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RAINER JEGLIN

Neumünster – Waldheim:
Hans Falladas Karl-May-Lektüre*



1. ›Hinter den Mauern‹

Hans Fallada, der »volkstümliche Erzähler und Chronist der wechselvollen Jahrzehnte nach dem Ersten Weltkrieg«,(1) teilt mit Karl May den etwas zweifelhaften Ruf, ein ›Volksschriftsteller‹ der Deutschen zu sein; unter diesem Titel jedenfalls sind beide posthum von ihren Verlegern erfolgreich vermarktet worden. Obwohl aus völlig unterschiedlichen Milieus stammend, zeigen ihre Lebensläufe dahingehend eine gewisse Analogie auf, daß beiden ein verzweifelter Aufstieg von einer jeweils völlig gescheiterten Existenz zum populären Schriftsteller gelungen ist. Aufgrund ihrer dramatischen Lebensläufe scheinen beide mit ihren großen sozialen und individuellen Erfahrungsfonds dafür geschaffen zu sein, kollektive Nöte und Sehnsüchte in ihrer Literatur aufgreifen und verarbeiten zu können. Dieses ›Geheimnis ihres Erfolges‹ ist eng verknüpft mit zwei Gefängnissen, nämlich mit Waldheim und Neumünster.

   Was Waldheim, in dem May vier Jahre (1870-1874) einsaß, für May bedeutete, ist in diesem Kreis wohl zu gut bekannt, um länger ausgeführt werden zu dürfen; deshalb rekapituliere ich lediglich ein paar der gängigsten Feststellungen (und Thesen) aus der biographischen Forschung.(2) Der Aufenthalt in diesem sächsischen Gefängnis bildet den Tiefpunkt, aber auch das eigentliche Ende von Mays krimineller Karriere. Eine Reihe von Straftaten, die sich aus unserer distanzierten Perspektive eigentlich nur tragikomisch ausnehmen und vor allem spätpubertäre Züge aufweisen, haben May insgesamt sieben Jahre Leben hinter Gittern eingebracht; diese Eskapaden jenseits der Legalität belegen weniger kriminelle Energie als vielmehr eine fast kindliche, jedenfalls überreiche und ungezügelte Phantasie sowie eine gewisse Reifeverzögerung des jungen May, die sich u. a. erklärt mit einer narzißtischen Kontaktschwäche als Folge einer wohl eher den ärmlichen Verhältnissen geschuldeten, lieblosen Aufzucht und Erziehung; verstärkt wurde dies durch die ebenfalls milieubedingte Erblindung in der frühkindlichen Entwicklungsphase. Wie der junge Karl sich schon in der Pubertät

* Vortrag, gehalten am 13. 10. 1995 auf der 13. Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Bad Segeberg.


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durch einen pseudologischen Lektürerausch ein besseres, größeres und weiteres Leben phantasierte, so kompensiert der über Zwanzigjährige mit seinen kriminellen Aktionen die Mickrigkeit der eigenen Existenz und des sozialen Milieus; mit einigem Recht wird man sie sogar als ohnmächtige Rebellionen gegen die verfehlte Kindheit und Jugend auf der untersten Etage der Gesellschaft deuten können.

   Waldheim, dieses ›Hinter den Mauern‹,(3) bedeutete aber nicht nur Tiefpunkt, sondern vor allem die große biographische Wende. Die ›Resozialisierung durch progressiven Strafvollzug‹ (u. a. mit rigiden Anstaltsregeln wie Arbeitspflicht und Schweigegebot) lehrte May die (Über-)Macht der sozialen Verhältnisse und staatlichen Institutionen endgültig anzuerkennen; May fügte(4) sich dort und verließ belehrt am 2. Mai 1874 das Gefängnis. Diese Strafe bewirkte, wie wir wissen, beim 32jährigen zweierlei: zum einen werden die heftigen Innenkonflikte nun in die Literatur überführt, so daß fortan May nur während der literarischen Arbeit in einer glanzvolleren Ersatzwelt lebt. Zum anderen gelingt ihm mit diesem Sublimierungsmittel der soziale Ausweg und Aufstieg aus der gescheiterten beruflichen und persönlichen Sozialisation zum Kultautor vieler Lesergenerationen.

   Keine 30 Kilometer nordwestlich von unserem Tagungsort entfernt liegt die Kreisstadt Neumünster, ein kleiner Bahnknotenpunkt im holsteinischen Landesteil und in den 20er Jahren mit ungefähr 40 000 Einwohnern eine Arbeiterstadt mit Tuch- und Lederfabriken in einer ansonsten ländlichen Umgebung und – mit einem ›Zentralgefängnis‹. In ihm verbüßte Rudolf Ditzen, Sohn des ehemaligen Reichsgerichtsrates Wilhelm Ditzen, von März 1926 bis Februar 1928 eine Strafe wegen Unterschlagung in vier Fällen. Nach der Entlassung ist Rudolf Ditzen, der sich in Anspielung auf den stets die Wahrheit verkündenden Pferdekopf in Grimms Märchen von der ›Gänsemagd‹ bereits 1919 als erfolgloser Autor zweier Romane das Pseudonym Fallada zugelegt hat, mit 34 Jahren das, was man eine gründlich verkrachte Existenz nennen darf, die wegen mehrerer Sanatoriumsaufenthalte u. a. wegen Drogenmißbrauchs und wegen einiger Vorstrafen am Vorabend der Weltwirtschaftskrise kaum darauf hoffen konnte, noch irgendeinen Platz in der Gesellschaft zu finden.

   Unter einem etwas verallgemeinernden-literaturpsychologischen Blickwinkel erscheint Ditzen-Falladas Lebensweg mit seiner verzögerten Reifung zum Schriftsteller nach einer (kriminellen) Irrfahrt wie eine Wiederholung (oder Fortsetzung) von Mays Weg zur Literatur, allerdings mit einem höheren familiären Milieu als Hintergrund und anderen generationsspezifischen Erfahrungen als Ausgangslage. Denn auch der junge Ditzen war von Anfang an ein ›Pechvogel‹ in der Familie und in der Schule. Als Kind erkrankt Rudolf oft und lange, seine Unfälle beim Spiel und im Haus bringen ihn nicht selten in Todesnähe. Ei-


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ne sehr labile Gesundheit und ein zähes Pech begünstigen und verstärken eine problematische Charakterentwicklung, die sich u. a. auch darin äußert, daß bei Rudolf eine extrem frühe und heftige Lesesucht zum Ausbruch gelangt. Konfrontiert mit dem Wertekanon einer bildungsbürgerlichen Familie vor dem Ersten Weltkrieg in nahezu klassischer Ausprägung, zeigen sich bei Rudolf Neigungen zu teils depressiven, teils schwärmerischen Rückzügen in (literarische) Nischen einerseits, zu gelegentlichem Auftrumpfenwollen, ja arrogantem Gehabe andererseits. Die Schule, genauer: das wilhelminische Gymnasium, steigerte dabei die Ansätze zur persönlichen Desintegration: »Dich werden wir schon zurechtkriegen.« – Diese ›pädagogische‹ Losung und Drohung verrät das sich nun abzeichnende Martyrium Falladas in dem Begrüßungssatz des Schulleiters.(5) Von den Klassenkameraden wegen seiner schwächlichen Konstitution gehänselt, im Unterricht wegen des strengen Regiments der Lehrerschaft und wegen der aus dem Elternhaus mitgeschleppten Versagensangst blockiert, führt der Leidensweg nach etlichen Umschulungen zu regelrechten Katastrophen, nämlich zu einem angekündigten Selbstmordversuch mit anschließendem Sanatoriumsaufenthalt und – kaum von dort entlassen und nun Internatsschüler – zu der spektakulären, in der Öffentlichkeit viel beachteten ›Gymnasiasten-Tragödie in Rudolstadt‹. Am 16. 10. 1911 duellieren sich die beiden lebensmüden und einseitig nur noch literarisch interessierten Schüler Ditzen und dessen einziger Freund von Necker. Was gemäß dem wilhelminischen Krieger- und Ehrkanon, dem ja damals in Anlehnung an die aristokratische Elite auch das Bildungsbürgertum frönte, als konventionelles Duell vorgetäuscht werden sollte, war wohl weit eher der Versuch eines inszenierten Doppelselbstmordes aus Protest und Überdruß an der Schule und allen anderen verhaßten Sozialisationsagenturen. Nachdem Ditzen seinen Freund dabei tödlich verletzt hatte, mißlang der anschließende Selbstmordversuch.

   Das nun erforderliche psychiatrische Gutachten, das Ditzen eine verminderte Zurechnungsfähigkeit gemäß - 51 zum Zeitpunkt des (Pseudo-)Duells attestiert und dessen Ergebnis, nämlich Fallenlassen der Anklage und abermalige Einweisung in ein Sanatorium, den Wünschen der Eltern vollkommen entsprach, überspitzt zwar in einzelnen Formulierungen, bündelt dafür wesentliche Charakterzüge des 17jährigen: Ditzen »gehört in die Kategorie der Psychopathen, bei denen sich die Anfänge einer krankhaften psychischen Entwicklung bis in die Kindheit zurückverfolgen lassen. Vor allem fällt die ungleichmäßige Entwicklung der geistigen Fähigkeit mit einseitiger Hervorkehrung phantastischer, gewissermaßen künstlerisch-literarischer Begabung auf, bei gleichzeitiger Entwicklungshemmung auf anderen Gebieten. Dazu gesellt sich eine krankhafte affektive Reaktion gegen die Vorgänge der Umwelt, die ihn zu einem eigentümlichen, verschlossenen, unzu-


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friedenen und unsozialen Menschen schufen, einem Menschen, der infolge der einseitigen Hervorkehrung egozentrischer Denkrichtung mit Überbewertung der eigenen Persönlichkeit als hochmütig galt.«(6) Kein »verwirrter Prolet« (so Bloch über May), sondern ein aus der Lebensbahn geworfener Bürgersohn betritt für zwei Jahre die geschlossene Anstalt. Sowohl Rang und Namen der Familie als auch ehrgeizige, aber wenig talentierte erste literarische Versuche nach der Entlassung konnten den weiteren Abstieg nur verzögern. Fallada wird Angestellter, Buchhalter und ›Rendant‹ in verschiedenen Gutsherrschaften, er wechselt dabei häufig die Stellungen und lernt im Berlin der Kriegsjahre die dort aufblühende Morphinistenszene kennen. Die Drogenabhängigkeit führt schließlich zu zwei Unterschlagungen, um sich Morphium oder Alkohol zu beschaffen. Zwei Gefängnisstrafen – 1924 für sechs Monate in Greifswald und die zwei Jahre Neumünster – markieren ebenso wie bei May eine ›Lebenswende‹,(7) denn die Metamorphose zum eigentlichen Schriftsteller Hans Fallada wird durch sie eingeleitet.

   Die erste Strafverbüßung in Greifswald zeigt erste Schritte zu einer Art literarischen Selbsttherapie. Weil Fallada erst ein halbes Jahr nach dem Urteilsspruch die Strafe anzutreten braucht, kann er zusammen mit einem Freund versuchen, Strategien einzuüben, den bevorstehenden Drogenentzug hinter Gittern durchzustehen. Vorzeitig wird dabei der Plan realisiert, ein Gefängnistagebuch zu führen, das eine Vorstufe zur literarisch-realistischen Selbstreflexion darstellt. Der Haftantritt in Neumünster erfolgte dagegen unter sehr viel ungünstigeren Bedingungen, weil Fallada ohne selbsttherapeutisches Moratorium sofort ins ›Zentralgefängnis‹ gesteckt wurde. Vorheriger exzessiver Drogenkonsum und völlige Demoralisierung »versetzen ihn« unter diesen Umständen »in einen lethargischen Zustand«, aus dem er »erst ein halbes Jahr vor seiner Entlassung wieder erwacht, als es um Strafnachlaß und seine Resozialisierung geht.«(8) Ähnlich May in Waldheim durchläuft Fallada in Neumünster eine Phase der schonungslosen Selbsterkenntnis und völligen Unterwerfung: »Sieben Jahre liege ich nun schon an der Kette der Sucht, mal Kokain, mal Morphium, mal Äther, mal Alkohol. Sanatorium, Irrenanstaltsaufenthalte, Leben in der Freiheit, gebunden an die Sucht, eine löste die andere ab.« Neumünster wird zu einer Robinsonade ›hinter den Mauern‹: »Der Mann, der ins Gefängnis kommt, gleicht Robinson (...) Alle Fähigkeiten, die er in seinem Leben draußen entwickelte, helfen ihm nichts (...) Er muß noch einmal von vorn anfangen. Will er ein einträgliches Leben führen, muß er verlernen, was er wußte, und lernen, was Robinson lernte.«(9) Trotz mancher Tiefschläge bis 1944, bis zu Falladas endgültigem Rückfall an der Seite einer Morphinistin, sind die Drogensüchte niedergerungen, Fallada ist in Neumünster zum normalen Leben bekehrt, indem er in armen Verhältnissen sich als Annoncenschreiber, Abonenntenjäger und schließlich


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sogar als eine Art ›Lokal-Redakteur‹ im ›General-Anzeiger‹ Neumünsters abmüht.

   Jürgen Manthey, Falladas erster wirklicher Biograph, dessen Interessen- und Erklärungsschwerpunkt in der Rowohlt-Monographie auf charakterpsychologischem Feld liegt und der deshalb Falladas Werke als »unverblümteste Selbstdarstellungen«(10) analysiert, deutet diese Knast- und Lehrjahre in Holstein dahingehend als einen Kompensationsvorgang, daß das Verlangen, sich mit Drogen in einen Zustand permanenter tagträumerischer Passivität zu versetzen (Manthey sieht als Ursache für diesen Drang zur Selbstauslöschung den unbewältigten Vater-Sohn-Konflikt), in einen Schreib- und Schaffensrausch kanalisiert wird. Fallada hat dieser Deutung der Vorgänge in Neumünster den Weg gewiesen, wenn er über die Arbeit an ›Bauern, Bonzen und Bomben‹, seinem ersten ›eigentlichen‹ Roman, notiert: »Es war wie ein Rausch oft gewesen, aber ein Rausch über alle Räusche, die irdische Mittel spenden können. (...) Nein, es war schon so, ich hatte von einem Gift getrunken, das ich nicht wieder loswerden konnte aus meinem Körper und Geist.«(11) Folgerichtig betont Fallada die rauschhafte Art und Weise seiner literarischen Arbeit, was mit Mays schubartigem Schaffen in gewisser Hinsicht vergleichbar ist: » (...) ich fing an, irgendwas zu kritzeln, irgendein Sätzchen (...), bloß um doch was zu schreiben (...) Und plötzlich fängt die Feder an zu eilen, plötzlich weiß ich, wie alles weiterzuführen ist, plötzlich überstürzen sich die Einfälle nur so, und mein Kopf wird immer heißer, so schnell kann ich gar nicht schreiben.«(12) Die Vergleichbarkeit in der Schaffensweise beider Autoren hat allerdings mindestens an dem Punkt ihr Ende erreicht, wo es um die stilistische Überarbeitung geht. May sagte, er feile nie(13) – was für die meisten seiner Schaffensjahre zutrifft –, während Falladas manischer Schub sich nicht nur auf die pure Erfindung, sondern ebenso auf die nachfolgenden Verbesserungen und Veränderungen erstreckte.

   Vergleichbar sind Weber- und Richtersohn darüber hinaus in der Bewertung ihrer gescheiterten Lebensläufe vor dem literarischen Durchbruch als jeweils kräftigen Inspirationsquell ihrer Werke. Ohne die erlittene Deklassierung, so Fallada, hätte er bestenfalls Literatur zweiter oder dritter Hand schreiben können.

   Trotz gewisser Analogien in den Schriftstellerbiographien darf ich an dieser Stelle das Unvergleichliche, ja das Gegensätzliche in ihnen nicht unterschlagen. Als erstes ist der schon häufiger erwähnte Milieuunterschied und somit der unterschiedliche Rang der literarischen Resozialisierungsprozesse im jeweiligen Lebenslauf hervorzuheben. Während nämlich Mays Weg über gescheiterter Lehrerlaufbahn, Straffälligkeit und Lohnschreiberei in der Kolportage zum Erfolgsschriftsteller der Jahrhundertwende einen vergleichsweise linearen Aufstieg nach 1874 darstellt, erscheint Falladas ›Leben und Streben‹ mit Ausnahme des


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15jährigen Lichtblicks zwischen 1928 und 1943 als ein existentieller und sozialer Abstieg. 1912 stirbt der Webersohn immerhin in einer großbürgerlichen Villa ›im Rosenroten‹; 1947 beendet der Richtersohn, als ›Appendix‹ von den Ärzten der Charité den Medizinstudenten zur Abschreckung vorgeführt, sein Leben erbärmlich als hoffnungsloser Fall von Drogensucht.

   Der zweite große Gegensatz ist darin zu erkennen, daß May aus seiner biographischen Erfahrung heraus eine eskapistisch-exotische Literatur schuf, während Fallada im ganzen zu einem kritischen Realismus tendierte. Gelingt es May, das Real-Ich literarisch zu überhöhen und zu idealisieren, so daß daraus eine heroische Identifikationsfigur für evasionssüchtige Leser im Kaiserreich wurde, verläuft Falladas literarische Therapie dazu konträr: die am eigenen Leibe erfahrene psycho-soziale Desintegration wird verallgemeinert und zur kleinbürgerlichen Pechvogel-Figur ›verdichtet‹, die einem krisengeschüttelten Lesepublikum am Ende der Weimarer Republik Selbsterkenntnisangebote unterbreitet. Diese völlig unterschiedliche Verarbeitungsstrategie läßt sich beispielhaft anhand derjenigen Werke vor Augen führen, die die Kerkererfahrungen unmittelbar aufgreifen. Werden in Mays ›Verlornem Sohn‹ mit der heroischen Hilfe des ›Fürsten des Elends‹ alle Mauern gesprengt, so regrediert Willi Kufalt, Hauptfigur in ›Wer einmal aus dem Blechnapf frißt‹, gegen seinen Willen zu »ein bißchen Kot«, »zur Mikrobe, bösartig, die man vernichten muß«, zu dem, »was die Umwelt will.«(14)


2. Karl May im ›Klassenkampf der Jugend‹

Ob man nun Mantheys Deutung von Falladas desaströsem Lebensweg folgt, die unter Rückgriff auf psychoanalytische Theoreme eine »Spaltung des Bewußtseins«, ja sogar eine »Zweiteilung der Persönlichkeit«(15) in die gescheiterte Bürgerexistenz Ditzen und in den manischen Schriftsteller Fallada konstatiert, oder ob man dieses Lebensschicksal aus etwas allgemeinerer, sozialgeschichtlicher Perspektive im Kontext der deutschen Generationsgeschichte betrachtet, allemal erscheint das Elternhaus, insbesondere der Vater, als ursächliche Instanz für das biographische Scheitern und den damit paradoxerweise gekoppelten literarischen Erfolg. Der Vater Wilhelm Ditzen (1852-1937) verkörpert das schroffe Gegenteil dessen, was sein Sohn geworden ist: wie sein Schulfreund und späterer Reichskanzler Bethmann Hollweg absolviert er das Traditionsgymnasium Pforta, studiert danach zielstrebig Jura, um schließlich die Richterlaufbahn mit dem ehrenvollen Amt eines Reichsgerichtsrates in Leipzig zu krönen. Geradlinigkeit, Ausdauer, Triebverzicht um fast jeden Preis, preußische Pflichterfüllung sowie ei-


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ne festgefügte, konventionelle Moral (und Prüderie) prägen Falladas Elternhaus, das dabei kulturelle Aktivitäten durchaus einschließt. Enge Grenzen sind aber dem Sohn für eine neue und eigenständige Welterfahrung jenseits des wilhelminischen Bildungs- und Verhaltenskanons gesetzt. Unberaten in den Triebnöten, frühzeitig ahnend, dem Karrieremuster des Vaters nicht gewachsen zu sein, artikuliert sich in der Sucht- und Drogenlaufbahn des Sohnes der ohnmächtige Aufstand gegen die übermächtige Welt des Vaters. Konsequenterweise betreiben Falladas spätexpressionistische Romanerstlinge ›Der junge Goedeschal‹ und ›Anton und Gerda‹ die Aktion Vatermord, indem sie vor allem die repressive Bürgermoral attackieren. Aber auch noch in den ›eigentlichen‹, neusachlich-gesellschaftskritischen Romanen taucht der »Urhaß der Kinder gegen die Eltern«(16) leitmotivisch immer wieder auf.

   Trotz aller pathologischen Auswüchse fügt sich Falladas Revolte gegen den Vater, die zeitlebens fixiert bleibt auf diese einmal erlebte und erlittene Übermacht, die zugleich aber konsequenter, radikaler und darum auch tragischer verläuft als die der meisten seiner Zeitgenossen aus vergleichbarem Milieu, in das ein, was im Zuge der Wandervogel- und Jugendbewegung der ›Klassenkampf der Jugend‹(17) genannt wurde. Als Falladas ›Alterskohorte‹, also die 90er Jahrgänge des vorigen Jahrhunderts, die transitorische Phase zwischen Jugend und Erwachsensein durchlebte, hatte die wilhelminische Gesellschaft insgesamt ein Jugendkult erfaßt. Auf der Seite der erwachsenen Eliten feierte man sich als eine ›junge‹, nach Weltgeltung strebende Nation mit einem ›jungen‹ Kaiser an der Spitze, wobei die Wehrtauglichkeit der jungen Generationen als ein wichtiges Problem der Jugendpflege begriffen wurde. Auf der anderen Seite protestierten bildungsbürgerliche Jugendliche gegen diese Vereinnahmungsversuche, gegen die als erstarrt geltende materialistische Großstadtzivilisation des industriestaatlich organisierten Kapitalismus und gegen den ›billigen Patriotismus‹ der Väter, die als ›Alte Herren‹ in den diversen studentischen Verbindungen die nationalen Feiertage nur noch ›ruhmredig‹, am Ende – und das heißt am Stammtisch – sogar Bier trinkend und schwadronierend begingen. »Ein Blutwechsel tut der Nation not«, fordert in diesem Zusammenhang der rechtsintellektuelle Arthur Moeller van den Bruck, »eine Empörung der Söhne gegen die Väter, die Ersetzung des Alters durch die Jugend.«(18) Und der Schulreformer Ludwig Gurlitt (1855-1931), als Gymnasiallehrer a. D. den ›linken‹ Flügel der Jugendbewegung hier repräsentierend, seit 1902 Mitglied des ›Wandervogel Ausschuß für Schülerfahrten‹ sowie Leiter eines Jugenderholungsheimes in Steglitz bei Berlin (und ab 1918 auch uns als May-Apologet bekannt), formuliert als erwachsener Sympathisant in der Schrift zum ersten »Freideutschen Jugendtag« auf dem Hohen Meißner im Oktober 1913 (dabei handelte es sich um eine jugendbewegte Gegenveranstaltung zur monströs geratenen Hundertjahrfeier der


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Vielvölkerschlacht in Leipzig): »Die deutsche Jugend will gesund, stark, tätig, lebensfreudig, genußfähig, froh und hochgemut sein, mit einem Worte: jung. Damit ist schon ein reiches Lebensprogramm gegeben: Kampf gegen alles, was Leib und Seele vergiftet, gegen alles, was sich nicht vertragen will mit einem unverdorbenen deutschen Gewissen. Die Jugend bringt ihre gesunden, freien Instinkte mit und wird noch besser als wir Alten erkennen, was ihr dienlich ist. Sie hat es schon selbst erkannt und gefunden: der neu erwachte Wandertrieb, das tiefe Versenken in die heimatliche Natur, die Flucht vor den mit Bier- und Tabakdunst erfüllten Gasthäusern mit ihren engen Gesprächen und ihren herabziehenden und sinnbetäubenden Vergnügungen, aber auch die Abkehr von dem falschen Pathos kirchlicher Veranstaltungen und von der Talmifreude staatlich kommandierter patriotischer Jubelfeste, die Rückkehr zu echt deutscher Jugendtracht, zur Mäßigkeit in Speis und Trank, zur schlichten Volkspoesie und ihren fast schon verklungenen Weisen – das alles und noch manches mehr sind schon schöpferische Taten auf dem Wege völkischer Gesundung und Verjüngung.«(19)

   Zu dem Zeitpunkt, als Gurlitt und andere voller Emphase zur Teilnahme am Meißner-Fest aufriefen, hat zwar ein großer Teil von Falladas Alterskohorte bereits ihre May-Lektüre abgeschlossen und durch andere Kultautoren, etwa Friedrich Nietzsche, erweitert und ersetzt, dennoch hat May an diesem »Protest gegen die Stadtkultur und die bürgerliche Bildung« mit seinem »Aufbruch in die Wälder«, den »langen Wanderungen und romantischen Lagerfeuern«(20) einen wesentlichen Anteil. Denn May stand an vorderer Stelle der Lesesozialisation dieser Altersgruppen; gegen die wilhelminische Erwachsenenliteratur und damit auch gegen Mays erwachsene Erstleser der frühen neunziger Jahre, die sich ab der Jahrhundertwende vom einstigen Schriftsteller-Liebling unter dem Eindruck der diversen Anti-May-Kampagnen abgewendet hatten, erhob Falladas Generation ihren Kultautor zum eigentlichen ›Jugendschriftsteller‹, der er bis heute – allerdings mit anderen Konnotationen – geblieben ist. Während heute das vermeintlich Jugendschriftstellerische bei May in dem unbedarft-schlicht erscheinenden Weltbild (vor allem in der permanenten Schwarz-Weiß-Malerei) und in dem einfachen Schreibstil erblickt wird, betont z. B. Gurlitt 1918 im Hinblick auf Mays Wirkung auf die Vorkriegsjugend, daß May in »einer Epigonenzeit« einer von »den wenigen« gewesen sei, »der sich jung fühlte und sein Lebtag in Frühlingsstimmung lebte. Das war seine Mission und das war sein Glück.«(21) Diese Gleichsetzung von Volk und Jugend zeigt Gurlitts ›volkspädagogische‹, d. h. in diesem Fall politisch-kulturelle Intention bei den publizistischen Bemühungen um May, wobei sie sich mit den Meißner-Jugendlichen wiederum darin treffen, daß auch sie in Teilen bestrebt waren, ihren Protest nicht im Elfenbeinturm verharren zu lassen, sondern hofften, die abseits stehende proletarische


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Jugend für ihr Verjüngungsprogramm der kaiserzeitlichen Gesellschaft zu gewinnen. In diesem Sinn deutet Gurlitt fünf Jahre später, nach dem verlorenen ›Großen Krieg‹, in den so viele Generationsgenossen Falladas 1914 begeistert und opferwillig gezogen sind, Mays Bücher als abermaligen, nun aber um so notwendigeren Integrationsfaktor für die nationale Erneuerung. Trotz aller Apologetik, die sich im übrigen auch gegen den ebenfalls auf dem Meißner anwesenden May-Hasser Ferdinand Avenarius und gegen dessen elitäre Kunstvorstellungen im nachhinein richtet, können Gurlitts May-Schriften verdeutlichen, wie und als was große Teile der Meißner-Generation ihren May gelesen und verstanden haben, nämlich sowohl als jugendlich-rauschhafte, gegenkulturelle Lektüre wie auch als klassenübergreifendes, hochmoralisches Evasions- und Integrationsangebot an alle ›Jungen‹ (die vom May-Werk gewiß vorgegebene Beschränkung auf den männlichen Teil der Jugend ist spätestens seit dem Wandervogel eine stillschweigende Voraussetzung).

   Entgegen abgeklärt-erwachsener Zivilisations- und Großstadtliteratur, so führt Gurlitt zum jugendlichen Lektüreverhalten an, sei May das Beispiel eines ›Rausch-Künstlers‹, so wie ihn Nietzsche verstanden habe, daß nämlich der Rausch »das Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle« sei, weil May eben »aus innerstem Drang«, »im Rausch« geschrieben hätte und »deshalb [!] auch begeisternd auf die Jugend« wirke. Gurlitt benennt sodann die vermeintlich klassenübergreifenden Werte und Ideale, die die bildungsbürgerliche Jugend bei ihrem May suchte und fand: Entgegen dem »Klassenhaß« und der stupiden »Machtpolitik des Staates« in der Wirklichkeit macht May auf literarischem Gebiet »den Tanz um das goldene Kalb, die Mechanisierung, Entseelung der Welt nicht mit; ihm sind Technik, Ware, Bequemlichkeit des Lebens und Genuß nicht Dinge, auf die es ankommt, denn sein Leben ist auf Geistiges gerichtet.«(22) Die hier noch 1918 lobend hervorgehobenen antiindustriellen, antimaterialistischen Elemente in Mays Erzählungen, deren objektiver Anteil an der spezifisch deutschen »antiindustriellen ›Gesinnungsversteifung‹«(23) innerhalb vieler Lesergenerationen, decken sich durchaus mit der verschwommen-idealistischen Programmatik des Meißner-Festes insofern, als bereits 1913 »gegen die Zerreißung der Nation« alle jugendlichen Seelen empor zu einer reinen »Begeisterung für höchste Menschheitsaufgaben« geführt werden sollen, damit sie zu einem »erfrischenden, verjüngenden Strom« für das »Geistesleben des Volkes« werden.(24)

   Die ernsthafte Sorge, nicht nur eine bürgerlich abgehobene Jugendsezession abzugeben, vielmehr den Kontakt zum ›Volk‹ nicht zu verlieren, mischte sich von Anfang an mit elitärem, geistesaristokratischem Sendungsbewußtsein. Nicht ohne Grund avancierte Nietzsche, neben heute recht abseitig anmutenden Texten wie Langbehns ›Rembrandt-


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deutscher‹ oder Walter Flex’ ›Wanderer zwischen beiden Welten‹, schon vor 1914 zu einem vielgelesenen ›Jugendautor‹. Vor allem ›Also sprach Zarathustra‹ darf als Kultbuch bezeichnet werden, wird doch in ihm von einem ›Reich der Jugend‹ geträumt, das die jungen Leser in der Lektüre vermeinten bestätigt zu sehen. Jenseits der historischen, sozialen und moralischen Korsettstangen der Erwachsenenwelt, in der sich der nur ›Gute‹ betätigt, agiert der ›Edle‹ als Vorläufer des Übermenschen, indem er für sich alle Begrenzungen überwindet und in einer gottlosen Zeit neue, angemessene Tugenden schafft: Ihm ist der ›Gute‹ nur ›im Wege‹, denn: »Altes will der Gute, und daß Altes erhalten bleibe.«(25) Das Schicksal dieser zunächst Unverstandenen und Auserwählten ist seelische Einsamkeit, im ›Zarathustra‹ bildlich übersetzt in Wüste und wilde Bergeshöhen als bevorzugten Aufenthaltsorten der ›Edlen‹. Gurlitt rückt May in die Nähe Nietzsches, wenn er z. B. behauptet: May »überwindet Sentimentalität, Weltschmerz, Sünde und Reue, und findet Erlösung im Kampf.«(26) Diese Verbindung von zwei gedanklichen und literarischen Antipoden – wenn man sich auf die Werke selbst und deren ideengeschichtlichen Gehalt beschränkt – ist keine nur private Marotte des Nietzsche- und May-Verehrers Gurlitt; auch andere haben diese Verbindung betont, am deutlichsten der ›völkische‹ Literaturwissenschaftler Josef Nadler.(27) In unserem Zusammenhang ist zu sagen, daß das Amalgam Edelmensch-Übermensch der insgesamt synthetisierenden Rezeption damaliger Jugendlicher entsprochen haben dürfte. Entsprechend ihrer Lesegeschichte und ihrer Mentalität stellt Nietzsche die gedankenüberfrachtete, philosophisch überhöhte Fortsetzung von Mays naiv-moralischen Ausbruchs- und Abenteuerphantasien dar. Die Lebensform der jeweiligen Helden läßt sich ja auch leicht assoziativ vermischen: Die Edel- und Übermenschen leben weit ab, hoch erhoben über den materialistischen Zivilisationssümpfen, auf Gipfeln, nahe dem Licht durchstreifen sie heroisch-einsame Landschaften. Der Hohe Meißner als alternativer Versammlungsort von 1913 veranschaulicht dieses prätendierte Erhabenheitsgefühl ebenso wie die berühmte Ikone der Jugendbewegung, nämlich Fidus’ »Lichtgebet«.(28)

   Ein wesentlicher Grund für die May-Begeisterung der Jahrhundertgeneration war doch wohl, so wie später auch, das Eskapismusangebot der Texte, wobei nicht allein das ›exotische Gewand‹(29) faszinierte, sondern ebenso der geschilderte Austritt einer Gruppe von abenteuerlustigen Edelmenschen aus der zivilen Massengesellschaft mit ihren undurchschaubaren Interessengegensätzen. Organisiert ist diese literarische Sezession in mehr oder minder mönchisch-asketischen Männerbünden mit der charismatischen Ich-Figur als Anführer. Nietzsches im Kern anders gemeintes Motto ›Gefährlich leben!‹ konnte vor dem Hintergrund der vorher erfolgten May-Lektüre mit dieser Abenteuerwelt verknüpft werden: das Ich bewahrt und bewährt sich durch die Tat ei-


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nerseits, und andererseits geht es ein in die exklusive Gemeinschaft gleich Fühlender. Dieser lektüregestützte, phantasierte heroische Männerbund, »ein Gegenmodell zum verweichlichenden Familienleben« des wilhelminischen Alltags,(30) wurde durchaus konkret, denn schon vor 1914 kam die gegenkulturelle Jugend- und Wandervogelbewegung paradoxerweise den bereits erwähnten Umarmungsversuchen der (militärischen) Obrigkeit dahingehend entgegen, daß sie auch unter dem Eindruck ihrer Lektüren Gelände- und Kriegsspiele mit nächtlichen Manövern und anschließenden Lagerfeuern organisierte. Neben heroisch-jugendlicher »Vaterlandsliebe«, »Willensstärke oder Abhärtung« wurden dabei militärische Fähigkeiten erprobt, nämlich: »Zurechtfinden im Gelände, Überwinden von Hindernissen, Orientierung bei Nacht, Anschleichen und Ankriechen, Springen und Stürmen, Streifen und Spähen« (das uns Mayanern bekannte ›Rekognoszieren‹), »Kartenlesen« und vieles mehr wurde ›gespielt‹. Mit Recht wird man in diesem Zusammenhang von einer selbstverschuldeten »Funktionalisierung der bürgerlichen Jugendbewegung für militärische Zwecke«(31) sprechen dürfen. Mays Anteil daran sollte zumindest einmal im Rahmen einer noch ausstehenden Studie über ›May und der Wandervogel‹ (oder so ähnlich), trotz der unbestrittenen Pazifismen im Werk selbst, kritisch überdacht und geprüft werden. Viele der jungen Männer von Langemarck kannten ihren May genau und gingen trotzdem (oder deshalb?) unter dem mächtigen Eindruck der Ideen von 1914, die die Jugendbewegung mitproduziert hat, ins Feld, und viele junge Männer schlossen sich als (ehemalige) May-Leser nach 1918 trotz der Kriegsniederlage während der problematischen Phase der Jugendbewegung zur Zeit der Weimarer Republik paramilitärischen Männerbünden mit jungen charismatischen Offizieren aus dem Krieg als Anführer an. Mit Blick auf die gewaltigen Brüche der deutschen Geschichte, auf die Jugendgenerationen vor 1914 und nach 1918 zeigt sich doch auch wieder einmal die Binsenweisheit, daß Kultautoren wie Karl May selten ihren Werken an sich ihre große Wirkung verdanken, sondern weit mehr den ›Rezeptionskontexten‹. Was Fallada und seine Alterskohorte in May hinein- und herausgelesen haben, bestimmt dessen Wirkung und damit das deutsche Mentalitätsmuster bis weit nach 1945!

   Falladas Kontakt zum Wandervogel war zwar nur kurz, dafür aber – wie es zum ewigen Pechvogel paßt – völlig katastrophal. Nach längerem Überreden der skeptischen Eltern nimmt er an einer fünfwöchigen Wanderfahrt nach und durch Holland im Sommer 1910 teil. Das bemerkenswerte Ungeschick des knapp 17jährigen, seine Unbeholfenheit in praktischen Dingen machen ihn schnell zum gehänselten Außenseiter. Als einziger – auch dies bezeichnend – kehrt Fallada an Typhus erkrankt zurück. In die gleiche Zeit fällt Falladas heftige Schwärmerei für Nietzsche, die länger anhält (ein Nietzsche-Band wird beim schwer ver-


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wundeten Gymnasiasten 1911 in Rudolstadt gefunden) und die bis in Romane wie ›Wolf unter Wölfen‹ oder ›Wir hatten mal ein Kind‹ hineinwirkt, wo junge Außenseiter oder Gestrauchelte jenseits der Gesellschaft ihren Weg zu gehen versuchen. Im Februar 1910 bekommt der Vater vom Carola-Gymnasium in Leipzig den besorgten Hinweis, daß sein Sohn Nietzsche lese. Eine heimliche Kontrolle der Bibliothek des Sohnes verläuft zwar ergebnislos, doch der Vater ist zu Recht mißtrauisch, vor allem vorgewarnt aus früheren Lektürephasen seines Sohnes. Väterliche Kontrollen betrafen vor Nietzsche ganz besonders Karl May. Vor allen anderen Süchten hat Fallada als erste eine Lesesucht entwickelt, die er zeitlebens beibehält. Das unverstandene Unglückskind entdeckte zunächst in der Abenteuerliteratur ein Refugium und eine Stütze; die Lektüre mußte, was May betraf, heimlich erfolgen, denn gerade die May-Sucht war dem Vater ein Dorn im Auge: »Da lag ich dann Stunden und Tage und las und las. Ich wurde nicht müde, meinen Marryat und meinen Gerstäcker« – die waren offenbar väterlicherseits geduldet – »und den heimlich geliehenen Karl May zu lesen. Je untragbarer mir mein Alltagsleben erschien, um so dringlicher suchte ich Zuflucht bei den Helden meiner Abenteuerbücher.«(32) Wilhelm Ditzens schroffe May-Gegnerschaft folgt dem Bildungsdünkel, den may-lesende Jugendliche nach 1900 unter dem Eindruck der Pressefehden um May von ihren Vätern zu erleiden hatten. Indessen: ein wenig kann man die Skepsis des Kammergerichtsrates in Berlin 1905 gegenüber May und dessen Wirkung auf junge Gemüter auch nachvollziehen, animierte diese Lektüre den Sohn doch dazu, den Vater zu bestehlen. So wie einst May unter dem Eindruck von ›Rinaldo Rinaldini‹ und anderen edlen Banditen aus dem Weber- und Familienelend zu entkommen versuchte, plante Rudolf mit einem Schulfreund, inspiriert von May und anderen, nach Hamburg auszureißen und von dort als Schiffsjunge die große weite Welt kennenzulernen. Goldmünzen im Wert von dreißig Mark wurden dazu aus dem Schreibtisch des Vaters entwendet. Doch am Tage des Aus- und Aufbruchs aus dem wilhelminischen Familiengefängnis wurden beide Jungen mit dem Geld ertappt und gestellt. Für den Vater muß dies ein Trauma gewesen sein: der Sohn eines aufstrebenden, angesehenen Richters als Dieb!

   Aus der Sicht des Sohnes erscheint das May-Verbot als ein ähnlich schikanöser Akt wie etwa der Zwang zur Teilnahme an den öden Hausmusikabenden, in denen die Bildungsbürgerlichkeit zelebriert wurde. Und so wie sich Fallada in seiner Haßliebe zum Vater dadurch ›rächt‹, daß er zur klassischen Musik erst nach dem Tod des Vaters findet,(33) so rächt sich der schließlich erfolgreiche Schriftsteller am Vater, indem er 1932 vom ersten größeren Honorar (für ›Bauern, Bonzen und Bomben‹) die komplette Radebeul-Ausgabe kauft, sie dann in Carwitz, seinem mecklenburgischen Domizil während der Nazi-Zeit, nicht nur


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mehrfach liest, sondern ihr auch einen Ehrenplatz im Bücherschrank einräumt. Erst 1945 mit seinem letzten und endgültigen Abgleiten in die Drogensucht verläßt und verliert Fallada mit Carwitz auch seinen Karl May. 1942 kann er noch in dem autobiographischen Erinnerungsbuch ›Damals bei uns daheim‹ über seine May-Liebe und über seine Vater-Beziehung auch in diesem Punkt schreiben: »Übrigens Karl May – es ist mir heute noch unverständlich, warum mein (...) Vater eine so tiefe Abneigung grade gegen diesen Autor hatte. Er war darin unerbittlich. Wir durften uns nie einen Karl May ausleihen, und als Onkel Albert dem Ede und mir ein paar Bände May geschenkt hatte, mußten wir sie beim Familienbuchhändler in schicklichere Lektüre umtauschen. Vater hat damit nur erreicht, daß meine Liebe zu Karl May immer weiter unter der Asche schwelte. Als ich dann ein Mann geworden war und ein bißchen Geld hatte, habe ich mir alle fünfundsechzig Bände Karl May auf einmal gekauft. Während ich dies schreibe, stehen sie grüngolden aufmarschiert in der Höhe meines rechten Knöchels. Ich habe sie nun alle gelesen, nicht nur einmal, sondern mehrere Male. Jetzt bin ich gesättigt von Karl May, ich werde sie kaum wieder lesen. Aber nun schlüpft mein Ältester in den Ferien hier herauf und holt sich einen Band nach dem anderen, bettelt vor dem Schlafengehen um fünf Minuten Aufschub – alles dasselbe und doch alles ganz anders. Denn ich hindere ihn nicht, ich raube ihm auch nicht die Illusion, der Held befinde sich wirklich in tödlicher Gefahr – ich will doch einmal gegen Vater recht behalten.«(34)


3. Old Jumble und Tredup

Ähnlich wie bei Falladas Generationsgenossen Zuckmayer, Graf oder Remarque,(35) die zu Mays jugendlichen Verehrern der späten Kaiserzeit zählen und die dann in der Endphase der Weimarer Republik als kritische, neusachliche Realisten selber schriftstellerisch tätig wurden, hat auch bei Fallada das Lektüre-Idol der Jugend nicht in dem Sinne direkt gewirkt, daß Inhalte, Themen oder Motive der Abenteuerbücher aufgegriffen und verarbeitet werden; in stofflich-thematischer, aber auch wirkungsintentionaler Hinsicht erscheint Mays heroisch-exotische Phantasiewelt geradezu als ein Gegenkontinent zur Wirklichkeitsorientierung dieser Autorengruppe. Der Name Karl May wie auch verschiedene May-Anspielungen tauchen dennoch in Falladas Romanen gelegentlich auf, vorzugsweise dann, wenn eine Romanfigur sich an die Vorkriegszeit erinnert und im Zusammenhang damit die May-Lektüre mehr oder weniger verklärt.

   Eine Ausnahme in diesem für Mayaner zunächst etwas ernüchternden Befund über die unmittelbaren literarischen Beeinflussungen stellt


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Falladas erster großer Roman ›Bauern, Bonzen und Bomben‹ dar, der die Neugeburt des Schriftstellers einleitet. Das ehrgeizige Romanprojekt nach dem hier umrissenen lebensgeschichtlichen Tiefpunkt im Zentralgefängnis von Neumünster erzwang eine Besinnung und einen gewissen Rückgriff auf literarische Vorbilder. Große Realisten des 19. Jahrhunderts wie Flaubert oder Maupassant stehen an erster Stelle der Lehrmeister, doch gleichzeitig schleicht sich an markanter Stelle ironisch gebrochen Karl May ein. Der beste Lehrmeister aber ist, um Mays Bonmot zu gebrauchen,(36) auch für Fallada das Leben. Obgleich Falladas Romane in der Regel nicht als Autobiographie gelesen werden können und wollen, macht sich der Autor, wie so viele andere, die Methode zu eigen, Selbsterlebtes mit Erfundenem oder Recherchiertem zu mischen, in Figuren eigene Charaktermerkmale und reale Persönlichkeiten zu verschmelzen und zu verdichten. Ohne Kenntnis der Schriftstellerbiographie, die erst mit Mantheys Monographie von 1963 in Einzelheiten bekannter geworden ist, ist ›Bauern, Bonzen und Bomben‹ 1931 vom zeitgenössischem Lesepublikum zu Recht und völlig hinreichend als ein schonungsloser, bisweilen reportageähnlicher Schlüssel- und Dokumentarroman über Ereignisse in der holsteinischen Provinz gelesen worden.

   Ausgerechnet Neumünster ist ein halbes Jahr nach der Haftentlassung der Ort, wo Fallada als Annoncenwerber und Redakteur – wer denkt hier nicht an May – einer Lokalzeitung beruflich wieder Fuß fassen muß, wo er in die sozialen, ökonomischen und politischen Krisenwirklichkeiten der sterbenden ersten Republik eintauchen muß. Aus Neumünster wird zwar im Roman die pommersche Landstadt Altholm, aus dem sozialdemokratischen zweiten Bürgermeister Lindemann die einzige »halbwegs sympathische Figur«(37) Gareis, aus Fallada der armselige Abonnentenjäger und Möchtegern-Redakteur Tredup, der übrigens als einziger die im Roman geschilderten und zugespitzten Ereignisse um die holsteinische Landvolkbewegung mit dem Leben bezahlen muß. Aber trotz dieser dichterischen Veränderungen decken sich die Grundzüge der Romanhandlung mit den historischen Vorgängen.

   In den Jahren 1927-28 begann zunächst an Schleswig-Holsteins Westküste die 1929 sich verschärfende Krise der dortigen Landwirtschaft. Bauern wehrten sich gegen existenzbedrohende Zwangsvollstreckungsmaßnahmen der sozialdemokratisch geführten preußischen Regierung. Der Roman beginnt damit, daß eine solche Hofpfändung von den Bauern durch Gegengewalt vereitelt wird (als Vorlage dient hierzu das Beidenflether Ochsenfeuer in der Wilstermarsch vom 19. November 1928). Dieser handgreifliche Bauernprotest wird von Tredup fotografiert. Er verkauft diese Fotos, damit er endlich etwas Geld für sich und seine Familie dazu verdient, an den sozialdemokratischen Regierungspräsidenten Temborius in Stolpe (im Realfall war dies Regie-


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rungspräsident Abegg in Schleswig), der daraufhin die bäuerliche Protestbewegung als Bedrohung für die Republik ansieht, zumal auf Seite der Bauern deutschnationale, vor allem aber rechtsradikale, terrorbereite Gruppierungen agieren, die – auch dies wirklichkeitskonform – versuchen, die Bauernwut als Mittel ihres Kampfes gegen das ›jüdisch-parlamentarische Aussaugesystem‹(38) zu nutzen. Nachdem die Bauern zu einer Demonstration in die nahe Kreisstadt Altholm aufgerufen haben und es zu einem Bombenattentat auf den Regierungspräsidenten gekommen ist, setzt Temborius den ebenfalls sozialdemokratischen Bürgermeister und Polizeichef von Altholm, Gareis, dahingehend unter Druck, den angekündigten Aufmarsch der Landvolkbewegung zu verbieten. Gareis, ein Pragmatiker, arbeitswütiger Lokalmatador und Kämpfer für die Belange seiner Stadt, widersetzt sich diesem Ansinnen, weil er es für eine überzogene Reaktion hält und weil er weiß, daß die Stadt ihr bäuerliches Um- und Hinterland bitter nötig hat. Der deutsch-nationale Chefredakteur Stuff, Tredups Vorgesetzter, wiegelt mit tendenziös manipulierten Artikeln die Bauern gegen die sozialdemokratischen ›Bonzen‹ in Altholm, Stolpe und Berlin auf. So kommt es zu dem, was im wirklichen Neumünster und in der Republik ab dem 1. August 1929 der ›schwarze Donnerstag‹ genannt wurde. Wegen der ungeschickten und übernervösen Polizeieinsatzleitung endet die Demonstration mit Tumulten und Verletzten, so daß Gareis, schon um den ihm untergebenen Polizeioberinspektor Freksen zu stützen, die Demonstration auflösen und deren Anführer verhaften lassen muß. Die aufgebrachten Bauern reagieren ihrerseits auf einem nächtlichen ›Landthing‹ damit, einen Wirtschaftsboykott über Altholm zu verhängen.(39) Gegen Stuff und seine Sympathisanten in Stadt und Land setzt Gareis bei dessen Verleger durch, daß Tredup den Redakteursposten erhält, damit in dem anstehenden Prozeß gegen die Anführer der Demonstration neutraler berichtet wird. Doch der ungeschickt-naive Pechvogel Tredup durchschaut das Intrigenspiel der Mächtigen nicht – er muß sogar kurzzeitig in der Haftanstalt unter dem Verdacht einsitzen, der Bombenleger zu sein –, so daß er versucht, mit dem heimlich auf dem Land versteckten Geld für seine Pfändungsfotos ein neues Leben in einer anderen Stadt zu beginnen. Tredup wird aber, als er sein Geldversteck in der Nacht aufsucht, vom rabiaten und in Altholm schwerverletzten Bauern Banz erschlagen, der in dem Geldgräber seinen mißratenen Sohn vermutet. Während Tredups Frau der Meinung ist, ihr Mann habe sich ohne sie und die Kinder mit dem Geld aus dem Staube gemacht, wird Gareis infolge einer Intrige von seinen Parteifreunden als Sündenbock geopfert und entlassen. Zurück bleibt eine von Gruppeninteressen vollends paralysierte Stadt, die für die gesamte Weimarer Republik steht, weil Altholm, die »kleine Stadt« – wie Fallada im Vorspruch zum Roman vermerkt – »für tausend andere« steht »und jede große auch.«(40)


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   Ungefähr in der Romanmitte (somit ›zentral‹ im Doppelsinn des Wortes) findet sich eine Szene, die Fallada aus der Erinnerung an seine May-Lektüre erdacht und erfunden hat: Oberlandjäger Zeddies-Haselhorst gerät in einen Zielkonflikt zwischen seiner Staatsloyalität und seiner Ehefrau, die als Bauerntochter mit der Gegenseite sympathisiert. Deshalb kommt für Zeddies ein offizielles Auskundschaften der geheimnisvollen Bauernversammlung auf einem nächtlichen Thingplatz nicht in Frage. Aber er »möchte seine kleine Freude« trotzdem haben, weil ja immer gut ist, um mit Old Shatterhand zu reden, zu wissen, ›wen man vor sich hat‹. Der Leser erfährt den heimlichen Pirschweg, wie bei May üblich, mit Hilfe eines Dialoges des Landjägers mit seiner ortskundigeren Frau. Über Felder und Wiesen durch »taunasses Gras« muß Zeddies sich zu seinem privaten Abenteuer schleichen, um schließlich an einen Bach zu gelangen, der ihn zum Thing führt: »Dann krempelt er die Hosen auf und steigt ins Bachbett. Der Boden ist reiner Sand, so kommt er rasch vorwärts. Dann wird das Wasser seichter (...) Er kommt nur langsam voran, der Schlamm hält seine Füße fest. Von Zeit zu Zeit bleibt er stehen« und schaut dabei wie Old Shatterhand »auf zu den Sternen, er vergewissert sich, daß er die rechte Richtung hat« (was man als holsteinischer Landgendarm 1929 doch so alles beherrschen muß!).

   In dieser Episode werden nicht allein Anschleichtricks der May-Helden wiederholt (wie z. B. diejenigen aus dem 1. Band von ›Old Surehand‹(41)), sondern es wird zugleich eine may-zünftige Zugabe angefügt, weil Zeddies erleben muß, daß nicht nur er im Dunkeln die Bauern ausspionieren will: »plötzlich (...) hält er inne. Er riecht Rauch. Es kann nicht sein, daß der Rauch schon« von der eigentlichen Versammlung kommt, da »der Wind mehr schräg seitlich« steht. Da muß sich jeder Trapper fragen, wer denn »hier im Sumpf« ein Lagerfeuer brennt. »So sehr es ihn nach der Versammlung drängt, sein Jägerinstinkt wird wach, und leise tastet er schräg weiter nach links (...) Der Rauchgeruch wird stärker, der Boden trockener. Ein dichtes Gebüsch und darüber ein schwacher Lichtschein, rötlich, von einem Holzfeuer.« Wir sind nicht mehr im Schleswig-Holstein von 1929, sondern in den ›dark and bloody grounds‹, deshalb muß der Erzähler eine unmißverständliche Reverenz vor seiner Quelle machen: »Dem Oberlandjäger kommt eine Erinnerung an seine Jugendzeit, als er noch Indianerschmöker las: Karl May und Sitting Bull und den letzten Mohikaner.« Durch einen uns bekannten, nur leicht verwandelten Trick will Zeddies den Unbekannten aus der Reserve locken: »Er nimmt eine Patrone und wirft sie schräg seitlich gegen das Feuer zu, es klingt, als raschle jemand zwanzig Meter von ihm im Gebüsch. Er lauscht, aber nichts rührt sich«, denn »es ist kein Schläfer« mehr da.(42) Also wird der Bauernthing wieder wichtiger. Der Weg geht durch den Bach; am Rande einer ansteigenden Heidefläche bei Findlingen halten die Bauern im Mondenschein ihren Gerichtstag über


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das verhaßte Altholm im besonderen, über das ›System‹ im allgemeinen. Als nochmalige May-Zugabe erweist sich, daß Zeddies ebenfalls beim Lauschen den Unbekannten vom Lagerfeuer antrifft. Beide lauschen solange einträchtig, bis sie beide von einem Bauern entdeckt werden. Während der Unbekannte aber sich dabei überraschenderweise als Sympathisant der Bauern entpuppt, muß Zeddies-Shatterhand durch ein wagemutiges Manöver fliehen: »(...) frei muß er sein, und er schnellt die Knie hoch, trifft mit voller Wucht mitten in das Gemächte des Mannes. Der stößt einen Schrei aus, dem schon die Luft fehlt.« Zeddies »springt in das Sumpfwasser, das fett in sein Gesicht klatscht, hastet mit schweren, klumpigen Füßen. Knüppel hört er fallen, rechts und links von sich, Steine schlagen breit ins Wasser«,(43) aber Zeddies gelingt die Flucht ...

   Gerade diese und andere die Bauern betreffenden Szenen im Roman, dessen eigentlicher Schwerpunkt auf der Darstellung des destruktiven (Klein-) Stadtmilieus liegt, haben auch bei vielen wohlwollenden Fallada-Kritikern eher Ablehnung oder Unverständnis hervorgerufen. Von ›Operette‹ oder ›Kolportage‹ ist bei ihnen mit gewissem Recht die Rede; das lange May-Zitat im ansonsten neusachlichen Kontext erscheint in der Tat wie ein Fremdkörper, überrascht zumindest. Der Städter Fallada, der wie viele seiner Herkunft das Land und die Bauern kaum kannte, viel eher dabei agrarromantischen Illusionen aufsaß, inszeniert die Bauernversammlung als eine ›indianisch-germanische‹ Gerichtsszene. Bei aller Kritik ist Fallada dahingehend zu entschuldigen, daß es zunächst nur zu verständlich ist, wenn er bei der Darstellung ihm unvertrauter Milieus auf literarische Vorbilder zurückgreift. Darüber hinaus erscheint mir die May-Reminiszenz auch nicht völlig deplaziert, denn rechtsintellektuelle Propagandisten der Landvolkbewegung wie auch eine Reihe von Bauernführern versuchten in der Tat, das Antizivilisatorische der Bewegung durch archaisch anmutende Inszenierungen zu unterstreichen.

   Wenn man behaupten kann, daß Zeddies’ Belauschen und glückliches Entkommen fast ungebrochen dem erlesenen Old-Shatterhand-Muster entspricht, so zeigt eine andere nächtliche, aber eindringlichere, dafür aber tragischer verlaufende Land- und Lauschepisode, daß Fallada in ›Bauern, Bonzen und Bomben‹ noch in der Negation seinen Karl May auch immer (halb-)bewußt im Kopf hatte. May selbst hat ja bekanntlich in ›»Weihnacht!«‹ von der Schriftstellermethode Gebrauch gemacht, den unglücklichen Teil seines persönlichen Schicksals in Old Shatterhands Jugendfreund Carpio, dem Wirrkopf ›Old Jumble‹ in far west, literarisch abzuspalten(44) (man möchte sagen: zu entsorgen). Ähnlich verfährt Fallada mit Tredup: dieser Old Jumble in Holstein stirbt daher einen Tod als Anti-Shatterhand, nämlich zufällig, unerkannt und unbeabsichtigt erschlägt ihn Bauer Banz. »›Welche sind, die haben kein


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Glück‹, sagt Banz und meint sich.«(45) Dies ist der Versuch des neugeborenen Schriftstellers, sein bisheriges Unglück zu begraben. Auf diese Art und Weise ist May, der Gegenstand unserer kritischen Bewunderung, lange vor den Segeberger Spielen und gar nicht weit von hier über den Umweg der pommerschen Verfremdung und Verallgemeinerung nun doch noch nach Schleswig-Holstein gelangt.



1 So der stereotype Klappentext zu verschiedenen Fallada-Romanen in den Taschenbuchausgaben des Rowohlt-Verlages; hier zitiert nach Hans Fallada: Bauern, Bonzen und Bomben. Reinbek bei Hamburg 1964, S. 2.

2 Siehe hierzu vor allem Claus Roxin: Mays Leben. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 62-123.

3 So der Titel eines Textfragmentes Karl Mays, wiedergegeben in: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1971. Hamburg 1971, S. 124.

4 ... ich fügte mich (Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o. J. (1910), S. 170)

5 Zit. nach Jürgen Manthey: Hans Fallada. Reinbek bei Hamburg 1963, S. 14 (Rowohlts Monographien); weitere wichtige Fallada-Biographien sind: Werner Liersch: Hans Fallada. Sein großes kleines Leben. Hildesheim 1993 – Tom Crepon: Leben und Tode des Hans Fallada. Frankfurt a. M.-Berlin-Wien 1984 – Klaus Farin: Hans Fallada. »Welche sind, die haben kein Glück«. München 1993.

6 Zit. nach Liersch, wie Anm. 5, S. 73

7 Siehe Manthey: Hans Fallada, wie Anm. 5, S. 65ff.

8 Tom Crepon und Marianne Dwars: An der Schwale liegt (k)ein Märchen. Hans Fallada in Neumünster. Neumünster 1993, S. 19

9 Zit. nach ebd., S. 19

10 Jürgen Manthey: Hans Fallada oder die unbewältigte Krise. In: Hans Fallada. Werk und Wirkung. Hrsg. von Rudolf Wolff. Bonn 1983, S. 117ff. – Siehe hierzu auch Manthey: Hans Fallada, wie Anm. 5, S. 74f.

11 Hans Fallada: Wie ich Schriftsteller wurde. In: Hans Fallada: Lieschens Sieg und andere Erzählungen. Reinbek bei Hamburg 1973, S. 210

12 Ebd., S. 209

13 ... ich feile nie (May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 4, S. 228)

14 Hans Fallada in einem Romanexposé von 1932, wiederabgedruckt als Klappentext in der neuen Taschenbuchausgabe des Aufbau-Verlages: Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt. Berlin 1994

15 Manthey: Fallada oder die unbewältigte Krise, wie Anm. 10, S. 120

16 Zit. nach Manthey: Hans Fallada, wie Anm. 5, S. 123

17 Titel eines programmatischen Aufsatzes von Friedrich Bauermeister. In: Der Aufbruch 1. Heft 1 (1915), S. 2f. Siehe hierzu Corona Hepp: Avantgarde. Moderne Kunst, Kulturkritik und Reformbewegungen nach der Jahrhundertwende. München 1987, S. 85

18 Arthur Moeller van den Bruck: Die Deutschen. Bd. 1. Minden 1904, S. 142

19 Ludwig Gurlitt in einem ›Freundeswort‹. In: Freideutsche Jugend. Zur Jahrhundertfeier auf dem Hohen Meißner 1913. Jena 1913; wiederabgedruckt in: Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern. Hrsg. von Winfried Mogge und Jürgen Reulecke. Köln 1988, S. 163 (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung Bd. 5)

20 Hans-Georg Gadamer: Das Drama Zarathustras. In: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung. Bd. 15/1986. Berlin 1986, S. 2

21 Ludwig Gurlitt: Gerechtigkeit für Karl May! (1918/19); zit. nach: Karl May's Gesammelte Werke Bd. 34: »Ich«. Bamberg 1992, S. 531

22 Ebd., S. 522

23 So – bezugnehmend auf Hans Rosenberg – Regina Hartmann: Blockhaus und Sennhütte. Behaustheitsphantasien bei Karl May und Ludwig Ganghofer im Kontext zeitgenössischer Befindlichkeit. In: Jb-KMG 1994. Husum 1994, S. 145


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24 Aus dem zweiten Aufruf zum Hohen-Meißner-Fest. In: Mogge/Reulecke, wie Anm. 19, S. 86

25 Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. Hrsg. von Karl Friedrich Schlechta. München 1960, Bd. II, S. 309; siehe hierzu auch Thomas Herfurth: Zarathustras Adler im Wandervogelnest. Formen und Phasen der Nietzsche-Rezeption in der deutschen Jugendbewegung. In: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung. Bd. 16 (1986-87). Burg Ludwigstein 1986-87, S. 79ff.

26 Gurlitt: Gerechtigkeit, wie Anm. 21, S. 499

27 Vgl. Josef Nadler: Literaturgeschichte des Deutschen Volkes. Bd. III. Berlin 1938, S. 568. Hierzu auch Arno Schmidt, der Mays ›Silbernen Löwen‹ als die Auseinandersetzung Mays mit Nietzsche interpretiert: »Wie betroffen muß May die Erkenntnis gemacht haben, daß man seine Gestalten (...) zum ›Übermenschen‹ Nietzschescher Prägung stempeln könnte!« (Arno Schmidt: Abu Kital. Vom neuen Goßmystiker. In: Ders.: Dya Na Sore. Gespräche in einer Bibliothek. Karlsruhe 1958, S. 180).

28 Siehe hierzu Klaus Jeziorkowski: Empor ins Licht. Gnostizismus und Licht-Symbolik in Deutschland um 1900. In: Klaus Jeziorkowski: Eine Iphigenie rauchend. Aufsätze und Feuilletons zur deutschen Tradition. Frankfurt a. M. 1987, S. 152-80 – Jeziorkowski verknüpft u. a. Fidus’ Lichtgebet mit ähnlichen Bildkomplexen bei Karl May; ebenso Hermann Glaser: Die Kultur der Wilhelminischen Zeit. Topographie einer Epoche. Frankfurt a. M. 1984, S. 11-47.

29 Ich erzähle also rein deutsche Begebenheiten im persischen Gewande ... (May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 4, S. 211)

30 Jürgen Reulecke: Im Schatten der Meißner-Formel: Lebenslauf und Geschichte der Jahrhundertgeneration. In: Mogge/Reulecke, wie Anm. 19, S. 18

31 Die genannten Spiele und Übungen werden aufgezählt u. a. in einem: Kriegsjahrbuch 1916 für Volks- und Jugendspiele. Berlin/Leipzig 1916, S. 127f.; hier zit. nach Joachim Wolschke-Bulmahn: Kriegsspiel und Naturgenuß. Zur Funktionalisierung der bürgerlichen Jugendbewegung für militärische Ziele. In: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung. Bd. 16, wie Anm. 25, S. 261.

32 Hans Fallada: Damals bei uns daheim. Erlebtes, Erfahrenes und Erfundenes. Reinbek bei Hamburg 1955, S. 48

33 Siehe Manthey: Hans Fallada, wie Anm. 5, S. 11.

34 Fallada: Damals bei uns daheim, wie Anm. 32, S. 148

35 Siehe Rainer Jeglin: Zweimal Osnabrück, Pappelgraben. Karl-May-Erinnerungen im Werk von Erich Maria Remarque. In: Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook V (1995), S. 52-64.

36 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XII: Am Rio de la Plata. Freiburg 1894, S. 12

37 So Ernst Weiß in einer Rezension von 1931, in: Ernst Weiß: Die Kunst des Erzählens. Essays, Aufsätze, Schriften zur Literatur (Gesammelte Werke Bd. 16). Hrsg. von Peter Engel und Volker Michels. Frankfurt a. M. 1982, S. 389

38 Siehe hierzu Günter Caspar: Fallada-Studien. Berlin/Weimar 1988, S. 28; ferner Gerhard Stoltenberg: Politische Strömungen im schleswig-holsteinischen Landvolk. Ein Beitrag zur politischen Meinungsbildung in der Weimarer Republik. Düsseldorf 1962.

39 Segeberg, damals ohne Karl-May-Spiele um jede Einnahmequelle kämpfend, bot sich gegen Neumünster den Bauern als neuer Veranstaltungsort an, wie Redakteur Ditzen in seinen nächtlichen Notizen, dem späteren Steinbruch zu seinem Roman, vermerkt. Siehe Crepon/Dwars, wie Anm. 8, S. 90.

40 Fallada: Bauern, Bonzen und Bomben, wie Anm. 1, S. 5 – die folgenden Fallada-Zitate ebd., S. 169-76

41 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XIV: Old Surehand I. Freiburg 1894, S. 105ff.

42 Fallada, Bauern, Bonzen und Bomben, wie Anm. 1, S. 171

43 Ebd., S. 176

44 Vgl. Helmut Schmiedt: Karl May. Leben, Werk und Wirkung. Frankfurt a. M. 31992, S. 174-79; Rainer Jeglin: Werkartikel ›»Weihnacht!«‹. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 2, S. 272-77.

45 Fallada, Bauern, Bonzen und Bomben, wie Anm. 1, S. 363


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