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HELMUT SCHMIEDT

Literaturbericht



Am 24. und 25. Juni 1993 fand an vornehmer Stelle, in der Wiener Hofburg, ein Symposion ›Bildung durch Trivialliteratur. Realität – Fiktion – Rezeption: Karl May und Österreich‹ statt, veranstaltet vom Ludwig Boltzmann-Institut für Internationale Kultur- und Wirtschaftsbeziehungen. Die Referate dieser Tagung, vermehrt um eine Reihe alter und weiterer neuer Beiträge zu dem weitgespannten Thema, liegen nun vor in einem Sammelband mit dem leicht veränderten Titel ›Karl May und Österreich. Realität – Fiktion – Rezeption. Bildung und Trivialliteratur‹. (1) Er gliedert sich in sechs Teile.

   Was Karl May mit Österreich verbindet, soweit es um persönliche Beziehungen, Reisen, österreichische Romanfiguren und Handlungsschauplätze geht, ist Gegenstand der beiden ersten. Bekanntlich hatte May ein Faible für das Nachbarland, so daß es hier – von den in Österreich spielenden Teilen des ›Weg zum Glück‹ bis zur berühmten Wiener Rede – vieles zu berichten gibt. Über die österreichische May-Rezeption informieren die Abhandlungen des dritten Teils. ›Karl May und die österreichische Politik‹, ›Die Wiener Lizenzausgabe‹, österreichische Theaterversionen Mayscher Erzählungen, Äußerungen prominenter Österreicher über Karl May: all das wird hier dargestellt und dokumentiert, ergänzt wiederum um den Nachdruck älterer, sachlich z. T. völlig überholter Texte, in denen unter anderem der Legende von den außereuropäischen Frühreisen Nachdruck verliehen wird. Der vierte Teil entspricht am ehesten dem Obertitel des Symposions: Während ein Germanist über Schwierigkeiten und Möglichkeiten im Umgang mit dem Begriff Trivialliteratur reflektiert, legen weitere Autoren dar, welche Kenntnisse und Betrachtungen über Staat und Verfassung, über andere juristische Fragen, medizinische Probleme sowie über die Geschichte Mexikos (›Waldröschen‹) und die Stadt Wien (›Weg zum Glück‹) in Mays Werk zu finden sind. Autoren aus Ungarn und Rußland berichten im fünften Teil über die May-Rezeption in diesen Ländern, und eine aus Tirol stammende Bearbeitung (1948) eines May-Textes bildet den Abschluß.

   Wer nach dieser Zusammenfassung und auch schon aufgrund der diversen Titelteile des Symposions und des Buches den Eindruck gewinnt, er habe es mit einem bunt gemischten Unternehmen zu tun, täuscht sich nicht. Einige der alten Beiträge stehen für frühere Stadien


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der Beschäftigung mit May, andere wollen diese mit dem Anspruch auf seriöse Wissenschaftlichkeit energisch vorantreiben. Zu den Autoren zählen May-Enthusiasten der ersten Stunde, wie Amand von Ozoróczy, aber auch bekannte May-Forscher der Gegenwart, wie Walther Ilmer und Klaus Hoffmann, sowie Wissenschaftler, die mit May-Arbeiten bisher nicht hervorgetreten sind, darunter drei Universitätsprofessoren. Etliche der ambitioniertesten Beiträge, wie die vom Herausgeber stammende Untersuchung zur ›Vermittlung von Kenntnissen über Staat und Verfassung‹, haben mit dem Thema ›Karl May und Österreich‹, das dem Betrachter des Einbandes als erstes in die Augen fällt, nur wenig zu tun, andere rein gar nichts. Einer Darlegung, die weit über den sächsischen Fabulierer hinausgreift und grundsätzlichen Fragen des Faches Germanistik gilt – Wendelin Schmidt-Denglers Gedanken über den Begriff Trivialliteratur –, stehen solche gegenüber, die winzige Detailprobleme erörtern: Karl May und Linz, Karl May und Ossiach, Karl May und Tirol.

   Die Inhomogenität des Ganzen erweist sich jedoch, andersherum betrachtet, auch als Vorteil, denn ihr ist es zu verdanken, daß nicht nur der zentrale Komplex, Karl May und Österreich, unter nahezu jeder denkbaren Perspektive abgehandelt wird, sondern daß mehrere Themenbereiche erstmals oder wieder zur Sprache kommen, die lange Zeit brachlagen. Was das Thema Österreich betrifft, so wirken gerade mancherlei Detailbeobachtungen sehr erhellend, sei es die Mitteilung, daß May »nach 1945 bis in die siebziger Jahre aus politischen Gründen von den Wiener Städtischen Büchereien ausgesperrt (blieb)« (Alfred Pfoser, S. 149f.), seien es zahlreiche präzise Feststellungen zu den Besonderheiten der Wiener Lizenzausgabe (Wilhelm Brauneder). Wer Mays häufige Bemerkungen über diesen und jenen ›Landsmann‹ des Helden bzw. die eine oder andere rechtliche Verfahrensweise in seiner Heimat gelesen und sich etwas irritiert gefragt hat, ob bzw. inwieweit die entsprechenden Äußerungen nach ihrem sachlichen Gehalt klug sind, wird nun von Brauneder bzw. Gerald Kohl gründlich aufgeklärt; man erfährt z. B., wie May zwischen »Staatsangehörigkeit und Volkszugehörigkeit« (S. 301) trennt, daß er oft die Möglichkeit nutzt, von Deutschland im »geographisch-kulturelle(n)«, nicht aber im »staatsrechtliche(n)« Sinne (S. 280) zu reden. Über Mays literarischen Umgang mit der Medizin liegt bekanntlich seit Jahrzehnten eine Dissertation vor; das Anliegen von Susanne und Gerald Kohl ist es, seine gerade auf diesem Gebiet relativ hoch ausgeprägte Kompetenz deutlicher ins Bewußtsein zu rücken.

   ›Karl May und Österreich‹ wirkt nicht so produktiv-provozierend wie der ein paar Monate zuvor veröffentlichte May-Band der ›horen‹ (vgl. Jb-KMG 1996, S. 399ff.), und über May als Schriftsteller, Romanautor, Künstler erfährt man hier deutlich weniger als etwa aus dem ›Old Surehand‹-Materialienband von 1995 (vgl. ebd., S. 402ff.) und seinen


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Vorgängern. Aber das Buch traktiert einen umfangreichen Komplex nahezu erschöpfend, bringt manches anregend und ertragreich auf den Weg, und da dies mit vergleichsweise wenig Fehlern – wie der Entdeckung eines May-Experten namens »Klaus Wollschläger« (S. 128) – geschieht, kann es in der Forschungsgeschichte einen beachtlichen Rang beanspruchen.

   Klaus Hoffmanns Beitrag zu diesem Band beschäftigt sich mit Mays Verhaftung in Algersdorf, ihrer Vorgeschichte und ihren Folgen. Algersdorf ist ein nordböhmischer Ort, und das damit angestoßene Thema der Beziehungen Mays zu Böhmen behandelt der Verfasser ausführlicher in einem Aufsatz, der 1996 im ›Stifter Jahrbuch‹ erschienen ist.(2) Dabei lassen sich vier Themenkomplexe unterscheiden: die Rolle Böhmens in Mays Werken, Mays Reisen nach Böhmen und anderweitige persönliche Beziehungen, tschechische Übersetzungen Mayscher Texte, die Reaktion Prager Schriftsteller auf Karl May. Die Abhandlung, die auf einem Vortrag Hoffmanns aus dem Jahr 1994 basiert, bietet zahlreiche Abbildungen – Kopien von Titelseiten der Übersetzungen, Annoncen, Handschriften Mays und anderes – und verfolgt nicht so sehr den Zweck, zentrale neue Forschungsergebnisse vorzulegen; vielmehr geht es darum, die Spannbreite des Themas ›Karl May und Böhmen‹ zu skizzieren, die sich in der Tat als beträchtlich erweist. Eine Vorbemerkung spricht in diesem Zusammenhang von »Auszüge(n) aus mehreren biographisch-literarischen Forschungsarbeiten des Autors (...), die es noch zu vollenden gilt.« (S. 42)

   Was die heutige Studentengeneration im Zusammenhang mit Karl May zu erkunden vermag, demonstriert ein kleiner Sammelband, der an der Ruhr-Universität Bochum erschienen ist. Dort fand in der Sektion für Publizistik und Kommunikation ein Seminar über May als Thema der Kommunikationswissenschaft statt, geleitet von Professor Franz Stuke, und die schriftlichen Ergebnisse liegen nun gesammelt vor.(3) Behandelt werden in einer Übersichtsdarstellung Mays ›Leben und Werk‹, seine derzeitige Rezeption bei Schülern im Alter von 12 bis 14 Jahren, die Jugend- und Abenteuerliteratur zwischen 1850 und 1910, die May-Filme, Probleme der Politik, des Ethnozentrismus und der Islamdarstellung bei May sowie ›Die Rolle der Karl-May-Gesellschaft in der Rezeptionsgeschichte Mays‹. Seminararbeiten sind in der Regel keine Beiträge zu einer weiterführenden Forschung; so verhält es sich auch hier, doch wird hinreichend und mit einiger Kompetenz sichtbar gemacht, in welche vielfältigen Zusammenhänge der öffentlichen Kommunikation das Thema May eingebunden ist. Interessant für ältere May-Leser dürfte vor allem eine kleine Umfrage unter Schülern sein: Sie zeigt erwartungsgemäß, daß gegenwärtig weit weniger junge Menschen als vor ein paar Jahrzehnten zu May-Büchern greifen, macht aber auch deutlich, daß er bei denjenigen, die es gegen den Trend tun, durch-


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aus viel Zustimmung erntet. May scheint dem potentiellen jungen Publikum weiterhin einiges zu sagen zu haben, doch findet mancher nicht mehr den Zugang zu ihm, obwohl die Bekanntheit seines Namens – vermutlich im wesentlichen dank der Fernsehausstrahlungen der Filme – nahezu ungebrochen ist.

   Zu den publizistischen Großtaten, mit denen die May-Forschung seit Mitte der achtziger Jahre ihr Publikum verwöhnt hat, gehört das von Bernhard Kosciuszko herausgegebene ›Große Karl May Figurenlexikon‹ (vgl. Jb-KMG 1992, S. 333ff.). Es hat sich trotz der Mängel, die ihm vorgehalten wurden (vgl. Rudi Schweikerts Kritik in den Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft 92/1992, S. 54ff.) als ein exzellentes, vor manchen Problemen fast unverzichtbares Hilfsmittel bei der Beschäftigung mit Mays Texten erwiesen, und um so unerquicklicher wirkte der Umstand, daß die Erstausgabe schon nach kurzer Zeit vergriffen war. Eine preisgünstige Neuauflage ist nun als Taschenbuch erschienen.(4) Etliche Fehler der Erstveröffentlichung wurden dabei beseitigt und Ergänzungen vorgenommen, als deren bedeutendste »die Aufnahme der Figuren der neu entdeckten frühen May-Erzählung ›Ziege oder Bock‹« (S. 9) gelten muß. Erfreulich ist, daß ein großzügiges Druckbild die Lektüre gegenüber der Erstauflage erleichtert; unerfreulich, aber auch unvermeidlich ist, daß unter diesen Umständen ein noch dickeres Buch (1036 gegenüber rund 800 Seiten der Erstausgabe) entstanden ist, das ob seiner Gestaltung als Taschenbuch nur bei pfleglichster Behandlung die Beziehung zum Leser länger aufrechterhalten kann als Nscho-tschi (vgl. S. 608f.) die ihre zu Old Shatterhand.

   Die Fleißarbeit, die Kosciuszko und seine Mitarbeiter geleistet haben, paßt sich ein in die seit ein paar Jahren besonders üppig gedeihenden Bemühungen, Mays Werk, die näheren Umstände der Lebensgeschichte und die der Wirkung so umfassend wie möglich zu vermessen, statistisch zu erfassen und zu dokumentieren; hier macht sich ein positivistischer Elan bemerkbar, dem gegenüber das interpretatorische Bemühen fast ein wenig in den Hintergrund zu geraten droht. Manche dieser Arbeiten sind in Büchern erschienen, die schon durch ihr Erscheinungsbild imponieren, wie etwa – neben dem ›Figurenlexikon‹ – Hainer Plauls Bibliographie (vgl. Jb-KMG 1990, S. 331ff.) und Hermann Wohlgschafts Biographie (vgl. Jb-KMG 1995, S. 383ff.); darüber sollte man die nicht vergessen, die sich begrenzter Teilbereiche annehmen, äußerlich bescheiden daherkommen und zum Teil nur als Privatdruck existieren. Dazu gehören

– die Karl-May-Autographika, die nun in ihrem zweiten und dritten Heft vorliegen (vgl. Jb-KMG 1996, S. 408).(5) Wieder finden sich Texte aus Briefen und von Postkarten, die Karl und Klara May geschrieben haben, in Kopien der Originale und in Umschrift, ferner einige Umschriften, deren Vorlagen nicht mehr auffindbar waren. Das Material


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stammt aus den Jahren 1897 – 1915 (zweites Heft) bzw. 1877 – 1906 (drittes Heft);

– eine von Jürgen Seul zusammengestellte Dokumentation der Artikel, mit denen die sozialdemokratische Zeitung ›Vorwärts‹ die Auseinandersetzungen um May und Lebius begleitet hat.(6) Der Band bietet nicht nur alle wesentlichen Beiträge dazu in reproduzierter Form, sondern auch ergänzende Hinweise und Erläuterungen sowie einen Überblick zur Geschichte des ›Vorwärts‹, der vor dem Hintergrund der Konflikte zwischen Lebius und der Sozialdemokratie – die wiederum Folgen haben für die Berichterstattung zum Komplex May/Lebius – nicht eben unerheblich ist;

– die Fortsetzung der von Ekkehard Bartsch schon vor etlichen Jahren begonnenen ›Archiv-Edition‹.(7) Sie stellt Dokumente zu den drei Bereichen Leben – Werk – Wirkung zusammen und mißt insofern die gesamte Spannbreite der möglichen Beschäftigung mit May aus. Zu den neuen Lieferungen gehören Reproduktionen einer gegen Lebius und die ›gelben‹ Arbeiter-Vereine gerichteten ›roten‹ Kampfschrift, einiger Huldigungen an May aus der Zeit des Nationalsozialismus und einer von dem heute völlig vergessenen Autor Max Eschner stammenden abenteuerlichen Erzählung, ›Die Pfahlmänner des Llano estakado‹, die ersichtlich von May inspiriert worden ist;

– ein in einer Fachzeitschrift erschienener Literaturbericht zu May-Editionen und neuerer Forschungsliteratur.(8) Der Hauptteil der Arbeit widmet sich dem Problem der diversen Textfassungen und Editionen, am Ende findet sich eine mit knappen Kommentaren versehene Auflistung der wichtigen Sekundärschriften;

– die Reihe der ›Informationen‹, die seit Februar 1989 in Hohenstein-Ernstthal publiziert wird.(9) Es liegt nahe, daß eine solche Publikation insbesondere über die Aktivitäten der Gedenkstätte berichtet und über biographische Fragen, die in Zusammenhang mit dem Ort Hohenstein-Ernstthal und seiner engeren Umgebung stehen. Aber nicht nur das geschieht; immer wieder und in zunehmendem Maße findet auch anderes Aufmerksamkeit. So wird eine mehrteilige ›Karl-May-Bibliographie DDR‹ (Hans-Dieter Steinmetz) präsentiert, Sekundärliteratur vorgestellt und mancher biographische Sachverhalt mit weiterem räumlichen Bezug erörtert; Heft 8 beispielsweise berichtet über ›Karl May und der Deutschen Bild von den Indianern‹ (Eckehard Koch), betrachtet die postumen Bearbeitungen der May-Texte unter juristischem Aspekt (Hainer Plaul), nimmt Stellung zu einem internen Problem der May-Forschung und führt mit solchen Beiträgen natürlich auch deutlich über den Kontext der positivistisch ausgerichteten Arbeit hinaus. Forschungsgeschichtlich interessante Informationen in besonderer Fülle bietet die im Sommer 1996 erschienene Ausgabe Nummer 9, in der einige jüngst aufgefundene Do-


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kumente zu Mays Leben erstmals vorgestellt werden, vom ›Hauptbuch‹ der Ernstthaler Knabenschule bis zu Unterlagen über Mays Ehen;

– die kleine Schriftenreihe ›Karl May in Leipzig‹, herausgegeben vom Vorstand des dortigen ›Freundeskreises Karl May‹.(10) Auch hier spielt der lokale Bezug eine starke Rolle, so daß man etwa Darlegungen über ›Karl May in der Breitkopfstraße und am Leipziger Markt‹ (Heft 7, Dezember 1991) und eine Dokumentation zur Berichterstattung der Leipziger Presse über den May-Lebius-Prozeß (in Ausgaben von 1995 und 1996) findet. Aber wiederum rückt auch anderes ins Blickfeld, des öfteren z. B. der frühe May-Film ›Durch die Wüste‹ (1936);

– die Veröffentlichungsreihe ›Karl May & Co.‹, die sich zum einen mit jenen Aspekten der Wirkungsgeschichte befaßt, die nach traditionellem Urteil in den Bereich des Showbusiness fallen, zum anderen mit Fragen der Indianistik in ebenfalls populärer Form. An dieser Stelle soll besonders ein kleiner Bericht über ein am Ende gescheitertes Filmprojekt hervorgehoben werden.(11) Für einen nach Motiven von May zu drehenden Film, ›Die ewigen Jagdgründe‹, den die UFA im Anschluß an ›Durch die Wüste‹ plante, war kein Geringerer als Hans Albers in der Rolle des Old Shatterhand vorgesehen. Die Vorbereitungen gediehen zwar bis zu einem fast fertigen Drehbuch und einer Rohkalkulation des Ablaufs der Aufnahmen, verzögerten sich jedoch bis Sommer 1944; zu dieser Zeit hatte sich dann die politisch-militärische Situation derart entwickelt, daß Goebbels entschied, der Film könne »wegen seines Menschen- und Materialaufwandes« (S. 7) nicht hergestellt werden. Der sorgfältig recherchierte Bericht zitiert unter anderem aus dem Vorhaben, als »Indianerkrieger (...) Freiwilligenverbände oder Kriegsgefangene aus den kaukasischen, turkmenischen oder sibirischen Gebieten (...) Kosaken oder Kirgisen«, gegebenenfalls sogar »echte indianische Kriegsgefangene« (S. 6) auftreten zu lassen;

– der erste Band einer von dem schon genannten Jürgen Seul herausgegebenen ›Juristischen Schriftenreihe‹ – für Band 1 ist er gleichzeitig auch der Autor –, die dazu dienen soll, die Prozesse um Karl May so präzise wie noch möglich zu dokumentieren und auch zu kommentieren.(12) Zunächst geht es um die Auseinandersetzung zwischen May und dem Hohenstein-Ernstthaler Redakteur Emil Horn, die sich an der Berichterstattung zum Charlottenburger Urteil im Fall May/Lebius entzündete.

Zum Abschluß der vielbändigen May-Edition von Heinrich Pleticha und Siegfried Augustin (vgl. Jb-KMG 1995, S. 389) ist – rund ein Jahrzehnt nach dem von Gert Ueding herausgegebenen Werk – ein neues Karl-May-›Handbuch‹ erschienen, das ausführliche Darlegungen über


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›Leben, Werk, Wirkung‹ verspricht.(13) Das Vorwort räumt klugerweise ein, man wolle jenem älteren Werk mit seinen »wissenschaftlich fundierten Beiträgen« und »seiner Gründlichkeit« keine Konkurrenz machen, sondern wende sich an die weniger ambitionierten, gleichwohl interessierten Leser, deren mutmaßlichem Fragebedürfnis mit diesem »Lese- und Nachschlagewerk« (S. 7) entsprochen werde. Demgemäß konzentrieren sich die Beiträge – darin durchaus dem oben skizzierten Trend folgend – eher auf mehr oder weniger handfeste Informationen als auf analytisch-interpretatorische Gedanken.

   Kurze, aber anregende Reflexionen zur ›Typologie des May-Lesers‹ (Heinrich Pleticha) eröffnen die Reihe der Beiträge; hervorgehoben wird hier zu Recht, daß die Provokationen von Arno Schmidts ›Sitara‹, ihrer sachlichen Unhaltbarkeit zum Trotz, einen »Auslöser« (S. 13) für die moderne May-Forschung gebildet haben. Eine rund hundert Seiten starke, nach Jahreszahlen geordnete Chronik der Vita Mays (Siegfried Augustin/Elisabeth von Hornstein) schließt sich an; zwischengeschaltet sind Bemerkungen über die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse im damaligen Sachsen und im Deutschen Reich (Pleticha). Die Gesamtentwicklung der literarischen Tätigkeit Mays, wie sie sich nach gängigem Verständnis in vier Schaffensperioden strukturiert, zeichnet ebenfalls Augustin nach, während Rüdeger Lorenz die wichtigsten alten und neuen Editionen vorstellt, die Mays Werk verfügbar machen. Der literaturhistorischen Orientierung dient Pletichas Beitrag über ›Das Abenteuerbuch im 19. Jahrhundert‹, den literarischen Quellen und Vorbildern Mays der anschließende von Augustin. Illustrationen in und auf May-Büchern stellt Hans Ries vor, Filme nach und über Karl May Ronald M. Hahn. Zwei Kurzlexika runden den Textteil ab: Auf etwa achtzig Seiten werden wichtige Figuren aus Mays Werken beschrieben (Peter Richter), auf knapp vierzig deren ›Schauplätze, Völker und Stämme‹ (Augustin/Pleticha). Siegfried Augustin zeichnet auch verantwortlich für die abschließende Auswahlbibliographie.

   Natürlich gibt es zu all diesen Teilgebieten umfangreiche Spezialliteratur, der gegenüber die Beiträge des Bandes karg wirken – wie sollte es anders sein? Aber unter den in der Einleitung skizzierten Aspekten und im Hinblick darauf, daß Handbücher immer nur gedrängte Informationen anbieten, vermag das teilweise auch bebilderte Werk durchaus zufriedenzustellen. Wenn dennoch bei aufmerksamer Lektüre manches zu beanstanden ist – ein Beispiel: daß Old Wabble vor seinem Tod schwerste physische Qualen erleidet, wird im Personenlexikon mitgeteilt (vgl. S. 272), nicht jedoch, daß ihm seelische Erlösung beschieden ist –, so wirkt das betrüblich, aber es dürfte schwerfallen, makellose Publikationen dieser Art zu finden.

   Das wohl heikelste Kapitel bildet die Auswahlbibliographie, die sechs Arbeiten des Herausgebers Augustin, aber nur eine von Hans


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Wollschläger nennt, fünf Titel von Otto Eicke und nicht einen von Volker Klotz, Dworczaks ›Leben Old Shatterhands‹ anführt, die May-Bücher von Erich Loest und Arno Schmidt – siehe oben! – aber verschweigt, Ulrich Schmids Kommentierung der May-Briefe an das bayerische Königshaus registriert, die auf bahnbrechende Weise textkritische Dissertation desselben Verfassers jedoch ausspart – und das, obwohl dieser Literaturliste in der Einleitung »gute Dienste für eine Weiterbeschäftigung« (S. 7) mit den Werken Mays nachgesagt werden! Demgegenüber haben sich die »faktenbezogene« Orientierung der aufgelisteten Beiträge und die Rücksicht auf ihre leichte Lesbarkeit wohl doch zu sehr in den Vordergrund gedrängt, und es waltet hier nicht »eine gewisse Subjektivität« (S. 365), wie der Verfasser bescheiden anmerkt, sondern ein starkes Stück davon. Der Leser dieser Bibliographie tut gut daran, seine Aufmerksamkeit wieder dem vorangegangenen Text zuzuwenden, denn da wird er, wie gesagt, im Rahmen des Angestrebten nicht schlecht bedient.

   Ganz nebenbei stellt das Buch die Wertschätzung des Mayschen Spätwerks auf eine harte Probe. Wer so ausgiebig über Geist und Seele nachsinnt, wie May es darin tut, und dann zwei possierliche Hündchen wie die hier abgebildeten (vgl. S. 97) ›Geistchen‹ und ›Seelchen‹ nennt, weckt wohl doch Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner Reflexionen (aber das ist vielleicht auch nur ein sehr subjektiver Eindruck).

   Die vor etlichen Jahren viel beredete, letzthin aber weniger beachtete Frage nach der ideologischen Ausrichtung der Mayschen Texte greift Christiane Reuter-Boysen in einem Artikel wieder auf, der Teil eines Handbuchs zur ›Völkischen Bewegung‹ zwischen 1871 und 1918 ist.(14) Wer bei diesem Titel argwöhnt, May werde hier – wie seinerzeit etwa von Klaus Mann – abermals in die (prä-)faschistische Ecke gestellt, irrt sich: Die Verfasserin argumentiert zielstrebig darauf hin, ein solches Urteil tue ihm Unrecht. May könne »politisch nicht eingeordnet werden« (S. 702), aber die »Vielseitigkeit und Vielschichtigkeit« seines Werkes ermuntere bis heute »immer wieder die verschiedensten politischen und weltanschaulichen Gruppierungen, ihn für ihre Ideen und Zwecke zu vereinnahmen.« (S. 700) May erhält also einleitend – ohne nähere Erläuterung, dafür mit dem Hinweis auf eine vertrauenswürdige Arbeit des Berichterstatters – den politischen Unbedenklichkeitsstempel, und der Rest der kleinen Studie legt dann dar, wie diverse Kommentatoren, von Mamroth bis Fronemann, von Mühsam bis Gurlitt, May teils mit Lob überschüttet, teils heftig kritisiert haben, wobei mehr oder weniger deutlich politische Bewertungen unterschiedlicher Couleur mitschwangen.

   Ein weiteres Kapitel zur Rezeptionsgeschichte Mays blättert, wie schon mit seinem Beitrag über Hans Fallada im vorigen Jahrbuch unserer Gesellschaft, Rainer Jeglin auf, indem er Mays Spuren im Werk von


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Erich Maria Remarque nachzeichnet.(15) Sie sind, was die ausdrücklich formulierte Bezugnahme angeht, nicht sehr zahlreich und nicht sehr intensiv ausgeprägt: Es geht nur um die Romane ›Der Weg zurück‹ (1930/31) und ›Die Nacht von Lissabon‹ (1962), in denen jeweils signalartig mit den Namen Old Shatterhand und Winnetou operiert wird. Einmal wird die Freundschaft zwischen diesen beiden Figuren positiv von »pervertierten Kameradschaftsvorstellungen« (S. 57) abgegrenzt, die martialisch, militant und aggressiv-nationalistisch wirken; später dagegen kommentiert im Rückblick »Remarques alter ego im Roman die May-Lektüre (...) sehr (selbst-)kritisch« (S. 61). Zum besseren Verständnis skizziert Jeglin die übergreifenden Zusammenhänge, in die sich solche Tendenzen einfügen: im ersten Fall die heiklen Beziehungen zwischen Wandervogel-Romantik, Zivilisationskritik und Freikorpsverbänden, im zweiten die Skepsis gegenüber May, die viele Autoren entwickelten, nachdem Hitler und andere Koryphäen der NS-Zeit als begeisterte May-Leser benannt worden waren.

   Drei Jahre nach dem Tod des Wiener Schriftstellers Otto Kreiner (1931 – 1993) ist, herausgegeben von Dieter Sudhoff, auch noch der dritte Teil seiner Romantrilogie über Karl May erschienen.(16) Dem virtuos und komplex angelegten ersten (vgl. Jb-KMG 1990, S. 340ff.) und dem eher biederen zweiten (vgl. Jb-KMG 1995, S. 370f.) folgt eine Schilderung der letzten Lebensjahre, der wiederum eine neue gedankliche Konstruktion zugrunde liegt: Der Leser begegnet einem (fiktiven) Bekannten des alten May, der aus der Ich-Perspektive seine Erfahrungen und Eindrücke schildert. Dabei wird wenig Wert auf eine präzise Rekonstruktion von Daten und Fakten gelegt, komplexe Ereignisfolgen werden sogar ausgesprochen knapp rekapituliert (vgl. etwa S. 28f. zur Ehescheidung). Wichtiger erschien es dem Autor offenbar, ein umfassendes Bild der Persönlichkeit Mays zu entwerfen, und so werden weite Teile des Buches von essayistisch anmutenden Reflexionen des Ich gefüllt, vor allem aber von Passagen, in denen May selbst mit langwierigen Monologen gegenüber dem Erzähler zu Wort kommt. Was Kreiner da dem alten Kollegen in den Mund legt, berührt zahlreiche Fragen biographischer, religiöser, kultur-, literatur- und sozialgeschichtlicher Art, und für manchen Leser mag die Überlegung reizvoll sein, inwiefern das alles im Hinblick auf May plausibel klingt oder ob die Weltsicht des Schriftstellers Otto Kreiner Karl May nicht einfach zu ihrem persönlichen Sprachrohr erkoren hat; auf den ersten Blick fällt z. B. auf, daß der Romanautor seinem Helden Worte über Gott und die Welt zuschreibt (vgl. S. 34f.), die in scharfem Gegensatz zum Verständnis von May-Biographen wie Wohlgschaft und Ilmer stehen.

   Alles in allem erscheint May als jemand, der zwischen Desillusionierung und trotzigem Optimismus, zwischen heillosem Opportunismus und listiger Selbstbehauptung schwankt – sicher nicht der ungeschick-


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teste Ansatz, dieser Persönlichkeit im Zuge »einer poetische(n) Annäherung an den sächsischen Phantasten« (Klappentext) vieles abzugewinnen. Der Ich-Erzähler seinerseits läßt erkennen, daß May ihn fasziniert, aber auch, daß er nicht nur blinder Verehrung folgt; die apartesten Formulierungen gelingen, wenn Kreiner diese Ambivalenz zum Ausdruck bringt, beispielsweise im Hinblick auf die Ästhetik der Sascha-Schneider-Zeichnungen: »Irgendwie sollte der Mensch, wenn man ihm die Kleider auszog, zur Menschheit werden, was ihm ja mehr Gewicht gab.« (S. 39)

   Deutlicher als bisher läßt sich jetzt erkennen, daß Kreiners Ambition darauf zielt, sich mit den drei Teilen des Werkes stilistisch-strukturell den jeweils thematisierten Abschnitten in Mays Leben und Streben anzupassen: mit den kunstvoll gewundenen Bewegungen des ersten den Bemühungen des jungen May um Identitäts- und Sinnfindung, mit den prallen Äußerlichkeiten und der Grobschlächtigkeit des zweiten dem physisch dominierten Aktionismus der Abenteuerromane und der eitlen Selbstdarstellung des Protagonisten; entsprechend wird im dritten, analog insbesondere zu den Schlußbänden des ›Silberlöwen‹, vor allem geredet. Kreiners Trilogie mag kein Geniestreich sein, aber sie wirkt in ihrem Ansatz und zumindest teilweise auch mit ihrer Durchführung in hohem Maße respektabel.

   Um Karl Mays Biographie, unter anderem, geht es auch in einem ›Jugendroman‹ aus dem Jahr 1995, der im Oktober 1996 von der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur zum Jugendbuch des Monats erkoren wurde: ›Winnetou darf nicht sterben‹.(17) Im Mittelpunkt der Ereignisse steht ein Schüler namens Pascal Plöhn (!), der ein begeisterter May-Leser und zunächst auch ein unerschütterlicher Anhänger der Old-Shatterhand-Legende ist, während er mit den literarischen Werturteilen und Gedichtinterpretationen seines Deutschlehrers Wabbel (!) rein gar nichts anfangen kann. Immer wieder versetzt er sich tagträumend selbst in den exotischen Kosmos seines Lieblingsautors hinein und wird gar zum Mitspieler darin, während das reale Leben ihm in Gestalt eines vermeintlichen Geheimagenten mysteriöse Abenteuer um die angebliche Fortsetzung des ›Schatz im Silbersee‹ beschert. Am Ende steht er doppelt desillusioniert da, denn die Agentenstory erweist sich als Experiment eines Herrn Lindsei (!) dazu, »wie ein echter Junge auf einen angeblichen Geheimagenten reagiert« (S. 225), und ein kluger Mann namens Degenfeld (!) hat ihn über die tatsächlichen Lebensumstände Karl Mays aufgeklärt; dafür erkennt Pascal nun, welche Macht die Phantasie besitzt, und ganz nebenbei spinnt sich eine zarte Verbindung zu der heimlich verehrten Mitschülerin Laura an. Mancherlei Reminiszenzen an Bestseller der letzten Jahrzehnte – auch der junge Held in Michael Endes ›Unendlicher Geschichte‹ pendelt zwischen der realen und einer fiktiven Welt; auch in Umberto Ecos ›Der Name der Ro-


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se‹ trägt sich Geheimnisvolles um die Fortsetzung eines berühmten Buches zu, in diesem Fall um die der Poetik von Aristoteles – verbinden sich hier mit dem Bemühen, im Rahmen einer spannenden Geschichte Karl May und sein Werk so zu präsentieren, daß junge Leser die Wahrheit über ihn erfahren und sich dem Zauber seiner exotischen Welt dennoch weiter hingeben.

   Im Bereich der Karl-May-Editionen hat sich abermals etliches bewegt. Der Karl-May-Verlag hat die Reihe seiner Gesammelten Werke um den Band 78, ›Das Rätsel von Miramare‹, erweitert;(18) es handelt sich dabei nicht um einen »Roman«, wie man vorn beim Aufblättern des Buches liest, sondern – wie unter dem Inhaltsverzeichnis korrekt angegeben – um zwei für sich lesbare, dem Fundus der Münchmeyer-Texte ›Der Weg zum Glück‹ und ›Deutsche Herzen, deutsche Helden‹ abgewonnene Erzählungen. Aus dem ›Weg‹ wird die Triest-Episode wiedergegeben, aus den ›Deutschen Herzen‹ der Schlußteil, jeweils in einer Bearbeitung, die einerseits die Abtrennung vom Gesamtkontext der Werke berücksichtigen, andererseits mit den früher publizierten Bearbeitungen der anderen Romanteile halbwegs harmonieren muß. Im Fall der ›Deutschen Herzen‹ ergibt sich das Kuriosum, daß der Karl-May-Verlag mittlerweile drei Versionen des Schlusses anbietet, alle unter Mays Namen: die der Erstveröffentlichung in einem Reprint, eine erste Bearbeitung in Band 63 der Gesammelten Werke, ›Zobeljäger und Kosak‹, und nun noch eine weitere »als Alternative« (Christoph F. Lorenz im Nachwort, S. 558) zum Ende von Band 63 – da drängt sich die zeitgemäße interaktive Lektüre völlig außerhalb der Computerwelt auf!

   Die Argumentation des Nachworts, die diese Probleme nicht verschweigt, setzt darauf, daß die Fassungen, die Jahrzehnte nach Mays Tod eingerichtet wurden, eine höhere Autorität besitzen als die Erstpublikationen, die May immerhin viele Jahre unbeanstandet ließ und als von fremder Hand verdorben erst bezeichnete, nachdem er ihretwegen öffentlich attackiert worden war. Mag sein, daß ein größeres Publikum in neuerer Zeit am ehesten über die Bearbeitungen zu erreichen war, und insofern kommt ihnen tatsächlich eine gewisse Autorität zu; aber unter philologischem Aspekt ist die Argumentation abwegig, was immer May über die Zukunft der Münchmeyer-Romane gewünscht und geplant hat. Es täte der »zum Teil polemische(n) Debatte um die Bearbeitungen des Karl-May-Verlages« (S. 548) gut, würde man einmal anerkennen, daß ein und dieselbe Sache unter verschiedenen Perspektiven die unterschiedlichsten Urteile auf sich ziehen kann, daß in diesem Fall insbesondere zwischen rechtlichen, wirkungsgeschichtlichen, ästhetisch-wertenden – welche Versionen sind künstlerisch ›besser‹? – und philologischen Gesichtspunkten zu trennen ist. Mögen die Bearbeitungen juristisch unanfechtbar sein, so sind sie doch philologisch ein, gelinde gesagt, kurioses Unternehmen; aber vielleicht haben gerade sie


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May davor bewahrt, jener Vergessenheit anheimzufallen, in die so viele seiner damaligen Kollegen versunken sind. Die These, Mays Name habe seine Leuchtkraft bis heute vor allem bewahrt, weil er sich für die allermeisten Leser mit Texten verbindet, über denen er unter philologischen Vorzeichen eigentlich gar nicht, unter juristischen aber sehr wohl stehen darf, hat einiges für sich; sie verbietet einlinige Urteile in dieser oder jener Richtung und bildet eine hübsche Pointe, die so recht erst im postmodernen Zeitalter gewürdigt werden kann: Anything goes.

   Diese Formel eignet sich auch gut im Blick auf eine Reihe von Neuveröffentlichungen, die mit dem höchst merkwürdig beworbenen ›Winnetou und der Scout‹ 1995 startete (vgl. Jb-KMG 1996, S. 394f.). Sie bietet nie gehörte Titel an: ›Hadschi Halef Omar und der Frauenräuber von Serdascht‹, ›Kara Ben Nemsi und die Rose von Kairwan‹, ›Old Shatterhand und Häuptling Schwarzer Mustang‹, ›Winnetou und der Detektiv‹ (hierbei handelt es sich um die gleichnamige Neuauflage eines 1982 erschienenen Taschenbuchs; vgl. Jb-KMG 1984, S. 263).(19) Wer die Begleittexte der Herausgeber liest, stellt allerdings rasch fest, daß es sich um mehr oder weniger bekannte Arbeiten Mays mit neuen Überschriften handelt, und zwar – in obiger Reihenfolge – um diverse Marienkalender-Geschichten (1892 – 1910), die dreiteilige Erzählung ›Die Rose von Kaïrwan‹ (1894), ›Der schwarze Mustang‹ (1896/97) und ›Auf der See gefangen‹ (1878). Mehr oder weniger: auf diese Wendung läßt sich auch trefflich zurückgreifen, wenn die Frage nach der Authentizität der Texte gestellt wird. Die Bände selbst machen dazu unterschiedliche und unterschiedlich präzise Angaben, räumen aber ein, man habe sich »dem Lesebedürfnis unserer Zeit angepaßt« (S. 4); der Hinweis – eine dehnbare Formel, hinter der sich viel, aber auch wenig verbergen mag – fehlt unter den genannten Bänden nur bei ›Winnetou und der Detektiv‹. Die Vor- und Nachworte der Herausgeber sind von sehr unterschiedlicher Ergiebigkeit und reichen von allgemeinen Hinweisen zur jeweiligen Entstehungsgeschichte über Spekulationen zu autobiographischen Hintergründen und vagen Hinweisen auf mögliche Quellen bis zu handfesten diesbezüglichen Erläuterungen. Das neue Nachwort zu ›Winnetou und der Detektiv‹ bietet darüber hinaus zwei Dokumente zur finanziellen Förderung des jungen May, zu einem Komplex, den auch die neunte Ausgabe der ›Karl-May-Haus-Informationen‹ behandelt und dessen Thematisierung an dieser Stelle reichlich verblüffend wirkt.

   Es sind Reprints, die die einfachste, für manche Sammler und Leser aber attraktivste Form darstellen, in der man die zu Mays Lebzeiten veröffentlichten Texte wieder zugänglich machen kann; erfreulicherweise hat sich der Karl-May-Verlag auch auf diesem Gebiet seit vielen Jahren ertragreich betätigt. 1996 erschien ein reprographischer Nachdruck der ›Erzgebirgischen Dorfgeschichten‹, der auch in seiner Aus-


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stattung der Buchausgabe von 1903 folgt, ein solide gebundener, üppiger Band, neben dem der ältere Reprint des Olms-Verlags (1977) äußerlich ein wenig verblaßt.(20) May hat seinerzeit für diese Publikation bekanntlich einige seiner viel früher erstveröffentlichten Dorfgeschichten zusammengestellt, ›Des Kindes Ruf‹, ›Der Einsiedel‹, ›Der Dukatenhof‹ und ›Vergeltung‹, zwei neue dazugeschrieben, ›Sonnenscheinchen‹ und ›Das Geldmännle‹ – sie rahmen programmatisch die übrigen ein –, und eine kurze Einleitung in rhythmisierter Prosa vorausgeschickt, die auf den angeblich durchgängig ›symbolischen‹ und erzieherischen Gehalt seines Gesamtwerks und die Rolle der Dorfgeschichten darin verweist. Die verdienstvolle Edition wird ergänzt durch ein Nachwort wiederum von Christoph F. Lorenz, das knapp über die Historie des Genres berichtet, die Entstehungsgeschichte von Mays Buch referiert und eine Reihe interpretatorischer Gedanken zu den einzelnen Texten vermittelt.

   Auch die Karl-May-Gesellschaft hat die Reihe ihrer Reprints fortgesetzt: ›Der Beobachter an der Elbe‹ ist erschienen.(21) Darin enthalten sind ›Wanda‹ und ›Der Gitano‹, zwei Beiträge, die May selbst für dieses von ihm redigierte Blatt verfaßte, sowie ein Reihe anderer Texte, die im Zusammenhang mit seiner Person und seinem Werk auf verschiedene Weise von Belang sind.

   Das interessanteste, aber auch heikelste editorische Unternehmen um Karl May bildet natürlich weiterhin die historisch-kritische Ausgabe. 1987 ist der erste Band erschienen, zehn Jahre sind seither vergangen, und so bietet es sich an, in Verbindung mit den jüngsten Bänden eine Zwischenbilanz zu ziehen.

   Vieles ist zu loben. Wer die Reihe von Anfang an in der (maßgeblichen) Bibliotheksausgabe abonniert hat, kann inzwischen weit mehr als zwei Dutzend Bände sein eigen nennen; in den Jahren 1996/97 ist der Münchmeyer-Roman ›Deutsche Herzen, deutsche Helden‹ erschienen(22) – das ergibt in quantitativer Hinsicht ein beachtliches Resultat. Dem traditionellen philologischen Verständnis von dem, was eine historisch-kritische Ausgabe leisten muß, wird die Ausgabe zwar nicht eben auf exzessive Weise gerecht, aber im Hinblick auf die speziellen Umstände der Texte, denen sie sich widmet, und unter mancherlei pragmatischen Aspekten – z. B. dem, daß die Mehrzahl der gegenwärtigen Leser eine Chance haben soll, den Abschluß der Reihe noch zu erleben, die Arbeit an einzelnen Bänden also nicht ausufern darf – bietet sie das, was sie unbedingt bieten muß. Die Fehlerzahl bewegt sich im vertretbaren Rahmen. Es handelt sich sowohl um ausgesprochen attraktive Bände, die jedem Bücherregal und -schrank zur Zierde gereichen, als auch um stabil gearbeitete, die angenehm in der Hand liegen und ein intensives Durcharbeiten schadlos überstehen.

   Allerdings ist auch, von dem im letztjährigen Literaturbericht be-


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sprochenen Detail des unzulänglichen Supplement-Bandes ganz abgesehen, einiges zu beklagen. Die bei Greno und Haffmans erschienenen Bände sind längst nicht mehr lieferbar (wenn auch, wie die Werbung verheißt, zur Neuauflage vorgesehen); was vorerst bleibt, sind die letzthin in Hermann Wiedenroths Bücherhaus Bargfeld veröffentlichten Werke, und bei denen handelt es sich ausschließlich um Kolportageromane, für deren Studium angesichts der Textlage die Dienste einer historisch-kritischen Ausgabe am ehesten entbehrlich sind. Überhaupt fällt auf, daß die Edition bisher keinen jener Bände gebracht hat, die dem Experten der Ankündigung nach besonders lohnend erscheinen müssen, und das gilt auch für jenen Bereich, der nicht – wie etwa bei Texten, deren Handschrift in Bamberg liegt – von schwierigen juristischen Problemen betroffen ist; so sind zwar die beiden ersten ›Winnetou‹-Bände und die ersten fünf des Orientromans lieferbar gewesen, ›Winnetou III‹ und ›Der Schut‹ aber, in denen der Editorische Bericht zu erscheinen hat, der die Qualitäten einer solchen Ausgabe überhaupt erst recht zur Geltung bringt, fehlen trotz mehrfacher Ankündigung weiterhin. Erschienen sind dagegen zwei weitere Folgen des in Verbindung mit der Ausgabe angebotenen ›Karl-May-Magazins‹: eine Tonband-Kassette, die eine May-Lesung von Hermann Wiederoth enthält,(23) und das Programmheft zur Uraufführung einer Bühnenfassung von ›Deutsche Herzen, deutsche Helden‹;(24) gegen diese Veröffentlichungen ist an sich nichts zu sagen, aber dem Unternehmen der großen Edition helfen sie in der Sache natürlich nicht weiter – vielleicht tun sie es finanziell.

   Zu den unerfreulichen Umständen der Ausgabe zählt ferner die gesamte Phase bei Haffmans, vom Erscheinen nur ganz weniger Bände bis zum Ankündigungs-Tohuwabohu; den Herausgebern ist dies wohl nicht oder nur begrenzt anzulasten, wie ja auch das vorherige Scheitern des Greno-Verlags, bei dem das Unternehmen vielversprechend begann, nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fällt. Die Hoffnung aber, mit der Übernahme des Projekts in die Regie des eigenen Verlags werde es nun zu größerer Planungs- und Ankündigungssicherheit kommen, hat auch schon wieder getrogen, und zwar gerade im Hinblick auf die heiß ersehnten Bände: Fand man in einer Anzeige der ›KMG-Nachrichten‹, Ausgabe März 1996, ›Schut‹ und ›Winnetou III‹ in der Rubrik »Lieferbar« (!), so enthält die Annonce in der ›Nachrichten‹-Ausgabe vom September desselben Jahres überhaupt keinen Hinweis mehr auf die beiden Werke; eine Erklärung für das plötzliche Verschwinden dieser ›lieferbaren‹ Bände wird nicht gegeben.

   Nach wie vor verdient das Vorhaben einer historisch-kritischen Ausgabe jede erdenkliche Unterstützung: Es wäre grandios, fände man tatsächlich dereinst alle greifbaren May-Texte mit sämtlichen Varianten in einer einzigen, umsichtig kommentierten Edition. Konstruktive An-


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sätze dazu und einiges mehr liegen vor; aber es ist unbedingt wünschenswert, daß einmal einer der besonders attraktiven Bände erscheint, die den eigentlichen Wert des Unternehmens begründen, und daß die Werbung darauf verzichtet, vorhandene und potentielle Interessenten vor den Kopf zu stoßen.

   Was in all den Texten, um die sich diese Editionen bemühen, an lyrischen Einsprengseln zu finden ist, d. h. an Zitaten aus Liedern und Gedichten, wurde seit 1983 in mehreren Sonderheften der Karl-May-Gesellschaft von Hedwig Pauler dokumentiert und kurz erläutert. Eine Neuerscheinung der im Auftrag der KMG herausgegebenen Reihe ›Materialien zur Karl-May-Forschung‹ bietet nun – inclusive etlicher Ergänzungen – eine Zusammenfassung der Befunde in einem Band.(25)

   Ob May die Autorschaft an den ihm als unsittlich, wenn nicht gar pornographisch vorgehaltenen ›Stellen‹ der Münchmeyer-Romane im Alter zu Recht bestritten hat: darum primär geht es in einem weiteren Band dieser Publikationsreihe.(26) Untersuchungen zu Stil und Sprache, zu den verwendeten Motiven, zu inhaltlichen Zusammenhängen und zu autobiographischen Hintergründen bewegen den Verfasser Ralf Harder zu dem Urteil, May habe auch diese Passagen selbst verfaßt.



1 Karl May und Österreich. Realität – Fiktion – Rezeption. Bildung und Trivialliteratur. Hrsg. von Wilhelm Brauneder. Husum 1996

2 Klaus Hoffmann: Old Shatterhand in Böhmen. In: Stifter-Jahrbuch. Neue Folge 10. München 1996, S. 42 – 79

3 Karl May. Ergebnisse einer Arbeitsgemeinschaft. Hrsg. von Franz R. Stuke. Bochum 1995 (Bezugsadresse: Prof. Dr. Franz R. Stuke, Sektion für Publizistik, Ruhr-Universität Bochum, 44780 Bochum)

4 Großes Karl-May-Figurenlexikon. Hrsg. von Bernhard Kosciuszko. Paderborn 21996

5 Karl-May-Autographika, Heft 2 und 3. Materialien aus dem Autographenarchiv der Karl-May-Gesellschaft. Hrsg. von Volker Griese. o. O. [Wankendorf] 1996 (Bezugsadresse: Ekkehard Bartsch, Riihimäkistr. 32, Postfach 1122, 23781 Bad Segeberg)

6 Jürgen Seul: Karl May, Lebius und der ›Vorwärts‹. Kommentierte Ausschnittsammlung von ›Vorwärts‹-Artikeln aus den Jahren 1904 bis 1914 zu Karl May und Rudolf Lebius. Ahrweiler 1996 (Bezugsadresse: Ulrike Müller-Haarmann, Gothastr. 40, 53125 Bonn)

7 Karl May: Leben – Werk – Wirkung. Eine Archiv-Edition. Hrsg. von Ekkehard Bartsch. Zuletzt erschienen:

– Abteilung I: Leben. Gruppe a (Biographische Selbstzeugnisse), Heft 4: Karl May: ›An alle meine lieben Gratulanten!‹ und andere kleine Originaltexte (1903 – 1912);

– Abteilung I: Leben. Gruppe c (Presse-Auseinandersetzungen bis 1912), Heft 5: Der gelbe Sumpf ...;

– Abteilung II: Werk. Gruppe a (Seltene Zeitungsabdrucke), Heft 5: ›Schuld und Sühne‹. Eine Erzählung aus den Bergen von Dr. Karl May;

– Abteilung II: Werk. Gruppe e (Randgebiete). Heft 2: ›Rosita. The Treasure of the Miztecas‹. Heft 1 der englisch-amerikanischen Ausgabe von Karl Mays ›Waldröschen‹ (New York 1904);

– Abteilung II: Werk. Gruppe e (Randgebiete), Heft 3: Verlagskatalog von H. G. Münchmeyer;

– Abteilung II: Werk. Gruppe e (Randgebiete), Heft 4: Von Karl May inspiriert: Max Eschner, ›Die Pfahlmänner des Llano estacado‹;


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– Abteilung III: Wirkung. Gruppe a (Karl-May-Rezeption 1912 – 1933), Heft 3: Rudolf Beißel: ›Old Shatterhand im Schützengraben‹ und andere Presseerzeugnisse aus den Jahren 1912 – 1918;

– Abteilung III: Wirkung. Gruppe a (Karl-May-Rezeption 1912 – 1933), Heft 4: Dr. Franz Sättler: ›Wie ich Orientalist und Reiseschriftsteller wurde‹;

– Abteilung III. Wirkung. Gruppe c (Karl-May-Rezeption 1933 – 45), Heft 1: Deutsche Jungens, hört her! Dokumente zur Karl-May-Rezeption 1933 – 1945;

– Abteilung III. Wirkung. Gruppe g (Karl-May-Gesellschaft (und Vorläufer)), Heft 3: Mitteilungen der Karl May-Vereinigung. Zweite Sammlung (1914/15).

Alle: o. O. o. J. [Bad Segeberg 1995f.] (Bezugsadresse: Ekkehard Bartsch, Riihimäkistr. 32, Postfach 1122, 23781 Bad Segeberg)

8 Jörg Maske: Vom kleinen Unterschied. Ein Literaturbericht zu Karl May. In: Buch und Bibliothek (1996), Heft 1, S. 86 – 89

9 Karl-May-Haus-Information. Hrsg. vom Rat der Stadt Hohenstein-Ernstthal bzw. vom Karl-May-Haus Hohenstein-Ernstthal unter Verantwortung des Wissenschaftlichen Beirates Karl-May-Haus. Heft 1ff. (1989ff.)

10 Karl May in Leipzig. Hrsg. vom Vorstand des Freundeskreises Karl May in Leipzig. Heft 1ff. (1990ff.)

11 Reiner Boller: Hans Albers und ›Die ewigen Jagdgründe‹. Ein nie realisierter Karl-May-Film. In: Karl May & Co. Rundbrief Nr. 63 (1996), S. 6 – 8

12 Juristische Schriftenreihe der Karl-May-Gesellschaft. Hrsg. von Jürgen Seul. Bd. 1: Jürgen Seul: Karl May/Emil Horn. Ahrweiler 1996

13 Karl May. Leben – Werk – Wirkung. Ein Handbuch. Hrsg. von Heinrich Pleticha und Siegfried Augustin. Stuttgart 1996

14 Christiane Reuter-Boysen: Im Widerstreit: Karl May. In: Handbuch zur ›Völkischen Bewegung‹ 1871 – 1918. Hrsg. von Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht. München u. a. 1996, S. 699 – 710

15 Rainer Jeglin: Zweimal Osnabrück, Pappelgraben. Karl-May-Erinnerungen im Werk von Erich Maria Remarque. In: Erich Maria Remarque Jahrbuch Nr. 5. Osnabrück 1995, S. 52 – 64

16 Otto Kreiner: Abendsonne. Roman über Karl May. Hrsg. von Dieter Sudhoff. Paderborn 1996

17 Lothar Reichel: Winnetou darf nicht sterben. Würzburg 1995

18 Karl May's Gesammelte Werke Bd. 78: Das Rätsel von Miramare. Bamberg 1996

19 Karl May: Winnetou und der Detektiv; Kara Ben Nemsi und die Rose von Kaïrwan; Old Shatterhand und Häuptling Schwarzer Mustang; Hadschi Halef Omar und der Frauenräuber von Serdascht. Hrsg., bearbeitet und kommentiert von S. C. Augustin und Walter Hansen. München 1995f.

20 Karl May: Erzgebirgische Dorfgeschichten. Reprint der ersten Buchausgabe. Hrsg. von Lothar und Bernhard Schmid. Bamberg 1996

21 Karl May: Der Beobachter an der Elbe. 2. Jg. (1875); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1996

22 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. II Bd. 20 – 25: Deutsche Herzen, deutsche Helden. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Bargfeld 1996f.

23 Karl May: Wann sehe ich dich wieder, du lieber, lieber Winnetou. Hermann Wiedenroth liest ausgewählte Texte (Tonkassette). o. O. o. J.

24 (Programmheft zur Uraufführung von) Karl May: Deutsche Herzen, deutsche Helden. Für das Spiel eingerichtet von Rainer Lewandowski. o. O. o. J.

25 Hedwig Pauler: Deutscher Herzen Liederkranz. Lieder und Gedichte im Werk Karl Mays. Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 18. Ebermannstadt 1996

26 Ralf Harder: Karl May und seine Münchmeyer-Romane. Eine Analyse zu Autorschaft und Datierung. (Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 19.) Ubstadt 1996


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