hanns Eisler den Abgesang auf die DDR. Er, der ihre Nationalhymne vertont hatte (die ja dann auch lange Jahre nicht gesungen werden durfte und deren Text von dem uns inzwischen vertrauten Johannes R. Becher stammte), er beharrte zeitlebens auf dem Recht des Menschen, traurig zu sein, und er bestand kraftvoll und unbeirrbar auch darauf, überwiegend die Moll-Tonarten statt des amtlich verordneten Optimismus-Dur zu verwenden. Im Herbst 1953 nun vertonte er ein kleines Lied von wenigen Takten. Seinen Text entnahm er dem Zyklus ›Unterwelt‹ in Heinrich Heines ›Neuen Gedichten‹. Dort sind die acht Zeilen seines Lieds der Schluß eines Terzetts Pluto-Proserpina-Ceres, griechisch Hades-Persephone-Demeter, der ernste Abschluß eines eher ironischen Capriccios über die Entführung der Proserpina-Persephone:

Zuweilen dünkt es mich, als trübe
Geheime Sehnsucht deinen Blick –
Ich kenn es wohl dein Mißgeschick:
Verfehltes Leben, verfehlte Liebe!

Du nickst so traurig! Wiedergeben
Kann ich dir nicht die Jugendzeit –
Unheilbar ist dein Herzeleid:
Verfehlte Liebe, verfehltes Leben!(39)

Die Antwort auf dieses bittere Heine-Gedicht, das in Eislers fahler Vertonung eine verzweifelte Schärfe gewinnt, habe ich ebenfalls vorgestern gefunden. Dazu muß ich ein Geständnis ablegen: Ich habe während des Vortrags von René Wagner etwas Verbotenes getan, dessen sich manche/r unter Ihnen wohl auch schon schuldig gemacht hat. Ich habe unter der Bank Karl May gelesen. Nicht, weil mich Herrn Wagners Aussagen nicht interessiert hätten, ganz im Gegenteil! Worin ich heimlich geschmökert habe, war der ›Große Traum‹ aus dem IV. ›Silberlöwen‹-Band, und der paßte so vorzüglich zu dem, was da draußen auf dem Podium zu hören war, daß ich Sie nur bitten kann, dieses großartige Stück Weltliteratur zu Hause noch einmal in aller Ruhe nachzulesen.

   Auch dieser Text ist eine Hermes-Paraphrase, in der es um den Weg in ein absonderliches Unterweltsgewässer geht, freilich auch wieder um den Weg hinaus, ins Freie. Es geht um den Weg aus Erstarrung, aus Versteinerung, aus seelischer Verhärtung. Dieser Weg ins Freie wird möglich durch den Spruch, den der in den Ustad verwandelte Ich-Erzähler dem Sockel des ›Versteinerten Gebets‹ gibt, vier Zeilen, die unmittelbar auf viele unserer Diskussionen auf diesem Kongreß und auch in unseren Tagen zu antworten scheinen:


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»Gesegnet sei, wer nach der Wahrheit suchte
Und ihr zu Füßen auch den Irrtum fand.
Drum leg ich ihn, den ich bisher verfluchte,
Mein Gott und Herr, in deine Gnadenhand!«
(40)


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Wir sind ausgegangen von der Frage nach dem Rätselwesen Mensch, dem wir durch sein »natürlich-lusthaftes« und sein »übernatürlich-elendes Dasein« nachzugehen versuchten.

   Darum war von je meine Lieblingsgestalt die Sphinx. Die sagte nichts; die ließ nur rathen. Darum wurde sie nicht gehaßt und nicht beneidet. Aber ich habe ihr leider nicht nachgestrebt, denn sie lag so still, und ich liebte die Bewegung.(41) So schreibt May in einem höchst bemerkenswerten Brief am 8. Juli 1904 an Sascha Schneider. Und den zentralen Fluchtpunkt seiner späten Jahre und Werke finden wir in einem Gedicht des 1965 verstorbenen großen Dichters Johannes Bobrowski, das er im Juni 1965 wohl als sein letztes schrieb:

Das Wort Mensch, als Vokabel eingeordnet,
wohin sie gehört, im Duden:
zwischen Mensa und Menschengedenken.

Die Stadt
alt und neu,
schön belebt, mit Bäumen
auch
und Fahrzeugen, hier

hör ich das Wort, die Vokabel
hör ich hier häufig, ich kann
aufzählen von wem, ich kann
anfangen damit.

Wo Liebe nicht ist,
sprich das Wort nicht aus.(42)



1 Thomas Mann: Joseph und seine Brüder. 1. Band. In: Thomas Mann. Das erzählerische Werk. Bd. 6. Frankfurt a. M. 1975 (Fischer Taschenbuch), S. 5

2 Eugen Drewermann: Frau Holle. In: Lieb Schwesterlein laß mich herein. Grimms Märchen tiefenpsychologisch gedeutet. München 1992 (dtv-Taschenbuch 35050), S. 364

3 Ebd.

4 Dresden. Stadt der Fürsten. Stadt der Künstler. Hrsg. von Katrin Nitzschke und Lothar Koch. Bergisch-Gladbach 1991, S. 232-36

5 Karl May: Ich war ein Dichter. In: Neuer deutscher Reichsbote. Deutscher Haus- und Geschichtskalender. Jg. 1873, S. 76. In: Ein wohlgemeintes Wort. Frühe Texte aus den Jahren 1872-1886. Reprint mit einer Einleitung von Peter Richter und Jürgen Wehnert. Veröffentlichung aus dem Karl-May-Archiv 2. Lütjenburg 1994, S. 31


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6 Drewermann, wie Anm. 2, S. 383f.

7 Ebd., S. 363

8 Johannes R. Becher: Auf andre Art so große Hoffnung. Berlin 1969 (Aufbau-Verlag), S. 224

9 Christa Wolf: Nachdenken über Christa T. Neuwied-Berlin 1975 (Sammlung Luchterhand 31), S. 5

10 Hainer Plaul: Alte Spuren. Über Karl Mays Aufenthalt zwischen Mitte Dezember 1864 und Anfang Juni 1865. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1972/73. Hamburg 1972, S. 204f.

11 Ebd., S. 210f.

12 Ebd., S. 168 – Siehe Karl May: Et in terra pax. In: China. Schilderungen aus Leben und Geschichte, Krieg und Sieg. Ein Denkmal den Streitern und der Weltpolitik. Hrsg. von Joseph Kürschner. Leipzig-Berlin 1901, S. 281; Reprint Bamberg/ Braunschweig 1976.

13 Königlich Sächsisches Gendamerieblatt. 27.7.1869. Siehe: Klaus Hoffmann: Zeitgenössisches über »ein unwürdiges Glied des Lehrerstandes«. Pressestimmen aus dem Königreich Sachsen 1864-1870. In: Jb-KMG 1972/73, wie Anm. 10, S. 117.

14 Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike. Bd. 2. München 1979 (dtv 5963), Sp. 1071

15 Karl Kerényi: Die Mythologie der Griechen. Bd 1: Die Göttergeschichten. Zürich 1964, S. 161

16 Homer: Hymnos auf Hermes. In: Homerische Hymnen. Übers. von A. Weiher. München 21961, S. 75

17 Kerényi: Mythologie, wie Anm. 15, S. 165

18 Homer, wie Anm. 16, S. 79

19 Ebd., S. 83

20 Ebd., S. 93

21 Karl Kerényi: Hermes der Seelenführer. In: Eranos-Jahrbuch 1942. Zürich 1943, S. 62f. – Der Essay wurde erstmals als Referat auf der Eranos-Tagung im August 1942 in Ascona vorgetragen.

22 Wolf, wie Anm. 9, S. 90

23 Ebd., S. 92f.

24 Ebd., S. 95

25 Marcel Reich-Ranicki: Christa Wolfs unruhige Elegie. In: Die ZEIT vom 23. 5. 1969. In: Wirkungsgeschichte von Christa Wolfs ›Nachdenken über Christa T.‹. Hrsg. von Manfred Behn. Frankfurt a. M. 1978, S. 62

26 Erwin Pracht/Werner Neubert: Sozialistischer Realismus – Positionen, Probleme, Perpektive. In: Behn, wie Anm. 25, S. 97

27 Rolf Michaelis: Der doppelte Himmel. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. 5. 1969. In: Behn, wie Anm. 25, S. 68

28 Wolf, wie Anm. 9, S. 141

29 Die Briefe der Prinzessin an Karl und Klara May und ihre Tagebucheintragungen sind noch unpubliziert; ihre zahlreichen, regelmäßig geführten Tagebücher befinden sich im Geheimen Hausarchiv München, dem für die Abdruckerlaubnis der hier vorgelegten Ausschnitte herzlich zu danken ist.

30 Karl May an Wiltrud von Bayern (9.8.1902). In: Karl May: Briefe an das bayerische Königshaus. In: Jb-KMG 1983. Husum 1983, S. 81 – Zu den Briefen Mays an das bayerische Königshaus vgl. Ulrich Schmid: »Mein höheres und eigentliches Vaterland ist Bayern«. In: Jb-KMG 1983, a.a.O., S. 123-45.

31 Willy Einsle an Karl May (29.12.1902). In: Karl und Klara May: Briefwechsel mit Adele und Willy Einsle. In: Jb-KMG 1991. Husum 1991, S. 19

32 Karl May: Brief an Adele Einsle (11.2.1906). In: Ebd., S. 64

33 Karl May: Brief an Adele Einsle (11.1.1906). In: Ebd., S. 62

34 Willy Einsle an Karl May (8. 6. 1908). In: Ebd., S. 90

35 Vgl. Brief Klara May an Willy Einsle (Anfang März 1910). In: Karl und Klara May: Briefwechsel mit Adele und Willy Einsle II. In: Jb-KMG 1992, Husum 1992, S. 71ff.

36 Siehe Anm. 29.


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37 August Wilhelm Schlegels Vorlesung über dramatische Kunst und Litteratur. 2. Teil. In: August Wilhelm Schlegel: Sämmtliche Werke. Hrsg. von Eduard Böcking. Bd. 6. Leipzig 1846, S. 161

38 Wilhelm von Kügelgen: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Ebenhausen bei München 1907, S. 17

39 Hans Eislers Lied ›Verfehlte Liebe‹, im Herbst 1953 entstanden, ist das vierte Lied in seinem Zyklus ›Sieben Lieder über die Liebe‹. Dieser erschien 1957 im zweiten Band von Eislers Sammlung ›Lieder und Kantaten‹ (VEB Breitkopf & Härtel, Leipzig); in Eislers ›Gesammelten Werken‹ (Deutscher Verlag für Musik) findet er sich in Band 16.

40 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXIX: Im Reiche des silbernen Löwen IV. Freiburg 1903, S. 343

41 Karl May an Sascha Schneider (8.7.1904). In: Karl May und Sascha Schneider. Empor zum Licht! Zur Entstehungsgeschichte der Sascha-Schneider-Titelbilder für die Gesammelten Reiseerzählungen Karl Mays. Hrsg. von Lothar Schmid. Bamberg 1991, S. 30

42 Johannes Bobrowski: Das Wort Mensch. In: Wetterzeichen. Berlin 1967 (Wagenbach), S. 78


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