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HELMUT SCHMIEDT

Identitätsprobleme
Was ›Satan und Ischariot‹ im Innersten
zusammenhält
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Wenn man im Karl-May-Handbuch nachschlägt, um sich den Plot des Romans ›Satan und Ischariot‹ in Erinnerung zu rufen, stößt man zunächst auf folgende Sätze: »Der deutsche Ich-Erzähler Old Shatterhand trifft in Mexiko mit dem Mormonen Harry Melton zusammen. Melton wirbt Arbeitskräfte für eine ›Hazienda del Arroyo‹ an, und ein Schiff bringt zu diesem Zweck deutsche Auswanderer herbei. Um dem abgelegenen Ort Guaymas zu entkommen, schließt sich der Held der Gruppe um Melton an.«(1)

   Diese Formulierungen fassen in der gebotenen Kürze treffend zusammen, wie die Handlung einsetzt. Was sie in diesem Rahmen nicht mitteilen können, sind die merkwürdigen Voraussetzungen, unter denen die genannten Hauptfiguren miteinander umgehen. Das vordergründig unkomplizierte, freundliche und für beide Seiten nützliche Verhältnis zwischen Shatterhand und Melton stützt sich nämlich auf falsche, fingierte Namen und Identitäten. Harry Melton, der sich außerordentlich fromm und gegenüber den Auswanderern, dem Haziendero und Shatterhand uneigennützig und hilfsbereit zu benehmen scheint, ist ein Heuchler, ein arger Bösewicht, der gerade jetzt allerlei finstere Pläne verfolgt. Aber auch Old Shatterhand bekennt sich nicht zu dem, was er ist: Er kommt nach langem Aufenthalt in der Wildnis mit zerlumpter Kleidung daher, verschweigt seinen allseits bekannten Kriegsnamen und gibt sich gegenüber dem Wirt seiner Herberge wie auch vor Melton als Litterat (I 13)(2) aus, was den Mormonen dazu bewegt, ihm eine Anstellung als Buchhalter auf der Hazienda in Aussicht zu stellen.

   Diese Konstellation allein würde noch keine besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen; daß Mays Ich-Held seine Identität verbirgt, ist – denken wir nur an die Old-Death-Episode in ›Winnetou II‹ oder an den vermeintlichen ›Gräbersucher‹ zu Beginn des ersten ›Surehand‹-Bandes – nichts Ungewöhnliches, und daß ein Verbrecher sich verstellt und seine wahren Absichten verschweigt, kann erst recht nicht überraschen. Aber die Dinge liegen komplizierter. Old Shatterhand ahnt

* Vortrag, gehalten am 13. 10. 1995 auf der 13. Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Bad Segeberg.


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von Anfang an, daß mit dem frommen Mann etwas nicht stimmt, und schließt sich ihm in der Rolle des Biedermanns an, um die Gefahr zu ergründen, die seinen Landsleuten möglicherweise droht. Umgekehrt gibt Melton zwar vor, der Versicherung des ›Litteraten‹ zu glauben, er sei trotz des übereinstimmenden bürgerlichen Namens nicht der berühmte Westmann Old Shatterhand, doch später (vgl. I 63ff.) stellt sich heraus, daß er ihn von Anfang an durchschaut und nur mitgenommen hat, um ihn besser unter Kontrolle halten zu können. Und es geht noch weiter mit den doppelbödigen Verstellungen: Selbst als Shatterhand erfährt, daß er erkannt worden ist, agiert er einige Zeit weiter unter der Maske des Greenhorns, genauso, wie auch Melton von der Voraussetzung ausgeht, den Argwohn des Begleiters erregt zu haben. Mit anderen Worten: jeder der Protagonisten schlüpft vor dem anderen in eine Rolle, die sein eigentliches Wesen kaschiert; sie wissen zwar, daß der Gegenspieler diese Manipulation durchschaut, aber das hält sie nicht davon ab, sie vorerst weiterzutreiben.

   Noch komplexer wirkt die Situation, sofern man bedenkt, daß May in diesem Roman die Identität von Autor, Erzähler und Ich-Held auf eine bisher unbekannte Weise forciert: Wir treffen das Ich ja nicht nur als Heros Old Shatterhand im Wilden Westen und als Kara Ben Nemsi im Orient an, sondern auch als einen Herr(n) Doktor (II 239), dessen Familienname einem der zwölf Monate entspricht (vgl. III 34f.), und als Mitglied eines Gesangvereins in Dresden, wo er von Winnetou besucht wird. Wenn wir nun zu Beginn des Textes erfahren, daß Old Shatterhand vor seinem Eintreffen in Guaymas als Journalist gearbeitet hat und sich daher mit einigem Recht als der ›Litterat‹ ausgibt, der sein empirischer Schöpfer de facto ist, wenn diese Prätention aber als Verkleidung dient, die jedoch sogleich durchschaut wird, so ergibt sich ein virtuoses innerliterarisches Durcheinanderwirbeln der realen Person Karl May und ihres auf mehreren Ebenen fiktiven Ichs.

   Wie gesagt: das Rollenspiel als solches, das Agieren unter dem Deckmantel einer falschen oder absichtsvoll mißverständlichen Identität kommt in Mays Romanen nicht selten vor. Man hat denn auch »den lustbetonten Wechsel von Verstellung und Enttarnung«,(3) den »Heldentypus der verdeckten Überlegenheit«(4) wiederholt beschrieben, und die Beobachtung, daß ein »unbezähmbarer Drang zum Rollenspiel«(5) in Leben und Werk Mays waltet, veranlaßte Claus Roxin dazu, in ihm einen Pseudologen zu erkennen. Manchmal läßt sich sogar die Grundkonstellation ganzer Romane mit entsprechenden Hinweisen erfassen: »falsche Söhne, falsche Väter, ein falscher Graf, falsche Ärzte, falsche Geistliche, falsche Richter«(6) – mit dieser Liste hat Heinz Stolte treffend umrissen, welche Probleme die Lichtgestalten im ›Waldröschen‹ plagen. Aber die Lage ist dort und in den meisten anderen Romanen Mays bei weitem nicht so kompliziert wie im ›Satan‹: Ziemlich rasch werden


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die Rollenspieler durchschaut, und dann kommt es in erster Linie darauf an, der richtigen Erkenntnis zur falschen Identität in der Praxis des Handelns Geltung zu verschaffen. In den zitierten Passagen um Shatterhand und Melton geht es dagegen nicht um derart schlichte Aufdröselungen dessen, was ist; May hat die Schraube des Spiels um Masken und Rollen noch ein beträchtliches Stück weiter gedreht, denn nicht die Erkenntnis der Wahrheit und die daraus zu ziehenden Konsequenzen stehen im Vordergrund des Interesses, sondern die Funken, die sich aus kunstvollen Verhüllungen schlagen lassen.

   Die These, die den folgenden Ausführungen zugrunde liegt, lautet nun, daß der aufwendige und folgenreiche Umgang mit dem Identitätsproblem in ›Satan und Ischariot‹ alles andere als nur eine Sache der Exposition ist; weit über den Anfangsteil hinaus steht dieses Thema zur Diskussion. Es prägt die Rhetorik des Romans ebenso wie die Entwicklung der Geschichte, die er erzählt; es ist in der Makrostruktur nachweisbar und in der Mikrostruktur. Sie werden dazu noch eine Vielzahl von Beispielen hören; für jetzt sei nur darauf verwiesen, daß nicht bloß der Weg zum ersten großen Verbrechenskomplex – zu dem um die Hazienda und das Bergwerk Almaden alto – über dieses Thema führt, sondern daß im Mittelpunkt des zweiten ein gigantischer Betrug steht, bei dem sich ein Mann aufgrund der Ähnlichkeit mit einem anderen ein Millionenvermögen erschleicht, tatkräftig unterstützt von seinem Vater, der eigentlich ein amerikanischer Schwerverbrecher ist, aber als ranghoher tunesischer Offizier zu größtem Ansehen gelangt.

   Man könnte diesen Komplex in die verschiedensten übergreifenden Zusammenhänge einordnen. Zum Beispiel in literaturhistorische: der Umgang mit den heikleren Aspekten der Identitätsbildung und -findung zieht sich wie ein Leitmotiv durch die Geschichte der neueren Dichtung. Sätze wie Rimbauds »Je est un autre«(7) sind weithin bekannt geworden, und wer sich etwas näher mit den berühmten Romanen Max Frischs und ihrer Erforschung befassen will, lernt so ziemlich als erstes, daß es darin eben um das Problem der Identität gehe und daß einem Satz wie »Ich bin nicht Stiller!«,(8) mit dem der Roman ›Stiller‹ beginnt, eine geradezu programmatische Funktion zukommt. Denkbar wäre auch, die Beobachtungen zum Text hinsichtlich ihrer Prägung durch die Persönlichkeit seines Autors zu prüfen; da wäre dann der erwähnte Befund zur pseudologia phantastica ebenso ertragreich heranzuziehen wie manches von dem, was Walther Ilmer in seinen Überlegungen zu den latent autobiographischen Seiten des Romans gesagt hat.(9)

   Ich möchte aber auf anderes hinaus. In den letzten Jahren ist wiederholt gefordert worden, die textinternen Besonderheiten des Mayschen Erzählens noch genauer als bisher unter die Lupe zu nehmen. Mir scheint, daß der hohe Rang, den schon und gerade die ›Satan‹-Exposition dem Identitätsthema einräumt, zu entsprechenden Analysen in die-


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sem Punkt herausfordert. Von der Beleuchtung der übergreifenden Zusammenhänge, so reizvoll sie sein könnte, sehe ich also weitgehend ab und frage statt dessen, wie May denn nun im einzelnen mit diesem Komplex verfährt, was er daraus macht, in welcher Hinsicht er damit umgeht.

   Zunächst einmal ist zu zeigen, wie gründlich May auf das Motiv der falschen bzw. vorgespielten und dann durchschauten Identität bis in Einzelheiten zurückgreift. Als Old Shatterhand Harry Melton und die Gruppe der Auswanderer verlassen hat, stößt er auf drei Indianer vom Stamm der Mimbrenjos, und obwohl er sich ihnen von der Sache her ohne weiteres gleich zu erkennen geben könnte, betreibt der Erzähler seine Identifizierung als einen aufwendigen Akt (vgl. I 103ff.). Etwas später warnt Old Shatterhand den Besitzer der Hazienda del Arroyo vor den Intrigen des Mormonen; er tut dies aber nicht als Old Shatterhand, sondern präsentiert sich als der, dem Melton die Stelle des Buchhalters versprochen hat und der folglich Zutritt zur Hazienda verlangen kann (vgl. I 115ff.). Feindliche Indianer erkennen Old Shatterhand nicht wieder, als er sich umgekleidet (I 242) hat, ein wenig das Gesicht verhüllt und mit veränderter Stimme spricht. Winnetou bietet noch im ersten ›Satan‹-Band, aus dem die bisherigen Beispiele stammen, ein vergleichbares Kunststück: Im Schutz der Dunkelheit nähert er sich einem gefesselten Indianer, tut so, als sei er einer seiner Schicksalsgenossen, der sich heimlich befreit habe, und zettelt ein Gespräch an, das ihm wichtige Informationen vermittelt (vgl. I 457ff.). In Band II taucht der Ölprinz Konrad Werner in einer Szene erstmals auf, in der es ihm Mühe bereitet, Shatterhand zu erkennen, denn er hat ihn nur einmal kurz vor längerer Zeit und unter ganz anderen Umständen gesehen (vgl. II 201ff.). Als Winnetou durch Nordafrika reist, schlüpft er in die Rolle eines Somali Ben Asra, und einmal läßt er sich – wiederum geschützt vom nächtlichen Dunkel – einige Stunden lang für Old Shatterhand alias Kara Ben Nemsi halten (vgl. II 411ff.), eine Manipulation, deren Erfolg nicht erstaunlich ist, denn wir hatten uns vollständig ineinander hineingelebt (II 491). Am Ende von ›Satan II‹ geben sich die dem Helden feindlich gesonnenen Uled Ayun als befreundete Meidscheri aus, um ihn und seine Freunde in die Falle zu locken (vgl. II 494); in Band III imitiert dies zum gleichen Zweck ein Yuma-Indianer, der sich zunächst als harmloser Zuni präsentiert hat (vgl. III 211); und wie Winnetou in der Rolle eines feindlichen Indianers Wichtiges erkundet, so agiert Old Shatterhand vorübergehend als sein Gegenspieler Thomas Melton, mit gleichem Erfolg (vgl. III 331f.). Hin und wieder machen sich tendenziell parodistische Züge bemerkbar: Die Töne eines quakenden Frosches bieten einem feindlichen Häuptling die Gelegenheit, Old Shatterhand mit einem solchen Tier zu vergleichen; tatsächlich werden sie von einem Mimbrenjo erzeugt, der Shatterhand damit verabredungsgemäß signalisiert, daß er zur Hilfe bereitsteht (vgl. I 223 und 227).


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   Die Beispiele zeigen unter anderem, daß Karl May im Prozeß seines Erzählens geradezu Reihen bildet, in denen nicht nur das Motiv des Verstellens als solches wiederholt wird, sondern auch die näheren Umstände und Absichten wiederkehren, unter geringfügig veränderten äußeren Voraussetzungen. Aber nicht allein die Repetition im schlichtesten Sinne dominiert; manchmal verbindet May sie mit dem Kompositionsprinzip der Umkehrung. Es wurde schon erwähnt, daß Harry Melton den ihm scheinbar freundlich gesonnenen Old Shatterhand von Guaymas zur Hazienda mitnimmt, um ihn beaufsichtigen zu können; umgekehrt ist später der Westmann bereit, Melton bei seinem Weg von der Hazienda zur Grenze des dazugehörigen Landes mitzunehmen, um ihn zu beobachten (I 132); jeweils gilt es, den zu erwartenden Attacken des Gegners unter dem Schein der falschen Rolle vorzubeugen.

   Des weiteren belegen die Beispiele, daß die Manipulation mit der Identität sich auf ganz unterschiedliche Weise vollzieht. Man kann, ohne irgendeine mit den Händen zu greifende Tarnung, schlicht behaupten, ein anderer zu sein. Man kann aber auch dank günstiger äußerer Gegebenheiten, wie sie etwa die nächtliche Finsternis bildet, in eine Rolle schlüpfen. Und man kann sich schließlich im buchstäblichen Sinne maskieren, verkleiden und dabei auch seine Stimme verstellen. Die Identität, die man vorspielt, kann frei erfunden, aber auch die einer tatsächlich existierenden Figur sein. Vieles ist da also möglich, und eine derart facettenreiche Ausfaltung des stetig wiederkehrenden Motivs verhindert Monotonie und Langeweile.

   Da so häufig und intensiv die Frage nach der wahren Identität traktiert wird, ist es nicht erstaunlich, daß dieses Phänomen auch in die Gespräche der Figuren mit beträchtlicher Vehemenz eindringt. Manch ein Satz bezeugt eindrucksvoll, wie sehr dieser oder jener der Vorspiegelung falscher Tatsachen erliegt; so ist Krüger-Bei erst einmal nicht davon abzubringen, in einem Schurken einen Tugendbold zu sehen, und verkündet auf Kara Ben Nemsis Andeutung von Skepsis: »Kalaf Ben Urik ist der größte Ehrenmann und strengste und gläubigste Moslem« (II 308f.). Manchmal lassen sich die verwirrten Verhältnisse nur mit höchst eigenwillig oder gar paradox klingenden Formulierungen erfassen: »Wenn Sie den Menschen einen Ehrenmann nennen, so ist der größte Schuft ein Caballero« (I 385), sagt Old Shatterhand über Harry Melton; mit den Worten Da er mich für Old Shatterhand hielt, der ich ja auch war (I 85), beginnt eine Erläuterung zum Verhalten derselben Figur. Small Hunter »ist eigentlich der Begleiter dessen, für den er sich ausgiebt« (II 272), lautet ein aufklärerischer Satz nicht etwa über Small Hunter, sondern über Jonathan Melton, und in einer weiteren Wendung über ihn und die allgegenwärtige Judith Silberberg ist die Rede von »seinem Weibe, welches nicht sein Weib ist« (III 135).

   Besonders ausführlich und gelegentlich auch einfallsreich geht die


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Sprache mit der religiösen Etikettierung des Brüderpaares Harry und Thomas Melton um; der ›Satan‹ im Titel der Buchausgabe ist bekanntlich auf Harry gemünzt, ›Ischariot‹ auf Thomas alias Kalaf Ben Urik. Beide Assoziationen werden ziemlich rasch an die beiden Schurken geheftet, und fortan zieht sich eine lange Kette von Formulierungen durch den Text, in denen etwa von einem Teufel in Menschengestalt (II 33), einem Lachen, das teuflisch (II 124) wirkt, einem diabolisch (III 191) und zugleich schön erscheinenden Gesicht und vom Judas-Charakter des Thomas Melton (II 408, 433, 450f., III 491) die Rede ist. Aber auch hier liegen die Dinge nicht durchgängig einfach. Als Ischariot gilt zwar in erster Linie Kalaf Ben Urik alias Thomas Melton, der seinen Förderer Krüger-Bei und später sogar den eigenen Sohn verrät, aber auch Harry wird mit diesem Begriff belegt, weil er den Besitzer der Hazienda, der so etwas wie sein Arbeitgeber ist, bösartig hintergeht (I 394). Darüber hinaus scheuen sich die wenig achtbaren Figuren nicht, ihrerseits die Feinde, also die guten Menschen, mit dem Reich des Satans in Verbindung zu bringen, sei es, daß sie Old Shatterhand den Teufel (I 217) grüßen lassen, im Teufel einen Gehilfe(n) (II 356) der Edlen entdecken oder gar Old Shatterhand selbst als Satan (III 479) und, wie bei Harry Melton geschehen, Teufel in Menschengestalt (III 488) bezeichnen; wieder macht sich das Prinzip der Umkehrung bemerkbar.

   Die religiös-mythische Dimension, die der Text den Protagonisten zuteilt, verknüpft sich gelegentlich virtuos mit den Irritationen, die hinsichtlich ihrer irdischen Persönlichkeit bestehen. So belauscht Old Shatterhand zu jener Zeit, da er noch die Rolle des ›Litteraten‹ und Harry Melton die des frommen Mormonen spielt, diesen im Gespräch mit einem Spießgesellen, und er wird dabei Zeuge der Äußerung, Old Shatterhand sei ein ganz gefährlicher Bursche und stehe mit dem leibhaftigen Satan im Bunde (I 70): eine hochgradig doppelbödige Feststellung, denn tatsächlich harmonieren ja der Westmann und ›Satan‹ Harry Melton an der Oberfläche ihrer Unternehmungen miteinander, und ›leibhaftiger‹ als die Romanfigur Melton kann man sich Gottes Widersacher kaum vorstellen. Eine der letzten diesbezüglichen Stellen des Romans bietet einen Fluch Jonathan Meltons an Old Shatterhand: »Der Satan vernichte Euch!« (III 494) – womit wir wieder am Anfang angelangt wären, denn letztlich ist es ja sogleich das Bestreben Harry Meltons, den von ihm vermuteten Umtrieben Old Shatterhands möglichst wirkungsvoll in den Weg zu treten. Wir sehen, wie sehr Karl May auch im Rahmen der – ansonsten eher schwach ausgeprägten – religiösen Implikationen(10) mit Identitätsfixierungen und ihren Erschütterungen spielt.

   Es ist eine Banalität, daß zur Identität des Menschen der Name gehört, und die gerade registrierten Benennungen bilden nur einen Teil des Spiels, das der Roman auch mit diesem Aspekt unseres Themas treibt: Um Namen, um das, was sie mitteilen, signalisieren und bedeu-


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ten, geht es immer wieder. Wenn Old Shatterhand und Winnetou erkannt werden, wenn ihr Name fällt, dann zeitigt dies oft – wie Harald Eggebrecht schon beobachtet hat(11) – unmittelbare und weitreichende Konsequenzen für das Geschehen: Gute Menschen freuen sich und fühlen sich durch die Nähe zu den Heroen be- und gestärkt; böse Menschen erschrecken, verfallen sogar in Tatenlosigkeit und Panik oder flüchten kurzerhand. Umgekehrt vermag Old Shatterhand aus den Namen, die ihm zu Ohren und zu Gesicht kommen, in schöner Regelmäßigkeit treffliche Schlüsse zu ziehen: Von einem Indianer, der ›schwarzer Biber‹ heißt, vermutet er, daß er sehr geschickt im Schwimmen und Tauchen sei (II 170); als er den Namen Kalaf Ben Urik hört, kommt ihm der wie ein selbstgemachter (II 270) vor, und er ahnt gleich, daß mit seinem Träger etwas nicht stimmt; auf wenigen Seiten wird geschildert, wie Shatterhand allein dank der Namen die richtige Identität von Menschen und die falsche Identität einer Sache erkennt: Pajaro heißt Vogel (III 140), also sind die Musiker, die unter den Künstlernamen Marta und Francisco Pajaro auftreten, seine ehemaligen Schützlinge Martha und Franz Vogel, während der Wein, der für viel Geld gekauft wurde, nicht der ist, als der er gelten soll, denn auf dem Etikett steht als Herkunftsort ›Riedesheim‹ statt ›Rüdesheim‹ (III 147f.). Über eine äußerst zwielichtige Figur bemerkt Winnetou: »Wie sein eigentlicher Name ist, weiß ich nicht; er wird gewöhnlich der Player genannt« (I 378); der Mann gehört zunächst zur Partei der Schurken, aber als ›Spieler‹ nutzt er – in dieser Hinsicht eine von ganz wenigen Figuren in Mays Gesamtwerk – die Chance, die Seite zu wechseln, und am Ende befindet er sich in der Reihe der guten Menschen. Die Koryphäen indes sind über solche Vagheiten erhaben, und so nimmt ein Winnetou klaglos die Rolle an, die ihm auf seiner Afrikareise oktroyiert wird: »Nennt Winnetou wie ihr wollt; er bleibt doch der Häuptling der Apatschen« (II 278).

   Man sieht, daß sich das Spiel um richtige und falsche Identitäten und alles, was damit zusammenhängt, wie ein Netz über den Roman legt; besser noch: daß kaum etwas in diesem Roman geschieht, was nicht im engeren oder wenigstens im weiteren Sinne mit der Identitätsproblematik zu tun hat bzw. mit ihr verbunden ist. Ich habe diese Dominanz bisher überwiegend anhand vieler einzelner Szenen und Motive nachzuweisen versucht, doch das, was für die ersten Erlebnisse von Old Shatterhand und Harry Melton gilt, gilt auch für den gesamten Roman: Er wird in seinen großen Linien, in seiner Tektonik, in den Grundstrukturen seiner Entwicklung ebenfalls durch das Identitätsthema geprägt. So agiert Shatterhand über Hunderte von Seiten hinweg in der Begleitung von zwei vorerst namenlosen Söhnen eines befreundeten Mimbrenjohäuptlings; das Unternehmen dient ihnen dazu, sich durch große Taten an der Seite des berühmten Mannes die Namen zu erwerben, mit denen sie in die Reihen der erwachsenen Krieger treten (II 198),


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und daß sie schließlich Yumatöter und Yumaskalp heißen, verrät unmißverständlich, wie eng diese Ambition der Identitätsbildung und die erfolgreich absolvierten abenteuerlichen Prüfungen zusammenhängen. Noch substantieller erscheint, was die drei Hauptschurken teils allein, teils miteinander anstellen bzw. anstellen wollen: Harry Melton hat zwar von den Mormonen den Auftrag erhalten, Land zu erwerben, aber seine Aktivitäten – vom Überfall auf die Hazienda bis zur Ausbeutung der deutschen Auswanderer als elende Arbeitssklaven im Quecksilberbergwerk – lösen sich radikal vom Ausgangspunkt seiner Mission, und der Verbrecher Melton hat mit dem frommen Mann, den er zeitweise mimt, ebensowenig gemein wie mit dem gesetzestreuen Gehilfen einer Anwaltskanzlei, als der er später agiert; sein Neffe Jonathan ist dem Millionenerben Small Hunter zum Verwechseln ähnlich bis auf den ungewöhnlichen Umstand, daß der echte Hunter an jedem Fuß sechs Zehen hat, und er nutzt die Ähnlichkeit, um sich in den Besitz von dessen Reichtum zu bringen; sein Vater Thomas Melton, der sich als Kalaf Ben Urik das Vertrauen Krüger-Beis ebenso erschleicht wie Harry dasjenige des Haziendero und des Rechtsanwalts, hilft ihm dabei, indem er Hunter erschießt, und er lockt überdies seinen arglosen Gönner in eine profitträchtige Falle, aus der dieser nicht lebend herauskommen soll. Der Plot des Romans dreht sich im wesentlichen darum, wie die Helden versuchen, teils die Umsetzung der finsteren Pläne zu verhindern, teils die Folgen ihrer Realisierung rückgängig zu machen. Am Ende wird der eine Judas auch noch zum Feind des eigenen Sohnes und zum Brudermörder am anderen, am ›Satan‹, und Old Shatterhands Prophezeiung, der mehrfache Verräter (III 587) werde, wie sein biblisches Vorbild, im Selbstmord enden, bestätigt sich (vgl. III 609); so hat auch die lange durchgehaltene biblische Konstellation noch ihre Erfüllung gefunden.

   Der Text bietet zudem, wie das genauere Hinsehen zeigt, nicht nur vage Entsprechungen zwischen den verschiedenen Verbrechenskomplexen; Karl May greift vielmehr insbesondere bei Jonathan Meltons Erbschleichunternehmungen in Nordafrika manches von dem auf, was sich schon in der Exposition findet. Der falsche Small Hunter, zu dessen Plan es gehört, Personen kennenzulernen, die bei Bedarf für (s)eine Echtheit eintreten (II 298), engagiert, wie einst sein Onkel, im Ich-Helden seinen heimlichen Gegner ... als Verbündeten (II 289); wie Harry Melton tut er das aber nur zum Schein, denn de facto verfolgt er ganz andere Absichten als die offen ausgesprochenen; wie damals tritt das Ich nicht unter seinem wirklichen, bekannten Namen auf, wie damals unternimmt es mit dem vermeintlichen Verbündeten zunächst eine Schiffsfahrt. Dann aber spitzen sich die Komplikationen im Vergleich noch zu: Der falsche Hunter und der Held reisen weiter in Begleitung von Personen, die Old Shatterhand alias Kara Ben Nemsi ken-


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nen und nicht ahnen, daß er nicht identifiziert werden möchte. Was ist da dem Betrüger gegenüber zu tun? Old Shatterhand verfällt auf den famosen Gedanken, das, was der Gauner ihm in der Realität vormacht, als Fiktion zu imitieren: Er behauptet keß, aufgrund einer äußeren Ähnlichkeit fälschlich für jenen Kara Ben Nemsi gehalten worden zu sein und diese Rolle aus bestimmten Gründen weiterspielen zu wollen (II 315ff.). So kehrt auch das frühe Wissen Harry Meltons um die wahre Identität des ›Litteraten‹ wieder, allerdings in verzerrter, ins Scheinhaft-Phantastische umgebogener Form, doch diese Konstruktion wird beglaubigt durch den Umstand, daß sie nur eine Spiegelung der Ereignisse um Jonathan Melton und Small Hunter ist.

   Wir sehen also, wie eng das Geschehen um das Verbrechen Jonathan Meltons an dasjenige im ersten Teil des ersten Bandes anknüpft. Um so mehr Aufmerksamkeit verdient die Frage, was sich denn bei so viel Übereinstimmung verändert, und auch da gibt es – wie sich bei meinem letzten Hinweis schon angedeutet hat – allerlei zu bemerken. Zu beobachten ist insbesondere eine wachsende Souveränität der guten Menschen im Umgang mit dem Problem. Im Identitätsgewusel der Exposition verrät sich nicht zuletzt eine gewisse Ratlosigkeit des Ich-Helden: Er ahnt zwar, daß Harry Melton Übles vorhat, aber es dauert lange, bis er es in allen Einzelheiten durchschaut, und die Maske des ›Litteraten‹ dient dazu, Aufklärung zu erhalten. Die ist im zweiten Teil dann aber Kara Ben Nemsi, als er in die Rolle des Geschäftsmanns Mr. Jones an die Seite Jonathan Meltons tritt, schon vollständig zuteil geworden, so daß er nunmehr unter viel günstigeren Bedingungen die Auseinandersetzung aufnimmt. Umgekehrt verlieren die Schurken an Kompetenz: Harry Melton weiß von Anfang an, wen er vor sich hat, Jonathan dagegen fällt lange Zeit auf das abstruse Rollenspiel des Mr. Jones und auch auf Winnetous Tarnung herein. Die Gewichte haben sich eindeutig zugunsten der guten Menschen verschoben, jedoch nicht so kraß, daß die nun völlig ungefährdet zu Werke gehen könnten. Auch weiterhin müssen sie vorübergehend Niederlagen einstecken, und immer noch – etwa im Fall der Uled Ayun, die sich als Meidscheri ausgeben – spielen dabei falsche Identitäten eine maßgebliche Rolle. Immerhin lehrt der Blick auf die Makrostruktur des Romans, daß der Kampf um richtige und manipulierte Rollen trotz gegenteiliger Bemühungen der Feinde zunehmend eine Domäne der guten Menschen wird.

   Zu diesen übergreifenden Perspektiven gehört es, wenn wir nun noch genauer beobachten, wie Identitäten enthüllt oder gar erst entwickelt werden, wie sich Persönlichkeiten bilden und zum Gegenstand des Gesprächs werden. Zum einen finden wir da die schon bekannten weitreichenden Entsprechungen zwischen dem Namen einer Person und dem, was sie leistet: Wer einen Yuma tötet oder einen Yuma skalpiert, heißt Yumatöter oder Yumaskalp, und daß die Namen Old Shatterhand und


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Winnetou die Feinde zu Recht in Angst und Schrecken versetzen, bestätigt sich in den Aktionen dieser Männer immer wieder; Identität ist und wirkt in diesen Fällen als etwas, für das der Träger ganz und gar verantwortlich zeichnet und das nicht mißzuverstehen ist. Aber es gibt noch eine andere Seite.

   Ich habe schon kurz darauf hingewiesen, daß der Erzähler Old Shatterhands Identifizierung bei der ersten Begegnung mit Mimbrenjos als eine aufwendige Aktion betreibt (vgl. I 103ff.): Er inszeniert sie förmlich, wie May es ja überhaupt manchmal liebt, die erfolgreichen Unternehmungen der Helden quasi als Schauspiel einzurichten.(12) Das Kennzeichen dieser Inszenierung ist es, daß die Figur sich nicht einfach vorstellt – was sie an anderen Stellen natürlich des öfteren auch tut –, sondern daß die äußeren Umstände dazu führen, daß sie erkannt wird. Eine ganze Reihe weiterer Szenen akzentuiert den gleichen Aspekt. Bei der Wiederbegegnung von Old Shatterhand und Winnetou erkennt der Weiße den Roten schon von weitem an dessen Pferd, an der Decke und am Leuchten der Nägel auf der Silberbüchse; umgekehrt identifiziert Winnetou den Blutsbruder vorerst nicht, weil der auf einem fremden Pferd sitzt und ungewöhnlich gekleidet ist (vgl. I 253f.). Später erkennt ein feindlicher Häuptling Winnetou, als der ins Licht des hell strahlenden Mondes tritt (vgl. I 282), und wie sehr Äußerlichkeiten zum Wesen einer Person gezählt werden, verrät sich in den Worten eines Mimbrenjojungen, der dem erstmals im imposanten Dreß auftretenden Shatterhand verrät: »so haben wir Knaben uns Old Shatterhand vorgestellt« (I 242). Keine dieser Szenen entbehrt von der Sache her der Plausibilität; dennoch fällt auf, welche Betonung der Erzählvorgang setzt. Es scheint, als sei hier jeweils die Bestimmung von Identität für die Betrachter etwas, das maßgeblich durch äußere Umstände geprägt wird, als wachse Identität den Personen zumindest teilweise von außen zu. Der Erzähler selbst präsentiert dazu eine passende Formulierung: Kleider machen auch hier wie überall Leute (II 250).

   Dieser Gesichtspunkt der partiellen Fremdsteuerung von Identität steht an anderen Stellen noch sehr viel krasser zur Diskussion: da, wo es nicht um die Identifikation einer Person durch Dritte geht, sondern wo diese sich selbst auszubilden und zu bewähren hat. Daß die Autonomie des Menschen, an deren Verherrlichung Mays Helden mit ihrem Umherstreifen in der ›freien‹ Wildnis beharrlich arbeiten, eine heikle Angelegenheit ist, daß folglich auch die Ambition, radikal ›ich‹ zu sagen, stets von den Widerständen bedroht ist, deren sie doch zu ihrer Durchsetzung auch bedarf – denn die eigene Identität formt und bestätigt sich ja wesentlich durch die Auseinandersetzung mit anderen –: das alles deutet sich gelegentlich selbst im Fall Old Shatterhands an. Einmal muß er beispielsweise etwas tun, was er ganz und gar nicht mag, was aber von einem Krieger meines Schlages (I 110) unbedingt verlangt wird. Sehr


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viel deutlicher kristallisiert sich dieses Problem jedoch im Hinblick auf die Frauenfiguren und ihre Umgebung heraus.

   Bekanntlich sind es zwei weibliche Wesen, denen in ›Satan und Ischariot‹ eine nennenswerte Funktion zukommt: Martha Vogel, die mit Hilfe Old Shatterhands zu einer großen Sängerin ausgebildet wird, und Judith Silberstein, die ebenso attraktive wie geldgierige Jüdin mit Zügen einer femme fatale. Auf den ersten Blick scheint es sich bei Judith um eine wenn auch moralisch anrüchige, so doch in hohem Maße selbstbestimmte Persönlichkeit zu handeln, um eine Frau, die weiß, was sie will, und der die Männer unterwürfig in Scharen nachlaufen; bei ihrem ersten Auftreten scharwenzeln um sie herum ihr Vater, der sie abgöttisch verehrt, und ein ehemaliger Liebhaber, der es sich nicht nehmen läßt, sie nach Amerika zu begleiten. Sieht man jedoch genauer hin, so ist Judith von einer merkwürdigen Leb- und Reglosigkeit, einer Starre, die sich zwar als Aktionismus tarnt, aber im Kern einer monoton ablaufenden Mechanik gleicht, die für sich selbst nicht verantwortlich ist und zwangsläufig immergleiche Ergebnisse zeitigt. Als Shatterhand sie erstmals zu Gesicht bekommt, ist sie gekleidet wie für einen Maskenball (I 40), einen Typus von Veranstaltung also, in dem Identitäten unverbindlich simuliert statt de facto gelebt werden. Der zu ihrer Reisegesellschaft gehörige ehemalige Liebhaber hat schon vor einiger Zeit einem Offizier weichen müssen; schuld an Judiths Untreue war indes nicht seine Person, sondern seine Uniform (I 49), und zumindest teilweise schuld an ihrer späteren kurzen Beziehung zu Harry Melton wird der Umstand sein, daß der Verletzte ihrer als Krankenpflegerin bedarf (vgl. I 181). Die solcherart auf Äußerlichkeiten einer Beziehung zurechtgestutzte Persönlichkeit Judiths wird dann von Old Shatterhand mehrfach funktionalisiert: Zu Beginn des zweiten Bandes erscheint sie ihm als ein wertvolles Tauschobjekt (II 21), zu Beginn des dritten als der Regenwurm an meiner Angel, mit welcher ich die Meltons fangen wollte (III 41); Judiths Beziehung zu immer neuen Lebensabschnittsgefährten wird also in den Dienst der Pläne ihrer Gegner gestellt. Daß Judith vom Kaufpreis meines Herzens (III 480) spricht, als sei dies ein Ding, daß sie sich nach eigenem Eingeständnis so sehr an den Reichtum gewöhnt hat, daß sie ohne ihn nicht nur nicht leben (mag), sondern auch nicht leben kann (III 260), paßt ins Bild: Bei aller demonstrativ ausgestellten Habgier und Skrupellosigkeit ist sie weit eher ein teilweise von innerer und äußerer Fremdbestimmung geprägter Apparat als ein selbstbewußt, reflektiert und souverän handelndes menschliches Ich. Man muß nicht einmal die autobiographische Dimension einer Emma-Pollmer-Spiegelung bemühen, um es zu verstehen, wenn diese Darstellung schließlich auch Judiths physische Behandlung durch die Männer einschließt: Old Shatterhand kommt ihr des öfteren recht nahe und erwägt, sie körperlich zu züchtigen, ein Thema, über das er auch gern mit ihr spricht; einmal wird sie


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kahlgeschoren, und als ein Gefährte Shatterhands sie auf seinem Pferd fortschaffen soll, hofft er auf rege engere Kontakte: »Je mehr sie sich wehrt, desto lieber ist es mir« (III 603). Den kuriosen Gipfel dieses Spiels um Äußerlichkeiten und Zwänge, um die Verfügbarkeit und Degradierung einer sich selbst ganz anders deutenden Frau bildet der Umstand, daß sie nicht einmal über einen konstanten Namen verfügt: Der Autor nennt sie mal Judith Silberstein, mal Judith Silberberg;(13) mit dem zweiten Namen wird sie zusätzlich dem Quecksilberbergwerk Almaden alto assoziiert, einem höchst schauerlichen und unheilvollen Ort.

   Zweifellos sind in die Darstellung Judiths allerlei antisemitische Klischeevorstellungen eingeflossen, wie sie die Literatur seit langem durchwucherten. Aber Martha Vogel, die nach dem ersten Eindruck ganz anders charakterisiert wird, gleicht Judith in vielem. Auch ihre Vita weist zwar diverse Züge einer Erfolgsgeschichte auf: Sie stammt aus sehr ärmlichen Verhältnissen (II 227) und entkommt ihnen, indem sie sich einerseits zur Ehe mit einem Millionär entschließt und andererseits ihre Stimme ausbildet, so daß sie später als grandiose Sängerin Triumphe feiert. Bei genauerer Prüfung ergibt sich jedoch ein verändertes Bild. Die Ehe scheitert. Wenn Martha spricht, teilt sie meistens Empfindungen der Sorge und der Angst mit, als gehe es in ihrem Leben vor allem darum. Am Ende erweist es sich – was noch viel schwerer wiegt –, daß selbst ihre Rolle als Künstlerin eher durch Einwirkungen von außen als durch eigene Entschlüsse bedingt war: Der Musiker, der sie entdeckt und gefördert hat, »nahm mich unter einen Zwang, dem nur sehr schwer zu widerstehen war« (III 146). Daß sie im Finale als Leiterin einer karitativen Einrichtung amtiert, ist zwar löblich, aber es überführt ihre gesamte vorherige Existenz des Irrtums, und zu verdanken hat sie das neue Unternehmen Old Shatterhand und seinen Freunden, die ihr das zugrundeliegende Millionenerbe verschafft haben.

   Auf einige Männer in der Umgebung dieser Frauen färben die Passivität und der Mangel an selbstbestimmter Ich-Identität ab. Marthas Bruder Franz beteiligt sich zwar zeitweise an der Suche nach den Erbschleichern; aber wenn es dabei ernst wird, muß er beiseite treten, warten, still sein, und selbst dies endet gelegentlich mit seiner Gefangennahme; seine größte außerkünstlerische Tat ist es, Winnetou nach Dresden zu geleiten. Noch schlimmer steht es um den ehemaligen Liebhaber Judiths, Herkules genannt: Er ist ihr völlig verfallen und reist ihr permanent nach, obwohl er keine Chance hat, die alte Beziehung zu erneuern. Dabei verfügt auch er nicht über einen unverwechselbaren Namen: Die Bezeichnung Herkules verdankt sich seiner früheren Tätigkeit als Zirkusartist, so daß denn auch regelmäßig von  d e m  Herkules oder vom Goliath (I 178) die Rede ist. Der Mann existiert nur noch als Funktion seiner Vergangenheit; kurz nach seiner Ankunft im Wilden Westen existiert er gar nicht mehr.


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   Mays Darstellung der Judith und der Martha partizipiert an gängigen Vorstellungen vom Wesen der Frau, an traditionsreicher ›imaginierter Weiblichkeit‹.(14) Eine feministisch orientierte Literaturkritik müßte ihre helle Freude daran haben, wie May Martha zu einer emotionsreichen, passiven, der männlichen Stütze bedürftigen und daher um so attraktiveren Frau macht und Judith zu ihrem offensiver und aggressiver sich gebärdenden, für männliche Attacken also ideal disponierten Gegenstück. May versäumt es im Hinblick auf Judith denn auch nicht, die Unterschiede im Bereich dessen, was man früher ›Geschlechtscharaktere‹ genannt hat, ausdrücklich auf den Begriff zu bringen, und er formuliert sie bezeichnenderweise mit dem Hinweis auf unerfreuliche Seiten: »Wenn eine Squaw Böses thut, so sieht das Böse viel häßlicher aus, als wenn ein Mann es thut« (III 459), verkündet Winnetou. Dabei klingt unterschwellig sogar noch die andere Seite an: die Angst des Mannes vor der erotisch aktiven Frau; bei Klaus Theweleit(15) läßt sich nachlesen, wie es sich in diesem Zusammenhang mit dem Schmutz verhält, der Judith in Form von Haarschuppen, einem ungewaschenen Hals und Trauerrändern an den Fingernägeln anhaftet (vgl. III 34). Bezeichnend ist auch, was der Autor am Ende mit den Damen anstellt: Judith verschwindet im Indianerland, und die männliche Phantasie mag sich ausmalen, was da mit ihr geschieht; Marthas umfassende Wohltätigkeit wird schon sprachlich auf ganz andere Weise fixiert als das bisherige abenteuerliche Geschehen, »die Geschichte degeneriert zum frömmlerischen Schmachtfetzen«.(16) Wenn es stimmt, daß das Frauenbild der Männer sich aus Vorstellungen von der Frau als Hure und als Mutter zusammensetzt, so gebührt May das Verdienst, diese Komponenten in reinster Ausprägung und doch ohne anstoßerregende Deutlichkeit sortiert zu haben.

   Mays Roman handelt also auch – und keineswegs nur nebenbei – von der Ideologie der Geschlechter-Differenzen. Es wäre aber verfehlt, die Hinweise zur unzulänglichen Souveränität, zum Mangel an eigenständig reflektierter Ich-Identität bei Martha und Judith ausschließlich in diesem Rahmen zu sehen; immerhin ist zu beobachten, daß Männer davon nicht unberührt bleiben, und die vorher genannten Beispiele deuten zumindest an, daß auch generell die männliche Selbstbestimmung der Persönlichkeit an Grenzen stößt. Der Roman stellt dar – vorrangig, aber nicht ausschließlich an Frauen –, daß die Vorstellung vom autonom für die eigene Persönlichkeit verantwortlichen Ich partiell vielleicht eine Illusion ist.

   Faßt man nun alle unsere Beobachtungen zusammen, so ergibt sich ein recht zwiespältiger Befund. Das Identitätsthema in den verschiedensten Facetten prägt den Roman so sehr, daß die These, es halte ihn in seinem Innersten zusammen, gewiß nicht fehl geht; ich habe hier eine solche Fülle von Beispielen vorgelegt, um diesen Gedanken auch


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schon in rein quantitativer Hinsicht zu stützen. Dabei zeigt sich, daß May einerseits der Vorstellung zur Souveränität des Ich von Anfang an und in zunehmendem Maße Geltung verschaffen will: Das penetrante Jonglieren mit Identitäten verbirgt nicht, daß der Jongleur weiß, was er bewegt, daß der Erzähler ausweist, was hinter den Rollenspielen steckt, und schließlich alles ins Erfreuliche wendet. Andererseits bleibt, wie zuletzt erörtert, einiges zurück, was Sand ins Getriebe streut: daß über die Persönlichkeit von außen verfügt wird, daß zur Identität des einzelnen gehört, was andere ihm auferlegen und an ihm erkennen. So gestaltet sich, dem Zeugnis des Romans nach, Identität im Spannungsfeld von Selbständigkeit und Zwang, Autonomie und Oktroi, Unverwechselbarkeit und Kategorisierung, wobei die erstgenannten Kräfte dominieren. Derart vom Erzählkontext gelöst, klingt dieser Befund vielleicht banal, und zweifellos zielt er auf eine gedankliche Konstruktion, die heute keineswegs mehr sensationell klingt; aber daß ein Abenteuerroman vom Ende des 19. Jahrhunderts von ihr lebt und sie unter so vielen verschiedenen Aspekten ausführlich entfaltet, zerlegt und zur Anschauung bringt, verdient zweifellos Aufmerksamkeit und Respekt.

   Die früher erwähnte autobiographische und die kultur- und literaturgeschichtliche Dimension ließen sich nun noch genauer ausleuchten. Es liegt auf der Hand, wie sehr das ambivalente Verständnis von Identität und Rollenspiel den Pseudologen Karl May beschäftigen muß, und es ist verständlich, wenn der verspätete Aufklärer May sich zwar engagiert und umsichtig des Problems annimmt, das manche zeitgenössischen und viele künftige Autoren beschäftigt, am Ende aber den Akzent doch eher auf die klaren Konturen und die Verantwortung des einzelnen setzt. Diese Linien sollen hier ebensowenig weiter verfolgt werden wie Fragen nach der Zuordnung solcher Tendenzen in den Kontext der zeitgenössischen Psychologie; Aufmerksamkeit muß hingegen noch der Umstand auf sich ziehen, daß ›Satan und Ischariot‹ Zweifel an der Identität auch des eigenen Textes aufwirft. Was haben wir mit diesem Opus eigentlich vor uns? Wie ist es, dem eigenen Zeugnis nach, zu etikettieren?

   Auf die quantitativ begrenzte, im Grunde aber beträchtliche Rolle, die Mays Romane dem Schreiben, der Schrift, dem Umgang mit und also auch dem Charakter von Texten einräumen, ist schon gelegentlich hingewiesen worden, z. B. von Gerhard Neumann in Darlegungen zur »Faust, die den Jagdhieb  u n d  die Feder führt.«(17) Nicht anders präsentiert sie sich hier: Auch im ›Satan‹ bedient sich Shatterhand seiner schlagkräftigen Extremität mehrfach, um Feinde zu überwältigen, aber schon die zweite Textseite stellt ihn als Journalisten vor; bald danach firmiert er als ›Litterat‹, und eine seiner ersten Bewährungsproben besteht darin, im Gästebuch des Hotels von Guaymas mit unzulänglichem


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Schreibgerät eine Eintragung vorzunehmen – er scheitert an dieser Aufgabe (vgl. I 10f.)!

   Die Exposition führt also gleich das Thema Schreiben mit ein, und so stellt sich auch von da aus die Frage, was denn eigentlich unter dem Titel ›Satan und Ischariot‹ zu Papier gebracht worden ist. Der Erstdruck im ›Deutschen Hausschatz‹ wird dort teils als ›Reiseerzählung‹, teils als ›Reiseroman‹ vorgestellt, Begriffe, von denen zumindest der zweite traditionsgemäß nur für fiktionale Texte steht. Die Buchausgabe erscheint dann zwar unter dem Reihentitel ›Karl May's gesammelte Reiseerzählungen‹, aber das Werk ›Satan und Ischariot‹ speziell wird auf dem nächsten Blatt mit der doppeldeutigen Formulierung ›Reiseerlebnisse/ von/ Karl May‹ vorgestellt. Der Text sieht sich von Anfang an in das Spannungsfeld von Fiktion und Realitätswiedergabe, Phantasie und wirklichkeitsgetreuem Bericht gestellt, und die Lektüre zeigt, daß er dieser Linie konsequent folgt.

   Zum vermeintlichen Realcharakter tragen wesentlich die eingangs schon erwähnten Hinweise auf Mays Heimatstadt Dresden als Wohnort Old Shatterhands alias Kara Ben Nemsis, auf den Familiennamen, der einem der zwölf Monate entspricht, und einiges andere bei: Nie zuvor hat der Autor seine Romanwelt derart eng und demonstrativ an seine empirische, für interessierte Leser in Grenzen nachprüfbare Existenz gebunden. Daß der Ich-Erzähler ausweislich des vorliegenden Textes jener ›Litterat‹ ist, auf dessen Rolle er sich zeitweise zurückzieht, vermittelt dieser Konstruktion eine solide Grundlage. Hinzu kommt das Spiel mit allgemeinen historischen Fakten: Im Hintergrund der Aktionen Harry Meltons werden Bemühungen »um das Einnisten der Mormonen in dieser Gegend« (I 381) ausgemacht, und auch in Nordafrika wird der Eindruck eines Umgangs mit der Realgeschichte erweckt, wenn Steuern, die Beduinen dem Herrscher von Tunis schulden, eine längere Ereignisfolge in Bewegung setzen.

   Andererseits gibt es implizite und explizite Elemente, die in die gegenteilige Richtung orientieren. Die schon zitierte substantielle Weisheit, daß Kleider Leute machen, verweist auf Gottfried Kellers berühmte Novelle. Die vielen Worte zu Teufel und Ischariot und das, was May in den Aktionen daraus macht, ordnen das Geschehen schemenhaft in eine Sphäre mythisch-religiöser Provenienz ein. Die gleich zu Beginn erfolgende Etikettierung Harry Meltons als Satan wird erst einmal damit begründet, seine Gesichtszüge glichen jenen, welche der geniale Stift Gustave Dorés dem Teufel verliehen hat, und wenn man danach liest, daß zwar jeder einzelne Teil dieses Kopfes, dieses Gesichtes ... schön war, daß ihnen aber in der Gesamtheit ... die Harmonie fehlte – Wo aber die Harmonie fehlt, da kann von Schönheit nicht die Rede sein (I 24) –, dann ergibt sich der Eindruck, die Figur Melton werde hier im wesentlichen als Gegenmodell zu den ästhetischen Idealen der Weimarer Klassik ge-


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schaffen, die sich durch kaum etwas anderes so sehr auszeichnen wie durch weitgespannte Vorstellungen von den Details, die sich in einem harmonischen Gesamtbild stimmig zusammenfügen. All diese Textelemente widersprechen zwar nicht ausdrücklich der erzählenden Rekapitulation wirklicher Ereignisse, haben aber doch erst einmal weniger damit zu tun als mit der Mobilisierung verschiedenster literarischer und kultureller Traditionen und verweisen insofern eher auf den Begriff ›Roman‹ als auf die Bezeichnung ›Reiseerlebnisse‹; dem Germanisten fällt dazu der Begriff Intertextualität ein. Im gleichen Sinne zu verstehen sind die Bezüge zu Schnabels ›Insel Felsenburg‹, über die Rudi Schweikert berichtet hat,(18) und die unliebenswürdige Bemerkung vom »frömmlerischen Schmachtfetzen« am Romanende zieht in ihrem sachlichen Kern gleichfalls innerliterarische Vorprägungen ans Licht.

   Was haben wir also, nach der Prätention des Textes, vor uns, einen Roman oder die schriftliche Wiedergabe realer Erlebnisse? Letztlich läuft das alles wohl auf etwas hinaus, was wir in vielen epischen Werken dieses Autors finden: Das eine ist mit dem anderen aufs intensivste verknüpft; man kann sich eine eigenwillige Variante der Gattung Märchen vor Augen führen, aber man kann auch mit dem Finger auf der Landkarte entlangfahren und die Reisen des Ich nachvollziehen, als hätten sie tatsächlich stattgefunden.

   Was ›Satan und Ischariot‹ aus dem Gesamtwerk des Autors heraushebt, ist also zunächst einmal die Intensität, mit der May sein Doppelspiel betreibt: So wie die Story den tückischen Umgang mit dem Identitätsproblem unter diversen Vorzeichen weit über das sonst übliche Maß hinaus forciert, so geht dieser Text besonders entschieden sowohl in die eine als auch in die andere Richtung. Zudem hält er die Dinge da, wo er den Komplex explizit zur Sprache bringt, auf wundersame Weise in der Schwebe.

   Es findet sich nämlich eine ganze Reihe von Stellen, an denen mit äußerst zwiespältigem Ergebnis auf den literarischen Charakter des Geschehens verwiesen wird. Der jüngere der beiden Schurken Weller, der eine Zeitlang als Kajütenwärter seine finsteren Pläne verfolgt, wird als famoser Schauspieler (I 198) gepriesen – aber Old Shatterhand hat ihn sofort durchschaut. Der mündliche Bericht über den ersten Teil der Abenteuer wird von einer Zuhörerin mit einem Romane (I 401) verglichen – aber die Dame ist eine überkandidelte und unsympathische Person, die so wenig von den Verhältnissen des Wilden Westens weiß, daß sie ein solches Urteil eigentlich gar nicht abgeben kann. Eine andere Verwendung der Gattungsbezeichnung findet sich, als Harry Melton den Bericht über die jüngst von ihm verübten Untaten »einen Roman, der geradezu unmöglich ist« (II 67), nennt; und Thomas Melton weiß sich bei Old Shatterhands ironischen Vorhaltungen nicht anders zu helfen als mit der Aufforderung: »Laßt mich mit Euern Romanen in Ruh›!«


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(II 467). Im Sinne einer Abwehr dessen, was geschieht, geschehen ist bzw. geschehen sollte, ist auch mehrfach von Komödien die Rede, und zwar wieder mit gegensätzlichen Akzenten: Mit der Wendung, man wolle mit ihm wohl Komödie spielen, faßt der hoffnungslos verliebte Herkules einmal die Ankündigung der nächsten Unternehmungen Judiths zusammen und erntet daraufhin die Bemerkung, hoffentlich habe »die Komödie mit Ihnen endlich einmal ein Ende« (II 127); »daß es nicht so leicht ist, mit uns Komödie zu spielen« (III 264), hält Old Shatterhand Judith im Blick auf fehlgeschlagene Intrigen vor. Einzeln – je im Spannungsfeld zwischen den Dispositionen der Sprecher und dem sachlichen Gehalt ihrer Äußerungen – wie in der Summe verwenden diese Stellen literarische Gattungsbezeichnungen als etwas, mit dem sowohl auf eine von den betreffenden Textpartien referierte innerliterarische ›Realität‹ als auch auf pure Phantasie verwiesen wird, auf Übernommenes und auf selbständig Geschaffenes, Wiedergegebenes und autonom Fabuliertes und nicht zuletzt auf Sein und Schein. Derartige Passagen finden sich natürlich auch in anderen Werken, auch in denen anderer Autoren; ›Satan und Ischariot‹ treibt die Dinge aber wiederum besonders weit.

   Im Umgang mit der Identität der Figuren zeichnet sich der Text durch die Erwartung aus, daß am Ende wohl doch alles eindeutig und zum Besten sämtlicher guten Menschen zu klären sei, mag da auch ein Rest an unauflösbaren Zweifeln zurückbleiben. Was die eigene Identität – Roman oder Reiseerlebnis? – angeht, so verharrt er in einem produktiven Neben- und Gegeneinander, das mal die eine, mal die andere Seite in den Vordergrund rückt und am Ende die spannungsreiche Beziehung zwischen dem Schriftsteller mit dem Monatsnamen und den biblischen Mächten des Bösen virtuos ausbalanciert.

   Selbst da, wo der Text über sich selbst nachdenkt, weiß man nie genau, worauf diese Reflexion denn nun eigentlich zielt. Als Winnetou und Old Shatterhand die räumlichen Umstände in Augenschein nehmen, unter denen sie eine Gruppe von Feinden gefangennehmen wollen, formuliert May die folgende Passage: »Wieder ein Thalkessel!« sagte Winnetou ... Der Apatsche hatte wohl Grund, diese Worte auszusprechen. Ja, wieder einmal so ein Thalkessel! Während unserer Kreuz- und Querzüge hatten solche Kessel wiederholt eine bedeutende Rolle für uns gespielt. Wie oft waren diese Oertlichkeiten für unsere Gegner verhängnisvoll geworden, während wir uns stets gehütet hatten, unsern Aufenthalt in einer derartigen Falle zu nehmen! Und wenn dies einmal nicht zu umgehen gewesen war, so hatten wir es fast immer zu bereuen gehabt. (III 222)

   Zweifellos kann jeder routinierte May-Leser Belegstellen en masse angeben. Aber wer spricht hier eigentlich? Vordergründig betrachtet, ist das der Ich-Held in seiner Position des ›Litteraten‹, der nun daheim


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am Schreibtisch sitzt und sich daran erinnert, was die geschilderte spezielle Situation mit seinen anderweitigen wildwestlichen Erfahrungen verbindet. Es spricht aber auch, nur oberflächlich kaschiert, der empirische Schriftsteller Karl May über sein Schreiben: darüber, daß seine Texte intensiv mit Wiederholungen arbeiten, daß seine Geschichten nach bestimmten Regeln ablaufen, daß der verläßlichen Zuordnung von Landschaft und Ereignis eine wichtige Funktion zukommt. Indem Winnetou und die Ich-Figur pointiert über die Beschaffenheit eines Abenteuers nachdenken, reflektiert der Autor über die Mittel, mit denen er seiner fiktiven Abenteuerwelt Konturen verschafft. Man kann diese beiden Aspekte zwar voneinander unterscheiden, aber sie tauchen im Text eben nicht getrennt voneinander auf.

   Während also May, was die Identitätsprobleme seiner Figuren angeht, den ernsten Verwirrungen nicht ausweicht und doch, alles in allem, einer Klärung zustrebt, behandelt er die Identität des Textes derart, daß Realität und Fiktion einander unauflöslich durchdringen; wir nehmen z. B. teil an religiösen Konstruktionen, die innerweltlich gedeutet werden, und pseudo-realen Geschehnissen, in denen die aus der Bibel bekannten Mächte des Guten und Bösen miteinander kämpfen, an literarästhetischen Selbstreflexionen, die die Plausibilität des vermeintlich empirischen Geschehens stützen, und schlichten Sachdarstellungen, in denen der Schriftsteller Karl May über seine Kunst und sein Handwerk nachsinnt. Für die Wirkung ist diese Konstruktion von herausragender Bedeutung: Was kann es Reizvolleres für Leser geben, die aufs schönste träumen wollen und doch nicht möchten, daß man ihnen ein X für ein U vormacht?



1 Hartmut Kühne: Werkartikel ›Satan und Ischariot I – III‹. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 260

2 Mays dreibändiger Roman ›Satan und Ischariot‹ wird zitiert – mit der Angabe der ›Satan‹-Bandnummer und der Seitenangabe im Text – nach der ersten Buchausgabe: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XX – XXII. Freiburg 1897. Die vorher im ›Deutschen Hausschatz‹ erschienene Fassung liegt vor als zweibändiger Reprint der Karl-May-Gesellschaft und der Buchhandlung Pustet, Regensburg 1980, unter den Titeln ›Die Felsenburg‹ und ›Krüger-Bei‹/›Die Jagd auf den Millionendieb‹. Zur Textgeschichte vgl. Kühne, wie Anm. 1, S. 259f.

3 Ulf Abraham: Die Angst vor der Entdeckung und die Entdeckung der Angst. Ein Motiv bei Franz Kafka und Karl May. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 59. Jg. (1985), Heft 2, S. 330

4 Manfred Karnick: Rollenspiel und Welttheater. Untersuchungen an Dramen Calderóns, Schillers, Strindbergs, Becketts und Brechts. München 1980, S. 25

5 Claus Roxin: Vorläufige Bemerkungen über die Straftaten Karl Mays. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1971. Hamburg 1971, S. 79

6 Heinz Stolte: ›Waldröschen‹ als Weltbild. Zur Ästhetik der Kolportage. In: ebd., S. 31; vgl. ferner zum Umgang mit Identitäts- und Rollenspielen in verschiedenen Romanen Mays: Heinz Stolte: Mein Name sei Wadenbach. Zum Identitätsproblem bei Karl May. In: Jb-KMG 1978. Hamburg 1978, S. 37-59; Joachim Biermann: Die Spur führt in


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die Vergangenheit. Überlegungen zur Thematik der Identitätssuche in Karl Mays ›Old Surehand‹. In: Karl Mays »Old Surehand«. Hrsg. von Dieter Sudhoff und Hartmut Vollmer. Paderborn 1995, S. 243-76; grundlegend zum Thema: Gert Ueding: Das Spiel der Spiegelungen. Über ein Grundgesetz von Karl Mays Werk. In: Jb-KMG 1990. Husum 1990, S. 30-50, besonders S. 39-45.

7 Rimbaud: Brief an Paul Demeny v. 15. Mai 1871. In: îuvres. Paris 1960, S. 345

8 Max Frisch: Stiller. Frankfurt a. M. 1965, S. 9

9 Vgl. dazu die Vor- und vor allem die Nachworte der in Anm. 2 genannten Reprints der Zeitschriftenfassungen.

10 Vgl. Helmut Mojem: Karl May: Satan und Ischariot. Über die Besonderheit eines Abenteuerromans mit religiösen Motiven. In: Jb-KMG 1989. Husum 1989, S. 84-100.

11 Vgl. Harald Eggebrecht: Sinnlichkeit und Abenteuer. Die Entstehung des Abenteuerromans im 19. Jahrhundert. Berlin-Marburg 1985, S. 209ff.

12 Vgl. Hans-Otto Hügel: Das inszenierte Abenteuer. In: Marbacher Magazin 21. 1982, S. 10-32.

13 Vgl. die Nachweise zu den Einzelheiten ihres Auftretens in: Großes Karl-May-Figurenlexikon. Hrsg. von Bernhard Kosciuszko. Paderborn 1991, S. 625f.

14 Vgl. Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt a. M. 1979.

15 Vgl. Klaus Theweleit: Männerphantasien. 2 Bde. Reinbek 1980. In meinem Literaturbericht des Jb-KMG 1981, S. 357f., habe ich diese Arbeit kurz vorgestellt und auch auf die Figur der Judith verwiesen.

16 Mojem, wie Anm. 10, S. 98

17 Gerhard Neumann: Das erschriebene Ich. Erwägungen zum Helden im Roman Karl Mays. In: Jb-KMG 1987. Husum 1987, S. 87

18 Vgl. Rudi Schweikert: Artistisches Erzählen bei Karl May: ›Felsenburg‹ einst und jetzt. Der erste Teil der ›Satan und Ischariot‹- Trilogie vor dem Hintergrund des ersten Teils der ›Wunderlichen Fata‹ von Johann Gottfried Schnabel – und ein Seitenblick auf Ernst Willkomms ›Die Europamüden‹. In: Jb-KMG 1992. Husum 1992, S. 238-76.


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