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HANS-JÖRG NEUSCHÄFER

Karl May und der französische Feuilletonroman*



Im folgenden soll das Verhältnis Karl Mays zum französischen Feuilletonroman geklärt werden. In einem ersten Abschnitt wird zu erörtern sein, was der Feuilletonroman von seiner Ursprungsidee her eigentlich ist und wie er sich bis 1884 entwickelt hat. Dies ist das Erscheinungsdatum von Mays Lieferungsroman ›Der Verlorne Sohn‹, der besonders stark vom Zeitungsroman beeinflußt wurde. Der zweite Abschnitt wird dem ›Verlornen Sohn‹ gewidmet sein. Im dritten und letzten Abschnitt wird es um Mays Reiseromane und um die Frage gehen, ob und wie sie sich vom Vorbild des französischen Populärromans emanzipiert haben. Der Abschnitt über den Feuilletonroman wird ausführlicher sein als die beiden Abschnitte über Karl May. Ich denke, daß ich nur so eine Chance habe, den Karl-May-Kennern etwas zu sagen, was sie nicht längst wissen. Andererseits zielt die ausführliche Darstellung des Feuilletonromans von vornherein darauf, das Verständnis Mays aus einer bisher eher vernachlässigten Perspektive zu fördern.(1)


1. Der französische Feuilletonroman

Seit 1836 und mindestens bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs war der Feuilletonroman, der in Fortsetzungen erscheinende Erzähltext unter dem berühmten Strich, ein unverzichtbarer Bestandteil der französischen Tagespresse. Er befand sich in den lange Zeit nur vierseitigen, dafür aber sehr großformatigen Zeitungen meist im unteren Drittel der zweiten und dritten Seite, später auch auf der ersten und weiteren Seiten, vom redaktionellen Teil durch einen Balken oder einen dicken Strich abgetrennt. Nach dem Ersten Weltkrieg verschwand er zwar nicht, verlor aber zusehends an Bedeutung, zuerst zugunsten des Kinos, später – und das war entscheidend – zugunsten des Fernsehens, in dem der Feuilletonroman in Form von Fernsehserien gleichsam aufgehoben ist. Dieser Zeitungsroman, genauer: seine Geschichte, seine Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen sowie seine Inhalte wurden in einem Saarbrücker DFG-Projekt, das unter meiner Leitung stand, systematisch untersucht.(2)

* Vortrag, gehalten am 14. 10. 1995 auf der 13. Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Bad Segeberg.


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   Von vornherein stand der Feuilletonroman in einem Funktionszusammenhang, der dem der heutigen Massenmedien durchaus vergleichbar ist. Das leuchtet sofort ein, wenn man sich vor Augen führt, wie die Tageszeitung vor und nach der Einführung des Feuilletonromans aussah. Vorher diente die Zeitung fast ausschließlich der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Information und Meinungsbildung, kaum der Unterhaltung und schon gar nicht der Werbung. Entsprechend kleindimensioniert und stabil war die Auflagenhöhe der Tageszeitungen (weniger als 2000 Exemplare pro Ausgabe). Sie bedienten jeweils eine nur enge, politisch deutlich abzugrenzende und darüber hinaus betuchte Klientel: Zeitungen waren teuer. Das änderte sich in Frankreich grundlegend in der Julimonarchie. Jetzt wurde die Geschäftspolitik aggressiver; die Zeitungsverleger versuchten ganz bewußt, ihre Auflagenzahlen zu steigern. Dazu führten sie drei wichtige Neuerungen ein, die überhaupt erst die Grundlage für die Entwicklung eines echten Massenmediums bildeten: 1. eine radikale Verbilligung des Zeitungsabonnements; 2. das Annoncengeschäft (also die Werbung), dessen Einnahmen die Preissenkung kompensieren sollten; 3. den gezielten Einsatz des Feuilletonromans, um den Unterhaltungswert der Zeitung zu steigern.

   Der Feuilletonroman stand also von Anfang an in einem kommerziellen Kontext: er wurde als Waffe um die Eroberung von Marktanteilen für seine Trägerzeitung eingesetzt. Deshalb stand er unter Erfolgszwang, ja der Erfolg wurde zum Gradmesser seiner Qualität. Aus dieser Einbindung in die kommerzielle Spekulation, in den Umsatz schnellverderblicher Informations- und Unterhaltungsgüter und in den Konkurrenzkampf um die Gunst der Konsumenten erklärt sich in erster Linie der hektische Stil der Feuilletonromane, die reißerische Anlage und sensationalistische Aufmachung ihrer Geschichten und die melodramatische Gespanntheit ihrer Gefühlswelt.

   Der Feuilletonroman ist also alles andere als ein ›autonomes Kunstwerk‹ gewesen, weshalb es keinen Sinn hat, ihn am Maßstab einer normativen Ästhetik zu messen. Viel aufschlußreicher ist es, in der Geschichte des Feuilletonromans nach den Spuren einer Mentalitätsgeschichte des Publikums zu suchen. Denn gerade weil der Feuilletonroman auf breite Leserresonanz angewiesen war, darf man auch annehmen, daß er die Wertvorstellungen und Feindbilder seiner Konsumenten reflektierte. Deshalb sahen wir den Feuilletonroman nicht als das Produkt eines originalen Schöpfungsaktes an, sondern gleichsam als ›Medium‹, als einen Vermittler, der auf der einen Seite kollektive Stimmungen registrierte, der ihnen auf der anderen Seite aber auch erst eine erzählerische Gestalt gab, in der das Publikum den Ausdruck seiner Wünsche und Ängste wiedererkennen konnte.

   Gelesen wurde der Feuilletonroman nicht nur zu Hause, sondern


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auch im Café und in den Lektürekabinetten, in öffentlichen Lesestuben also, wo man gegen ein geringes Entgelt die Zeitung leihweise studieren konnte, wenn man nicht in der Lage war, sie zu abonnieren. Es ist bekannt, daß man vor den ›Cabinets de lecture‹ Schlange stehen mußte, wenn eine Zeitung einen besonders spannenden Roman veröffentlichte. Und noch am Ende des Jahrhunderts, als die Zeitungen so billig geworden waren, daß auch kleine Leute sie kaufen konnten, hatte der Feuilletonroman nichts von seiner Beliebtheit verloren, wie der folgende Ausschnitt aus einem Artikel in der seriösen und nichtsdestoweniger neidischen Monatsschrift ›Revue des deux mondes‹ beweist. Ich übersetze:

Stellen wir uns vor, wir kommen vom Ball. Es ist zwischen sechs und sieben Uhr morgens, und vom Fond unserer Kutsche aus beobachten wir das Schauspiel einer Pariser Straße. Arbeiter gehen zu den Fabriken, Fuhrmänner fahren auf ihren Karren vorbei, Hausmeister öffnen die Tür. Wir kreuzen den Weg der Milchhändler und Brotausträgerinnen. Und was bemerken wir? All diese Leute, oder fast alle lesen die Zeitung. Und was lesen sie darin? Das Feuilleton! Ein, zwei Stunden später hat das Leben wieder voll eingesetzt: Die Läden haben geöffnet, Trubel und Verkehr wieder begonnen; der Angestellte geht ins Büro, das Dienstmädchen zum Markt, der Verkäufer ins Geschäft. Doch die Zeitung ist immer noch das Leitmotiv der Straße. Was tut der Metzgerjunge auf dem Weg zu den Bestellungen? Er liest Zeitung. Öffnet man den Korb des Dienstmädchens, so findet man darin die Zeitung. Eines Morgens ging jemand in der Markthalle spazieren und wählte einen Gang, in dem niemand war. Ein tiefes Schweigen herrschte in der Halle. Und was lasen alle Marktfrauen inmitten ihrer ausgestellten Ware und ihrer Hühnchen? Sie lasen Zeitung. Und was lasen sie darin? Das Feuilleton! (...) Ob schädlich oder unschädlich, und leider eher schädlich, ist der Feuilletonroman heute tatsächlich das tägliche Manna der Massen.(3)

Auch wenn dieses Stimmungsbild gewiß übertrieben ist, kann man ihm doch gut entnehmen, wie wichtig der Feuilletonroman für die Verbreitung der Zeitung war. Tatsächlich kann man den Zusammenhang von Feuilletonroman-Einsatz und Auflagensteigerung an mehreren Beispielen auch mit Zahlen belegen. Ponson du Terrail z. B. brachte 1865/66 mit ›La Résurrection de Rocambole‹ dem ›Petit Journal‹ innerhalb von acht Monaten einen Zuwachs von 68 000 Lesern. Das entsprach einer Auflagensteigerung von 31%, die nachweislich nicht durch andere Umstände (etwa sensationelle Ereignisse im Tagesgeschehen) hervorgerufen wurde und die weit über das hinausging, was das Blatt im gleichen Zeitraum sonst zulegte.

   Es ist deshalb kein Wunder, daß gute Feuilletonroman-Autoren sehr gefragt waren und daß es die Stars unter ihnen, neben Ponson vor allem Alexandre Dumas (père) und Eugène Sue, zu märchenhaften Honoraren brachten. Ponson und Dumas bekamen bis zu 40 000 frs für einen Roman. Auch wenn dies nur ausnahmsweise geschah, ist es enorm. Man muß sich vor Augen halten, daß diese Summe ungefähr einer Viertel-


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million Mark in unserer gegenwärtigen Währung entspricht und daß so gefragte Autoren in einem Jahr oft mehrere Titel plazierten. Deshalb ist auch schon früh der Verdacht aufgekommen, daß ein einzelner so viel gar nicht allein schreiben konnte. In der Tat haben die bekanntesten Autoren eine Reihe von Zulieferern beschäftigt, und es begann jedenfalls schon in der französischen Julimonarchie das, was heute voll ausgebildet ist: die arbeitsteilige – und für einige auch lukrative – Unterhaltungsindustrie.

   Natürlich waren nicht alle Feuilletonroman-Schreiber auf Rosen gebettet. Gleichwohl gab die Zeitung einer Menge von Autoren Publikationschancen; sie war jedenfalls im 19. Jahrhundert der wichtigste Arbeitgeber für Literaten. Dennoch hat uns die Masse von Texten überrascht, die wir entdeckten. Sie sind die lange Zeit unsichtbar gebliebene Basis des ›Literaturhöhenkamms‹, der in den Literaturgeschichten bisher ganz allein in Betracht kam. Die Menge der Texte war so groß, daß wir uns für die Auswertung auf vier Querschnittsjahre – 1844, 1860, 1884 und 1912 – beschränken mußten. Für diese Schnittjahre wurde allerdings die gesamte Feuilletonroman-Produktion sämtlicher Pariser Tageszeitungen ermittelt, in der Annahme, daß sich am Vergleich der jeweils späteren mit den vorhergehenden Schnitten die Entwicklung, an den einzelnen Querschnitten selbst der Zustand des Feuilletonromans zu einem gegebenen Zeitpunkt werde ablesen lassen.

   Die Auswahl der Schnittjahre erfolgte nach praktischen und historischen Gesichtspunkten. Zum einen war darauf zu achten, daß sie einigermaßen gleichmäßig verteilt sind, zum anderen sollten sie repräsentativ sein für größere historische Abschnitte (Julimonarchie, Zweites Kaiserreich, Dritte Republik). Vor allem aber war die Bedeutung der Daten für die Geschichte des Feuilletonromans selbst zu berücksichtigen. 1844 kann als ein erster Höhepunkt der Entwicklung bezeichnet werden: zwischen 1842 und 1844 erschienen die ›Klassiker‹ von Dumas (›Le Comte de Monte-Cristo‹ und ›Les Trois Mousquetaires‹) und Sue (›Les Mystères de Paris‹ und ›Le Juif errant‹). 1860 befand sich der Feuilletonroman infolge der repressiven Zeitungspolitik Napoleons III. in einer schwierigen Situation – hier ließ sich die zählebige Legende von seinem angeblichen Niedergang widerlegen. 1884 brachte, nachdem drei Jahre zuvor die Pressefreiheit eingeführt worden war, einen absoluten Höhepunkt in der Produktion des Feuilletonromans, der nun auch eine erstaunliche Vielfalt an Formen und Themen entwickelte. 1912 schließlich mußten wir deshalb als Endpunkt setzen, weil die Kriegsereignisse 1914 eine normale Feuilletonroman-Produktion nicht mehr zuließen, so daß 1914 als Vergleichsjahr nicht in Frage kam. Andererseits erwies sich das Jahr 1912 insofern als gute Wahl, weil gerade hier die seismographischen Eigenschaften eines Mediums besonders zur Geltung kamen, das immer dann empfindlich reagierte, wenn etwas


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Bedrohliches in der Luft lag. In diesem Fall brachte die nahende Weltkatastrophe eine große Zahl von antizipierenden Kriegs- und Science-Fiction-Romanen hervor.

   Über diese Schnittjahre hinaus wurde die Feuilletonroman-Produktion noch über einen zusammenhängenden Längsschnitt verfolgt, und zwar für die Jahre 1860 bis 1870. Diese Zeit war deshalb für die Geschichte des Feuilletonromans besonders wichtig, weil in der Mitte der sechziger Jahre eine weitere Umstrukturierung der Presselandschaft stattfand. Die traditionellen Meinungsblätter bekamen Konkurrenz durch die neuartige, jetzt ganz auf Unterhaltung und Sensationsmache setzende Boulevard- oder Billigpresse, die nicht mehr ausschließlich im Abonnement (wie bisher), sondern stärker im Einzelverkauf vertrieben wurde – zu dem nun für jedermann erschwinglichen Preis von fünf centimes. Diese ›Presse à un sou‹ (1 sou = 5 centimes) setzte den Feuilletonroman erst recht in den Mittelpunkt ihrer Zeitungskonzeption, sei es dadurch, daß sie mehrere gleichzeitig abdruckte, oder dadurch, daß sie ihn täglich einsetzte und auch mit großangelegten Werbeaktionen ankündigte. Das widersprach dem Usus früherer Jahre, wo der Feuilletonroman zwar ein selbstverständliches Unterhaltungsangebot darstellte, aber doch eher zurückhaltend offeriert wurde und auch nicht jeden Tag erschien, denn er stand noch in Konkurrenz zu anderen Angeboten (der Theaterrezension oder der Parlamentsberichterstattung z. B.), denen er von Fall zu Fall und ohne Vorwarnung weichen mußte.

   Insgesamt haben wir in den vier Schnittjahren und im Längsschnitt von 1860 bis 1870 211 Tageszeitungen, 743 Autoren und 1410 Romane erfaßt. Erst diese Zahlen machen deutlich, wie wichtig das Phänomen des Feuilletonismus war und wie sehr es die ganze erzählende Literatur des 19. Jahrhunderts durchdrang. Denn es waren ja keineswegs nur die namenlosen Autoren, die für die Zeitungen schrieben; auch die großen taten es. Und andererseits begegnet der Stil des Feuilletonromans nicht nur in den Zeitungen selbst, sondern auch in vielen Texten außerhalb von ihnen. Autoren wie Balzac, George Sand und Emile Zola sind überhaupt erst ganz zu verstehen, wenn man sich klar macht, bis zu welchem Grad sie im Feuilletonismus wurzelten. Sämtliche Romane Zolas wurden zunächst für die Zeitung geschrieben und erschienen erst später als Buch; überhaupt ist die ganze Bewegung des Naturalismus ohne die Vertriebsbasis der Zeitung nicht denkbar. Und umgekehrt ist ein Roman wie Victor Hugos ›Les Misérables‹, obwohl er nicht in der Zeitung erschien, seiner ganzen Machart nach eigentlich ein typischer Feuilletonroman.

   Was das Publikum anbelangt, so waren die Leser bestimmt nicht ausschließlich kleine Leute, wie es der Verfasser des Artikels in der ›Revue des deux mondes‹ zu suggerieren versuchte. Dies schon gar nicht in den ersten Jahren des Feuilletonromans. In den 40er und 50er Jahren waren


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die Zeitungen noch zu teuer, die Analphabetenrate in den unteren Schichten noch zu hoch, als daß man von etwas anderem als von einem bürgerlichen Publikum ausgehen konnte. Andererseits hat der Feuilletonroman schon von Anfang an auf die Erweiterung seines Leserpotentials in das Kleinbürgertum und in die Arbeiterschaft hinein spekuliert. Schon in Sues ›Les Mystères de Paris‹ (1842) fällt die Sonderstellung des Portierehepaares Pipelet auf, das vom Helden ständig angesteuert und also vom Autor umworben wird. Übrigens ist Madame Pipelet noch Analphabetin und läßt sich Gedrucktes von ihrem Mann vorlesen. Auch in Wirklichkeit dürfte der Feuilletonroman zuerst durch die vorlesende Vermittlung Lesekundiger in die unteren Schichten eingedrungen sein. Sie konnten die ausgelesenen Zeitungen von einer Herrschaft abbekommen oder sich das Lesevergnügen in den ›Cabinets de lecture‹ billig verschaffen. Ein wirkliches Massenpublikum bekam der Feuilletonroman aber gewiß erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, als die Lesefähigkeit rapide zunahm und auch die Kaufkraft der kleinen Leute für die regelmäßige Zeitungslektüre ausreichte. Gleichwohl wird der bürgerliche Standpunkt weiter bevorzugt bedient. Man kann deshalb sagen, daß der Feuilletonroman im wesentlichen eine Lektüre für ein bürgerlich gesinntes oder mentalisiertes Publikum war, daß er sich aber keineswegs bloß an die Begüterten wandte, übrigens auch nicht nur an die Männer, wie der hohe Anteil von ›Frauentiteln‹ (meist Romane über Eheprobleme) sowie die erstaunlich große Anzahl weiblicher Autoren beweist (die sich allerdings meist hinter männlichen Pseudonymen versteckten).

   Der Feuilletonroman war, wie gesagt, auf breite Zustimmung angewiesen. Deshalb mußten sich seine Autoren Geschichten ausdenken, die weitgespannte, möglichst auch entgegengesetzte Interessen befriedigen und untereinander vermitteln konnten. Ich demonstriere das an den zwei erfolgreichsten Repräsentanten aus der Frühzeit der Gattung, die zugleich zwei ganz verschiedene Typen des Feuilletonromans repräsentieren: an Eugène Sues ›Les Mystères de Paris‹ (1842/43 im ›Journal des Débats‹ erschienen) und an Alexandre Dumas’ ›Le Comte de Monte-Cristo‹ (1844-46 im gleichen Blatt erstgedruckt).

   Mit Sues ›Les Mystères de Paris‹ beginnt in Frankreich die Geschichte des Sozialromans, die mit Zolas Rougon-Macquart-Serie am Ende des Jahrhunderts auf ihren Höhepunkt gelangte. Gezeigt wird bei Sue – wir befinden uns 1842/43 wohlbemerkt mitten in der Julimonarchie und damit im Sog eines erstmals schrankenlos expandierenden Wirtschaftsliberalismus –, wie durch die neuen ökonomischen Bedingungen – repräsentiert durch die Geldgier der romannotorischen Bösewichter – ganze Familien zerstört und wie deren Ernährer in unverschuldete Not, ja in die Kriminalität getrieben werden. Kurz: es wird eindringlich der Zusammenhang von Ausbeutung und Verelendung beschworen, mit


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besonderem Augenmerk auf die Proletarisierung einst angesehener und durchaus solider Kleinbürgerexistenzen. Damit wird vordringlich das Interesse der kleinen Leute bedient.

   Auf der anderen Seite aber steht – und damit dürfen sich auch die Angehörigen der oberen Schichten verstanden und ernstgenommen fühlen – die Lichtgestalt des Großfürsten Rodolphe de Gérolstein, der nicht nur unendlich reich, sondern auch unendlich barmherzig ist und wie eine Mischung aus Superman und Erlöser, aus Abenteuerheld und Jesus Christus wirkt. Er stürzt sich – um eine frühere Verfehlung zu sühnen – inkognito in die Pariser Unterwelt, in den demi-monde und in das Arbeitermilieu, aber auch in die Welt der unrechtmäßig reich gewordenen Halsabschneider. Überall waltet er seines quasi göttlichen Amtes: die Bösen zu bestrafen und die unschuldig in Not Geratenen zu retten und zu belohnen, sofern sie ihr schweres Los zuvor mit Resignation ertragen und sich nicht etwa aufmüpfig gezeigt oder gar revolutionär dagegen aufgelehnt haben. Es wird also bei Sue die Anerkennung des sozialen Elends mit der Hoffnung auf einen wertkonservativen Paternalismus verknüpft, der entweder durch direkte Aktionen oder durch die Einrichtung und Finanzierung mildtätiger Institutionen die schlimmsten Folgen der Ausbeutung kompensiert, das Gefühl für soziale Gerechtigkeit lebendig hält, das etablierte gesellschaftliche System aber nicht nachhaltig in Frage stellt. Im Hintergrund steht dabei stets die Hoffnung auf die Möglichkeit der Wiederherstellung harmonischer Familienverhältnisse, die gleichsam als Symbol, aber auch als Indikator für intakte oder gefährdete gesamtgesellschaftliche Verhältnisse fungieren. Fleur-de-Marie (man beachte den symbolbeladenen Namen!), die verlorengegangene, vorübergehend in die Prostitution abgesunkene, dennoch intakt gebliebene, schließlich wiedergefundene, vom Vater eigenhändig befreite und – wenn auch nur für kurze Zeit – in die Familie reintegrierte Tochter des Großherzogs ist gleichsam die Inkarnation von Gefährdung und Erlösung, von Deklassierung und Rekompensation, die in  e i n e r  Person die ganze soziale Spannweite des Romans umfaßt.

   Während wir in den ›Mystères de Paris‹ ein Paradigma für die Sehnsucht nach Erlösung durch einen anderen, Höheren, Mächtigeren, kurz durch einen Übervater haben, bietet Dumas’ ›Comte de Monte-Cristo‹ eine ganz andere Identifikationsmöglichkeit an. Er verkörpert die Sehnsucht nach Selbstbefreiung und nach ausgiebiger Rache an denen, die uns unversehens ins Elend gestürzt haben. Tatsächlich ist bei Dumas die Hauptfigur selbst ein Deklassierter, der seine Rehabilitierung eigenhändig betreibt. Edmond Dantès, ein junger Handelsschiffskapitän, hat zu Beginn des Romans alles andere als hochfliegende Pläne. Er erstrebt nichts weiter als eine mittlere bürgerliche Existenz und ein harmonisches Familienleben. Das aber verhindern seine Gegenspieler,


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skrupellose Arrivisten, die großen Vorteil aus seiner Demütigung ziehen. Während sie hoch hinauskommen, fällt Dantès in die Kerkertiefen des Château d›If. Erst nach Jahren unverdienten Leidens kommt er durch eine glückliche Fügung frei, entdeckt, durch einen Mitgefangenen entsprechend instruiert, den unermeßlichen Monte-Cristo-Schatz und widmet sich fortan, als Graf von Monte-Cristo (der er eigentlich gar nicht sein wollte), der raffiniert inszenierten Rache und der Wiederherstellung der Moral. Am Schluß sind die Glücksjäger bankrott und entehrt, Monte Cristo kann sich mit der schönen Haydée in ein Inselrefugium zurückziehen – und die biederen Durchschnittsbürger im Roman dürfen ihren auf bescheidenen Gewinn gerichteten Geschäftssinn fortan wieder ungestört walten lassen.

   Ich habe die Handlung sowie die Sympathie- und Antipathielenkung dieses über weite Strecken außerordentlich spannenden, stellenweise meisterhaft erzählten Romans absichtlich aufs Äußerste reduziert, um zu zeigen, daß der Feuilletonroman seinen Lesern keine bloße Phantastik bot, sondern ein Szenario, das sie mit ihren konkreten Lebensinteressen in Beziehung setzen konnten. Dabei wird deutlich, daß ›Le Comte de Monte-Cristo‹ die Deklassierungsangst, die gerade in der Julimonarchie grassierte, im Schicksal des Edmond Dantès gleichsam aufnimmt, um sie mittels der Konstruktion einer kompensatorischen Handlung zu beschwichtigen. Hierin besteht eine gewisse Ähnlichkeit mit Sues ›Mystères de Paris‹.

   Aber im Unterschied zu Sue sind der erniedrigte Dantès und der superreiche Graf von Monte Cristo ein und dieselbe Person. Und da der Retter von Haus aus kein Adliger mehr ist, sondern ein (Klein-)Bürger, der erst selbst erlöst werden muß, steht er der Masse der Feuilletonroman-Leser näher als der ferne Märchenheld Rudolf von Gerolstein. Aber auch Dantès-Monte Cristo bricht letztlich nicht mit der vorgegebenen gesellschaftlichen Ordnung. Er ist auch noch kein Selfmademan wie Old Shatterhand, der den Platz an der Sonne auf eigene Faust erkämpfen muß. Vielmehr handelt auch er letztlich noch in höherem Auftrag. Das kann man schon an seinem Namen ablesen, der nicht von ungefähr an Christus erinnert, aber auch daran, daß er den immensen Reichtum, der ihm überhaupt erst die ökonomische Basis für seine Gegenattacken bereitstellt, nicht etwa selbst entdeckt oder gar erobert hat, sondern daß er ihm durch einen providentiellen Zufall gleichsam zugeteilt wird. Bezeichnenderweise benutzt Monte-Cristo ihn im folgenden auch nicht in erster Linie dazu, sich selbst zu etablieren, sondern fast ausschließlich dazu, um die gestörte soziale Ordnung zu retablieren und den Status quo zu restaurieren.

   Man sieht: der Feuilletonroman hatte durchaus eine ›Lebenshilfe‹-Funktion. Dies war wohl – wie man auch aus den spärlich erhaltenen Leserbriefen entnehmen kann – zugleich der Hauptgrund für seine


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große Beliebtheit und macht verständlich, warum die Zeitungen so gute Geschäfte mit ihm machen konnten. Darüber hinaus hatte er ganz offensichtlich die Aufgabe einer Wertorientierung: Was im Sinne der bürgerlichen Moral akzeptabel und was ›unanständig‹ war, konnte man am Ausgang der Geschichten und am Schicksal der beteiligten Personen unmittelbar ablesen. Kaum ein Feuilletonroman auch, der nicht, im guten wie im bösen, dargelegt hätte, wie eine bürgerliche Familie zu funktionieren hat. Und schließlich hatte der Feuilletonroman in einer Zeit, in der Nachrichten noch spärlich flossen und auch unsicher waren, eine Informationsfunktion, die ihn, trotz des Trennungsbalkens, in die Nähe der Nachrichtensparten des redaktionellen Teils rückte: an den Börsenteil, die Gesellschaftsnachrichten, den Bereich der Tagespolitik, aber auch das ›Vermischte‹ – französisch: ›fait divers‹ – aus dem Bereich der Kriminalchronik. Daß der Feuilletonroman tatsächlich – und zwar von Anfang an – einen solchen journalistischen Aspekt hatte, kann man am ›Comte de Monte-Cristo‹ ebenfalls sehen, wo man über die Geschäfts- und Handelspraktiken, über die Konkursregelungen und die Nachrichtenübermittlung in der Julimonarchie ebensoviel erfährt wie über den Strafvollzug und die politische Stimmung im Land.

   Im übrigen verteidigte der Feuilletonroman zunächst eine frühbürgerliche Austeritäts- und Bescheidenheitsgesinnung gegen die Gefahren eines als schrankenlos und bedrohlich hingestellten Wirtschaftsliberalismus. Er ist im Prinzip also antikapitalistisch eingestellt, wobei es sich natürlich nicht um einen ›linken‹, sondern um einen konservativen Antikapitalismus handelte. Es war eine der wichtigsten Feststellungen unserer Untersuchung, daß der Feuilletonroman diese konservative Haltung relativ unbeeinflußt von der Tendenz der jeweiligen Trägerzeitung durchhält und daß er damit zu einer Art Ruhepol im liberalistischen ›struggle for life‹ wurde. Dies allerdings nicht in der idyllischen Manier der ›Gartenlaube‹; vielmehr setzt sich die bewahrende Lösung immer erst nach langen Kämpfen, oft im letzten Augenblick oder dank eines Deus ex machina durch. Das zeigt zugleich, daß der Feuilletonroman zwar vom ›wishful thinking‹ durchaus beherrscht war, daß er darüber aber keineswegs die Augen vor den realen Gefahren verschloß.

   So jedenfalls lagen die Dinge in den Schnittjahren 1844 und 1860. Erst im Querschnitt von 1884 läßt sich eine deutliche Sinnesänderung ausmachen. Man muß deshalb annehmen, daß zwischen den Schnittjahren von 1860 und 1884 ein Mentalitätswandel und eine Umorientierung der Wertvorstellungen einsetzte. Zwar bleiben die Wertsetzungen im Prinzip konservativ, aber sie verlieren deutlich an normativer Strenge. Charakteristisch für den neueren Feuilletonroman (ab 1884) ist infolgedessen das ständige Schwanken zwischen moralischen Bedenken und permissivem Gewährenlassen, zwischen der Rücksicht auf traditionelle Werte und der bisweilen schon zynischen Hinnahme neuer Verhaltens-


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möglichkeiten. Die Grenzen der bürgerlichen Moral, überhaupt der bürgerlichen Identität, die im frühen Feuilletonroman ziemlich scharf umrissen waren, beginnen sich also zu verwischen.

   Die nachlassende Strenge schlägt sich auch in einer größeren Akzeptanz gegenüber Themen und Betrachtungsweisen nieder, die früher verpönt waren. Das wiederum hat zur Folge, daß das Spektrum der Untergattungen oder der Spielarten des Feuilletonromans seit den achtziger Jahren wesentlich vielfältiger wird und daß die traditionellen Gattungsmuster allmählich umfunktioniert werden. Ich greife drei Beispiele aus dem Schnittjahr 1884 heraus, das auch das Erscheinungsjahr des ›Verlornen Sohnes‹ ist.

   1. Der Ehebruchs- und Scheidungsroman: 1884 war das Jahr, in dem die Abgeordnetenkammer das umstrittene Scheidungsgesetz verabschiedete. Es etablierte sich schnell ein ganz neues Genre, das wir den ›Ehebruchs- und Scheidungsroman‹ genannt haben. Hier kann man abermals sehen, wie ›journalistisch‹ der Feuilletonroman auf die Tagesaktualität reagierte, zumal die politische Diskussion in den Romanen gleichsam weitergeführt wird. Man kann im Scheidungsroman einen umfunktionierten Familienroman sehen, an dessen Ende nicht mehr, wie früher, die Idee der unverbrüchlichen, sondern die der auseinanderfallenden Familie steht.

   2. Der Sozialroman: Dieser erlebt in den achtziger Jahren eine neue Blütezeit, und zwar aus zwei ganz verschiedenen Anlässen. Der eine ist das wachsende Interesse des eher verängstigten bürgerlichen Publikums an der ›sozialen Frage‹. Den anderen Anstoß gab das neuhinzukommende Massenpublikum, zu dem auch Arbeiter gehörten, so daß deren Welt mitberücksichtigt werden mußte. Beiden Anlässen entsprachen vor allem die Romane Zolas und des hauptsächlich von ihm repräsentierten Naturalismus. Auch der Naturalismus nahm zugleich Ansätze des frühen Feuilletonromans auf. Der Sozialroman der achtziger Jahre hat allerdings eine ganz andere Handlungsgrundlage. Waren in den vierziger Jahren die Unterschichtler noch bloße Objekte paternalistischen Wohlwollens, so werden sie jetzt selbst zu Subjekten der Handlung.

   3. Der Sittenroman: Er ist für die veränderten Wertvorstellungen vielleicht am stärksten kennzeichnend. Der Sittenroman befriedigte das Interesse an ›Skandalen‹, an öffentlichen und an privaten. Privat geht es um erotische Eskapaden; öffentlich um geschäftliche, vor allem um die großen Finanzskandale der Dritten Republik. Der Bankenzusammenbruch erscheint dabei als d a s Fanal der gefährdeten bürgerlichen Solidität. Das Eigenartige dieser Gattung ist nun, daß sie den Leser nur halbherzig zur Empörung über derartige Entgleisungen anhält, ja, daß sie mehr oder weniger ungeniert zugleich auf die Faszination spekuliert, die das prickelnde Spiel um alles oder nichts ebenso ausübt


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wie die fiktive Teilhabe an erotischen Abenteuern – beides Dinge, zu denen dem Durchschnittsbürger normalerweise die Risikobereitschaft fehlt. Man findet diese Zweideutigkeit am eindrucksvollsten in Maupassants ›Bel Ami‹ (1885) und in Zolas ›Argent‹ (1891) – beides Feuilletonromane, in denen das Motiv des Börsen- und Finanzkrachs mit der Lust am Voyeurismus gekoppelt ist.


2. Karl Mays Lieferungsromane (am Beispiel von ›Der verlorne Sohn‹(4))

Wenn wir uns nun dem deutschen Autor zuwenden und dabei noch einmal Revue passieren lassen, was zur Geschichte des französischen Feuilletonromans vorher ausgeführt wurde, drängen sich sofort zwei Feststellungen zu Mays Lieferungsromanen der achtziger Jahre, speziell zum ›Verlornen Sohn‹ auf:

   1. Karl May  i s t  ganz offensichtlich von der Feuilletonroman-Tradition Frankreichs stark geprägt worden; zumindest sind die weitgehenden strukturellen und ideologischen Übereinstimmungen mit Händen zu greifen.

   2. Gleichzeitig ist aber auch zu sehen, daß es sich im wesentlichen um Übereinstimmungen mit dem französischen Feuilletonroman der vierziger Jahre, nicht mit dem des Schnittjahres 1884, das auch das Erscheinungsjahr vom ›Verlornen Sohn‹ ist, handelt.

   Zur Erinnerung: Bei der Betrachtung des französischen Feuilletonromans konnten wir im Querschnitt durch 1884 zwei auffällige Trends beobachten, die es vorher nicht gegeben hatte: zum einen die Frivolisierung der bürgerlichen Moral; zum anderen die Einführung der Unterschichtenperspektive in die Spielart des Sozialromans, besonders durch Zola. Von beidem kann bei May keine Rede sein. Selbst in den Bordellszenen der Bände III und IV des ›Verlornen Sohnes‹ wird gerade nicht lüsterner Voyeurismus bedient, sondern ist alles darauf angelegt, die einschlägigen, nun allerdings vervielfachten Fleur-de-Marie-Martyrien im Sinne strengster Wohlanständigkeit zu reparieren, ja ungeschehen zu machen. Und auch die Darstellung des sozialen Elends anhand vieler Einzelschicksale bleibt, so eindringlich es stellenweise beschrieben wird, im wesentlichen im Rahmen dessen, was schon von Sue geboten wurde, vor allem im Rahmen einer braven Resignationsbereitschaft, die auf Gnadenbeweise und Reparationen ›von oben‹ wartet.

   Auffällig und in gewisser Weise originell ist allerdings – denn ich kenne keine Parallelen aus der französischen Literatur –, daß im ›Verlornen Sohn‹  b e i d e  Typen des klassischen französischen Feuilletonromans, der Sue- und der Dumas-Typ mit ihren jeweils ganz verschiedenen Fokussierungen der erzählten Welt, zu einer Art von feuilletoneskem Gesamtkunstwerk vereinigt werden, das gewiß auch hybride Züge auf-


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weist und die Länge der französischen Originale noch um ein Vielfaches übertrifft.

   Dem Sue-Schema entspricht die Darstellung des sozialen Elends und seiner Gründe (verbrecherische Geldgier) auf der einen und der Erlösung durch eine aristokratische, mit außerordentlichen Vollmachten ausgestattete Retterfigur (den Fürsten von Befour, auch ›der Fürst des Elends‹ genannt) auf der anderen Seite. Dem Geist Sues entsprechen ferner die Obrigkeitshörigkeit der Gutwilligen sowie der laufend wiederholte Hinweis auf einen gütigen Monarchen, der von Anfang an seine schützende Hand über den Helden hält, und auf eine um Gerechtigkeit bemühte, wenn auch quälend langsam arbeitende Justiz, kurz: auf ein gewiß reformbedürftiges, im Grunde aber intaktes politisch-soziales System. Sue entsprechend ist ferner die romantische, genauer die melodramatische Form der Narration, die den Leser von einem Extrem ins andere treibt und ihm keine vermittelnde Besinnung erlaubt. Die Oberbösewichter – allen voran der Erbschleicher Franz von Helfenstein sowie der Miethai Seidelmann und der jüdische Pfandleiher Levi, kurzum: die kapitalistischen Halsabschneider – sind abgefeimt, ekelhaft und abscheulich selbstsüchtig. Die Lichtfiguren dagegen – allen voran der unschuldig verurteilte Gustav Brandt, alias Fürst von Befour, sowie der Journalist Max Holm und der um seine adlige Herkunft geprellte Dichter Robert Bertram – sind engelhaft rein und penetrant altruistisch. Dem Opfermut unschuldig Leidender bleibt nichts erspart, was an Erniedrigung und psychischer Qual denkbar ist. Aber diese fast schon mythisch-archetypische Konfrontation zwischen dem Prinzip des Guten und dem Prinzip des Bösen macht nur die  e i n e  Seite des ›Verlornen Sohnes‹ aus. Die andere ist wesentlich aufgeklärter und für den modernen Leser erträglicher, und just diese andere Seite ist dem Einfluß des Dumas-Schemas zu verdanken.(5)

   Dem Vorbild Dumas’ entspricht vor allem die Modellierung des Haupthelden: Wie Edmond Dantès will Gustav Brandt zunächst nur eine mittlere, ja eine kleine Existenz mit bescheidenen Ansprüchen. Er ist ein begabter Polizeibeamter mit einem ausgesprochen bürgerlichen Berufsethos und einer – schon zu Beginn des Romans unter Beweis gestellten – professionellen Kompetenz. Dann erfolgt, wieder wie bei Dumas, die falsche Anschuldigung, die Erniedrigung des Protagonisten bis in die Tiefen des Zuchthauses, ja bis zur drohenden Todesstrafe, schließlich die weit weg führende Flucht und die mirakulöse Wiederkehr des von Gustav Brandt zum Fürsten von Befour mutierten Exsträflings, dem, wie dem Grafen von Monte-Cristo, seine unerschöpflichen Geldmittel providentiell in den Schoß gefallen sind, ohne daß wir etwas über die Umstände dieses Zufalls erfahren. Die Wandlung des armen Brandt zum superreichen Befour fällt ebenso in die mit Schweigen übergangene »Erzählkerbe«(6) wie die Nobilitierung und Berufung von


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Edmond Dantès zum Grafen von Monte-Cristo. Und wie im ›Comte de Monte-Cristo‹ übernimmt, nachdem er die Mittel dazu hat, der Erniedrigte selbst die Initiative, zur eigenen Rehabilitierung, aber auch zur Rache an den Gegenspielern und zur Befreiung jener, die, wie er, unschuldig in materielle und seelische Not geraten sind. Wie Monte-Cristo ist Befour zwar von höchster Stelle bevollmächtigt, die Justiz zu beschleunigen, ja die Gerechtigkeit selbst in die Hand zu nehmen und diese Restauration just bis zur Wiederherstellung des Status quo zu treiben; er ist also alles andere als ein Revolutionär oder Systemveränderer. Nichtsdestotrotz ist er – wie Monte-Cristo – insofern eigenständig, als er die Erniedrigung und die Beleidigung nicht mehr einfach hinnimmt, sondern sich tatkräftig dagegen zur Wehr setzt. Und wie bei Dumas haben wir es hier mit einem Typ des Helden zu tun, der moralische Beleidigung und soziale Deklassierung am eigenen Leib erfahren hat, ja der selbst ›von unten‹ kommt und der das ihm zugefallene Vermögen sogleich als Sozialverpflichtung begreift und dementsprechend verteilt. Die vielen hämischen Kommentare, die diesem und anderen Populärromanen des 19. Jahrhunderts in der Zeit des westdeutschen Salonsozialismus, d. h. in den siebziger Jahren, zuteil wurden und die derlei ›Trivialliteratur‹ als billige Vertröstung abqualifizierten (als ob Literatur je etwas anderes als kompensatorisch gewesen wäre), verkannten allesamt die zweifellos echte, weil aus der Tiefe des erschütterten Gerechtigkeitssinns kommende Sehnsucht nach sozialer Erlösung, wie sie einem solchen Handlungsschema zugrunde liegt.

   Kennzeichnend für das Dumas-Schema ist schließlich auch der Einsatz rationaler Mittel zur Bewältigung der verfahrenen Situation und zur Bestrafung der Schuldigen. Hier herrscht nicht mehr – wie noch im Sue-Schema – ein quasi biblischer Rachegedanke vor; Auge um Auge (die Blendung des Chourineur!), Zahn um Zahn; ausschlaggebend wird jetzt vielmehr die professionelle Schulung des ehemaligen Kriminalbeamten, der Spuren zu lesen, Überwachungen zu organisieren, Daten zu sammeln und auszuwerten, Mitarbeiter einzusetzen, Schlüsse zu ziehen, aber auch Kapital einzusetzen versteht, bis die Bösewichter überführt und mit Hilfe der staatlichen Justiz dingfest gemacht worden sind. Letztlich besiegt Brandt/Befour seine Widersacher durch die höhere Intelligenz, durch das überlegene Wissen und durch die bessere Strategie – alles Eigenschaften, die auch in den späteren Reiseromanen Mays, d. h. bei Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand, die Grundlage eigenständigen und erfolgreichen Handelns sind. Tatsächlich hatte schon Monte-Cristo fachliches Wissen – besonders im Finanz- und Börsenwesen – angewandt, um einen seiner Hauptgegner, den Bankier Danglars, nicht etwa physisch zu vernichten, sondern systematisch in den Bankrott zu treiben. Der Beleidigte, der nicht mehr bloß auf Abhilfe hofft, sondern diese – freilich erst nach himmlischer Weichenstellung – selbst


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organisiert und herbeiführt, ist insofern durchaus auf der Höhe der Zeit.

   Dennoch führt kein Weg an der Feststellung vorbei, daß Karl May im ›Verlornen Sohn‹ sich im wesentlichen auf Darstellungsmuster stützt, die im Feuilletonroman Frankreichs vierzig Jahre zuvor entwickelt worden waren. Insofern muß man seine Lieferungsromane, zumindest im konkreten Fall des ›Verlornen Sohnes‹, wohl eher als epigonal bezeichnen.


3. Karl Mays Reiseromane (am Beispiel von ›Winnetou I‹(7))

Mit Old Shatterhand, dessen Initiation man just in ›Winnetou I‹ miterlebt,(8) entsteht freilich ein neuer Typ von Populärromanheld. Einerseits ist auch er noch ein sozial Geschädigter, der den unerfreulichen Verhältnissen in der Heimat entflohen ist und der sich – wie viele reale Auswanderer jener Zeit auch – in das Land der (noch) unbegrenzten Möglichkeiten begeben hat. Andererseits emanzipiert er sich eben dadurch von den religiösen und gesellschaftlichen Vorbehalten, die in Frankreich noch in beiden Romanmodellen gegolten hatten: Bei Sue war der Held selbst noch ein Adliger; bei Dumas wurde er nachträglich nobilitiert. Und in beiden Fällen wurden die Protagonisten so stark von providentiellen Ereignissen begünstigt, daß sie im höheren Auftrag, fast wie die Repräsentanten Gottes, zu handeln schienen. In Mays Reiseerzählungen ist das nicht mehr so. Speziell in ›Winnetou I‹ ist der Protagonist wirklich ein Selfmademan, der sich die Kompensation für die zu Hause erlittene Unbill selbst erarbeitet und erkämpft: Als Hauslehrer und Landvermesser muß er zunächst zeigen, was er kann; dann wächst er in die Westmannrolle hinein, zunächst als Lehrling von Sam Hawkens, später als Schüler und Freund Winnetous. Bei den Apachen legt er gleichsam die Meisterprüfung ab und wird am Ende des ersten Teils in die Selbständigkeit entlassen. Sichtbares Zeichen dafür ist die Übernahme der Verfolgung des geldgierigen Santer, die er von nun an (in Zusammenarbeit mit von ihm angeleiteten Helfern) selbst zu verantworten hat. Damit arbeitet sich Old Shatterhand an die Rächer- und Erlöserrolle erst selbst heran, zu der die Helden früherer Feuilleton-Romane vom Himmel berufen wurden. Dabei spielt nur noch die eigene Qualifikation eine Rolle, kein ererbtes oder geschenktes Privileg. Und auch in Zukunft fällt dem schon Berühmten nie ein Erfolg in den Schoß; alles muß gründlich erarbeitet, strategisch vorgeplant und kriminalistisch ausgekundschaftet werden: erst dann erfolgt der spektakuläre Zugriff, bei dem sich kein Wunder mehr ereignet, sondern höchstens das Resultat sorgfältiger Vorbereitung zu bestaunen ist.(9) Das Kennzeichen des Mayschen Reiseromans ist es ja gerade, daß nichts mehr dem Zufall oder der


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Providenz überlassen wird. Selbst wenn die anderen glauben, es sei ein Wunder geschehen oder der Protagonist habe übernatürliche Kräfte – z. B. wenn dieser es mitten im Llano estacado auf die Verdurstenden regnen läßt –, waren in Wahrheit nur die physikalischen Kenntnisse im Spiel, die der Held sich in seiner Ausbildung angeeignet hat. Soweit Old Shatterhand noch die alte Funktion des Feuilletonroman-Helden erfüllt – Erlöser oder wenigstens Helfer der Unterdrückten zu sein, hier der bedrohten Indianerstämme, sowie Verfolger der in Santer personifizierten Geldgier, die am Elend der Unterdrückten schuld ist –, tut er dies mit einer ganz anderen Zielsetzung als seine Vorgänger: er hat sich nicht nur selbst durch gezieltes Erlernen von Handlungskompetenz emanzipiert; er möchte – in der Nachfolge des von weißen Rowdies ermordeten Klekih-petra – auch die unterdrückten Indianer dazu bringen, sich durch Lernen eine Basis zur Selbstbefreiung zu schaffen.

   Daß er dieses letzte Ziel trotz spektakulärer Zwischenerfolge nicht erreichen und daß er den Tod Winnetous ebensowenig verhindern kann wie den seines Vaters, seiner Schwester und seines Übervaters Klekih-petra, daß er also letztlich den Untergang jener bedrohten Vorbild-Familie mit ansehen muß, zu deren Schutz er, wie einst Gerolstein und Monte-Cristo, doch angetreten war, zeigt, wie der Populärroman bei Karl May trotz allem vom ›wishful thinking‹ Abschied zu nehmen beginnt. Genauer: den Wunschtraumcharakter gibt es selbstverständlich auch in den Reiseromanen noch, aber er beschränkt sich auf die immer wieder neue Bestätigung der eigenen Umsicht, Geschicklichkeit und Tapferkeit. Gegen die großen politisch-historischen Umwälzungen aber ist Old Shatterhand letztlich machtlos. Darin unterscheidet sich der Reiseroman nicht nur vom französischen Feuilletonroman, sondern auch von den Lieferungsromanen, denn in den beiden letztgenannten Gattungen wurde ja noch die Illusion genährt, Superman, der herausragende einzelne, könne das Rad der Geschichte anhalten, ja zurückdrehen. Im Reiseroman ist das nicht mehr so; und dieses Scheitern des ›Helden‹ gibt Anlaß zu melancholischen Reflexionen, in denen er selbst – ganz anders als Gerolstein, Monte-Cristo und Befour – über die Unerfüllbarkeit seines Wunsches nachdenkt.(10) Und nicht nur das: erst die Unerreichbarkeit des utopischen Ziels veranlaßt den Protagonisten überhaupt dazu, selbst zur Feder zu greifen und schriftlich Rechenschaft abzulegen über sein Tun.

   Dies geschieht bei May – ebenfalls im Unterschied zum französischen Feuilletonroman, aber auch zum ›Verlornen Sohn‹ – bezeichnenderweise in der Ich-Form. Bezeichnend deshalb, weil das Ego, das geschädigte und an jedem Romananfang erneut verkannte, das einzige ist, was am Ende noch gerettet bzw. erlöst werden kann; mit anderen Worten: letztes Ziel des Reiseromans ist nicht mehr die Rettung der Menschheit, sondern die Selbstbestätigung.


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   Daß der Held zum Erzähler wird und umgekehrt: daß der Erzähler sich durch die Modellierung der Heldenrolle selbst therapiert oder Trost spendet – dieses Selbstreflexivwerden des Populärromans war in Frankreich vollends unbekannt. Erst im Reiseroman ist Karl May wirklich zu sich selbst gekommen.



1 Dennoch ist auch hier an Vorgängerschaft zu erinnern. Für mich besonders förderlich: Volker Klotz: Woher, woran und wodurch rührt ›Der Verlorene Sohn‹? Zur Konstruktion und Anziehungskraft von Karl Mays Elends-Roman. In: Jahrbuch der Karl- May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1978. Hamburg 1978, S. 87-110; vgl. auch: Ders.: Abenteuer-Romane. Sue, Dumas, Ferry, Retcliffe, May, Verne. München 1979.

2 Hans-Jörg Neuschäfer/Dorothee Fritz-El Ahmad/Klaus-Peter Walter: Der französische Feuilletonroman. Die Entstehung der Serienliteratur im Medium der Tageszeitung. Darmstadt 1987; vgl. auch Hans-Jörg Neuschäfer: Populärromane im 19. Jahrhundert. Von Dumas bis Zola. München 1976 und Ders.: Eugène Sue et le roman feuilleton. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 4 (1978), S. 401-20.

3 Revue des deux mondes. Vol. 17, Période V (1903); der Autor des Artikels hieß Maurice Talmeyr.

4 Karl May: Der verlorne Sohn. Dresden 1883-85; Reprint Hildesheim-New York 1970ff.

5 Zur Gestaltung des Helden vgl. außer Klotz (wie Anm. 1) auch: Erwin Koppen: Christliche Mythen bei Alexandre Dumas und Karl May. In: Mythos und Mythologie in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Hrsg. von Helmut Koopmann. Frankfurt a. M. 1976, S. 199-211; Manuel Köppen/Rüdiger Steinlein: Karl May: Der verlorene Sohn oder Der Fürst des Elends (1883-85). Soziale Phantasie zwischen Vertröstung und Rebellion. In: Romane und Erzählungen des Bürgerlichen Realismus. Neue Interpretationen. Hrsg. von Horst Denkler. Stuttgart 1980, S. 274-92 (bes. S. 279-82); Gert Ueding: Die Rückkehr des Fremden. Spuren der anderen Welt in Karl Mays Werk. In: Jb-KMG 1982. Husum 1982, S. 15-39 (bes. S. 27ff.).

6 Klotz: Abenteuer-Romane, wie Anm. 1, S. 66

7 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. VII: Winnetou der Rote Gentleman I. Freiburg 1893

8 Vgl. dazu auch: Gerhard Neumann: Karl Mays ›Winnetou‹ – ein Bildungsroman? In: Jb-KMG 1988. Husum 1988, S. 10-37; Gunter G. Sehm: Der Erwählte. Die Erzählstrukturen in Karl Mays ›Winnetou‹-Trilogie. In: Jb-KMG 1976. Hamburg 1976, S. 9-28; Bernd Steinbrink: Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Studien zu einer vernachlässigten Gattung. Tübingen 1983; Christoph F. Lorenz: Old Shatterhand. In: Großes Karl-May-Figurenlexikon. Hrsg. von Bernhard Kosciuszko. Paderborn 1991, S. 486-92.

9 Vgl. Viktor Böhm: Berechnung und Überraschung. Erzähl- und Handlungsalgorithmen im Werk Karl Mays. In: Jb-KMG 1988. Husum 1988, S. 99-116; Volker Neuhaus: Old Shatterhand und Sherlock Holmes. In: Karl May. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1987, S. 146-58 (Sonderband Text + Kritik).

10 Ich kann nur klagen, aber nichts ändern, schreibt May angesichts des Untergangs der Indianer (May: Winnetou I, wie Anm. 7, S. 5).


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