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HELMUT SCHMIEDT


Literaturbericht II



Nicht nur unzweifelhaft vorhandene Fakten, sondern auch Legenden prägen - manchmal stärker als jene - die Wirkungsgeschichte kultureller Phänomene. Die Rezeption Karl Mays bietet dafür reichhaltige Belege. Daß der weltkundige Reiseschriftsteller buchstäblich Selbsterlebtes wiedergebe, war ein Topos seiner frühen Wirkung; daß er seine Bücher zum größten Teil im Gefängnis geschrieben habe, folgt als ebenso falsche Weisheit späterer Tage und entspricht auch heute noch der Überzeugung mancher uneingeweihten Leser. Beides dürfte, seiner Widersprüchlichkeit zum Trotz, nicht wenig zu dem Bild beigetragen haben, das die breite Öffentlichkeit von ihm besitzt.

  Eine weniger komplexe und folgenreiche, aber gewiß auch nicht völlig irrelevante Legende besagt, daß der junge Adolf Hitler sich im Publikum der berühmten Wiener Rede Mays befunden hat. Hitlers Karl-May-Begeisterung ist so vielfach belegt, daß man an ihr nicht zweifeln kann; der Besuch im Sofiensaal wird jedoch allein bezeugt durch den 1935, also Jahrzehnte später, in einer tschechischen Wochenzeitschrift gedruckten Bericht eines Anonymus, eines angeblichen Bekannten Hitlers aus dessen Wiener Zeit, so daß wir es hier mit einem Ereignis zu tun haben, dessen realer Status höchst unsicher erscheint. In ihrem vielbesprochenen Buch zu den ›Lehrjahre(n) eines Diktators‹ legt Brigitte Hamann dar, daß Hitlers »übersichtliche Weltanschauung (...) deutlich bipolare Theorien bevorzugt (hat)«, die er insbesondere bei »einer klaren Scheidung in Gut und Böse (fand), etwa bei Karl May in Ardistan und Dschinnistan« (S. 334).1 In diesem Zusammenhang zieht sie den Bericht jenes Unbekannten heran (S. 544-48) und ordnet ihn so in ihre Darlegungen ein, daß die meisten Leser den fragwürdigen Wirklichkeitsgehalt kaum bemerken werden.

  Auch schon May selbst scheute bekanntlich - darin unzähligen Kollegen aus der kulturellen Branche gleich - nicht davor zurück, Legenden über sein Leben und Streben in die Welt zu setzen, doch längst nicht alles von ihm Geäußerte, das sich auf den ersten Blick wie eine Legende ausnimmt, entbehrt der Wahrheit im schlichtesten Sinne. So hat sich mittlerweile bestätigt, daß er entsprechend seinen Bekundungen tatsächlich schon vor 1875 publizistisch tätig war, daß also mehr und aus anderer Zeit stammende May-Frühwerke existieren, als die Forschung lange annahm. In diesen Zusammenhang paßt die Überzeugung Peter


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Krassas, May habe in jungen Jahren eine Komödie mit dem Titel ›Vereitelte Bemühung‹ geschrieben, die später dem Wiener Burgtheater eingereicht worden sei.2 Ob die »Komödie in zwei Aufzügen / von / Aristarko (Clara May)« (Titelblatt des Manuskripts, Kopie S. 282) tatsächlich von Karl May stammt: darüber wurde 1995 in mehreren Publikationen der Karl-May-Szene heftig gestritten, überwiegend mit ausgeprägt skeptischer Tendenz. Krassa aber hat seinen Fund an prominenter Stelle, in einer Publikationsreihe der Österreichischen Nationalbibliothek, noch einmal vorgestellt und Mays Autorschaft plausibel zu machen versucht. Neue, überzeugende Belege tauchen allerdings nicht auf, und die Häufung von Formulierungen wie »offenbar vergeblich«, »wahrscheinlich« (S. 278) oder »spricht manches dafür« (S. 286), die den Text prägend durchziehen, verstärkt den Zweifel, ob es sich hier tatsächlich um ein Stück von Karl May handelt. Wien scheint weiterhin ein gutes Pflaster für May-Legenden zu bilden.

  Das gilt auch in bezug auf eine weitere Publikation desselben Verfassers.3 Sie widmet sich dem Schriftsteller Friedrich Axmann, mit dessen Manuskripten es May in seiner Zeit als Redakteur bei Münchmeyer zu tun bekam und dessen lange ungeklärte Identität vor einigen Jahren gar zu der Hypothese Anlaß gab, Axmann sei nichts als ein weiteres Pseudonym Mays gewesen. Krassa legt nun mit Hilfe entsprechender Materialien überzeugend dar, daß Axmann existiert hat, daß es sich bei ihm um einen nebenamtlich tätigen Autor aus Wien handelt, der im August 1875 verstarb. Diese Klärung ist außerordentlich verdienstvoll; aber nichts in den wiedergegebenen Dokumenten bestätigt den Gedanken, es sei »sicher« (S. 192), daß eine persönliche Begegnung zwischen May und Axmann stattgefunden hat, und die im Titel des Beitrags und im Schlußsatz formulierte Überlegung, es sei Axmann unabsichtlich »gelungen (...), Karl May zu dessen unsterblich gewordenen ›Gesammelten Werken‹ zu inspirieren« (S. 198), wirkt maßlos überzogen bzw. so pauschal, daß man ihn auf Dutzende anderer schreibender May-Inspiratoren beziehen könnte.

  Die zentrale, oben schon erwähnte Legende, mit der May selbst seine Rezeption zu steuern versuchte, war die zeitweilige Behauptung, er sei wirklich und wahrhaftig Old Shatterhand resp. Kara Ben Nemsi und habe persönlich und buchstäblich erlebt, was in seinen Erzählungen steht. Sie erhielt den Anschein einer gewissen Plausibilität unter anderem durch die Ausführlichkeit und Präzision einer Schilderung ferner Schauplätze, die Authentizität suggerierte. Diesen Schauplätzen, ihren Quellen, ihren diversen Funktionen, ihrer psychologischen Bedeutung und ihrem Gewicht unter didaktischen Vorzeichen gilt eine Anthologie der Sekundärliteratur, die in einer geographischen Schriftenreihe erschienen ist.4 Der Herausgeber, Herbert Wagner, hat darin mehr als dreißig analytische Texte bzw. Textauszüge zusammengestellt, ein um-


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fangreiches Vorwort und kleinere Einleitungen zu den Kapiteln, in die sich die Abhandlungen ihrem sachlichen Schwerpunkt nach einordnen, geschrieben sowie einen neuen, didaktisch orientierten Aufsatz über Karl-May-Landkarten beigesteuert. Die erste Generation der May-Forscher ist mit Franz Kandolf vertreten, im übrigen dominieren aber Arbeiten aus neuerer Zeit inklusive jüngster Publikationen der Karl-May-Gesellschaft, und es ist geradezu sensationell, was da mittlerweile alles an Beobachtungen, Erkenntnissen, Thesen und Interpretationen produziert worden ist - wer aus der Jugendlektüre noch den Eindruck mit sich herumträgt, Mays Orts- und Landschaftsbeschreibungen seien im Dienste einer anregenden Lektüre am besten rasch zu überblättern, wird wuchtig und unter nahezu jedem denkbaren Aspekt eines Besseren belehrt. Nach dem Sammelband über Karl May und Österreich (vgl. Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1997, S. 407ff.) ist hiermit binnen kurzer Zeit schon die zweite Anthologie erschienen, die - wenn auch in diesem Fall zumeist keine neuen - Beiträge zu einem ebenso speziellen wie übergreifenden Komplex der May-Forschung versammelt.

  Legendenbildungen sind generell nicht zuletzt bedingt durch das Bedürfnis, eine wirkliche oder vermeintliche Eigenschaft des ins Auge gefaßten Gegenstands bzw. ein charakteristisches Geschehen zusätzlich zu fixieren und mit scharfen Konturen zu versehen. Auf ähnliche Weise gedeihen die nationalen und rassischen Stereotypen, die in Mays Werk eine tragende Rolle spielen - sei's auch gelegentlich im Dementi - und die er in grandiosen Formulierungen wie Die Mexikanerin ist Südländerin und als solche feurig (Karl May: Das Waldröschen oder Die Rächerjagd rund um die Erde. Dresden 1882-84, S. 1507; Reprint Leipzig 1988f.) unnachahmlich auf den Begriff bringt. Mit Eigenheiten, die May der Tradition gemäß polnischen Figuren zuschreibt, befassen sich gleich zwei neuere Aufsätze: Norbert Honsza und Wojciech Kunicki widmen sich allen Texten Mays, in denen Polen »eine wesentliche Rolle« (S. 65) spielen, also ›Wanda‹, ›Von Bagdad nach Stambul‹, ›Im Reiche des silbernen Löwen‹ und ›Satan und Ischariot I‹,5 während Heinz-Lothar Worm sich ganz auf jenen polnischen Adeligen in Bagdad konzentriert, den Kara Ben Nemsi während der in ›Von Bagdad nach Stambul‹ geschilderten Ereignisse kennenlernt und dessen düsteres Schicksal sich im Zuge der Abenteuer des ›Silberlöwen‹ zum Besseren wendet.6 Es zeigt sich, daß May in der Tat intensiv mit klischeehaften Vorstellungen vom Wesen des polnischen Menschen operiert, in ›Wanda‹ z. B. mit dem zumal von Zacharias Werner kolportierten alten Bild von der ›wilden Polin‹, so daß sich eines der »wichtigsten Kennzeichen der Unterhaltungsliteratur« bestätigen läßt: die »Vervielfältigung konservativer (...) Muster, die (...) in den tieferen Vorstellungsschichten der breiten Leserschaft schlummern und unter günstigen Umständen aktiviert wer-


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den können« (Honsza/Kunicki, S. 65). Die Verfasser zeigen aber auch, wie May aufgrund der autobiographischen Implikationen seines Schreibens eigene Akzente setzt, verknüpfen also ideologiekritische mit psychologischen Elementen. Am ergiebigsten in letzterer Hinsicht ist selbstverständlich Dozorca: für Honsza/Kunicki »eine Vision des Vaters« (S. 76) unseres Autors, für Worm der ›Schatten‹ Karl Mays - im Sinne C. G. Jungs also etwas, dem »diejenigen Eigenschaften zugeschrieben werden, die in der Bewußtheit abgelehnt werden, irgendwo aber leben wollen« -, der auf der Basis der unterstellten generellen polnischen »Inferiorität gegenüber dem Deutschen« (S. 138) demonstrieren muß, wie er in religiösen Belangen, hinsichtlich kriminalistisch-intellektueller Fähigkeiten, im Umgang mit dem Komplex der Staatsbürgerschaft und in bezug auf die eigene Lebensplanung seinem heroischen Widerpart weit unterlegen ist.

  Eine weitere Untersuchung zum vieldiskutierten Komplex des Mayschen Orientbildes nimmt Volker Wiemann vor.7 Er zeigt, wie May »ein narratives Konzept entfaltet (...) das sich an der exotischen Basis-Opposition ›Zivilisiertheit‹ vs. ›Nicht-Zivilisiertheit‹ orientiert, und wie gleichzeitig ein spezielles pädagogisches Programm zur Überwindung der orientalischen Kindheitsphase [jener historischen Entwicklungsstufe, auf der sich der Orient nach einem im 19. Jahrhundert dominanten europäischen Klischee befand] entworfen wird« (S. 99); ersteres wird unter anderem anhand Mayscher Schilderungen morgenländischer Tischsitten oder des religiösen Fanatismus dargelegt, letzteres kristallisiert sich vor allem in den erzieherischen Intentionen des Ich-Erzählers heraus, der zumal in den Gesprächen mit Halef »eher an einen Oberlehrer denn an einen Abenteuer-Helden erinnert« (S. 103). Die an Norbert Elias' Theorie vom Zivilisationsprozeß, aber auch an Klaus Theweleit, Edward Said und Foucault ausgerichtete Studie argumentiert ohne die bei diesem Thema oft verwendeten Schwarzweißraster und gelangt zu entsprechend differenzierten Urteilen: Zwar sehe May in den Eigenheiten der Orientalen »nur Relata zu den europäischen« (S. 104), messe sie also einseitig mit den Maßstäben des zeitgenössischen ›Abendlandes‹ und handle insofern »zutiefst eurozentrisch« (S. 103); doch wende er sich, im Unterschied zu »anderen kolonialistischen Schriftstellern« (S. 102), gegen jede Form von ›Kanonen-Boot-Politik‹, d. h. gegen machtpolitisch-aggressive Maßnahmen zur Beeinflussung der fremden, ›unzivilisierten‹ Kultur. Überdies sei der »utopische, idealisierende Charakter des Orient-Zyklus« (S. 103) in Rechnung zu stellen, der auf allen Seiten zur einlinig zugespitzten Darstellung von Eigenschaften führe, die sich im Ergebnis aber z. T. wechselseitig relativieren. Nicht in der zentralen Feststellung eines ideologischen »Doppelcharakter(s) der Werke Mays« (S. 104), jedoch in der Ausleuchtung ihrer Einzelheiten und ihres Entstehungszusammenhangs setzt diese kleine Studie neue Akzente.


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  Anregungen von sehr anderer, nämlich literaturhistorischer Art empfing May, wie Martin Lowsky darlegt, aus dem Werk Christoph Martin Wielands: Die Spuren reichen von dem mit einer Namensnennung verbürgten Bezug bis zur subtilen motivischen Übereinstimmung.8 In einer Untersuchung, die Wielands Präsenz auch bei Fontane und Arno Schmidt nachspürt - der Mays Werk gelegentlich mit Hilfe Wielandscher Terminologie kommentierte -, nennt Lowsky Beispiele zwischen »einer ziemlich plumpen Anspielung« (S. 175) in ›Die Liebe des Ulanen‹ und einer sehr komplexen Passage aus ›Durch die Wüste‹, die eine kurze poetologische Reflexion in Anlehnung an die Eingangsverse des ›Oberon‹ entfaltet. Skeptiker mögen beanstanden, mit solchen und ähnlichen Arbeiten werde einer neuen Legende zugearbeitet, derzufolge Mays Werk nicht nur von Traditionen der Abenteuerliteratur im weitesten Sinne geprägt sei, sondern auch ganz intensiv an der Geschichte der sogenannten Hochliteratur partizipiere, was vielleicht doch weniger den sachlichen Gegebenheiten als dem Wunschdenken wohlgesonnener Analytiker entspreche. Aber bei näherer Prüfung fällt es hier schwer, diese Kritik zu teilen, denn Lowsky kann sogar auf teilweise identische Formulierungen verweisen.

  Auch unter pädagogischen Vorzeichen ist Karl May wieder einmal besprochen worden.9 Heinz-Lothar Worm beantwortet seine titelspendende Frage, ob May »ein Wegbereiter der modernen Erlebnispädagogik« sei, uneingeschränkt positiv; zumindest habe dies für die Gegebenheiten »der prätelevisionalen Zeit« (S. 24) gegolten. Der Verfasser legt dar, wie Mays Lebensgeschichte ihn zur Produktion von literarischen Tagträumen genötigt habe, deren Inhalte den Bedürfnissen pubertierender Jugendlicher genau entsprachen; in Anlehnung an Heinz Remplein erwähnt Worm unter anderem übersteigerte Geltungssucht und die Neigung zur Bandenbildung, und er führt aus, auf der Basis einer solchen Beziehung sei May zum literarischen »Vermittler von Handlungsorientiertheit und eigenem Erleben, von Bewährung und Bewahrung« geworden und habe damit »die Maximen der erst später entstandenen Erlebnispädagogik ein Stück weit vorweggenommen.« (S. 24) Im Kern sind dies, von der speziellen Wendung zur Erlebnispädagogik abgesehen, natürlich keine neuen Einsichten; manche differenzierte Überlegung dazu findet sich z. B. schon in der umfangreichen Arbeit von Ingrid Bröning, ›Die Reiseerzählungen Karl Mays als literaturpädagogisches Problem‹ (1973), die in Worms sonst durchaus ansehnlichem Literaturverzeichnis fehlt.

  Seit Anbruch der - um Worms Ausdruck zu gebrauchen - televisionalen Zeit dürfte der Name Karl May vielen Jugendlichen eher im Zusammenhang mit TV-Ausstrahlungen der Filme aus den 60er Jahren begegnet sein denn als der eines Verfassers dickleibiger Bücher. In einem Sammelband über ›Idole des deutschen Films‹ - dem man z. B. die er-


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staunliche Information entnehmen kann, daß Kaiser Wilhelm II. der erste deutsche Filmstar war - gilt denn auch ein Kapitel der ›Winnetou-‹Filmtrilogie.10 Der Verfasser ordnet die May-Inszenierungen ein in den Kontext der deutschen Filmgeschichte der 60er Jahre, indem er vor allem ihre konventionellen Züge herausstellt - Winnetou als »ein Bruder des deutschen Film-Försters«, eine »idealisierte Mischung aus soldatischer Entschlossenheit, extremer Güte und Menschlichkeit« (S. 388) - und zeigt, wie zielstrebig-zurückhaltend sie mit dem unter historischem Aspekt damals noch besonders prekären Moment des ›Deutschen‹ umgehen. Das ästhetische Urteil fällt indes vernichtend aus: Die May-Filme seien ohne »wirkliche Fantasie« und »inneres Leben«; im Vergleich sowohl zu den amerikanischen Western als auch zu den literarischen Vorlagen mit ihrem »Märchen-Charakter« (S. 390) schneiden sie schlecht ab. Dieser Ärmlichkeit wegen sei der »Winnetou des Kinos der sechziger Jahre für Träume schon bald untauglich (geworden)« (S. 396) - ein zumindest fragwürdiger Befund, wenn man an die ständigen Wiederaufführungen im Fernsehen und an die lang anhaltende Popularität des Winnetou-Darstellers Pierre Brice denkt, die sich jüngst sogar in neuen Winnetou-Filmen dokumentierte.

  Brice ebenso wie, in bescheidenerem Maße, Lex Barker haben während der 60er und frühen 70er Jahre auch singend aus ihrem Ruhm Kapital zu schlagen versucht, und andere Schallplattenkünstler sind ihnen mit May-spezifischen Werken gefolgt. Ein großer Teil dieser durchweg recht kuriosen Hervorbringungen liegt jetzt auf einer CD vor, von ›Winnetou du warst mein Freund‹ und ›Ribanna‹ (Brice) über ›Der Schatz im Silbersee‹ (Medium-Terzett) und ›Old Shatterhand‹ (Die Flußpiraten) bis zu ›Nscho-tschi, rote Rose der Prärie‹ (Das Silbersee Trio) und ›Der rote Mohn von Missouri‹ (Gaby & Petra, nicht zu verwechseln mit Micky & Gaby, die das literaturdidaktische Werk ›Das hat uns schon Karl May erzählt‹ zu Gehör brachten).11 Wer frühen Ausprägungen einer multimedialen Orientierung der Unterhaltungsindustrie nachgehen will, wird mit diesem Sampler ebenso gut bedient wie der Liebhaber jener Kultursparte, für die sich das schöne Wort Trash eingebürgert hat.

  Nichts mit den Karl-May-Filmen zu tun hat Klaus Dill, obwohl er seit den 50er Jahren als einer der profiliertesten Maler von Filmplakaten gilt und dabei insbesondere im Genre des Western tätig wurde; so berühmte Werke wie ›Der gebrochene Pfeil‹, ›Mein großer Freund Shane‹ und ›12 Uhr mittags‹ wurden dem deutschen Publikum mit seiner Hilfe nahegebracht. Dill hat ferner Titelbilder für diverse wildwestliche Comic-, Leihbuch- und Heftromanserien gestaltet (›Bessy‹, ›Tom Prox‹) und sich neuerdings mit Tecumsehs Leben und Streben beschäftigt. Da konnte es wohl nicht ausbleiben, daß er sich auch Karl May zuwandte, und so zeichnet er mittlerweile verantwortlich für die Titelbilder der


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›Züricher Ausgabe‹, für zwei Kalender mit Motiven aus ›Winnetou I‹ und ›Winnetou II‹ und für weitere Bilder nach ›Winnetou III‹ und ›Der Schatz im Silbersee‹, die in einem umfangreichen Sammelband nun erstmals allgemein zugänglich gemacht werden.12 ›Western-Art‹, ein sorgfältig gestaltetes, mit instruktiven Erläuterungen versehenes Buch, präsentiert alle Seiten des Western-Malers Dill und lädt also zur Beschäftigung mit einer Kunst ein, die manchmal aufs merkwürdigste realistische Präzision, grelle Effekte und fast schon surreale Tendenzen verbindet; man beachte etwa jene Szene aus ›Winnetou III‹ (S. 81), in der die Lichtgestalten Shatterhand und Winnetou mit einem völlig andersfarbigen Hintergrund eindrucksvoll kontrastieren.

  Eine weitere, oft von erheblich geringerer Sympathie getragene Form der künstlerischen Auseinandersetzung mit Mays Werk bildet die Parodie. Wolfgang Biesterfeld stellt - im Neudruck eines schon früher erschienenen Aufsatzes - fünf Beispiele vor: ›Die Blaue Schlange‹ eines Anonymus (1901), ›Der Raub der ›Schönen Tulpe‹‹ von Erich Wilke (1910), ›Karl Mays wunderbare Himmelfahrt‹ von Wilhelm Matthießen (1919), Hans Reimanns ›Joe und Charlie‹ (1924) und Werner Kloses ›Winnetou in Hollywood‹ (1974).13 Der genaue Blick auf die teils eher albernen - ›Die Blaue Schlange‹: »Ich hatte meine fünf Gewehre umgehängt (...) und die kleine Gattlingskanone, ohne die ich nie in die Prärie ziehe, in dem Rucksack untergebracht und die Hosentaschen mir mit Stinkbomben und Dynamitpatronen gut gefüllt« (S. 51) -, teils virtuos-verschmitzten Texte - Reimann: »Aus einem Gebüsch furchtbar wilder Kirschstämme erscholl der Schrei des Präriehuhns« (S. 58) - zeigt, daß die Skepsis der Autoren in der Regel zwei Punkte betrifft: »das unglaubwürdige Heldentum« von Gestalten wie Old Shatterhand, das zum Zweck seiner Entlarvung ins Maßlose gesteigert wird, sowie die »mangelnde literarische Qualität«, die den Parodien zufolge »in der klischeehaften Handlung und im dürftigen Stil deutlich (wird)« (S. 61).

  Den intensivsten und auch schon quantitativ umfassendsten literarischen Niederschlag fand Karl Mays Werk zweifellos in den Arbeiten Arno Schmidts, und so haben die Literaturberichte der vergangenen Jahre denn auch immer wieder auf Untersuchungen zu Schmidts May-Rezeption verweisen können. Eine Monographie von Guido Graf - der schon vorher einschlägig hervorgetreten ist (vgl. Jb-KMG 1996, S. 406) - dringt nun, wenn nicht zu den Ursprüngen, so doch zu einem ganz wesentlichen Hintergrund dieser Beziehung vor: zu Schmidts Briefwechsel mit Hans Wollschläger, der sich über die Jahre 1957 bis 1972 erstreckte und nicht ausschließlich, aber doch in hohem Maße dem Thema May gewidmet war; in bzw. mit Hilfe dieser Korrespondenz entwickelten sich viele der Gedanken, die Schmidt in ›Sitara‹ und in seinen kleineren May-Arbeiten formuliert hat, aber natürlich auch die Anregungen, die er in seinen im engeren Sinne literarischen Schriften auf-


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nahm.14 An dem Korrespondenzpartner Wollschläger und dessen sonstigen Texten ist Graf weniger interessiert; auch der sachliche Ertrag von Schmidts Bemühungen im Hinblick auf ein besseres Verständnis von May beschäftigt ihn nur am Rande. Sein Augenmerk richtet sich primär darauf, wie Arno Schmidt sich im Medium Brief selbst inszenierte und literarisch entwickelte: »Die Persönlichkeit als ihr eigener literarischer Entwurf schreibt sich nieder« (S. 281).

  Über alle von Graf ausgeführten und analysierten Einzelheiten hinaus fällt auf, daß der Briefwechsel maßgeblich von Spannungen lebt, die nur zum kleinen Teil offen ausgesprochen werden können: davon z. B., daß Schmidt, der ältere und bekanntere der beiden, »in den Rollen als Vater und Lehrer Wollschlägers« (S. 264) agiert, obwohl er in vielem auf den jüngeren angewiesen ist und sich von ihm instruieren läßt; von seinem zwiespältigen Interesse an May, das zum einen auf neue, weiterführende Erkenntnisse angelegt und insofern philologisch geprägt ist, zum anderen den gesamten Fall aber auch für die eigene literarische Produktion nutzbar machen, krasser gesagt: ausbeuten will; von Wollschlägers ebenfalls und gleich zweimal doppelter Rolle, in der er Schmidt zunächst als ein offizieller Mitarbeiter des Karl-May-Verlags begegnet, der mit dessen Unternehmungen (und Nicht-Unternehmungen) keinesfalls zufrieden ist, und in der er später Schmidt zu Thesen über May gelangen sieht, die nur sehr begrenzt den seinen entsprechen. Das Ganze ist also auch ein Vexierspiel, dessen Komplexität sich dem geneigten Publikum freilich erst dann ganz enthüllen wird, wenn es in der vollständigen Wiedergabe der Dokumente vorliegt - Graf hat ja diese Untersuchung, die einer 1995 in Essen vorgelegten Dissertation entspricht, vor der Veröffentlichung ihres Gegenstandes, des Schmidt-Wollschlägerschen Briefwechsels selbst, angestellt und publiziert. Da sage noch jemand, die Germanisten produzierten nur Sekundärliteratur.

  Auch folgende Publikationen, die aus naheliegenden Gründen hier nicht genauer vorgestellt werden sollen, sind im Berichtszeitraum erschienen:


-ein von Gert Ueding herausgegebener und mit einem Vorwort versehener Sammelband der wegweisenden Aufsätze, die Claus Roxin zwischen 1971 und 1989 in den Jahrbüchern der Karl-May-Gesellschaft - und teilweise zusätzlich an anderer Stelle - veröffentlicht hat;15
-der zweite Band der ›Juristischen Schriftenreihe der Karl-May-Gesellschaft‹, der wie der erste eine Auseinandersetzung zwischen May und einer Zeitung seines Geburtsorts, in diesem Fall des ›Hohenstein-Ernstthaler Tageblatts‹, dokumentiert und kommentiert;16
-der vierte Band der ›Karl-May-Autographika‹, der diverse Briefe Mays aus den Jahren 1899-1909 sowie Klara Mays Karten an Josef


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Breitschmid, einen begeisterten May-Leser aus der Schweiz, dokumentiert.17

  Über etliche Merkwürdigkeiten im editorischen Umgang mit Karl Mays Werken ist in den letzten Jahrbüchern mehrfach berichtet worden; sie haben sich fortgesetzt. Die von S. C. Augustin und Walter Hansen veranstaltete Ausgabe (vgl. Jb-KMG 1997, S. 418) wurde um den Band ›Tödliches Feuer‹ ergänzt, der teils frühe Wildwest-Erzählungen, teils Auszüge aus Wildwest-Romanen und teils im Wilden Westen spielende Episoden aus Münchmeyer-Romanen enthält, insgesamt neun verschiedene Arbeiten.18 Die Erläuterung zu den Textfassungen teilt diesmal mit: »Die Originalerzählungen wurden der Orthographie und dem Lesebedürfnis unserer Zeit angepaßt und mit erklärenden Fußnoten versehen« (S. 4) - wieder eine Formulierung, die den Sachverhalt nicht eben mit peinlicher Genauigkeit klärt. Aus dem Vor- und Nachwort der Herausgeber bleibt vor allem die weithin unbekannte Schilderung im Gedächtnis, mit der ein Mitglied eines ›Münchner-May-Clubs‹ über den Auftritt berichtet, mit dem der Meister im März 1898 - noch ganz im Banne seiner Old-Shatterhand-Legende - die Verehrer erfreute. Unter anderem heißt es da: »Nach der Rede, die May über Winnetou gehalten, schlug unser Vorstand ein fünf Minuten währendes Trauerschweigen zur Ehre des großen Häuptlings vor, was Old Shatterhand, der hundertmal dem Tode kalt in die Augen sah, so bewegte, daß er die Tränen nicht zurückhalten konnte.« (S. 463)

  Vor einigen Jahren erschien bei Parkland eine »›Züricher Ausgabe‹ von KARL MAYs HAUPTWERKEN in 33 Bänden«, die »der von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger herausgegebenen historisch-kritischen Ausgabe KARL MAYs WERKE in 99 Bänden im Haffmans Verlag Zürich (folgte)«, eine »berechtigte, einmalige Lizenzausgabe (...) im Karl-May-Jubiläumsjahr 1992« - so war's z. B. gegenüber dem Inhaltsverzeichnis des mir gerade vorliegenden Bandes ›Der Schwarze Mustang‹ zu lesen (vgl. Jb-KMG 1993, S. 372f.). Inzwischen ist das Jubiläumsjahr vorbei, die historisch-kritische Ausgabe erscheint längst nicht mehr im Haffmans Verlag Zürich, und auch eine ›Züricher Ausgabe‹ gibt es nicht mehr; aber es existiert eine 33bändige ›Zürcher [!] Ausgabe‹ im Haffmans Verlag, die teilweise spottbillig verkauft wurde, im Satzspiegel, in der Aufmachung und hinsichtlich der Titelbilder von Klaus Dill der mit dem i entspricht, die wie jene von ›Ebner Ulm‹ hergestellt wurde und in der den Büchern mitgegebenen Werbung teilweise identische Formulierungen aufweist.19 Verändert wurde dagegen die Bandzählung, die nunmehr zwischen siebzehn Amerika-Erzählungen und sechzehn Orient-Erzählungen unterscheidet; einen Bezug auf die historisch-kritische Ausgabe von Wiedenroth und Wollschläger sucht man jetzt vergebens, und was die Editionsgrundlage angeht, so erfährt man mittels einer stereotyp in allen Bänden auftauchenden Er-


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klärung: »Der Text dieser Ausgabe folgt den Zeitschriften-Erstdrucken, Stuttgart 1887 und 1887/88« (S. 4) - eine ganz bescheiden und fast unauffällig daherkommende Revolutionierung der May-Forschung, denn ihr war bisher völlig unbekannt, daß die hier wiedergegebenen Texte sämtlich einmal in Stuttgarter Zeitschriften-Erstdrucken jener Jahre publiziert wurden. Man kann sich nur wundern, was es in Sachen May noch alles zu entdecken gibt.

  Im Rahmen der historisch-kritischen Ausgabe sind derweil - bis einschließlich Dezember 1997 - die beiden ersten Bände des ›Waldröschen‹ erschienen.20 Die Karl-May-Gesellschaft hat die zweite Auflage ihres lange vergriffenen ›Hausschatz‹-Reprints ›Der Scout/Deadly Dust‹ veröffentlicht; dabei handelt es sich nicht etwa um einen Nachdruck der Erstpublikation, es wurde vielmehr - von der Aktualisierung des Vorworts über ›Briefkastennotizen‹ zu May und umfangreiche Vergleichslesungen bis hin zur Geschichte von Winnetous Tod in der Fassung der ›Fuldaer Zeitung‹ (1890) - vielfältiges neues Textmaterial hinzugefügt.21 Der ebenfalls vergriffene ›Hausschatz‹-Text ›Der Mir von Dschinnistan‹ wurde in zweiter Auflage mit einem erweiterten Vorwort und einem aktualisierten Verzeichnis der Sekundärliteratur herausgegeben.22



1 Brigitte Hamann: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators. München-Zürich 1996

2 Peter Krassa: War Karl May auch Bühnenautor? Auf den Spuren einer literarischen Überraschung. In: biblos. Beiträge zu Buch, Bibliothek und Schrift. Hrsg. von der Österreichischen Nationalbibliothek 45,2 (1996), S. 277-88

3 Ders.: Friedrich Axmann. Der Mann, der Karl May inspirierte. In: Ebd. 46,1 (1997), S. 187-98

4 Traumreisen im Kopf. Über geographische Schauplätze bei imaginären Reisen in der Abenteuerliteratur Karl Mays (Urbs et regio 66. Kasseler Schriften zur Geographie und Planung). Hrsg. von Herbert Wagner. Kassel 1997

5 Norbert Honsza/Wojciech Kunicki: Polnische Motive in den Werken Karl Mays: Stereotype und Charaktere. In: Studien zur Kulturgeschichte des deutschen Polenbildes 1848-1939. Hrsg. von Hendrik Feindt. Wiesbaden 1995, S. 65-81

6 Heinz-Lothar Worm: Neue Heimat in der Fremde - ein Pole in Bagdad. Die multilaterale Inferiorität des Polen gegenüber dem Deutschen bei Karl May. In: Fremde und Fremdes in der Literatur. Hrsg. von Joanna Jablkowska/Erwin Leibfried. Frankfurt a. M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien 1996, S. 121-38

7 Volker Wiemann: »Das ist die echte orientalische Gastfreundlichkeit«. Zum Konzept kolonisierbarer, nicht-kolonisierbarer und kolonisierender Subjekte bei Karl May. In: Kulturrevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie 32-33 (1997), S. 99-104

8 Martin Lowsky: Abdera, Oberon und anderes. Zur Präsenz Christoph Martin Wielands bei Theodor Fontane, Karl May und Arno Schmidt. In: Zettelkasten 16. Aufsätze und Arbeiten zum Werk Arno Schmidts. Jahrbuch der Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser 1997. Hrsg. von Ralf Georg Czapla/Gregor Seferens. Frankfurt a. M./Wiesenbach 1997, S. 163-90

9 Heinz-Lothar Worm: Karl May. Ein Wegbereiter der modernen Erlebnispädagogik? (Wegbereiter der modernen Erlebnispädagogik 41). Lüneburg 1995

10 Horst Peter Koll: Der träumende Deutsche. Die Winnetou-Filmtrilogie. In: Idole des deutschen Films. Eine Galerie von Schlüsselfiguren. Hrsg. von Thomas Koebner. München 1997, S. 384-97


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11 Pierre Brice/Lex Barker u. a.: Winnetou du warst mein Freund (CD). Bear Family Records 1996

12 Klaus Dill: Western-Art. Mit Beiträgen von Eberhard Urban, Peter Bischoff, Martin Hilland und Helge Haaser. Bergisch Gladbach 1997

13 Wolfgang Biesterfeld: »Ich hatte meine fünf Gewehre umgehängt«. Ein Streifzug durch die Karl-May-Parodie. In: Wolfgang Biesterfeld: Von Fabel bis Fantasy. Gesammelte Aufsätze und Vorträge zur Erzählforschung, Jugendliteratur und Literaturdidaktik. Hamburg 1994, S. 50-63

14 Guido Graf: Über den Briefwechsel zwischen Arno Schmidt und Hans Wollschläger. Wiesenbach 1997

15 Claus Roxin: Karl May, das Strafrecht und die Literatur (Promenade 8. Hrsg. von Gert Ueding). Tübingen 1997

16 Juristische Schriftenreihe der Karl-May-Gesellschaft. Hrsg. von Jürgen Seul. Bd. 2: Jürgen Seul: Karl May ./. Dr. Alban Frisch & Wilhelm Lippacher. Ahrweiler 1997

17 Karl-May-Autographika, Heft 4. Materialien aus dem Autographenarchiv der Karl-May-Gesellschaft. Hrsg. von Volker Griese. o. O. 1997

18 Karl May: Tödliches Feuer. Hrsg., bearbeitet und kommentiert von S. C. Augustin und Walter Hansen. München 1996

19 Karl Mays Hauptwerke in 33 Bänden. Zürcher Ausgabe. Zürich 1996

20 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. II Bd. 3 und 4: Waldröschen. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Bargfeld 1997

21 Karl May: Der Scout - Deadly Dust - Ave Maria. In: Deutscher Hausschatz. VI./XV. Jg. (1879/80, 1888/89) bzw. in: Fuldaer Zeitung. 17. Jg. (1890); Hrsg. von der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg (2. erweiterte Auflage) 1997

22 Karl May: Der Mir von Dschinnistan. In: Deutscher Hausschatz. XXXIV./XXXV. Jg. (1908/09); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 21997





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