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FALK J. LUCIUS

Menschheitsspaltung und Erlösung
Zur Deutung der Carpio-Sappho-Beziehung in Mays ›»Weihnacht!«‹



1. Vorbemerkung


Die Beziehung der Protagonisten Sappho und Carpio in Mays pseudo-autobiographischem Roman ›»Weihnacht!«‹1 gehört zu den am meisten unterschätzten Figurenkonstellationen in seinem Werk. Das mag zunächst einmal auf den Umstand zurückzuführen sein, daß dieses singulär nur in diesem einen Band der Reiseerzählungen dargestellte Verhältnis der beiden Figuren vor dem Hintergrund der innerhalb des Mayschen Gesamtopus leitmotivisch dominierenden Beziehungen etwa zwischen Old Shatterhand und Winnetou oder zwischen Kara Ben Nemsi und Halef leicht zu übersehen ist; das geht so weit, daß ›»Weihnacht!«‹ sogar - in der Datierung korrekt, aber mit irreführender Gewichtung - als »letzte Winnetou-Erzählung« bezeichnet wurde,2 so als ob Winnetou darin die Hauptrolle spielte (was noch zu untersuchen sein wird).

   Eine zweite mögliche Ursache dafür, daß dieses Thema in den dreißig Jahren einer wissenschaftlichen Kriterien genügenden, kontinuierlichen Karl-May-Forschung den Beobachtern entgangen ist, mag darin zu finden sein, daß es seit Arno Schmidt und seinem ›Sitara‹-Buch3 eine Art Tabu zu geben scheint, das die Annäherung an alle Untersuchungsgegenstände erschwert, die im Hinblick auf die notorische, seit einem Vierteljahrhundert als widerlegt geltende,4 aber im Untergrund fortwirkende Hauptthese Schmidts, May sei latent homosexuell gewesen, irgendwie ›verfänglich‹ werden könnten, und so unser Erkenntnispotential an solchen Stellen blockiert. Dazu gehört nun in der Tat die Carpio-Sappho-Beziehung. Denn Schmidt gebührt das zweifelhafte Verdienst, zu Anfang der sechziger Jahre der erste gewesen zu sein, dem auffiel, daß es mit Sappho und Carpio etwas Besonderes auf sich haben könnte. Doch auch wenn seine perfide angedeutete Folgerung, hier - er nennt den Band »eine der ganz großen S(exual)-Revüen«5 - sei ein homoerotisches Verhältnis abgebildet, am Kern dieser Beziehung, wie wir sehen werden, völlig vorbeigeht, ist ihre Wirkung in zweierlei Ausprägungen spürbar geblieben. Einerseits hat es zwar einige Ansätze zur Deutung gegeben, die sich aber durchweg den psychologischen Implikationen dieser Figurenkonstellation eher zaghaft und


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zögerlich nähern, was sich etwa darin zeigt, daß sie zwar eine Interpretation der Figur Carpios versuchen, Sappho hingegen und damit auch seine Beziehung zu Carpio weitgehend ausblenden. Andererseits begegnen wir bis auf den heutigen Tag vereinzelt Epigonen, die an Schmidts überlebter Hypothese festhalten.

   Unter den ersteren sind vor allem die Arbeiten von Helmut Schmiedt,6 Hartmut Vollmer,7 Gerhard Neumann,8 Heinz Stolte,9 Ulrich Schmid10 und Walther Ilmer11 zu nennen, deren Beitrag zu unserem Thema ich unten kurz vorstellen werde. Unter den letzteren finden wir zu unserer Überraschung die jüngste Jahrbuch-Publikation von Andreas Graf.12 Darauf sei zuvor kurz eingegangen. Graf, in gewohnter Weise belesen und informiert, unterstellt im Verlauf seines materialreichen Essays, das erste Kapitel von ›»Weihnacht!«‹ reflektiere die zuvor biographisch nachgewiesenen onanistischen Erfahrungen des jugendlichen May. Aus vorwiegend sprachlichen Indizien, insbesondere dem weiblichen Künstlernamen Sappho des dichtenden Schülers May, zieht er den Schluß: »Die Carpio-Sappho-Geschichte wird hier also, kurz gesagt, als literarische Spiegelung realer homoerotisch-masturbatorischer Erfahrungen verstanden.«13 Er führt jedoch selbst zwei gewichtige Argumente gegen diese Lesart ins Feld, erstens Mays oft zitierte autobiographische Aussage, ein echter, wirklicher Schulkamerad und Jugendfreund sei ihm nie beschieden gewesen,14 zweitens die triviale Beobachtung, »literarisch gesehen [sei] (...) nicht allein Sappho als (Teil-)Spiegelung des jungen Karl May anzusehen, sondern auch Carpio«.15 Wenn nun der junge May gar keinen Freund hatte und Carpio auch nur ihn selbst spiegelt, wo bleibt dann die Homoerotik? Zu dieser offensichtlich unhaltbaren Folgerung konnte es nur in Folge jenes prinzipiellen Mißverständnisses kommen, das auf Arno Schmidt zurückgeht.16

   Nach der Widerlegung Arno Schmidts mußten immerhin sechs Jahre vergehen, bis 1979 Helmut Schmiedt im Rahmen seiner Dissertation als erster wieder eine Deutung der Carpio-Sappho-Konfiguration versuchte: »Hier ist nicht jemand von einem Freund abhängig, hier spricht ein Kind (...) mit der Mutter.«17 Und: »Der schutzlose Carpio ist jenes Kind, dem lange die nötige Zuneigung versagt blieb, und er ist zugleich der spätere May, der mit panischen Rollenspielen auf alle Niederlagen antwortete.«18 Seine Ideen, daß hier eine Mutter-Kind-Beziehung abgebildet und daß Carpio eine Spiegelung des Autors sei, gilt es weiterzuverfolgen; seine Anregung, »die Geschichte Carpios [sei] nur einer der Ansatzpunkte, von denen sich die biographischen Kräfte erschließen lassen, die den Text bewegen«,19 halte ich jedoch für wenig fruchtbar, wenn es darum gehen soll, May als Dichter gerecht zu werden. Hartmut Vollmer argumentiert ein Jahr später in einem Punkt ähnlich: Auch er betont den Spiegelungscharakter Carpios (und anderer Figuren der Erzählung); ob und wie weit seine Gleichsetzung Carpios mit der Figur des Halef trägt, werde ich untersuchen. Die Interpretation von Gerhard Neumann in seinem kleinen, bril-


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lanten Essay von 1983 wirft erstmalig ein Licht auf die Konstituenten der Carpio-Sappho-Beziehung; meine Kritik an diesem Ansatz wird nur einen einzigen, allerdings nicht ganz unwesentlichen Punkt betreffen, nämlich das Verhältnis der Konfiguration zu den daran beteiligten Figuren. Der Vortrag von Heinz Stolte aus dem Jahr 1986 ist zwar für die Deutung von ›»Weihnacht!«‹ insgesamt interessant und wird gern zitiert, ist für unser Thema jedoch weitgehend unergiebig. Die Dissertation von Ulrich Schmid aus dem Jahr 1987 als bislang jüngste themenneutrale diachrone Monographie über das Werk Karl Mays - genauer: zur Übergangsperiode von den Jugend- und Reiseerzählungen zum Spätwerk - beschränkt sich im Kapitel ›»Weihnacht!«: Aufbau und Erzähltechnik‹ auf die Aspekte der Ich-Spiegelungen, der abgebildeten mythischen Genese des Autors May, des Themas der Kommunikation und des leitmotivischen Weihnachtsgedichts. Soweit die Analyse der Carpio-Sappho-Beziehung über Schmiedt und Neumann hinausgeht, ist ihre Methode eher biographistisch als philologisch. Auch wenn seinen Befunden generell zuzustimmen ist, werde ich ihn unten doch in einem Carpio betreffenden Detail korrigieren müssen. Der umfangreichste Deutungsversuch zu ›»Weihnacht!«‹ von Walther Ilmer schließlich, der sich über drei Jahrbücher erstreckte, geht zwar über viele Seiten hinweg nur detailbesessen allen möglichen biographischen Spiegelungen nach - ein Beispiel für die möglichen Folgen der Anregung von Helmut Schmiedt -, hat aber immerhin den wichtigen Aspekt erkannt, daß die Figur des Carpio etwas mit Mays ›Persönlichkeitsspaltung‹ zu tun habe; auch wenn er dies allein auf Carpio und nicht die Carpio-Sappho-Beziehung insgesamt bezieht und obgleich er in etymologischen Begründungen für seine These steckenbleibt, die einer Überprüfung nicht standhalten, ist diese insgesamt doch so bedeutend und, wie ich zeigen werde, auch richtig, daß ich auf seine Arbeit mehrfach zurückkommen werde.

   Insgesamt besteht, wie vor allem die Arbeiten von Schmiedt, Vollmer, U. Schmid und Ilmer zeigen, Konsens darin, daß es sich bei ›»Weihnacht!«‹ um eine großangelegte literarische Ich-Spiegelung Mays handelt: »Alle Figuren - mit Ausnahme der Schurken - sind Ich-Varianten des Autors bzw. verkörpern Phasen seiner Biographie.«20 Es wäre daher äußerst überflüssig, diesen Analysen eine weitere hinzuzufügen, die nicht mehr herausfinden oder auch das bereits Herausgefundene nur durch weitere Aufschlüsselung von Erzählungspartikeln untermauern würde. Andererseits ist evident, daß die Bedeutung gerade der Figuren Sappho und Carpio im Gesamtrahmen der Erzählung bisher noch keineswegs ausreichend zur Kenntnis genommen und gewürdigt ist, gar nicht zu reden davon, daß sie über die nicht zu übersehende Ich-Spiegelung hinaus auf ihre Implikationen hin untersucht wäre.21 Ich werde im folgenden zeigen, daß es um diese Konfiguration noch eine Reihe offener oder nicht hinreichend beantworteter Fragen gibt, so zur Genese ihrer Namen, zu ihrem Verhältnis zuein-


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ander und nicht zuletzt zum Tod Carpios; daß es sich nicht nur lohnt, diese Fragen zu stellen, sondern daß damit tatsächlich eine Reihe neuer und wichtiger Perspektiven auf die Interpretation von ›»Weihnacht!«‹ eröffnet wird; und nebenbei, daß von den bereits genannten Arbeiten weder die philologischen noch die biographisch-psychologischen Ansätze einschließlich des jüngsten aller Erklärungsversuche von Graf, der diese Fragen nur streift, eine befriedigende, umfassende Deutung bieten. Und ich werde versuchen, einige der in diesem Kontext auf den drei Ebenen der Philologie, der Biographie und der Psychologie bestehenden Probleme zu formulieren und dafür Lösungen oder wenigstens Lösungshinweise vorzuschlagen.

   Vergleichsweise unproblematisch ist dabei der literaturwissenschaftliche Zugang, der die Grundlagen für eine poetologische Einordnung und ästhetische Bewertung des Mayschen Opus erweitert und zugleich den Weg für vergleichende, auch autorenübergreifende Studien bereitet. Die dabei verwendeten Methoden der Philologie und Hermeneutik variieren zwar innerhalb des ideologischen Spektrums von Positivismus bis zu Marxismus und Strukturalismus, sind dabei aber (in ihrem jeweiligen Bezugsrahmen) anerkannt. Ich selbst wähle hier einen textimmanenten Ansatz, den ich mit Elementen der Psychologie, der quantitativen Textanalyse und des Strukturalismus angereichert habe; auf Vorarbeiten konnte ich mich dabei kaum beziehen, da die bisherigen philologischen Ansätze sich in bezug auf Sappho und Carpio auf Einzelaspekte konzentrieren und einer Gesamtwertung ausweichen.

   Erheblich schwieriger ist die Untersuchung biographischer Spiegelungen im Hinblick sowohl auf die Methode wie auf den Erkenntniswert. Auf der einen Seite ist es wichtig zu wissen, welche faktischen Ereignisse aus dem Leben des Autors in sein Werk eingegangen sind, um es im Sinne positivistischer Literaturwissenschaft angemessen interpretieren zu können; einen Wert hätte dieses Wissen aber nur, wenn sich folgende Fragen damit beantworten ließen: Haben sie den Entstehungsprozeß des Werkes beeinflußt? Hat der Dichter sie literarisch gestalten wollen? Eröffnet ihre Gestaltung einen neuen Ansatz zur Interpretation? Ist damit die Stellung innerhalb des Gesamtwerks neu zu bewerten? Auf der anderen Seite ist es aber kein guter Stil, wenn nicht sogar methodisch unzulässig, worauf auch schon andere hingewiesen haben,22 umgekehrt aus dem Werk eines Autors verborgene biographische Details zu rekonstruieren, auch wenn das bei einer so schillernden Persönlichkeit wie May reizvoll wäre. Die Fragen, die hier gestellt werden, lauten also: Hat der Autor überhaupt, und falls ja, welches autobiographische Material (bewußt) verarbeitet? Was hat er dabei weshalb und auf welche Weise (bewußt) verdeckt? Und, da letztlich auch der Autor ›erfundener‹ Geschichten aus eigener Lebenserfahrung schöpft: Was hat er an autobiographischem Material auf welche Weise (unbewußt) preisgegeben? Ich habe mich bei der biographischen Ausleuchtung der


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Carpio-Sappho-Beziehung einerseits auf die einschlägigen Dokumentationen von Roxin, Hoffmann und Plaul23 bezogen, habe andererseits aber auch nicht völlig der Versuchung widerstanden, über bestimmte Ereignisse wie die Genese des Namens Sappho zu spekulieren; hier bitte ich darum, stets den noch nicht einmal vorläufigen, sondern rein hypothetischen, spielerischen Charakter dieser Überlegungen mitzubedenken und durchaus die Frage zu stellen, ob damit überhaupt Erkenntnisse gewonnen werden, die uns im Hinblick auf die Persönlichkeit Mays als Dichter und Mensch weiterbringen.

   Das bei weitem größte methodologische Problem stellt der Anspruch dar, sowohl den Entstehungsprozeß eines Werkes wie seinen Inhalt psychologisch zu interpretieren. Es lauern ja gerade Fallstricke dort, wo man versucht, psychisch prägende Vorgänge bloßzulegen, die der Autor nicht einmal seinem Therapeuten auf der Couch dargeboten hätte. Unmittelbar ansetzen kann der tiefenanalytisch vorgehende Interpret allenfalls an den Mängeln verbaler Camouflage bei der Präsentation autobiographischen Materials: Wo die sprachliche Decke zu kurz ist, wird der Autor, zieht er sie fröstelnd über allzu frei sich darbietende Partien, andere zwangsläufig und gegen seinen Willen enthüllen. Das gilt für die verdeckte Mitteilung biographischer Umstände ebenso wie für die Abbildung innerer Motive und Prozesse. Ein wesentliches Hilfsmittel zu dieser Art der Analyse kann die Kenntnis psychischer Mechanismen sein, insbesondere das Wissen um sogenannte Fehlleistungen.24 Denn gerade eine literarische Fehlleistung - also eine Stelle, wo die Decke zu kurz war und sich folglich das Hinsehen lohnt: zum Beispiel auf offenkundige sprachliche Schnitzer, unlogische Handlungen, Verwechslungen - ist ein Indiz dafür, daß hier etwas nur ungenügend verschleiert wurde.25 Ungeachtet dessen, ob Zweifel am wissenschaftlichen Anspruch der Psychoanalyse berechtigt sind oder nicht,26 darf aber der Psychologe selbst nie übersehen, daß die Anwendung solcher Mittel de facto keine gesicherte Methode darstellt und somit der projektiven Spekulation Tür und Tor öffnet,27 wenn die Analyse nicht im Dialog mit dem Analysanden und mit weitgehender Absicherung gegen Übertragungen erfolgt; das aber ist in bezug auf May wie auf die meisten anderen Autoren, ob tot oder lebend, unmöglich, denn es geht, und das sollten wir nicht vergessen, um die Entzifferung des Unbewußten, also dessen, was dem Autor per definitionem nicht bewußt ist. Darüberhinaus ist gerade im Fall von Mays ›»Weihnacht!«‹ die größte Vorsicht geboten, denn er betreibt hier ein äußerst ironisches Vexierspiel mit dem Thema pathologischer Fehlleistungen, die er in der Erzählung seinem Freund Carpio zuschreibt, worauf ich im folgenden noch zurückkommen werde. Es ist nämlich keineswegs auszuschließen, daß er auf einer zweiten Ebene, durchaus absichtsvoll, ein ebensolches Spiel mit dem Leser treibt, also ganz bewußt falsche biographische und vor allem psychographische Spuren gelegt hat. Zum Teil konnte ich mich ein wenig rückversichern durch die Bezugnahme auf die aner-


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kannten Vorarbeiten von Wollschläger, Roxin und Langer;28 in manchen Punkten blieb mir aber keine andere Wahl, als Hypothesen zu formulieren, die ich so weit als nach Lage der Dinge möglich abzustützen versucht habe.



2. Literarische Gestaltung


Unter den bisherigen Interpretationsversuchen von Mays ›»Weihnacht!«‹ in bezug auf die literarische Gestalt des Romans ragen drei heraus: der 1983 veröffentlichte Aufsatz von Gerhard Neumann, der Vortrag von Heinz Stolte, abgedruckt im Jahrbuch von 1986, sowie die 1987 abgeschlossene Dissertation von Ulrich Schmid. Bedauerlicherweise geben alle drei, wie schon eingangs skizziert, für unsere Fragestellung - die Beziehung der Figuren Sappho und Carpio - nicht allzu viel her; das Wenige sei kurz referiert.

   Neumann zeigt, wie die Figuren der beiden Freunde spiegelverkehrt angelegt sind als »Sappho, der Sprachmächtige, und Carpio, der Sprachlose«.29 Beide seien Protagonisten der »›Urszene‹ (...), aus deren Mitte zwei schriftliche Botschaften« - eine Kopie des Weihnachtsgedichts und ein Empfehlungsbrief an Carpios Erbonkel - diesen »in die Neue Welt vorauseilen«.30 Am Ende der Erzählung, bei einer erneuten Weihnachtsfeier, jetzt im Wilden Westen gewissermaßen in einer Reprise der ›Urszene‹, würden »die schriftlichen Botschaften (...) durch das Geschehen eingelöst: als tote Schrift in Gestalt von Carpios ›Empfehlungsbrief‹, der seine Wirkung verfehlt [habe], als souveräne Bewahrheitung der Wirklichkeit in Sapphos ›Weihnachtsgedicht‹«.31 In einem beigefügten Schema32 verdeutlicht Neumann die Konstituierung der ›auto(bio)graphischen Identität‹. Für unsere Betrachtung entnehmen wir dem Schema zum einen die Feststellung, daß die »Autor-Identität ›Sappho‹«, die dem leitmotivischen Weihnachtsgedicht zugeordnet ist, durch die »Konfiguration Sappho-Carpio« erst legitimiert werde. Zum anderen halten wir zwei der kompositorischen Symmetrien der Erzählung fest: erstens, daß ein zweites Leitmotiv, das der Erlösung (das eigentliche Thema des Romans), seine »rituelle Begründung« in der ›Urszene‹ als Verheißung, in ihrer Reprise als Erfüllung finde; zweitens, daß die erste Identität und Konfiguration doppelt gespiegelt sei: in der »Helden-Identität ›Old Shatterhand‹«, legitimiert durch die »Konfiguration O.S.-Winnetou«, und in der übergeordneten »Autor- und Helden-Identität ›Dr. Karl May‹«, legitimiert durch die »Konfiguration K. May-Leser«.

   Stolte arbeitet die Kunstform der Erzählung heraus, zeigt den einem Drama ähnlichen fünfaktigen Aufbau und erläutert seinen Terminus ›Motivreim‹ unter anderem am Beispiel der ›Urszene‹ und ihrer Reprise: »Während im ersten Kapitel (...) Sappho, der Ich-Erzähler, der fremden


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Frau und ihrem Kinde mit einem kargen Geldgeschenk helfen kann, jedoch der kranke, gebrechliche Großvater stirbt, so bringt das letzte Kapitel, im Motivreim dazu, den Tod des krank und gebrechlich gewordenen früheren Schulfreundes Carpio, ebenfalls inmitten weihnachtlicher Feststimmung.«33

   U. Schmid schließlich sieht - in Anlehnung an Schmiedt und Neumann - Carpio hauptsächlich als eher kindliches, »aus den schwachen, hilfsbedürftigen Persönlichkeitsanteilen Mays« zusammengesetztes, »negatives Gegenbild« des »mythischen Helden-Schriftstellers«,34 womit er sich von der Analyse der literarischen Gestaltung eher entfernt und einer biographisch-psychologischen Deutung annähert.

   Lassen Sie uns diesen Interpretationen nun einen Ansatz gegenüberstellen, den wir zunächst rein textimmanent - also ohne Blick auf biographische Spiegelungen oder in Fehlleistungen mitgeteilte unbewußte Botschaften - entwickeln wollen, auch wenn angesichts der Begrenztheit der vorliegenden Darstellung nur wenige Themen angeschnitten werden können.



2.1 Die Sappho-Carpio-Konstellation: Siamesische Zwillinge


May begegnet uns in dieser fiktiv autobiographischen Erzählung zweifach, nämlich als Autor und als der dichtende Protagonist, der unter mehreren Namen bekannt ist: zuallererst als der Ich-Erzähler; dann als Sappho bei seinen Kommilitonen, insbesondere bei Carpio, der ihn noch als Erwachsenen so nennt; als Old Shatterhand im Wilden Westen; als Dr. Karl May bei seinen Lesern. Es ist von Bedeutung, den Autor May von der erzählten Figur May (mit ihren Pseudonymen) zu trennen, denn der erstere ist real, während die letztere fiktional - aber nicht durchweg fiktiv - ist.35 Es ist meines Erachtens hermeneutisch unzulässig, von einer Identität des Autors mit dem Ich-Erzähler zu sprechen; das ›Ich‹ einer Ich-Erzählung ist vielmehr ebenso fiktional wie die dritte Person einer Er-Erzählung. Es hat lediglich den Anschein von Authentizität, wenn das ›Ich‹ spricht, um so mehr, wenn Bezüge zu realen Geschehnissen und Personen in die Komposition einbezogen werden und wenn der Autor seine Fiktion eine ›Reiseerzählung‹ nennt statt einen Roman. Nichtsdestoweniger bleibt die Tatsache bestehen, daß wir es mit einem Kunstprodukt zu tun haben und uns daher durch eine scheinbare Gleichheit des schreibenden Autors und des erschriebenen Ich-Erzählers nicht verwirren lassen sollten, unabhängig davon, wie das breite Leserpublikum dies auch sehen, und unabhängig davon, welche Absicht der Autor damit verbunden haben mag; Ueding nennt ihn daher zu Recht »jene künstlichste aller Mayschen Kunstfiguren, die doch durch das Personalpronomen gerade das Gegenteil nahezulegen scheint«.36 Wenn Neumann seinen Aufsatz ›Das erschriebene Ich‹ genannt


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hat, meint er diesen Aspekt und noch einen weiteren: daß der reale May sich damit eine Identität erschrieben habe. Dieser zweite Aspekt aber darf uns bei einer textimmanenten Betrachtung nicht kümmern; er gehört in den Bereich der biographischen und psychologischen Ausdeutung. An dieser Stelle ist nur entscheidend, daß das ›erschriebene Ich‹, das ›Ich‹ der Erzählung, etwas außerhalb des Autors, nicht mit diesem identisch und eine reine Kunstfigur ist, die allem Anschein zum Trotz weniger authentisch sein kann als die dritte Person einer Er-Erzählung, auch wenn ihre eventuelle Ähnlichkeit mit lebenden Personen, wie man zu sagen pflegt, nicht völlig zufällig ist.37

   Etwas weiteres fällt auf, wenn wir betrachten, in welchem Kontext der Protagonist als Sappho, als Old Shatterhand oder als Karl Meier bzw. Dr. Karl May in Erscheinung tritt. Es ist ja keineswegs so, daß er jederzeit synchron unter diesen drei Namen präsent ist, sondern zu verschiedenen Zeiten gewissermaßen verschiedene Facetten seiner Existenz hervorkehrt, die jeweils eigene Namen haben. So ist Karl Meier der journalistische Anteil in bürgerlicher Aufmachung, der sich in Amerika durch das Verfassen von Zeitungsartikeln das Budget für seine ausgedehnten Reisen verdient; so ist Old Shatterhand der in einen Habit aus Elkleder (111) gekleidete Westmann, der an der Seite von Winnetou in der Prärie und dem Felsengebirge des Wilden Westens Abenteuer erlebt; so ist Sappho der einstige Gymnasiast und Verfasser des leitmotivischen Weihnachtsgedichts. Bemerkenswert ist, wodurch der Protagonist zu einer dieser Figuren wird. Zum einen kann dies Folge eines Willensaktes sein, etwa wenn der Journalist seinen Anzug mit dem Jagdhemd vertauscht, zum anderen ist es aber eine Folge der Spiegelung in seiner Umgebung. Zu Sappho wird der Protagonist nicht durch eigenes Zutun, sondern weil Carpio ihn so nennt, Carpio, der in ihm noch immer den Mitschüler von damals sieht, als beide durch die böhmischen Wälder zogen. Diese Feststellung ist wesentlich. Ohne Carpio würde der Protagonist nicht zu Sappho, er wäre ohne ihn zwar Karl Meier und Old Shatterhand, doch die Existenzform Sappho bedarf Carpios, um sich zu manifestieren. Carpio ist also seine ontologische Prämisse, seine notwendige Seinsvoraussetzung.

   Damit gehe ich ganz bewußt einen radikalen Schritt weiter als Neumann, der sagt, die »Autor-Identität ›Sappho‹« werde durch die »Konfiguration Sappho-Carpio« nur legitimiert: soweit ich hingegen sehen kann, wird sie auf diese Weise sogar erst konstituiert. Es ist daher offensichtlich, daß am Ende mit dem Tod Carpios, mit der Auflösung dieser Konfiguration, auch Sappho als Ausdrucksform des Protagonisten zu existieren aufhört, seine besondere Form verliert und in dieser Formlosigkeit wieder mit der Gesamtperson verschmilzt: »Komm, lieber Sappho!« bat Carpio. »Richte mich auf und nimm mich an deine Brust! Ich weiß, daß ich jetzt zum letztenmal im Leben sprechen werde, und das sollen deine Weihnachtsworte sein!« (517)


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   Das bedeutet eben auch: Ich spreche dich zum letzten Mal als Sappho an, und die Worte des nachfolgenden Gedichts sind für dich ganz persönlich bestimmt:


»Selig, wer aus Herzensgrunde
Nach der - - Lebensquelle - - strebt
Und - - noch in der - - letzten - Stunde
Seinen - - Blick - - zum Himmel - - - -«
und das letzte Wort »hebt« verhauchte in einem fast unhörbaren Seufzer. (518)


Es geht hier, wie Carpio gesagt hat, tatsächlich um die letzte Stunde Sapphos und nur vordergründig um seine eigene. Carpio war tot. (518) Und, wie wir nun wissen, Sappho ebenfalls.

   Die überraschende Erkenntnis, daß die Existenz Sapphos unmittelbar von derjenigen Carpios bedingt ist, provoziert die Frage, wie es sich denn umgekehrt mit Carpio verhalte. Denn auch Carpio ist ja nur das aus der gemeinsamen Gymnasialzeit mit Sappho übriggebliebene Alter ego von Hermann Lachner, der im Wilden Westen sein Glück zu machen versucht. Und auch dieser hat, wie der Protagonist als Old Shatterhand, noch eine weitere Ausprägung, die auf den Namen Old Jumble hört. Bezeichnend ist nun die Wiederbegegnung der ehemaligen Schulfreunde im Wilden Westen. Noch während Old Shatterhand gemeinsam mit Winnetou auf ein Lagerfeuer zuschleicht, erinnert er sich: Eine solche Zerstreutheit - - - - - Zerstreutheit!!! Indem ich an dieses Wort dachte, ging es mir wie ein elektrischer Schlag, ich weiß nicht, ob durch die Seele oder durch den Körper. Und warum? Es war der Name Lachner genannt worden, und Lachner war der Familienname meines einstigen Freundes und Reisegefährten Carpio! Er hatte einen Verwandten in Amerika und war stets ein Wirrkopf; ein Old Jumble gewesen! (283)

   Und nun verwandeln sich gleichzeitig, in gegenseitiger Wechselwirkung, Old Shatterhand in Sappho und Old Jumble in Carpio. Zunächst zweifelt Old Shatterhand noch, ein retardierendes Moment, das die Spannung steigert: Ich strengte mein Gehör doppelt an, um mir keinen Laut von seiner Antwort entgehen zu lassen. ... War es Carpio oder war er es nicht? ... Das Ja klang wie aus jedem anderen Munde und genügte nicht für mich, eine Stimme, welche ich vor so vielen Jahren zum letztenmal gehört hatte, jetzt gleich wieder zu erkennen. (291)

   Doch dann sagt am Feuer der ›Neffe‹ zum ›Onkel‹: »Das bin nicht ich, sondern mein Freund Sappho ist es gewesen.« (294) Damit ist die Identität ›Carpio‹ hergestellt: Welch ein Zusammentreffen! Mein Carpio, mein alter, guter, lieber Carpio hier am Lake Jone, auf der Hochebene des wilden Westens! (295) Man beachte: Die leitmotivische Zerstreutheit ist zwar ein wesentliches Indiz, aber endgültig wird der ›Neffe‹ erst in dem Augenblick zu Carpio, als er Sappho bei seinem Namen nennt, und er wird es charak-


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teristischerweise auch nur für den so bezeichneten Protagonisten. Es zeigt sich mithin, daß Sappho, von Carpio wieder ins Leben gerufen, sogleich in Rückkopplung auch für dessen Existenz konstitutiv wird. (Daß nebenbei sich die mit der Begegnung einhergehende Wiedererschaffung Sapphos dem Protagonisten wie ein elektrischer Schlag ankündigt, erscheint dem Kenner des Frankenstein-Mythos als ausgesprochen plausibel.)

   Wir müssen noch einen Schritt weitergehen. So wie in der affektiv wahrgenommenen Welt des Ich-Erzählers der andere nur als Carpio vorstellbar ist, während er dessen weitere Identitäten Hermann Lachner und Old Jumble zwar intellektuell anerkennt, aber auch mit einer gewissen Befremdung wahrnimmt, so ist wiederum in dessen Welt der Protagonist nur als Sappho möglich, nicht als Old Shatterhand und nicht als Dr. Karl May: »Du bist - - bist - - bist - - Ihr seid - - - seid Old Shatterhand?« stotterte er in seinem Schulbuch-Englisch. (310)

   Das bedeutet, daß beide im Umgang miteinander eine verengte und zugleich den anderen einengende Perspektive haben, da sie seine anderen Identitäten weitgehend ausblenden. Gleichzeitig wird einmal mehr die beiderseitige Abhängigkeit deutlich, wenn der eine die Projektion des anderen annimmt: »Sappho! Du bist's; du bist es wirklich? Ich habe mich also nicht geirrt?« »Nein, lieber Carpio, ich bin dein alter, treuer Mitschüler und Ferienkamerad.« (312)

   Es herrscht damit also auch Einvernehmen über die Spielregel, daß gewissermaßen die Zeit stehengeblieben ist. Diese zunächst rein kommunikative Basis erschafft aber zugleich ihr konnotatives Umfeld, eine Wahrnehmungsebene außerhalb der zeitlichen und räumlichen Realität, die es möglich macht, ohne weiteres die in der Jugend erlebten verschneiten böhmischen Wälder in den aktuellen Wilden Westen zu transponieren.

   Somit sind wir zu dem bemerkenswerten Resultat gelangt, daß Sappho und Carpio wechselseitig einander das Dasein verdanken, daß jeder von beiden (erst) dadurch in Erscheinung tritt, daß der andere seinen Namen ausspricht oder auch nur denkt, und daß dies in beiderseitigem Einverständnis geschieht. So etwas wie »Old Shatterhands Gespräch mit Carpio«38 kann es also gar nicht geben, da der erstere im Dialog mit seinem Freund sofort und ohne weiteres Zutun zu Sappho wird. Man könnte diesen mutuellen Schöpfungsakt durch die verbale Magie der Namensnennung geradezu als literarische Paraphrase auf Joh. 1,1 auffassen, den am weitesten zurückgreifenden Mythos zur Rechtfertigung des Schriftstellerberufs, um dessen Aneignung es in Mays Erzählung ja auch geht: »Im Anfang war das Wort.« Jedenfalls ist der eine ohne den anderen nicht vorstellbar; beide sind miteinander verbunden wie Eng und Chang, die berühmten siamesischen Zwillinge,39 und ebenso gehen beide miteinander unter. Das Besondere an dieser Konstellation ist ihre Einzigartigkeit innerhalb der Erzählung. Old Shatterhand und Winnetou etwa sind bei weitem nicht in die


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ser Weise existentiell aneinander gefesselt, was allein schon aus dem Umstand erhellt, daß beide unter ihren Namen im gesamten Wilden Westen berühmt sind und auch von anderen so genannt werden, insbesondere auch in Situationen, wo der andere nicht anwesend ist. Hier sehe ich eben auch, anders als Neumann, die »Helden-Identität ›Old Shatterhand‹« keineswegs erst durch die »Konfiguration O.S.-Winnetou« legitimiert und schon gar nicht konstituiert.

   Für die Konfiguration Kara Ben Nemsi-Halef, die in diesem Zusammenhang Vollmer ins Spiel gebracht hat,40 können ähnliche Überlegungen angestellt werden. In der Tat bedingen sich diese beiden Figuren ebenfalls gegenseitig in gleicher Weise wie Sappho und Carpio, denn auch sie treten nur in Interaktion auf; die von Vollmer vorgenommene Gleichsetzung von Carpio und Halef, die er aus völlig anderen Indizien hergeleitet hatte, darf somit in einem ersten Schritt als berechtigt gelten. Bei näherem Hinsehen fallen aber gewichtige Unterschiede ins Auge. Beide sind zwar ihrer selbst nicht bewußt; während jedoch Carpio als zutiefst gestörte Persönlichkeit anzusehen ist, worauf ich noch zu sprechen kommen werde, verkörpert Halef in seiner lächerlichen Erscheinung und seiner Großmannssucht, aber auch in seinem Selbstbewußtsein und seinem unerschrockenen Mut einen, obwohl unvollkommenen, doch verhältnismäßig ›normalen‹ Charakter, der für seinen Begleiter niemals zu einem ernsthaften Problem wird, sondern ihm bei vielen Gelegenheiten ein Freund und Helfer ist. Es sollte zu denken geben, daß May Carpio sterben ließ, Halef jedoch nicht. Im Gegenteil: Erinnern wir uns daran, daß es die Pflege des kleinen Halef war, die den von der Pest befallenen Kara Ben Nemsi vom Tode rettete. Außerdem bemerken wir, daß nicht nur ›Sappho‹ ein Zweitname ist, sondern auch ›Kara Ben Nemsi‹ - kein von Mitschülern verliehener Name, sondern eine Art (verballhornter) Übersetzung (Karl, Nachkomme der Deutschen) -, daß Halef jedoch im Gegensatz zu Carpio wirklich von Geburt an so heißt. Wenn wir jetzt noch den Umstand hinzunehmen, daß Kara und Halef sich erst als Erwachsene begegnen, Sappho und Carpio aber schon als Schüler, kommen wir nicht umhin festzustellen, daß trotz der anfänglich angenommenen Gemeinsamkeiten zwischen Kara Ben Nemsi-Halef und Sappho-Carpio bei genauer Betrachtung die Unterschiede so sehr überwiegen, daß zwei völlig verschiedene Konzepte Mays als der jeweiligen Gestaltung zugrundeliegend anzunehmen sind. Deshalb müssen wir im zweiten Schritt Vollmers Gleichsetzung wieder verwerfen.

   Halten wir an dieser Stelle einmal inne. Karl May, der gemeinhin als Unterhaltungsschriftsteller oder gar, in Unkenntnis etwa seiner Kolportageromane und seines Alterswerks, als Jugendautor (was hierzulande, anders als in Schweden, Großbritannien oder den Vereinigten Staaten, leider nicht als Prädikat gilt) angesehen wird, hat, wie wir gesehen haben, mit Sappho und Carpio offensichtlich eine Konstellation geschaffen, die, obgleich sie im Gewand der Trivialität daherkommt, per se alles andere als trivial ist, ja


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überhaupt erst nach eingehender Betrachtung ihre Implikationen preisgibt. Entfernt davon, Mays Werke für ›große‹ Literatur zu halten, und durchaus davon überzeugt, daß May diese Konstellation keinesfalls ebenso subtil durchkomponiert hat - jedenfalls nicht bewußt -, wie sie sich nun in der Analyse erweist, empfinde ich um so mehr Respekt vor einem erzählerischen Talent, dem es gelang, all dies ohne literarische Bildung, ohne Kenntnis rhetorischer und poetologischer Grundlagen hervorzubringen. Doch können wir, meine ich, fast sicher sein, daß dieser auf eine sozusagen unterschwellige Art kunstvolle Charakter seiner Werke einen Teil von Mays Wirkung ausmacht, gerade auch bei denen, die diese Eigenschaft ihrerseits nur unbewußt aufnehmen. Es scheint - und ist sicher eine eingehende Untersuchung wert -, daß May die vor fast dreihundert Jahren aufgestellten Regeln der Poetik in äußerst publikumswirksamer Weise umgesetzt hat: »1. Daß man allenthalben mit der Natur einstimmen, 2. daß man durch angenehme Erfindungen den Leser ergötzen, 3. daß man allerhand und zuweilen verdeckte Lehren einstreuen, und 4. daß man das Hertz des Lesers gewinnen möge.«41



2.2 ›Sappho‹ und ›Carpio‹: Ironie und tiefere Bedeutung


Lassen wir die Frage außer acht, ob es für May noch andere als nur literarische - etwa biographische oder psychologische - Gründe gab, für den Protagonisten den Künstlernamen Sappho zu wählen, so fallen doch einige scheinbare Ungereimtheiten ins Auge. Zunächst ist festzuhalten, daß Sappho nicht den Ich-Erzähler im allgemeinen benennt, sondern nur in seiner Eigenschaft als dichtenden Gymnasiasten, insbesondere als Verfasser des Weihnachtsgedichts. Nun ist es May nicht entgangen, daß dieses Gedicht aus seiner Zwickauer Haftzeit,42 das er zwar so sehr schätzte, daß er es immerhin in zwei weiteren Romanen43 verwendete, dennoch nicht gerade das Nonplusultra an gehobener Lyrik darstellt; sein Ich-Erzähler meint selbstkritisch (wenn auch mit hörbarem Schmunzeln), daß er das Gedicht - - - fast möchte ich sagen, verbrochen habe (10),44 spricht von Knüppelversen (14) und behauptet, ein Gedicht könne »jeder machen, der die Reime dazu aus der Luft hergreift« (17). Da ist es um so verwunderlicher, daß er sich einen Namen beilegt, der, wie er weiß, der berühmteste(n) Dichterin des Altertums (33) gehörte, die durch die unübertreffliche Reinheit und Schönheit ihrer Verse ausgezeichnet (33) war, ja geradezu als ›Erfinderin‹ der Liebeslyrik gelten kann.45 Es versteht sich also, daß die reale Sappho ein solches Machwerk wie das Weihnachtsgedicht niemals verfaßt hätte, und das kann nur eines bedeuten, da May ja aus dem qualitativen Antagonismus seines Gedichts und der Lyrik Sapphos gar kein Hehl macht: Die Wahl des Künstlernamens Sappho ist Ausdruck der puren Ironie und ein Indiz für den selbstkritischen Humor Mays, der hierzulande durchaus Seltenheitswert besitzt.


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Ziehen wir weiter in Betracht, daß Sappho ein weiblicher Name ist (wenn dem weniger gebildeten Leser dies auch aufgrund der Endung ›-o‹ im Laufe der Erzählung wieder entfallen mag), können wir annehmen, daß May sich auch über herkömmliche Geschlechterrollen mokiert, zumindest über seine eigene. Nehmen wir schließlich den Umstand, daß May ein ›heidnisches‹ Pseudonym für den Verfasser eines Gedichts mit urchristlichster Thematik gewählt hat, ist auch der Gedanke nicht von der Hand zu weisen, daß er sogar den Kanzelton des Weihnachtsgedichts zum Gegenstand seiner Ironie macht.

   Anzumerken sind in diesem Zusammenhang zwei weitere Beobachtungen. Erstens erscheint Sappho auf den ersten Blick keineswegs als eine Figur, zu der May als Autor durchgehend auf ironischer Distanz ist. Im Gegenteil ist sie als das Vis-à-vis des von einer Fehlleistung zur nächsten stolpernden Carpio darauf abonniert, die Seite der Vernunft zu repräsentieren, und in dieser Funktion daher keiner kritischen Reflexion - sei es durch auktoriale Kommentare oder ironische Erzählhaltung - unterworfen; auf der anderen Seite mag aber Mays Ironie bei der Wahl des Namens Sappho, den er bis zur letzten Rezitation des Weihnachtsgedichts im Wilden Westen beibehält, ein Hinweis darauf sein, daß auch andere Züge dieser Figur mit Ironie gestaltet wurden, daß etwa die ›klugen‹ Bemerkungen Sapphos gegenüber Carpio als altklug gemeint sind oder daß die Regression Old Shatterhands zu Sappho - »Nein, lieber Carpio, ich bin dein alter, treuer Mitschüler und Ferienkamerad.« (312) - insgesamt nicht ernst zu nehmen ist. Zweitens erstreckt sich die sichtbar gewordene ironisch-selbstkritische Haltung Mays im gegebenen Kontext nur auf die Persona46 Sappho des Ich-Erzählers, keineswegs etwa auf die Persona Old Shatterhand, die im Gegenteil völlig humorlos die Seite des moralischen Rechts vertritt und gegebenenfalls brachial mit dem Jagdhieb durchsetzt, und schon gar nicht auf die weitgehend im Hintergrund bleibende väterliche, belehrende, erfolgreiche Persona ›Dr.‹ Karl May, geschweige denn auf den real existierenden Autor, der Angriffe auf die Grundlagen seiner mühsam erschriebenen bürgerlichen Existenz mit den Mitteln entweder juristischer oder journalistischer Polemik, doch selten oder nie mit überlegenem oder gar selbstkritischem Humor abzuwehren gewohnt war. Der Autor May macht sich also nur über einen mutmaßlich seiner Vergangenheit angehörenden Anteil lustig, den er dichterisch pointiert als fiktionale Person ausmodelliert hat. Weshalb er sich hier die Ironie ›leisten konnte‹ und dort nicht, läßt sich textimmanent nicht begründen; Indizien freilich können wir sammeln. So ist die Persona Sappho aufgrund ihrer von den Desillusionierungen des Erwachsenendaseins freien Jugend relativ intakt; ihre Attribute sind neben den dichterischen Ambitionen Kameradschaft und Treue. So ist die Persona Old Shatterhand, auch wenn sie das moralische Recht auf ihrer Seite hat, vergleichsweise fragwürdig wie andere ›gebrochene‹ Gestalten der Hoch- und Trivialliteratur (Karl Moor, Michael Kohlhaas, Edmond


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Dantès, Batman); ihre Attribute sind unhinterfragter, letztlich irrationaler Gerechtigkeitssinn und Stärke; ihre - je nach Kontext zeitweilige oder finale - Unüberwindlichkeit enthält ein unübersehbares Element der Bedrohung, scheinbar zwar nur für die ›Bösen‹, de facto aber für alle, die schwächer sind und die Existenz einer absoluten Gerechtigkeit bezweifeln. Einer solchen Figur ist mit Ironie nicht beizukommen, sondern allenfalls damit, daß man sie dazu bringt, an sich selbst zu zweifeln. Die ironische Haltung Sappho gegenüber gleicht hingegen dem milden Spott des ernüchterten Erwachsenen gegenüber dem unerfahrenen Jugendlichen; sie ist zutiefst herablassend und von Selbstzweifeln frei, sie ›kostet nichts‹.

   Es gilt als weitere Frage zu beantworten, wessen ironische Haltung in der Gestaltung der Persona Sappho eigentlich zum Ausdruck kommt. Bisher haben wir ganz selbstverständlich angenommen, daß dies die Erzählhaltung des Autors May sei. Wie aber verhält es sich mit dem Ich-Erzähler May, der ja ein anderer und mehr noch, nämlich Träger der Persona Sappho, ist? Begegnet der Ich-Erzähler seiner eigenen Persona mit Ironie? Dies ist entschieden zu verneinen. Es sieht vielmehr so aus, als ob er die Verleihung des Namens Sappho durch seine Mitschüler in völligem Ernst vorträgt (33), obwohl ihm eigentlich klar sein müßte, daß Spitznamen sehr häufig in ironischer Weise vergeben werden, und der einzige kritische Satz aus seinem eigenen Munde zum Weihnachtsgedicht - Der Eindruck dieser Stellen auf mich war ein solcher, daß ich - in noch ganz unreifem Alter - beide komponiert und über die zweite auch noch ein Gedicht - - - fast möchte ich sagen, verbrochen habe (10) - ist durch das Wort ›fast‹ abgeschwächt und mit dem Hinweis auf das unreife Alter entschuldigt. Der Ich-Erzähler ist sich zwar der zeitlichen Distanz und des unterschiedlichen Entwicklungsgrades bewußt; doch er bleibt dabei ernsthaft und frei von jeder Attitüde, die sich über ihn selbst als Sappho belustigen würde. Ganz anders May als Autor: Er nutzt die Möglichkeit, die kritischen Stimmen zu seinem Gedicht anderen Personen (dem ›Alten‹ und dem Kantor) in den Mund zu legen, und produziert damit erst den Eindruck, daß der Name Sappho aus Ironie verliehen wurde. Mehr noch: Indem er den Ich-Erzähler so darstellt, als sei er sich dieser Ironie nicht bewußt, erzeugt er eine Kluft zwischen Ich-Erzähler und Autor. Obgleich beide scheinbar dieselben Worte äußern, wird doch deutlich, daß der Ich-Erzähler über eine begrenzte Sichtweise verfügt, während der Autor als Erfinder der Erzählung notwendigerweise ›allwissend‹ ist.

   Zugegeben, es ist viel verlangt, immer im Gedächtnis zu behalten, daß wir es trotz scheinbarer Personalunion mit mehreren Ebenen der Kreation und zugleich der ironischen Distanz zu tun haben: des Autors im Verhältnis zum Ich-Erzähler, des Ich-Erzählers im Verhältnis zu seiner Persona Sappho ... Doch das ist nötig, wenn wir nicht bei dem enden wollen, was Carpio mit Recht eine Konfusion (320) nennt.


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   Betrachten wir nun, wie Carpio und sein Name eingeführt werden: Ein fleißiger und ernster Junge, pflegte er, außer mit mir, nicht viel zu sprechen und wurde deshalb Cyprinus Carpio oder kurzweg Carpio genannt, weil Karpfen bekanntlich auch nicht gern viele Worte machen. (23f.) Überlegungen anderer Autoren, die mehr auf phonetischer Ähnlichkeit als auf zutreffender philologischer Analyse beruhen, etwa daß dieser Name an die Horaz entnommene Devise »carpe diem«47 erinnere,48 wollen wir hier ebenso beiseite lassen wie Ilmers Ausführungen zum lateinischen ›carpere‹49 und zum offensichtlichen Schreibfehler Carpius (45).50

   May selbst merkt in einer auktorialen Fußnote korrekt an, daß Cyprinus Carpio der zoologische Name des Karpfens ist, eines fraglos stummen Fisches, der dafür bekannt ist, in seinem Teich von möglichen sprichwörtlichen Hechten, zu Silvester aber und früher zur Fastenzeit von Menschen verspeist zu werden. Die Begründung Mays für die Wahl des Spitznamens scheint vordergründig plausibel zu sein, doch alsbald sollte dem Leser ein immanenter Widerspruch geradezu in die Augen springen. Denn Carpio - ist alles andere als stumm, und zwar von Anfang an, und durchaus gegenüber fremden Personen. So redet er umständlich mit dem Gendarmen (31f., 39), hält kräftig bei der Anulkerei des Wirtes Franzl mit (36f.), erzählt der armen Auswandererfamilie ausführlich von Amerika (46) und trägt das lange Weihnachtsgedicht vor (49ff.). Ja, er macht sich sogar darüber lustig, daß Sappho plötzlich so gesprächig sei: »Höre, Sappho, du sprichst ja wie ein Buch, und noch dazu gar wie ein gedrucktes! Das hast du während unserer jetzigen Reise noch nicht gethan!« (33) Hat hier eine Vertauschung der Rollen stattgefunden? Nein, behauptet der Erzähler: Damit er sich auf unserer Wanderung wohlbefinden solle, gab ich mich ganz so, wie er war; ihm war das nur nicht aufgefallen, weil er keine Spur von Beobachtungsgabe besaß. (33)

   Hier haben wir es gleich mit einer doppelten Ironie zu tun. Zunächst ist ganz offensichtlich, daß Carpio überhaupt nicht stumm ist, sondern seinen Spitznamen auf ebenso ironische Weise erhalten hat wie Sappho den seinigen; May (als Autor) weist indirekt darauf hin, indem er genau in dem Augenblick, wo Carpio aufdeckt, daß es sich bezüglich der Gesprächigkeit bei beiden genau umgekehrt verhält wie ihre Namen vermuten lassen, erstmalig den Namen Sappho ins Gespräch bringt und sogleich die Erklärung dafür liefert, die, wie wir gesehen haben, auch bereits durch und durch von Ironie getränkt ist. Alsdann folgt die Erklärung des Ich-Erzählers, die verkehrter nicht sein kann, denn zum einen hat Carpio ja gerade, wie jener sogar zugibt, korrekt beobachtet, zum anderen zeigt genau diese Bemerkung, daß es gerade dem Ich-Erzähler selbst an Beobachtungsgabe mangelt.

   Hier erweist sich erneut und nunmehr unumstößlich die schon mehrfach vermutete Inkongruenz von Ich-Erzähler und Autor. Denn offensichtlich hat der Ich-Erzähler eine ›falsche‹ Vorstellung der Wirklichkeit, da er Car-


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pio wahrheitswidrig und ohne Wahrnehmung der in seinem Namen enthaltenen Ironie als ›stummen Karpfen‹ vorstellt und seine ganz natürliche, für jeden erkennbare Beobachtungsgabe schlichtweg leugnet. Daß May aber diese Sätze des fiktionalen Ich-Erzählers dennoch vor aller Augen so stehen läßt, bedeutet, daß er ihn mit distanzierter Attitüde ›vorführt‹ und dadurch auf ihn ein entlarvend ironisches Licht wirft. Dieser Befund ist allerdings erstaunlich angesichts des Umstandes, daß alle Welt diese Erzählung für den Wendepunkt in Mays Werk hält, in dem er die Identität von Karl May und Old Shatterhand vor aller Welt verkündete. Und nun soll dies nur Ironie gewesen sein? Ja und nein. Doch da diese Überlegungen uns wegführen würden von der textimmanenten Untersuchung, werde ich erst im vierten Kapitel darauf zurückkommen. Hier nur soviel: Wenn der Ich-Erzähler kokett von jener verdienstvollen Bescheidenheit spricht, die jeden zeitgenössischen deutschen Dichter ziert (58), straft er sich selbst Lügen, da er ja die Gelegenheit, sein Weihnachtsgedicht in aller Breite zu präsentieren, ausgiebig nutzt. Der Autor May, davon müssen wir ausgehen, war sich dieser Koketterie bewußt; ob er aber die ironische Distanz zum Ich-Erzähler immer bewahren konnte oder ob sich ihm selbst hin und wieder die Grenzen verwischten - bei jemandem, der mit seinen Figuren zu sprechen pflegte, durchaus vorstellbar -, sei dahingestellt.

   Bleiben wir daher bei Carpio und seinem Namen. Wenn wir noch einmal den Aspekt aufgreifen, daß es das ureigene Schicksal des Karpfens ist, gegessen zu werden, erkennen wir, daß der Name Carpio viel weniger auf eine ›stumme‹ Rolle hinweist als vielmehr auf seine Funktion des Opfers, mit der wir uns im folgenden Abschnitt noch ausführlich beschäftigen werden. Nun würde ein Dichter, wenn er diese Funktion schon mit einem ›sprechenden‹ Namen versehen will, dafür vermutlich eher auf den Fundus der Märtyrerlegenden zurückgreifen oder einen solchen Namen erfinden, als ausgerechnet den zoologischen Namen eines Fisches zu benutzen. Auch dieser Aspekt der Namenswahl enthält also ein unübersehbares Moment der Ironie, so wie es überhaupt bei der wechselseitigen Anrede der beiden Gymnasiasten Usus ist:

»Mein Sohn, ich habe dich ... gewarnt ...« (69)
»Also du auch, mein ehrwürdiger Vater! ...« (70)
»Lache nicht, oh du mein armes Schmerzenskind! ...« (70)
»Gute Nacht, lieber Urgroßvater! ...« (71)
»Gute Nacht, edler Meergreis; schlaf wohl!« (71)
»Schweig, gefühlloser Mongolenhäuptling!« (77)
»Lieber Mongole ...« (79)


So können wir uns vorstellen, daß Carpio als wieder einmal ›völlig unschuldiges Opfer‹ seiner eigenen Fehlleistungen oder derjenigen bösartiger Dritter von Sappho in genau dieser Weise angesprochen würde: »Oh du mein armer Silvesterkarpfen ...«


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   Es dürfte nebenbei deutlich geworden sein, daß May mit zwei Arten von Ironie operiert, einer offenen, die sich dem Leser unmittelbar als solche erschließt, und einer versteckten, die erst durch interpretierende Analyse zugänglich wird. Zur ersteren Kategorie gehören die launigen Schülerdialoge, zur letzteren die ironischen Implikationen der Namenswahl für Sappho und Carpio sowie der Beziehung zwischen Autor und Ich-Erzähler; etwa in der Mitte zwischen beiden steht die besondere Eigenart Carpios, die ich in der Vorbemerkung ein ›ironisches Vexierspiel mit dem Thema pathologischer Fehlleistungen‹ genannt habe. Man könnte fast, wäre das nicht eine Übersimplifizierung, von einer Ironie für Jugendliche und einer Ironie für Erwachsene sprechen. Auch dabei erweist es sich, daß der an der Oberfläche dieser Erzählung so ›leichte‹ Autor May mit komplexen Problemen aufwartet, sobald man ein wenig in tiefere Schichten vordringt. Auf keinen Fall sollten wir den Fehler begehen zu glauben, daß alle Bedeutungen seiner Werke, besonders derjenigen außerhalb des ›mystischen‹ Spätwerks, offen zutage liegen und auf einfache Weise der Interpretation zugänglich sind.



2.3 Sappho und Carpio im funktionalen Kontext: Opfer und Retter


Nachdem wir zuerst die ontologische Seite der Sappho-Carpio-Beziehung herausgearbeitet und dann die ironische Seite der Namenswahl beider Freunde beleuchtet haben, kommen wir nunmehr zur funktionalen Seite ihrer Beziehung, das heißt, zu Fragen folgender Art: Weshalb sind die beiden zusammen? Was haben sie voneinander? Unterhalten beide eine gleichwertige Beziehung? Welche Entwicklung durchläuft die Beziehung der beiden? Betrachten wir, wie der Erzähler Carpio einführt: Dabei schloß sich mir meist ein mir sehr sympathischer Mitschüler an, der, wenn auch nicht so arm wie ich, aber doch ebenfalls zur Sparsamkeit veranlaßt war. ... Wir pflegten ... der eine mit den Mitteln des andern zu rechnen, was zur Folge hatte, daß der, welcher mehr besaß, sich stets bemühte, heimlich dafür zu sorgen, daß der gegenwärtig Aermere nicht unter seinem augenblicklichen Proletariat zu leiden hatte. (23f.)

   Das klingt nach Parität; die Beziehung der beiden ist durch nichts motiviert als Sympathie und den Wunsch, gemeinsam zu wandern; auch ein wechselseitiges symbiotisches Bedürfnis nach dem anderen scheint es nicht zu geben. Doch besteht eine erste Einschränkung darin, daß der Freund sich dem Erzähler anschließt und nicht umgekehrt. Daher ist auch zu vermuten, daß der Erzähler, wenn er von treue(r) Anhänglichkeit (25) spricht, die Anhänglichkeit Carpios meint. Vollends ungleich wird das Verhältnis dadurch, daß der Erzähler diesmal aufgrund des gewonnenen Gedichtwettbewerbs und der verkauften Motette über eine erheblich höhere Barschaft verfügt als der Kamerad und dieser somit von ihm abhängig ist. (Wenn übrigens der


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Erzähler implizit behauptet, er habe einen psychischen Grund (25) für die treue Anhänglichkeit, also für das Zusammensein der beiden, genannt, sagt er die Unwahrheit, denn er hat sich unmittelbar zuvor lediglich über die mit der Planung der Reiseroute verbundenen romantischen Vorstellungen geäußert. Hier haben wir es entweder mit einer neuerlichen Ironie oder aber einer Fehlleistung des Autors zu tun; ich vermute das letztere und werde dem im vierten Kapitel nachspüren.) Unsere Feststellung, daß anstelle von Parität in Wirklichkeit eine gegenseitige unausgewogene Abhängigkeit besteht, ist zu erweitern, wenn wir die bereits zitierte Aussage Wir pflegten ... der eine mit den Mitteln des andern zu rechnen in näheren Augenschein nehmen. Hier geht es um mehr als nur ein selbstverständliches Prinzip freundschaftlicher Treue; vielmehr scheint sich der eine gewohnheitsmäßig auf den anderen zu verlassen, das heißt, Verantwortung für sich selbst zu delegieren. Mehr noch: der andere unterstützt diese Einstellung offenbar, indem er seine Hilfe nicht offen anträgt, sondern heimlich ausübt. Kann man aber eine solche Beziehung, in der ein bedenkliches Verhalten Usus ist und ohne jede Kritik unter der Hand gutgeheißen und gefördert wird, mit Fug und Recht überhaupt Freundschaft nennen? Wohl kaum, denn dort wäre es normal, entweder alle Ausgaben strikt zu trennen oder von vornherein die beiderseitige Barschaft ... in eine gemeinsame Reisekasse zu verschmelzen (24); das aber verneint der Erzähler ausdrücklich. Es wäre in einer Freundschaft normal, über alles zu reden und nichts, was den anderen betrifft, heimlich zu tun. Der scheinbar altruistische Gestus des Helfens wird durch das Element der Heimlichkeit zu etwas Unsicherem, Unverläßlichem, Überraschendem, zu einem Akt der Gnade und damit zu einer Demonstration von Machtausübung über den anderen, der sich blind darauf verlassen muß, daß ihn der andere nicht im Stich läßt; selbst wenn mögliche Zweifel an dessen Treue auch nur heimlich da sind, zerstören sie doch auf lange Sicht die Basis der Beziehung. Halten wir also als ersten Befund fest, daß das Verhältnis von Sappho und Carpio an der Oberfläche zwar freundschaftlich ist, darunter jedoch ungleich, instabil, geprägt von Abhängigkeit und Macht. Auf subtile Weise kündigt sich hier außerdem an, daß es bereits aufgrund dieser Ausgangskonstellation und der darin enthaltenen Ablehnung von Selbstverantwortung zu Schwierigkeiten kommen wird, aus denen der eine den anderen wird befreien müssen; noch aber ist nicht erkennbar, wie dabei die Rollen verteilt sein werden.

   Doch bald tritt im Verlauf der Erzählung als weiteres, die Fronten klärendes Element Carpios Zerstreutheit hinzu, die May zunächst geschickt schildert, ohne sie ein einziges Mal beim Namen zu nennen (27ff.). Dann aber wird er deutlich: Der mir liebe, immer ernste und stets fleißige Freund besaß einige Eigenschaften, welche leicht seine ganze Zukunft in Frage stellen konnten. Er war zunächst von einer geradezu kindlichen oder gar kindischen Harmlosigkeit ... Eine andere und zwar seine hervorragendste Eigentümlich-


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keit war eine Zerstreutheit, ... die aber doch schon versprach, später für ihn verhängnisvoll zu werden. (33f.)

   Nun könnte ein wahrer Freund mit einer gewissen zähen Unerbittlichkeit auf eine Änderung dieses selbstschädigenden Verhaltens hinwirken (wenn er auch höchstwahrscheinlich, da er kein Therapeut ist, damit überfordert wäre), und Sappho hat das wohl auch versucht: Ich hatte mir ... Mühe gegeben ..., aber leider auch nicht den kleinsten Erfolg gehabt. Im Gegenteile, wenn er auf seine Zerfahrenheit aufmerksam gemacht wurde, steigerte sie sich nur; er wurde ängstlich und beging ... noch viel größere Fehler als vorher. (34)

   Und daraus zieht Sappho für sein künftiges Verhalten nun bemerkenswerte Konsequenzen: Ich gab es also auf, ihn zu ändern; suchte seine Eulenspiegelstreiche soviel wie möglich zu vertuschen und gab mich, wenn ich mit ihm allein war, ebenso kindlich unbeholfen wie er selber. Dadurch hatte ich ihn wahrscheinlich noch fester als früher an mich gekettet. Wir schienen zwei unbedachtsame Kinder zu sein; er war auch eins; ich aber wachte heimlich über ihn und hielt, indem ich mir den Anschein gab ganz in seinem Willen aufzugehen, alle Unannehmlichkeiten möglichst fern von ihm. Er glaubte, selbständig zu handeln; in Wirklichkeit aber war ich es, nach dem er sich richtete, ohne es zu wissen. (34)

   Hier ist nun ganz deutlich, daß es tatsächlich um Machtausübung geht:51 Sappho hat Carpio an sich gekettet, Carpio handelt nicht mehr selbständig, richtet sich nach Sappho und ist sich dessen nicht bewußt. Wieder sind - nun nicht mehr überraschend - die Elemente des Vertuschens (von Carpios Fehlverhalten) und der Heimlichkeit (von Sapphos vorgeblicher Schutzfunktion, mit der er seine Machtausübung rechtfertigt) konstitutiv für das Entstehen des Verhältnisses von Abhängigkeit und Macht. Das einzig Erstaunliche daran ist, daß May dies offen auszusprechen wagt, daß er also in diesem Punkt das Prinzip der Heimlichkeit durchbricht. Denn wenn auch die ganze Gesellschaft nach dem Grundsatz von Macht und Abhängigkeit funktioniert, ist doch das Wissen darum mit einem Tabu belegt, an das außerhalb der esoterischen Kreise Fachliteratur studierender Intellektueller niemand rühren darf.

   Zu diesem Zeitpunkt haben wir eine wesentliche Eigenschaft der ungleichen Beziehung von Sappho und Carpio herausgearbeitet, die uns die ersten zwei Fragen, die wir eingangs dieses Abschnittes gestellt haben, nun anders beantworten läßt, als dies vielleicht zu erwarten gewesen wäre. Der ursprüngliche Grund für die Verbindung der beiden mag tatsächlich Sympathie gewesen sein; im Laufe der Zeit aber ist ein auf verdrehte Weise symbiotisches Spiel von Macht und Abhängigkeit daraus geworden. Verdreht deshalb, weil zwei echte Symbionten einander zum Leben brauchen und in der Regel an dem, was sie dem anderen abgeben, keinen wesentlichen Verlust erleiden. Carpio aber hat seine Selbständigkeit verloren zugunsten einer ›Überwachung‹ durch Sappho, deren Lebensnotwendigkeit zwar be-


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hauptet wird, die aber während der in der Jugend spielenden Episode des ersten Kapitels ziemlich überflüssig und unbemerkbar bleibt, da Carpios Fehlleistungen allenfalls ein Schmunzeln hervorrufen, ihn oder andere aber zu keinem Zeitpunkt wirklich gefährden, nicht einmal, als er am Wursthaken hängt und meint, nicht mehr allein herunterzukommen (75ff.). Sappho hingegen gewinnt durch die Rolle, die er Carpio gegenüber einnimmt, ohne echte Gegenleistung den Nimbus des Beschützers. Seine Beziehung zu Carpio hat also ganz wesentlich die Funktion, ihn selbst auf Kosten des anderen aufzuwerten.

   Wir haben es hier mit der aus der Gruppendynamik bekannten Konstellation von ›Opfer‹ und ›Retter‹ zu tun, für die es typisch ist, daß der Retter erst dadurch zu seiner Rolle findet, daß es überhaupt ein Opfer gibt, daß folglich seine Identität damit steht und fällt, ob es ihm gelingt, ein Opfer zu finden, an dem er sich rettend betätigen kann. Da Sappho sich für die Rolle des Retters entschieden hat, die er später nach seiner Verwandlung in Old Shatterhand in größerem Stil ausüben wird, hat Carpio gar keine andere Wahl, als das arme Opfer zu sein, das hofft, auf dem Weg zur Schlachtbank stets rechtzeitig in die Lüfte entführt zu werden: »Komm, du armer Silvesterkarpfen ...« Hier könnte man einwenden, daß auch das Opfer sich doch wohl seinen Retter suche und folglich die Beziehung von Sappho und Carpio in diesem Punkt wieder ausgeglichen sei. Dem ist entgegenzuhalten, daß es dem Opfer zunächst im Hinblick auf seine Rolle gleichgültig ist, ob es gerettet wird oder nicht; es wird zum Opfer nicht durch den Retter, sondern durch den ›Jäger‹, eine dritte Figur, von der bisher nicht die Rede war. Mir erscheint diese archetypische Konfiguration im vorliegenden Zusammenhang als so wesentlich, daß ich ihre Dynamik in einem kleinen Exkurs darstellen möchte.

   Die Konfiguration besteht, wie schon gesagt, aus den Figuren Jäger, Opfer und Retter. Das sieht zunächst simpel aus, da der Jäger das Opfer jagt, das wiederum vom Retter gerettet wird: zwei aktive und eine passive Rolle. Doch die Dynamik ist bei näherem Hinsehen etwas komplizierter. Wir haben schon gesehen, daß sich der Retter durch das Opfer definiert, das Opfer hingegen durch den Jäger. Genauer gesagt, bedingen sich aber Opfer und Jäger in der Tat gegenseitig, denn auch dieser wäre ohne das Opfer als sein Jagdobjekt kein Jäger, und, nicht zu vergessen, da sowohl Jäger wie Retter sich über das Opfer definieren, besteht zwischen beiden ein klammheimliches Einverständnis, eine Art Komplott, ja, sie können im Prinzip sogar ihre Rollen tauschen, während das Opfer stets und immer Opfer bleibt. Was aber zumeist übersehen wird, ist die Besonderheit, daß der Retter in seinem stillen Einvernehmen mit dem Jäger diesem geradezu den Jagdgrund vorbereitet, indem er dem Opfer seine Präsenz signalisiert und es in Sicherheit wiegt: Der Retter macht das Opfer erst dazu bereit, diese Rolle anzunehmen. Es kommt noch schlimmer: Der Retter, der aus seiner Rolle einen Prestigegewinn bei den Zuschauern dieses kleinen Dramas zieht (was sein ei-


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gentliches Motiv ist), ist weiter am Opfer gar nicht interessiert und schon gar nicht daran, es wirklich zu retten. Im Gegenteil: Wenn er das Opfer, anstatt es zu retten, nur erneut in Sicherheit wiegt, kann der Jäger erneut zuschlagen und kann das Spiel immer wieder von vorne beginnen, allerdings nur so lange, bis das Opfer die wahrlich miese Rolle des Retters durchschaut und sich selbst rettet.

   Übertragen wir dieses Modell nun auf Sappho und Carpio. Im Fall von Carpio haben wir es mit der Besonderheit zu tun, daß Jäger und Opfer identisch sind, daß Carpio zunächst nicht durch Dritte zum Opfer wird, sondern durch seine eigenen Fehlleistungen, was man ohne Frage pathologisch nennen darf. Wenn wir das stille Einvernehmen von Jäger und Retter in Betracht ziehen, wäre es durchaus plausibel, wenn Sappho selbst die Fehlleistungen Carpios provozierte, die ihn in Schwierigkeiten bringen; dafür finden sich jedoch keine Belege. Auf der anderen Seite finden sich aber - und das wiederum ist in völligem Einklang mit unserem Modell - auch keine Hinweise darauf, daß Sappho sich wirklich als Retter betätigt; er gibt ja, wie wir gesehen haben, nur vor, einer zu sein; und so muß Carpio die Schwierigkeiten, in die er gerät, durchaus allein auslöffeln, sei es etwa bei der ersten Begegnung mit dem Gendarmen, sei es nach der Auflösung seines Schülerpasses in Fidibusstreifen, sei es nach dem Verzehr des Quarkkuchens. Carpio wehrt sich gegen die Dominanz Sapphos nicht durch Emanzipation, sondern indem er in seinem pathologischen Muster verharrt und die Fehlleistungen zwar keineswegs leugnet, sie aber durchweg auf andere Urheber projiziert, darunter eben auch Sappho. Dieses Handeln aus Schwäche stärkt sein Gegenüber Sappho zusätzlich, der ihm seinerseits mit herablassender Überlegenheit begegnen kann: Armer, armer Carpio! Also so weit war es schon mit ihm gekommen! (321) Gleichzeitig ist aber Sappho in dieser von Macht und Abhängigkeit geprägten Konfiguration um die Chance gebracht, seine eigene Rolle zu erkennen, die Carpios Realitätsblindheit durch ihren Hang zu Vertuschung und Heimlichkeit und seine Schwäche durch ihre Machtausübung ganz wesentlich mit herbeigeführt und chronifiziert hat.

   Genau dieser qualitative Unterschied zwischen dem einst juvenil-unreifen, jetzt chronischen Fehlverhalten Carpios ist es auch, der den Wandel in der Beziehung markiert, wenn sich Sappho und Carpio nach vielen Jahren als Erwachsene wiederbegegnen. Sappho hingegen reagiert unverändert damit, daß er Carpios Fehlverhalten unter den Teppich kehrt und ihm den hilfreichen Spiegel vorenthält: Er ahnte natürlich nicht ... Ich hätte ihm dies wohl sagen können, hielt es aber bei seiner Unzuverlässigkeit für besser, darüber zu schweigen ... (324)

   Vor allem verschweigt er aber, nicht zuletzt vor sich selbst, daß - im Einklang mit der Dynamik - Carpio in seiner Rolle als Opfer durchaus zuverlässig und er selbst in seiner Rolle als Retter absolut unzuverlässig ist: ein klassischer Fall von Projektion. Zugleich ist er, in der Begleitung sowohl


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von Carpio als auch von Winnetou und daher in seiner Selbstwahrnehmung schwankend zwischen Sappho und Old Shatterhand, viel weniger als früher bereit, die Persönlichkeitsdefekte des Gefährten zu entschuldigen: Carpio war ein Hindernis ... (325) Jener ist dies um so mehr, als seine Opferrolle nun tatsächlich zusätzliche Personen als Jäger auf den Plan gerufen hat: Er war für die Absichten Corners und seiner Genossen ein Opfer, ein Werkzeug gewesen, wie sie es sich gefügiger gar nicht hätten denken können. (327)

   Doch Sappho ist daneben bewußt, daß Carpio sterbenskrank ist, und so hat das letzte Drittel der Erzählung auch die Funktion eines langen Abschiednehmens, untermalt vom Opfer-Retter-Leitthema. Wie es sich für den Retter in der neurotischen Konfiguration gehört, trifft er bei Carpio, der das Aussehen einer Leiche hatte und mir in einer in das Herz schneidenden Weise matt entgegenlächelte (475), im Grunde zu spät ein. Es vergehen zwar noch einige Wochen, aber Carpio erholt sich nicht mehr von den voraufgegangenen Strapazen: Sein Tod war sicher, und ich kann gar nicht sagen, wie wehe das meinem Herzen that! (497) Und so geht Carpio denn seinem Tode entgegen, ohne daß es zwischen den beiden jemals zu einer Aufarbeitung ihrer Beziehung käme. Auf den letzten Seiten ist alles nur noch Liebe und Rührung und Abschied, bis er, Sapphos Gedicht auf den Lippen, stirbt. Ich war tief erschüttert und weinte wie ein Kind (518), und diese Tränen gelten vermutlich ebenso dem Tod des Gefährten wie dem Untergang der den Retter konstituierenden Person, der Auflösung der eigenen Persona Sappho und dem rührenden Umstand, in dieser Situation das eigene Gedicht zu hören. Gerade dieses Weihnachtsgedicht thematisiert in charakteristischer Weise noch einmal das Motto des Retters, der vage und unverbindlich die Rettung verspricht, ohne dieses Versprechen jemals einlösen zu müssen:


Darum gilt auch dir die Freude,
Die uns widerfahren ist,
Denn geboren wurde heute
Auch dein Heiland Jesus Christ!
(519)

Diese Botschaft hat nur eine Bedeutung im Kontext des Glaubens, und Glaube ist das, was das Opfer an den Retter bindet. Es ist daher nur recht und billig und entspricht gänzlich der Dynamik dieser Konfiguration, daß kein anderer als das Opfer dazu ausersehen ist, dieses aus der Feder des Retters stammende, vorgefertigte Bekenntnis vorzutragen.52

   Schmiedt gelangt in diesem Zusammenhang von richtigen Beobachtungen zu nicht gerade falschen, aber doch unvollständigen Schlußfolgerungen. Er zitiert Carpio, der an Old Shatterhand (auch hier hätte es ›Sappho‹ heißen müssen) als Retter appelliert und sich dabei selbst in der Rolle eines Kindes gegenüber der Mutter sieht. Schmiedt erkennt die biographische


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Anspielung: »Aber  d i e s e  Mutter, die sich, da May sie nicht in ihrer individuellen Persönlichkeit, sondern in ihrer Funktion für den hilflosen, blinden Knaben herbeiruft, in den mächtigen Old Shatterhand verwandeln kann, versagt ihre Zuneigung nicht, und wenn sich schließlich herausstellt, daß der Held ›gar nichts für ihn (...) thun‹ kann, geschieht es zu Shatterhands schwerem Kummer.«53 Mit dem Wissen um die Dynamik der Opfer-Retter-Beziehung hätte Schmiedt gesehen, daß dieser Ausgang unvermeidlich war, schon deshalb, weil es zwar für den Retter rollenkonform ist, ›Zuneigung nicht zu versagen‹, diese Haltung aber zur Rettung des Opfers kaum etwas beiträgt, und daß der ›schwere Kummer des Helden‹ daher bei genauem Hinsehen an Krokodilstränen erinnert. Und weiter: Es wäre möglich geworden, diese verhängnisvolle Dynamik auch auf die Familienkonstellation aus Mays Kindheit zu übertragen, mit May als Opfer, seinem Vater als Jäger und seiner Mutter als Retter.

   Damit sei dieser Teil der Interpretation abgeschlossen. Es ist May ganz offenbar gelungen, eine psychologisch ›hochinteressante‹ Konstellation literarisch in spannender Weise abzubilden. Da zudem die Dynamik von Opfer und Retter der allgemeinen Erfahrung entspricht, ist seine Darstellung in dieser Hinsicht von hoher Glaubwürdigkeit, so wie es einst Aristoteles gefordert hat: »Das Unmögliche, das wahrscheinlich ist, verdient den Vorzug vor dem Möglichen, das unglaubwürdig ist.«54



2.4 Carpios langsames Sterben: Aus der Werkstatt des Dichters


Lassen Sie uns für eine weitere Untersuchung am Text eine Frage stellen, die weniger mit der Beziehung von Sappho und Carpio zueinander als mit der Anlage der Figur Carpios allein zu tun zu haben scheint: Mußte Carpio denn wirklich sterben? Oder, mit aller gebotenen Vorsicht ein wenig anders gefragt: Hatte May überhaupt von Anfang an die Absicht, Carpio sterben zu lassen? Ich werde zeigen, daß die von May letztlich gewählte Lösung das Verhältnis der beiden zueinander nicht unwesentlich bestimmt.

   Schon auf der zweiten Seite erklärt der Ich-Erzähler zwei Bibelzitate zu den Leitmotiven seines Lebens und seiner Erzählung: Der eine Spruch lautet Hiob 19,25: »Ich weiß, daß mein Erlöser lebt, und er wird mich aus dem Grabe auferwecken«, und der zweite ist eben die Verkündigung des Engels: »Siehe, ich verkündige Euch große Freude - - - denn Euch ist heute der Heiland geboren - - -«. (10)

   Es ist nun meines Erachtens verfehlt, aus der Erwähnung des Grabes im ersten Bibelwort den Schluß zu ziehen, daß hier bereits Carpios Tod angedeutet wird, denn es geht ausdrücklich um Zitate, die einen tiefen, unauslöschlichen Eindruck auf mich machten (10), also auf den Ich-Erzähler, und die folglich von ihm auf sich selbst bezogen werden, nicht auf einen


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Dritten. Der Satz »... er wird mich aus dem Grabe auferwecken« (10) drückt somit die Erlösungshoffnung des Ich-Erzählers aus, nicht die motivische Vorwegnahme der Sterbeszene eines anderen. Außerdem geht es dabei um die Erlösung von irdischer Schuld nach der Auferstehung nach dem Tode, während der Tod Carpios die Erlösung von einem leidensvollen Leben illustriert; mithin sind es zwei völlig verschiedene Arten von Erlösung.

   Auch aus der Art, wie Carpio in die Erzählung eingeführt wird, können wir nicht entnehmen, daß der Autor seinen Tod geplant hat: Eine andere und zwar seine hervorragendste Eigentümlichkeit war eine Zerstreutheit, ... die aber doch schon versprach, später für ihn verhängnisvoll zu werden. (33f.) Das bedeutet zwar, daß für Carpio noch einige Verwicklungen geplant sind, an denen seine Zerstreutheit maßgeblichen Anteil hat, aber es ist nicht erkennbar, daß sie für ihn tödlich sein sollen. Im Gegenteil: Am Ende wird sein Tod auch tatsächlich die Folge nicht seiner Zerstreutheit, sondern einer schicksalhaften Verbindung von physischer Erschöpfung und Lebensmüdigkeit sein. Was an dieser Stelle auffällt, ist die merkwürdig begrenzte, im Damals fokussierte Perspektive des Ich-Erzählers, der doch aus einer zeitlich nach den letzten Ereignissen liegenden Position berichtet und daher wissen müßte, wie die Geschichte ausgeht. Ohne diese Beobachtung überzubewerten, haben wir hier doch immerhin einen Hinweis darauf, daß May vielleicht zu diesem Zeitpunkt selbst noch nicht sicher wußte, wie seine Erzählung enden sollte.

   Dabei ist zu berücksichtigen, daß May nach eigener Aussage gewohnt war, linear sofort in Reinfassung zu schreiben, ohne den Text anschließend noch einmal zu überarbeiten und von eventuellen Unstimmigkeiten oder logischen Brüchen zu bereinigen.55 Abgesehen von der damit vollbrachten Gedächtnisleistung ergibt sich für den Autor daraus das Problem, entweder von Anfang an die gesamte Fabel im Kopf zu haben und bei der insofern eingeschränkten Kreativität den Prozeß des Schreibens zu einem handwerklichen Ausformulieren zu degradieren oder sich den kreativen Spielraum zu bewahren und dabei zu riskieren, sich während der Niederschrift von der ursprünglichen Fabel und schon angedeuteten Handlungsverläufen zu entfernen. Die einzige Möglichkeit, in letzterem Fall der Erzählung die Konsistenz zu bewahren, besteht darin, von Anfang an mit einer begrenzten Perspektive zu operieren; daher kann umgekehrt diese ein Indikator dafür sein, daß May eher die zweite Variante des Schreibens vorzog.56 Die Möglichkeit, daß so auch die Fabel der Erzählung ›»Weihnacht!«‹ erst während des Entstehungsprozesses vollständig ausgeformt wurde, ist daher nicht von der Hand zu weisen.

   Die erneute Begegnung mit Carpio im Wilden Westen im dritten Kapitel wird nun vom Ich-Erzähler völlig anders beleuchtet: Die Augen lagen tief in ihren Höhlen; die Wangen waren eingefallen, und seine Haltung war eine so müde, als ob er mehrere Tage lang nicht aus dem Sattel gekommen wäre.


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Uebrigens werde ich mich wohl hüten, von der Art und Weise zu sprechen, wie er auf dem Pferde saß. Ich habe meinen guten Carpio noch heute viel zu lieb, als daß ich so rücksichtslos sein möchte, ihn in den Augen meiner lieben Leserinnen und Leser so schmählich herabzusetzen ... Er sah so elend, so mitleiderweckend aus, daß ich am liebsten hinausgesprungen wäre, um ihn an das Herz zu drücken ... (306f.)

   Erstens haben wir hier die Erscheinung eines todkranken Menschen in Evidenz, zweitens sieht der Wunsch des Ich-Erzählers, ihn an das Herz zu drücken, wie ein Vorgriff auf die Sterbeszene aus - Ich erfüllte seinen Wunsch und hielt ihn an meinem Herzen fest (517) -, und schließlich zeigt auch der Wechsel des zeitlichen Standorts des Ich-Erzählers, der von heute aus seine lieben Leserinnen und Leser anspricht, daß er jetzt den Ausgang der Geschichte kennt. Auch wenn May Carpios Tod ursprünglich nicht beabsichtigt gehabt haben sollte - und diese Frage konnten wir bisher noch nicht eindeutig entscheiden -, ist hier die Möglichkeit von Carpios Tod zum ersten Mal zumindest angedeutet. Nur wenig später wird freilich die Andeutung zur Gewißheit, wenn May Winnetou sagen läßt: »... Dein Schützling ist nicht nur krank am Geiste, sondern auch krank am Körper; ich habe es ihm angesehen, gleich als mein Auge auf ihn fiel. ... Wir werden ihn vor dem Tode im eisigen Wasser des Finding-hole bewahren, aber dennoch wird er weder das Land seiner Vorfahren noch auch nur die grünen Prairien des Kansas oder die häuserstarrenden Städte des Ostens wiedersehen, denn der Schnee des Westens wird auf die Stelle fallen, wo das Erbarmen der Erde ihn willkommen heißt ...« (325f.)

   Rückblickend ergibt sich damit für das vorangehende Zitat (306f.) nur eine mögliche Interpretation: Die Formulierung, er habe ihn noch heute viel zu lieb, bedeutet, daß er sich seiner als einer vergangenen, verstorbenen Person erinnert, und die Erklärung, er wolle nicht so rücksichtslos sein ..., ihn ... schmählich herabzusetzen, ist als Paraphrase auf das Motto ›de mortuis nil nisi bene‹ zu verstehen.

   Der Ich-Erzähler verstärkt zudem Winnetous Prophezeiung, indem er sie durch eigene Beobachtungen von Carpios Verfallssymptomen ergänzt, vor allem seiner Energie- und Antriebslosigkeit, einer hilflosen Gleichgültigkeit ..., die alles ohne Widerstand mit sich machen ließ, die ihn ebenfalls zu der Überzeugung führen, daß wir gezwungen sein würden, ihn hier auf den Höhen des Felsengebirges zu begraben. (327) Das klingt nicht mehr nach Zerstreutheit als hervortretendem Charakterzug, sondern nach tiefer seelischer Depression auf seiten Carpios, die sich auf seiten Sapphos, der allzu schnell bereit ist, den Freund aufzugeben, als Resignation spiegelt. Aber hat Carpio seinen Lebenswillen denn wahrhaftig völlig verloren? Appelliert er nicht mindestens zweimal an Sappho, ihn zu retten?


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»Verlaß mich nicht, Sappho, verlaß mich nicht! Ich gehe sonst zu Grunde. Der Onkel mag mich nicht leiden, und die andern trachten mir gar nach dem Leben!« (313)


»... Rette mich, Sappho, rette mich! Ich kann dir freilich dabei gar nicht helfen, denn ich bin so unwissend und so schwach, daß ich nach dir greifen muß, wie ein kleines Kind sich an die Rockfalten seiner Mutter hängt. Wir wollen wieder einmal jung sein und mit einander in die Berge wandern!«57

   Er reichte mir weinend seine Hand; ich drückte sie ihm tief bewegt, versuchte aber, ihn durch einige heitere Worte anzuregen:

   »Ja, wollen in die Berge wandern! Wir sind ja schon mitten drin. Weißt du vielleicht, welchen Kurs heut der Gulden hat?«

   »Gar keinen mehr, denn ich bin der Gulden, für den man keinen Pfennig zahlt. Wenn es dir nicht gelingt, mich wieder in Kurs zu bringen, ist es für immer mit mir aus!« (332)


Im Grunde ist es erstaunlich, wie Sappho darauf reagiert. Wenn er als Ich-Erzähler berichtet, Carpio sei anschließend in seine frühere Teilnahmslosigkeit zurückgefallen (332), scheint es sich um eine offensichtliche Projektion zu handeln, denn es ist nicht zuletzt Sapphos eigene Teilnahmslosigkeit, die sich in stummen Ausrufen58 wie Armer, armer Carpio! ergeht, ohne wirklich zu handeln, die den Freund zugrunde gehen läßt. Und das ist erst recht bemerkenswert, wenn wir berücksichtigen, daß derselbe Ich-Erzähler als Old Shatterhand das Handeln gewohnt ist.

   Grundsätzlich gibt es verschiedene Möglichkeiten, einen leidenden Menschen zu erlösen, wenn dieser nicht gerade unheilbar krank ist; neben dem Tod als finalem Ausgang bleibt ja immerhin die Heilung und Rückführung der Person ins Leben. Wenn wir uns fragen, ob es für Carpio eine solche Hoffnung gegeben habe, sollte uns doch auffallen, daß sich schon beim Wiedersehen mit Carpio in Old Shatterhands Begleitung ein gewisser Dr. Rost befand, der eigentlich dazu prädestiniert gewesen sein müßte, den entkräfteten ehemaligen Schulfreund wiederherzustellen:


   »... es genügt, zu sagen, daß ich vor einem halben Jahre die St. Louis-Universität mit guten Zeugnissen verlassen habe. ... Ich bin Mediziner, mag aber von Medizin, wie sie von unsern Aerzten verordnet und gegeben wird, nichts wissen. Ich bin vielmehr der Ansicht, daß der kranke Körper, wenn er überhaupt noch Lebensfähigkeit besitzt, keine fremden, wohl gar giftigen Stoffe in sich aufzunehmen braucht, um wieder gesund zu werden ...« (121)


   Bemerken will ich, daß er eine zwar kleine aber umsichtig zusammengesetzte Apotheke bei sich trug und auch eine Anzahl chirurgischer Instrumente mitgenommen hatte. Er nahm als möglich oder auch wahrscheinlich an, daß er in die Lage kommen werde, von ihnen einmal Gebrauch machen zu können. (262f.)


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Betrachten wir, welche Funktion diese Figur, die immerhin schon zu Beginn des zweiten Kapitels eingeführt wird, im Rahmen der gesamten Erzählung hat. Nachdem Rost als Kellner mit Doktortitel in Weston die Bekanntschaft mit dem noch als Karl Meier auftretenden Old Shatterhand geschlossen hat, darf er ihn und Winnetou auf dem Ritt zu den Shoshonen und zur Befreiung des von den Kikatsa gefangenen Hiller begleiten. Im Dialog mit Old Shatterhand lernt er dabei manches über das Lesen von Spuren und das Verhalten eines Westmannes; seine Funktion ist hier also gewissermaßen als Stellvertreter des Lesers zunächst nur didaktischer Art. Später ist er mit Carpio und Old Shatterhand Gefangener der Upsaroka und Zeuge des ›Kampfes auf Leben und Tod‹. Als die Gesellschaft endlich am Finding-hole angelangt ist, darf er drei Tage vor Weihnachten mit Old Shatterhand eine zum Christbaum passende Tanne ... schneiden (497), bekommt am Heiligen Abend von Winnetou ein paar Nuggets beschert (510) und darf schließlich zum weiteren Studium bei den Shoshonen bleiben: Er ist jetzt einer der angesehensten Naturärzte des Ostens und - - - ein Leser meiner Reiseerzählungen. (520)

   Das ist sehr wenig an erzählerischer Funktion für eine Figur, die so sorgfältig konstruiert und mit Attributen ausgestattet wurde. Wenn es May in erster Linie darum ging, an ihm die Erziehung zum Westmann zu demonstrieren, warum mußte es ausgerechnet ein Mediziner mit guten Zeugnissen, einer umsichtig zusammengesetzte(n) Apotheke und einer Anzahl chirurgischer Instrumente sein, die alle ausdrücklich, also mit erzählerischer Absicht, erwähnt werden? Ein guter Erzähler wird schon aus Gründen narrativer Ökonomie und Stringenz niemals solche Details in eine Erzählung einführen, wenn er nicht beabsichtigt, von ihnen Gebrauch zu machen;59 Dr. Rost hingegen erhält zu unserer Verwunderung überhaupt keine Gelegenheit, mehr von seinen medizinischen Kenntnissen zu zeigen als den ›running gag‹ des Kaputzenmuskels im Munde zu führen. Mehr noch: Wenn er Old Shatterhand und Winnetou sozusagen als Tourist begleiten darf, ohne ihnen eine Hilfe zu sein, ist er als Figur im Grunde überflüssig. Da wir aber May keine grundsätzliche Schlamperei unterstellen dürfen, schon gar nicht in seinen späteren Reiseerzählungen, und da im Gegenteil sogar (etwa von Stolte) auf die kompositorischen Qualitäten gerade dieser Erzählung hingewiesen worden ist, läßt sich daraus, wie ich meine, nur ein möglicher Schluß ziehen: Bis zum Anfang des dritten Kapitels beabsichtigte May, diesen Arzt auch als solchen tätig werden zu lassen; er hätte die Funktion einer weiteren positiven Hauptfigur gehabt mit der besonderen Aufgabe, Carpio mit den Mitteln natürlicher Medizin von seinen Depressionen zu heilen und ins Leben zurückzuführen. Dann und nur dann wäre die hervorgehobene Position des Arztes gerechtfertigt. Mit einer solchen Fabel hätte sich zudem die weihnachtliche Erlösungsbotschaft als ›Evangelium‹ möglicherweise besser illustrieren lassen als mit dem Tod Carpios am Heiligen Abend, der auf diese Weise nicht mit fröh-


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lich erhobenen Herzen, sondern in allgemeiner tränenreicher Rührseligkeit endet.

   Wenn wir übrigens den Hinweis auf die Naturmedizin des Dr. Rost60 und Mays bekannte Sympathie für die homöopathische Medizin Samuel Hahnemanns und seines ›Erben‹ Willmar Schwabe61 mit Carpios Familiennamen Lachner in Verbindung bringen, sollte uns das homöopathische Konstitutionsmittel ›Lachesis‹ in den Sinn kommen, das potenzierte Sekret aus den Giftdrüsen der lanzenförmigen Viper: »Lachesis paßt sowohl für die pastöse, phlegmatische Konstitution wie auch für magere, erschöpfte und depressive Kranke.«62 Nun ist in Mays Bibliothek kein Werk nachzuweisen, das eine solche Beschreibung enthalten hätte; zeitgenössische Beschreibungen sind außerdem in ihrer therapeutischen Aussage meist sehr viel weniger dezidiert.63 Es wäre daher eine gewagte Spekulation anzunehmen, daß May den Namen Lachner nicht nur in Anspielung darauf bewußt gewählt hat, um den mageren (progressive Muskelatrophie), erschöpften (Schlafleiden), depressiven (Seelenleiden) Carpio zu charakterisieren,64 sondern sogar richtig erkannt hat, daß Lachesis das Mittel der Wahl gewesen wäre, um ihn zu retten. Wenn dies jedoch zuträfe, könnten wir den Umstand, daß der Name Lachner ebenso wie die Figur des Dr. Rost bereits im zweiten Kapitel (259) erstmalig erwähnt wird, als weiteres Indiz dafür werten, daß der Autor zu diesem Zeitpunkt noch die Wiederherstellung Carpios im Sinn hatte.

   May hat sich aber mitten in der Erzählung gegen diese Fabel entschieden. Als der Ich-Erzähler Carpio wiedergefunden hat, darf auf einmal nicht der anwesende, zweifellos kompetente und ursprünglich wohl auch für diese Aufgabe vorgesehene Arzt eine fundierte Diagnose stellen, eine Therapie vorschlagen und eine fachliche Prognose äußern, sondern Winnetou betätigt sich als unfehlbares Orakel. Welch ein herrlicher Mann! (326) So ruft der Ich-Erzähler angesichts des vom Autor verhängten Todesurteils aus, weil der Indianer seiner Prophezeiung einige kanzelhafte Ermahnungen über die Nächstenliebe einem Sterbenden gegenüber hinzugefügt hat. Die Frage, weshalb May sein ursprüngliches Konzept änderte, vielleicht sogar ändern mußte, leitet von dieser Betrachtung über zur psychologischen Deutung. Eines jedenfalls ist klar: Erst mit dem Untergang des Opfers wird der Retter, der leider zu spät kam, zum wahrhaften Heros. Würde hingegen Carpio am Leben bleiben, gar geheilt werden und damit seine Opferrolle hinter sich lassen, müßte Sappho seine Beziehung zu ihm völlig neu definieren; falls das überhaupt gelänge, wären Komplikationen, so etwa Spannungen aus der Position Carpios gegenüber der Freundschaft von Old Shatterhand und Winnetou, die unausweichliche Folge. Anders gesagt: Der Tod Carpios stellt auf die einfachste Weise wieder klare Verhältnisse her. Aus erzähltechnischer Sicht wäre diese Lösung aber nicht erforderlich, denn hier ließe sich ja, wie im Film, auf elegante Weise sozu-


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sagen ›nach dem Happy-End abblenden‹, ohne weitere Verwicklungen überhaupt nur anzudeuten.

   May hatte also, soviel hat unsere Untersuchung ergeben, wohl nicht von Beginn der Erzählung an den Tod Carpios beabsichtigt, sondern hat sich erst nach dem geschilderten Wiedersehen mit Carpio dafür entschieden. Diese Veränderung der Fabel führte zu einer Abwertung der Figur des Dr. Rost und zu einer seltsam fatalistischen, teilnahmslosen Haltung aller Personen gegenüber dem langsamen Sterben Carpios. Insbesondere verpaßt Sappho auf diese Weise die Gelegenheit, sich in einen wirklichen Freund zu verwandeln, und verstrickt sich statt dessen noch mehr in die psychologisch fragwürdige Rolle des Retters.



2.5 Carpio oder Winnetou: Bedeutung der Sappho-Carpio-Konstellation als Leitthema


Zum Abschluß unserer textimmanenten Interpretation der Carpio-Sappho-Beziehung, deren wichtigste Aspekte damit beleuchtet sein dürften, wollen wir noch untersuchen, wie die Ausgestaltung der einzelnen Figuren innerhalb der Erzählung gewichtet ist, um auf einem quantitativen Weg festzustellen, welche Bedeutung der Sappho-Carpio-Konstellation insgesamt zukommt. Es besteht ja daneben noch eine Reihe weiterer Erzählstränge, deren Präsenz zuweilen diese Konstellation so stark überlagert, daß nicht leicht zu entscheiden ist, ob sie wirklich das Hauptmotiv bildet.

   Wir wählen einen verhältnismäßig einfachen und leicht nachvollziehbaren Ansatz, indem wir jede Seite der Erzählung bewerten einerseits nach der Person, die darauf dominiert, andererseits nach der Art, wie das geschieht, ob im Dialog, im Agieren (Erzählerbericht) oder im Erzählerkommentar (darunter zählen wir hier auch innere und erzählte Monologe sowie Landschaftsbeschreibungen); wo sich zwei Personen im Dialog oder in einem Handlungszusammenhang befinden, wird beiden jeweils die halbe Seite zugerechnet; ist der Gegenstand eines Dialoges eine dritte Person, wird das nicht berücksichtigt. Wenn sich etwa der Ich-Erzähler den Erziehungsstil von Carpios Vater ins Gedächtnis ruft (295-297), zählt dies zur Person ›Carpio‹ in der Spalte ›Kommentar‹. Entscheidend ist, daß wir bei der Auszählung in bezug auf den Ich-Erzähler zwischen ihm und den Personae Old Shatterhand und Sappho differenzieren. Daraus ergibt sich insgesamt folgendes Bild, nach abnehmender Häufigkeit geordnet:65

Person
Dialog
Aktion
Kommentar
Gesamt
Ich-Erzähler (Karl May, Karl Meier)37,522,523,583,5
- Old Shatterhand49,030,52,081,5
- Sappho30,04,01,535,5
Carpio34,512,59,056,0


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Winnetou19,514,57,541,5
Elise Wagner/Frau Hiller22,52,50,525,5
Dr. Rost21,02,00,523,5
Prayer-man/Sheppard14,54,51,020,0
Peteh7,57,03,017,5
Watter13,52,5 - 16,0
Yakonpi-Topa14,01,0 - 15,0
Wirt Franzl9,54,5 - 14,0
Hiller9,50,53,513,5
Corner6,53,01,010,5
Der alte Lachner7,01,02,010,0
Eggly6,01,00,57,5
Wirt in Weston7,0 - - 7,0
Sheriff in Weston4,50,5 - 5,0
Reiter4,00,5 - 4,5
Vater von Elise Wagner3,01,0 - 4,0
Amos Sannel2,02,0 - 4,0
Kantor3,5 - - 3,5
Welley1,02,0 - 3,0
Gendarm1,50,5 - 2,0
Frau des Wirtes Franzl1,50,5 - 2,0
Schuldirektor0,5 - - 0,5
Sonstige Personen6,02,00,58,5


Zunächst können wir feststellen, daß tatsächlich Carpio mit deutlichem Abstand vor Winnetou die wichtigste Person nach dem Ich-Erzähler und den von ihm verkörperten Gestalten ist. Mit Hilfe dieser rein quantitativen Analyse ist somit die Berechtigung des Etiketts »letzte Winnetou-Erzählung«66 noch fragwürdiger geworden.

   Man könnte nun meinen, daß die Konfiguration Old Shatterhand-Winnetou (123 Seiten) dennoch gegenüber der Konfiguration Sappho-Carpio (91,5 Seiten) dominiert; doch in dieser Hinsicht vermittelt die vorstehende Tabelle nicht das richtige Bild, denn die Addition der den jeweiligen Figuren gehörenden Werte ist schlicht unzulässig, weil die kumulierten Einzelwerte nichts über den interaktiven Kontext der Figuren aussagen. Betrachten wir statt dessen eine zweite Auswertung, in der nur diejenigen Seiten ausgezählt sind, die jeweils zwei Partnern zugeordnet wurden; danach sind die zehn häufigsten Konfigurationen:

Erste Person
Zweite Person
Seiten
SapphoCarpio59,0
Old ShatterhandWinnetou29,0
Old ShatterhandDr. Rost25,0
Old ShatterhandYakonpi-Topa25,0
Ich-Erzähler (Karl May, Karl Meier)Watter23,0
Ich-Erzähler (Karl May, Karl Meier)Elise Wagner/Frau Hiller22,0


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Old ShatterhandPeteh17,0
Ich-Erzähler (Karl May, Karl Meier)Prayer-man/Sheppard13,0
Ich-Erzähler (Karl May, Karl Meier)Dr. Rost10,0
SapphoWirt Franzl10,0


Hier bemerken wir, daß die Interaktion zwischen Sappho und Carpio gegenüber derjenigen zwischen Old Shatterhand und Winnetou bei weitem überwiegt. Eine kleine Umrechnung zwischen beiden Tabellen bestätigt außerdem meine obige These, daß die Persona Sappho durch die Begegnung mit Carpio hervorgebracht wird,67 während die Persona Old Shatterhand auch unabhängig von Winnetou besteht.68 Da übrigens mit dieser Auszählung auch alle ›sprachlosen‹ Interaktionen erfaßt werden, ist damit auch die von Schmiedt geforderte »detaillierte Analyse« geleistet, die mit Blick auf »die anhaltend sprachlose Kommunikation zwischen Shatterhands Freund Winnetou und seinem Schützling Carpio«69 deren relative Irrelevanz erweist; in der obigen Tabelle erscheint sie gar nicht erst.70

   Vor allen anderen Erzählsträngen bildet somit tatsächlich das Geschehen um die Sappho-Carpio-Konstellation den dominierenden Motivkomplex von ›»Weihnacht!«‹. Darüberhinaus wird das Gewicht der Figur des Dr. Rost noch einmal überdeutlich, der alles andere als eine Nebenperson ist, während Figuren wie der Gendarm oder der Schuldirektor, die in früheren Interpretationen wegen ihres Bezuges zur Biographie Mays hervorgehoben wurden, zur Bedeutungslosigkeit herabsinken.



3. Biographische Spuren


Wenn wir im folgenden die Erzählung ein zweites Mal, jetzt im Hinblick auf das von May verarbeitete autobiographische Material, einer näheren Betrachtung unterziehen, soll unsere Aufgabe darin bestehen, Begebenheiten, Namen und Orte zu entschlüsseln und in eine Bezi-


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hung zu Mays Leben zu setzen. Wir wollen uns dabei auf äußere Umstände beschränken, soweit sie für das Verhältnis der Figuren Sappho und Carpio von Belang sind; schon hier sei aber der Hinweis angebracht, daß nicht einmal hier alles zu belegen ist und daher manches, wie auch schon etwa bei Ilmer und Graf, Spekulation bleiben muß. Was wir an dieser Stelle hingegen nicht tun werden, ist, mutmaßlichen Spiegelungen der seelischen Entwicklung Mays, seinen Traumatisierungen, Ängsten, Hoffnungen und Motivationen nachzugehen; dies sei dem vierten, ›psychologischen‹ Kapitel vorbehalten.



3.1 ›Sappho‹ und ›Carpio‹: Dichtung oder Wahrheit?


Wir wollen die Untersuchung mit der Frage beginnen, welche Herkunft die ungewöhnlichen Namen der beiden Freunde haben und in welcher Beziehung sie zu May stehen. Es ist zu notieren, daß niemand diese Untersuchung bisher geleistet hat; es reicht beispielsweise nicht aus, daß Graf seine Anmerkungen zu der antiken Sappho (die im übrigen nur die von altersher bestehenden Vorurteile dieser Dichterin gegenüber referieren, wie sie sich, da sie auf der Insel Lesbos lebte, noch heute im Attribut ›lesbisch‹ abgebildet finden; in Wahrheit war Sappho verheiratet und hatte eine Tochter namens Kleïs - aber Vorurteile haben ihre eigene Realität) unvermittelt mit dem Satz enden läßt: »Meines Erachtens läuft es letztlich, auf die eine oder andere Weise, nahezu zwangsläufig auf den dargestellten autobiographischen Sachverhalt71 des Masturbierens hinaus.«72 Hier ist es Graf augenscheinlich nicht gelungen, den logischen Zusammenhang zwischen einer angeblich homosexuellen Dichterin und Mays onanistischen Eskapaden schlüssig herzustellen; der Künstlername Sappho bedarf daher einer anderen Deutung. Ilmer wiederum deutet Sappho und Carpio zwar scharfsinnig, doch ausschließlich aus psychologischer Perspektive und greift damit, wie ich meine, über das Naheliegende hinaus. Ich behaupte nun, daß sowohl Carpio als auch Sappho nicht nur Spiegelungen des Autors sind, sondern beide wenigstens einen Teil ihrer literarischen Existenz, ihre jeweiligen Namen, konkreten biographischen Erlebnissen Mays verdanken und somit in dieser Hinsicht aus bewußten Verschlüsselungen hervorgegangen sind.

   Zur Entstehung des Künstlernamens Sappho biete ich folgendes erdachte, aber plausible Szenario an. Nehmen wir an, daß sich May bereits zum Zeitpunkt des von Graf dokumentierten Plauener Skandals in kleinen poetischen Fingerübungen erging, wahrscheinlich Gedichte schrieb, wie dies so viele Halberwachsene tun. Unser Anhaltspunkt für diese Vermutung ist neben dem Umstand, daß May die Transposition der Affäre ausgerechnet in einen Gedichtwettbewerb wählte - ich gehe mit Graf davon aus, daß die Teilnahme am Gedichtwettbewerb und das folgende Einzelgespräch mit dem eher freundlich gesonnenen ›Alten‹ zu Mays Plauener Erlebnissen gehört, die ja für ihn auch ohne äußerlich negative Folgen blieben, während ich bezüglich des auch in der Erzählung zeitlich vorangehenden Diebstahls der Motette mit Ilmer meine, daß er das Waldenburger Vergehen des Kerzendiebstahls reflektiert73 -, die bekannte biographische Vermutung, daß bereits der 15jährige May, damals Schüler des Proseminars in Waldenburg, seine ›erste Liebe‹ Anna Preßler74 mit selbst verfaßten und vertonten Gedichten umworben habe.75 Unterstellen wir weiterhin, daß er auch jetzt heimlich dichtete und das Geschriebene im Schlafraum versteckte, vielleicht sogar im Bett. Nun wissen wir, daß im Zuge der Untersuchung diese Räumlichkeiten und insbesondere die Betten durchsucht wurden.76 Wie weit hergeholt ist dann die Annahme, daß etwas aus seiner Hand, seien es auch nur ein paar gereimte Zeilen, gefunden wurde? (Wir wollen die Spekulation an dieser Stelle noch nicht einmal so weit treiben, daß es sich dabei um ein Liebesgedicht mit anonymem Adressaten gehandelt habe, das man


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ebensogut auf ein Mädchen außerhalb des Seminars wie auf einen Kommilitonen hätte beziehen können.) Nun lassen wir ein solches Blatt in die Hände eines Lehrers fallen, der in seiner Jugend auch einmal hochfliegende Ideale hatte, nun aber desillusioniert und humorlos geworden ist und sich aus Motiven, die er sich selbst nicht eingesteht, zum Amt des Inquisitors hergegeben hat. Er erkennt in May einen Teil seines jüngeren Selbst, den er längst begraben hat. Vielleicht steht May auch unter dem Verdacht, einer der Rädelsführer der Onanisten zu sein; für den Part des Opfers war er in diesen Jahren ja immer zu haben. Mag sein, daß es nicht einmal zu einer besonderen Konfrontation mit May kommt, sondern nur zu einer zynischen, vage auf den Unterleib und Mays mögliche Rolle zielenden Bemerkung (sexualisiert genug dürfte die Atmosphäre ja gewesen sein), möglicherweise im Beisein von Kommilitonen, etwa der Art: »Na, was ist das denn? Haben wir hier unter uns etwa eine kleine Sappho?« Die Herumstehenden lachen, May wird schamrot, das Etikett bleibt hängen.

   Wie schon gesagt, gibt es keinen Beweis, daß sich eine solche Szene überhaupt abgespielt hat, aber sie hat die Wahrscheinlichkeit auf ihrer Seite.77 Wenn wir uns nämlich fragen, ob es im Zuge der Inquisition etwas gab, was May durch eine tiefe Verletzung seines Egos nachhaltig traumatisieren konnte, dann war dies weniger der Verdacht, ein Onanist zu sein, denn das waren ja viele (und vielleicht hatte die Untersuchung die Gruppe der Onanisten noch nicht so sehr gespalten, daß die Zugehörigkeit zu ihr irgendeine Art von Ächtung bedeutet hätte), sondern viel eher eine Bloßstellung seiner frühen dichterischen Ambitionen, die Preisgabe einer aus dem Herzen kommenden Schöpfung an die Lächerlichkeit. Wie sagt May selbst? Ich war bis vor kurzem so glücklich gewesen, nur bei meinem gewöhnlichen Namen genannt zu werden, aber das war seit meinem Weihnachtsgedichte anders geworden. (33)

   Man streiche die Wortkomponente ›Weihnachts-‹, und die fiktive Szene mit ihrer repressiven Gruppendynamik gewinnt Realität: Was konnte ich nun thun? Ich mußte mich fügen! (33) Dies würde nahtlos erklären, weshalb May das doch sehr dem Individuum eigene Verfassen eines Gedichts dichterisch überhöhte und nicht etwa irgendeine Art von spätpubertärem Gemeinschaftserlebnis. Hierhin paßt nun auch der von ihm geschilderte körperlich verfallene Zustand nach Einwurf seines Gedichts, der in einem solchen biographischen Kontext nichts anderes wiedergäbe als die ins Somatische umgeschlagenen Gefühle Mays angesichts der erlittenen Demütigung. Ein solcherart beiläufiges Ausspielen einer Machtposition (ein Thema, das May immer wieder beschäftigen sollte), um einen Unterlegenen vor seiner Gruppe mit deren offenem Beifall gewaltsam zu entblößen, hat stets den obszönen Geruch einer Vergewaltigung, und zudem hätte eine zynisch herabsetzende Bemerkung wie diese auf perfide Weise die Bereiche der Sexualität und der literarischen Kreativität dauerhaft miteinander verknüpft. Der Hinweis von Graf, daß Mays Zustand moralisierenden Medizi-


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nern und Pädagogen »noch während des gesamten 19. Jahrhunderts (und teils bis tief in das 20. Jahrhundert hinein) als die typischen, körperlichen und geistigen Symptome des tätigen Onanisten«78 gegolten habe, führt meines Erachtens in die Irre. Zwar zeigen Mays Ausführungen in seinem Artikel ›Ein wohlgemeintes Wort‹,79 daß er - obwohl er mit seiner langjährigen onanistischen Erfahrung »eigener Aussage gemäß mindestens von seinem zwölften bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr«80 im Grunde aus persönlicher Anschauung um die Unsinnigkeit dieser Theorie wissen mußte - gleichwohl das angebliche Onanistensyndrom für wahr hielt; gerade wenn dies so war, hätte er sich aber gehütet, es zumal in (wenn auch fiktionalem) autobiographischem Kontext sich selbst zu attestieren.

   Was nun Carpio betrifft, hat dankenswerterweise Roland Schmid darauf hingewiesen, daß May einen Schulfreund mit Namen Garbe gehabt habe.81 Ilmer meint, dieser könne »in Mays Vorstellungen nicht mit ›Carpio‹ identisch gewesen sein«, da die spätere, in Amerika spielende Episode und ihr Ausgang dagegen sprächen, »der reale Garbe könne gemeint gewesen sein«.82 Dieser Auffassung vermag ich mich nicht anzuschließen. Wir haben es hier schließlich mit einer dichterischen Umformung von möglichem biographischem Material zu tun, und der Gedanke, Carpio könne einer realen Person nachgebildet sein, ist einfach nicht von der Hand zu weisen. Ich ziehe darüber hinaus die bereits zitierte Aussage Mays in Betracht, ein echter, wirklicher Schulkamerad und Jugendfreund sei ihm nie beschieden gewesen.83 Indem ich sie als Ausdruck einer unerfüllten Sehnsucht deute, fasse ich einen Teil der Genese der Person Carpio, soweit ihr Name nämlich aus der Transformation des Namens Garbe hervorgegangen ist, als Wunscherfüllung Mays auf. Allerdings wäre es hier hilfreich zu wissen, in welcher Beziehung May und Garbe als Schüler tatsächlich standen; das sei als offener Punkt notiert und als Aufgabe an fleißige May-Forscher weitergegeben. Die Umformung von ›Garbe‹ in ›Carpio‹ ist etymologisch jedenfalls weniger weit hergeholt als manche andere Namensdeutung.84

   Es ist mithin durchaus möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich, daß die Namen Sappho und Carpio keine ›frei erfundenen‹ (was immer das unter psychologischem Aspekt heißen mag) Kunstnamen sind, sondern aus dem persönlichen Erleben Mays hervorgegangen sind. Damit ist freilich keine Aussage darüber verbunden, ob und gegebenenfalls welche biographischen Entsprechungen die individuellen Züge der Gestalten haben, die diese Namen tragen. Unter anderem dieser Frage wollen wir im folgenden Abschnitt nachgehen.


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3.2 Erste Carpio-Sappho-Episode: In Böhmens Wäldern


Für die erste Carpio-Sappho-Episode gibt es keine unmittelbare biographische Vorlage, wenn man von dem späteren Umherirren des vor der Strafverfolgung fliehenden May zwischen Sachsen und Böhmen Ende Dezember 1869 absieht, an dessen Ende er schließlich am Morgen des 4. Januar 1870 festgenommen wurde.85 Schon Hoffmann entging nicht die Spiegelung in Mays Roman, wenn auch seine Inhaltsangabe mehr als ungenau ist: »Die Route Eger-Falkenau-Carlsbad-Teplitz-Aussig-Tetschen-Bensen-Niederalgersdorf,86 eine Strecke von fast 200 km, legte Karl May bekanntlich in stark erschöpftem Zustand zurück. Zur Bewältigung dieser Entfernung dürfte er zu Fuß gut und gern 14 Tage gebraucht haben. Deshalb ist zeitlich gut möglich, daß er ›Weihnachten 1869‹ beim gastfreundlichen Wirt ›Franzl‹ Scholz in Falkenau verbracht hat. Mays Erzählung ›Weihnacht‹ schildert die sorgenvolle Reise eines armen, vor Hunger ganz erschöpften Auswanderers, der auf dem Weg nach Amerika ist und beim barmherzigen Wirt ›Franzl‹ Zuflucht findet. Die Passage ist stark autobiographisch gefärbt.«87 Die eingeflochtene Szene, in der am Weihnachtsabend die arme Auswandererfamilie die Gaststube betritt, welche sich im Winter zu Fuß nach Bremen durchschlagen will, erinnert auch an den gescheiterten Versuch Mays, im Sommer 1869 über Bremen nach Amerika zu gelangen;88 doch hat diese Szene für die Carpio-Sappho-Beziehung (nicht für den Roman insgesamt) eher untergeordnete Bedeutung, wenn man davon absieht, daß sie auf die späteren, in Amerika spielenden Kapitel vorausweist. Interessanter erscheint da schon eine Bemerkung, die May Carpio in den Mund legt, obgleich sie direkt auf May verweist und ein Indiz für die Spiegelung seiner Straftaten und seiner Flucht ist: »... Nun ist der Paß futsch, vollständig futsch! Wenn es nun der Polizei einmal einfällt, mich mit einem gesuchten Raubmörder oder durchgegangenen Bankdirektor zu verwechseln, so kann ich mich nur ruhig einsperren lassen ...« (56)89 In die gleiche Richtung, Mays damalige, keineswegs paranoide, sondern sehr berechtigte Befürchtung, ergriffen zu werden, weist das Auftreten des Gendarmen, als die Freunde die Herberge in Falkenau betreten wollen (30ff.). Auszuschließen ist hingegen nach übereinstimmender Auffassung der Biographen die Annahme, May habe bereits in seiner Schülerzeit derartige ausgedehnte Wanderungen unternommen.90

   Falls dieser Befund, dessen spekulativen Gehalt ich hier nicht weitertreiben will,91 zutrifft, hat May den betreffenden biographischen Abschnitt gleich mehrfach übertüncht: durch die zeitliche Rückdatierung um etwa zehn Jahre in seine Jugend, durch die Verdoppelung der handelnden Person und durch die Vorspiegelung eines harmlosen touristischen Handlungszusammenhangs mit Komponenten von Pennälerstreichen und Samaritertum. Allein diese dreifache Absicherung zeigt, wie wichtig es ihm war, vom tatsächlichen Geschehen nichts durchsickern zu lassen. Und er hatte


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wohl gute Gründe, so zu verfahren, wenn man in Betracht zieht, daß gerade sein angebliches ›Räuberleben‹, das zeitlich seiner Wanderung durch die böhmischen Wälder unmittelbar voranging, ihm später in so vernichtender Weise zur Last gelegt wurde. Was uns hier aber in erster Linie interessieren muß, ist die Frage, ob das Auftreten von zwei Personen - Carpio und Sappho - eine biographische Entsprechung hat oder ob es sich dabei, wie Ilmer vermutet, ›nur‹ um einen Akt der überwiegend psychologisch zu deutenden Verschlüsselung handelt.

   Angesichts der in Mays Leben so raren Männerfreundschaften, deren Mangel er - zu allen Zeiten (ungeachtet der von ihm in späteren Jahren gepflegten gesellschaftlichen Kontakte) im Grunde ein Einzelgänger, der sich, wenn er überhaupt Kontakte suchte, eher zum anderen als zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlte - empfand und literarisch auf mannigfaltige Weise kompensierte, ist dieses Thema in seiner Biographie äußerst überschaubar und läßt nur wenige mögliche Antworten zu. Die beiden einzigen männlichen Personen, die ihm zum Zeitpunkt der Niederschrift von ›»Weihnacht!«‹ (dem zweiten Halbjahr 1897) menschlich und persönlich nahestanden, waren der Kommerzienrat Emil Seyler (1845-1926), Weingutsbesitzer in Deidesheim, den das Ehepaar May erst im Juni besucht hatte, und Richard Alexander Plöhn (1853-1901), der Gründer und Besitzer der ›Sächsischen Verbandstoff-Fabrik‹ in Radebeul, der mit May seit Anfang der neunziger Jahre befreundet war und von dem Ilmer meint, er sei »Karls bester, wenn nicht einziger, Freund«92 gewesen. Gegen eine Abbildung Seylers in Carpio spricht freilich der einfache Umstand, daß May ihn in seiner Korrespondenz als »Mein herzlieber Winnetou« ansprach, während er selbst als »Charley« oder »Old Shatterhand« unterschrieb.93 Sollte die Beziehung von Sappho und Carpio auf der biographischen Ebene hingegen eine Spiegelung der Freundschaft zwischen May und Plöhn sein, müßten befriedigende Antworten auf die Fragen gefunden werden, wo in der Erzählung die Frauen bleiben, die im wirklichen Leben die Freundschaft eingeleitet hatten; weshalb von dem Spiritismus, der für die Beziehung der Ehepaare so wichtig war, nichts wiederzufinden ist; oder in welcher Weise das Verhältnis von Opfer und Retter, das wir im Text vorgefunden haben, eine biographische Entsprechung hat. Diese Feststellungen und Fragen zeigen, daß hinsichtlich einer solchen biographischen Deutung der Sappho-Carpio-Beziehung Skepsis angebracht ist, selbst wenn wir berücksichtigen, daß May sich nur wenig später auf dem zweiten Teil seiner ersten großen Reise (auch) von Richard Plöhn begleiten ließ, daß dieser dabei schon todkrank war und daß er kurz darauf verstarb - so als hätte May einzelne Motive dieser Ereignisse in seiner Erzählung gewissermaßen präkognitiv verarbeitet.94

   Andererseits gibt es aber eine solche Fülle von Parallelen zwischen Mays eigener Biographie und derjenigen, die er Carpio zuschreibt, daß wir nicht unbedingt nach einer realen Person in Mays Umgebung Ausschau halten


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müssen, die in Carpio abgebildet ist. Die Entsprechungen haben als erste Schmiedt und Vollmer herausgearbeitet,95 auf deren Ausführungen und zitierte Textbelege ich hiermit verweise. Auch darin wird nochmals deutlich, daß die Freundschaft zwischen Sappho und Carpio eher metaphorisch als biographisch auszulegen ist, weil sie keine Beziehung zwischen wirklichen Personen reflektiert, sondern einen inneren Vorgang des Autors dramatisiert. Somit bleibt für die Sappho-Carpio-Beziehung in dieser Phase der Erzählung neben der textimmanenten Interpretation in der Tat nur die psychologische Deutung, wie sie Schmiedt und Vollmer bereits begonnen haben und Ilmer fortgeführt hat.



3.3 Zweite Carpio-Sappho-Episode: Zum Sterben nach Amerika


Auch für die zweite Carpio-Sappho-Episode gibt es keine direkte biographische Vorlage, denn wie wir wissen, ist die Frage, ob May vor 1908 jemals in Amerika war, von der Forschung abschlägig beantwortet worden.96 Wenn also überhaupt biographisch bedeutsame Ereignisse in den Hauptteil der Erzählung, insbesondere das dritte und fünfte Kapitel, eingegangen sind, muß es sich um Erlebnisse in der sächsischen Heimat handeln. Hier gab es nun vor allem eine für May außerordentlich erschütternde Begebenheit, deren Zeuge er war und die sein Alterswerk, besonders dessen Mystizismus, nachhaltig beeinflußte, nämlich den Tod seiner Mutter am 15. 4. 1885, von dem ich behaupte, daß er in der Sterbeszene Carpios abgebildet ist.

   In einem Aufsatz seiner zweiten Frau Klara von 1932 findet sich eine Wiedergabe dessen, was er ihr wohl einst erzählt hatte: »Als seine Mutter in seinen Armen starb, hielt er sie vom Abend bis zum Morgen als Leiche in seinen Armen. Handelt so ein uns normal erscheinender Mensch?«97 Vergleichen wir damit die Schilderung von Carpios Tod:


»Komm, lieber Sappho!« bat Carpio. »Richte mich auf und nimm mich an deine Brust! ...«

   Ich erfüllte seinen Wunsch und hielt ihn an meinem Herzen fest. Ueber uns leuchteten die Sterne Gottes; vor uns brannten die Lichtreste des Christbaumes; sie waren abgebrannt und begannen, nacheinander zu erlöschen. So verlischt das Menschenleben hier im Erdenthale ... (517)

   ... Carpio war tot. ... Das letzte Licht am Baum verlöschte; es war, als ob das ganze Thal und jeder von uns stumm geworden sei. Ich hielt den Toten noch fest an der Brust ... (518)

   Kein Licht brannte mehr am Baum, und so waren die Thränen nicht zu sehen, welche in den Augen aller glänzten ... Ich saß allein, mit dem Toten an der Brust, bis nach langer Zeit Winnetou kam und zu mir sagte:

   »Mein Bruder lege die Hülle seines armen Freundes fort; wir werden ihr morgen eine Wohnung errichten, die länger als sie bestehen wird ...« (519)


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Die Parallelen sind, wie ich meine, so unübersehbar, daß demgegenüber die Feststellung, diese Gruppierung entspreche derjenigen der Pietà,98 zunächst sekundär ist. Doch auch hier hat May eine gleich dreifache Verschlüsselung vorgenommen: Carpio ist ein Mann, nicht einmal ein Verwandter; er stirbt nicht im Vorfrühling, sondern am Heiligen Abend; und die ganze Szene wurde von der häuslichen Enge in Sachsen unter den offenen Himmel Amerikas transferiert. Die Gründe, die May dazu bewogen haben mögen, könnten in »jenem rätselhaft mächtigen und kreativen Schuldbewußtsein«99 zu finden sein, das er seiner Mutter gegenüber empfand und das ihn hemmte, den Tod der Mutter selbst darzustellen, während zur selben Zeit, mit derselben Energie (actio = reactio) das aufwühlende Erleben ihres Todes auch nach zwölf Jahren noch danach drängte, autobiographisch aufgearbeitet zu werden. An dieser Stelle sind die Grenzen zwischen bewußter und unbewußter Codierung fließend, denn alles spricht dafür, daß May einer tatsächlichen bewußten Aufarbeitung eher auswich, als daß er sie suchte; noch in seiner Lebensbeschreibung von 1910 hat er die Reminiszenz an ihren Tod völlig ausgeblendet, und die übrige Darstellung bleibt eher unverbindlich verklärend, im stereotypen Tonfall einer frommen Legende: Meine Mutter war eine Märtyrerin, eine Heilige, immer still, unendlich fleißig ... Sie war ein Segen für jeden, mit dem sie verkehrte ...100 An dieser Stelle mag dann die Analogie zur Pietà wieder ins Spiel kommen, nämlich als ein Indiz für jene Art der, wie Scholdt sie nennt, »Literarisierung des Erzählstoffs, welche May sich offenbar nur als verstärkte Sakralisierung oder christliche Moralisierung vorstellen konnte«.101

   Wir können diese Szene auch umgekehrt deuten, indem wir zunächst das vordergründig sich aufdrängende Bild der Pietà als die eigentliche Botschaft akzeptieren, also als Bild der Mutter Sappho, die ihren sterbenden Sohn Carpio im Arm hält. In diesem Fall hätte May in der realen Todesstunde seiner Mutter in einer zeitweiligen Rollenvertauschung zeigen wollen, wie er sich sein ganzes Leben lang Liebe und Geborgenheit vorstellte und vergebens herbeisehnte: »Die Ursache des Liebesentzugs kann nicht aufgearbeitet werden, aber der andere, der bessere May vermag schließlich die Liebe zu vermitteln und damit den Prozeß zu vollziehen, der in der Realität nicht möglich ist.«102 Dabei hat die Deutung ihre Bruchstelle an dem Umstand, daß Sappho, abgesehen von seinem femininen Beinamen, nicht im mindesten weibliche Eigenschaften aufweist.

   Die Antwort auf die Frage, für welche der beiden Interpretationen wir uns entscheiden, hängt davon ab, wem wir den Primat einräumen: Sind es reale biographische Ereignisse, die literarisch umgeformt wurden und im fertigen Werk abzulesen sind? Oder enthält das Werk frei erschaffene, utopische Bilder, die durch Projektion auf biographische Fakten deren eigentliche Bedeutung erst erschließen? Manches spricht dafür, daß eine Wechselbeziehung existiert, die es unmöglich macht, eindeutig für die eine oder


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andere Variante Stellung zu beziehen: beide sind von gleicher hermeneutischer Valenz. Doch es verhält sich dabei wie mit dem Welle-Teilchen-Dualismus des Lichts: beide Aspekte können nicht gleichzeitig, sondern nur für sich betrachtet werden. Einmal ist Carpio die sterbende Mutter der Realität und Sappho der Sohn, ein anderes Mal ist Sappho die liebende Mutter der Utopie und Carpio der Sohn.

   Wenn wir noch einmal zur ersten Variante zurückkehren, können wir in der Überlagerung der Figur Carpio mit dem Bild der Mutter einen Fingerzeig sehen, der darauf hinweist, daß in Carpio, der ja im Gegensatz zu Sappho einen maskulinen Namen trägt, tatsächlich in viel stärkerem Maße weibliche als männliche Züge verkörpert sind. Auch diese Feststellung führt fort von der biographisch determinierten Entschlüsselung hin zu einer psychologischen Ausdeutung, deren Notwendigkeit damit immer deutlicher wird und der wir uns nun im folgenden Kapitel zuwenden wollen.



4. Unbewußte Enthüllungen


Da, wie eingangs ausgeführt, eine Antwort auf die Frage nach den unbewußt übermittelten Umständen ohnehin Theorie bleiben muß, genügt es im Grunde, deren Widerspruchsfreiheit plausibel zu machen. So ist etwa die Annahme eines zugrundeliegenden homoerotischen Verhältnisses unvereinbar sowohl mit Mays Aussage, er habe keinen Jugendfreund gehabt, als auch mit dem Befund, daß beide, Sappho und Carpio, Spiegelungen des Autors sind. Ich biete hier eine andere Lesart an, in der diese Widersprüche aufgehoben sind.

   Lassen Sie uns zuvor noch einen Blick auf Mays kleine Fehlleistung werfen, die ihn sagen läßt, die treue Anhänglichkeit habe auch einen weniger psychischen Grund (25) gehabt, obwohl er bis dahin überhaupt keinen solchen genannt hat. May glaubte vielleicht, abgelenkt durch Kaffee, Zigarren oder seine Frau Emma, er hätte dies zuvor in literarisch harmlos-unverfänglicher Weise getan, hatte dies vielleicht auch vorgehabt und den Gedanken dann wieder verworfen. Indem er jetzt einen möglichen, aber nicht offensichtlich vorhandenen psychischen Grund so deutlich betont, fordert er unabsichtlich, unbewußt den Leser geradezu heraus, nach einem solchen zu suchen. Wir aber fahnden nun nicht mehr nur auf den vorangehenden Seiten, sondern im Text der gesamten Erzählung und in Mays Biographie mit dem Anfangsverdacht, May habe den wahren psychischen Grund der Carpio-Sappho-Beziehung zu verbergen gesucht. Allzu schwer sollte uns das nicht werden, denn es gilt ja nach wie vor der Satz Stoltes: »Immer stößt die biographische Wahrheit durch die Schichten poetischer Verfremdung hindurch.«103




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4.1 Ausgangshypothese: Die narzißtische Störung


Lassen Sie uns bei unseren Überlegungen davon ausgehen, daß eine schwere narzißtische Störung104 Mays inzwischen hinreichend nachgewiesen und in ihren wesentlichen Symptomen beschrieben ist105 und daß über diesen Befund weitgehend Konsens besteht. Ein Indiz dafür ist, neben den offenkundigen Aberrationen (kriminelle Verfehlungen, Pseudologia phantastica), die Neigung zur Beschäftigung mit sich selbst, wie sie in Mays späterem Interesse für Psychologie106 zum Ausdruck kommt; das Masturbieren des Heranwachsenden hingegen halte ich, ebenso wie Graf, der von einem »harmlosen Hobby« spricht,107 für völlig normal, soweit es vor der Plauener Inquisition stattfand, und in diesem Zusammenhang zunächst für irrelevant. Auf der anderen Seite sehe ich aber in Mays Biographie einen roten Faden der kontinuierlichen Suchtstruktur, beginnend mit dem von ihm selbst bezeugten wahllosen ›Verschlingen‹ von Räuber- und Schauergeschichten in der Vorpubertät und Pubertät, fortgesetzt in den onanistischen Aktivitäten der Pubertät und Nachpubertät bis hin zu dem Verhalten des erwachsenen ›workaholic‹ mit seinem nächtelangen Durcharbeiten bei übermäßigem Verbrauch von Genußmitteln wie Zigarren und Kaffee.108 Im Kontext dieser Suchtstruktur ist anzunehmen, daß auch das Onanieren in ebenso exzessiver Weise ausgeübt wurde wie die vorangehenden und nachfolgenden für Mays Suchtverhalten symptomatischen Tätigkeiten. Nebenbei bemerkt ist es klar, daß für eine solche autoerotische Beziehung - und ich spreche hier vom Narzißmus, nicht von der Masturbation - keine und schon gar keine homophilen Dritten benötigt werden, ja mehr noch, daß sie nämlich fast zwangsläufig zu einer Isolierung führt mit dem Ergebnis, daß Jugendfreundschaften nicht entstehen. May drückt diesen Sachverhalt in bezug auf seine charakterliche und soziale Disposition verständlicherweise sehr verschwommen, in bezug auf seine Kompensationstechnik hingegen mit wünschenswerter Klarheit aus: Ich lag zufolge meiner Neigung, meiner Zukunftspläne und aus noch anderen Ursachen mehr über den Büchern als meine Mitschüler und mußte mich darum von Zeit zu Zeit einmal tüchtig körperlich ausarbeiten ... (23)

   Unsere Ausgangshypothese lautet also: Wahrscheinlich schon früher,109 gewiß aber zum Zeitpunkt des Plauener Onanisten-Skandals (zweites Halbjahr 1860) bestand bei May aus Gründen, über die schon an anderer Stelle spekuliert worden ist,110 die später in der Form sozialen Fehlverhaltens offen zutage tretende narzißtische Störung, die May isolierte.

   Wie wird auf eine solche Persönlichkeitsstruktur das Plauener Inquisitionsverfahren gewirkt haben? Ich behaupte, daß es die vorhandene narzißtische Störung verstärkte, Mays Isolation vergrößerte und ihn jetzt erst sexuell auf sich selbst fixierte, was er in der Retrospektive religiös überhöhte: Was ich that, als ich wieder ruhig geworden war? Die Antwort ist nicht nötig! Ich habe weder in guten noch in schlimmen Lagen je-


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mals vergessen, daß das Gebet eine heilige Pflicht ist und Erleichterung bringt. (15)

   Ich bezweifele entschieden, daß Karl May sich wirklich die Zeit für ein Gebet im Sinne religiöser Einkehr nahm, weder damals noch später, als er zur kettenmäßig Zigarren rauchenden, kannenweise Kaffee konsumierenden Schreibmaschine mutiert war. Aber ich vermag mir vorzustellen, daß auch eine narzißtische Meditation geistiger oder körperlicher Art für ihn so etwas wie ein Gebet sein konnte, damals wie später. Denn wovon hätte er sich (im Kontext der Erzählung) erleichtern sollen? Doch sicher nicht vom berauschenden Gefühl, den ersten Preis im Gedichtwettbewerb und dazu dreißig Taler gewonnen zu haben. Hier haben wir einen dieser kleinen Alogismen, die auf eine Fehlleistung des Autors hindeuten. In der damaligen Realität muß es ihm, dies mag uns der Lapsus sagen, ein so starkes Bedürfnis gewesen sein, sich zu erleichtern, daß dies bis in den völlig anderen Kontext der Erzählung durchgeschlagen ist. Sei dies nun auch Spekulation: Erleichterung kann auf jeden Fall eine Folge sexueller Betätigung sein, und dann wäre, falls May nach dem Einzelgespräch mit seinem Seminardirektor nun gerade das tat, was ihm vorgeworfen worden war, an diesem Punkt tatsächlich ein qualitativer Sprung innerhalb der narzißtischen Störung erfolgt. Ich kommentiere ergänzend dazu ein May-Zitat, das auch Graf anführt:111 Ich begann, Angst vor mir zu bekommen - woraufhin sofort die psychischen Schutzmechanismen einsetzten: Rechtfertigung, Schuldprojektion, Verdrängung, übrigens auch und erneut im Text, denn statt diese Angst wenigstens jetzt zu thematisieren, ergeht sich May nun in der Darstellung einer Selbsttherapie, die aller Wahrscheinlichkeit nach gar keine war -, und arbeitete unausgesetzt an meiner seelischen Gestalt herum - wohl kaum oder ziemlich erfolglos, ohne therapeutische Hilfe, daher kann man das Attribut ›seelischen‹ getrost streichen; eher arbeitete May fröhlich weiter an seinen Genitalien ›herum‹ (man beachte diesen kleinen, überflüssigen, aber entlarvenden Zusatz): vergessen wir nicht, daß zum Zeitpunkt der Niederschrift fast fünfzig Jahre später die narzißtische Struktur mit all ihren kleinen Methoden der Täuschung und Selbsttäuschung perfekt eingespielt war -, mich innerlich zu säubern, zu reinigen, zu ordnen und zu heben - auch hier ist ›innerlich‹ zu ignorieren und die Reihenfolge umzukehren (›hysteron proteron‹ nennen's die Rhetoriker), damit das fortgesetzte masturbatorische Tun deutlich wird -, ohne fremde Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen - eben; so ist das bei der Selbstbefriedigung nun mal -, die es ja auch gar nicht gab - dies nochmals als Hinweis auf das Fehlen Dritter, also keine Rede von Homoerotik.

   Unter der Voraussetzung, daß unsere Ausgangshypothese zutrifft, wäre die Annahme, daß die Plauener Untersuchung Mays sexuelle Selbstfixierung verstärkt hat, in der Tat plausibel. Wenn man mein obenstehendes Szenario zur Genese des Künstlernamens Sappho hinzuzieht, ergäbe dies einen weiteren Verstärkungsfaktor mit dem Impetus einer traumatischen


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Egoverletzung, ein weiteres Engramm (um es einmal mit einem modischen neurolinguistischen Terminus zu bezeichnen) auf der Orientierungskarte des Unterbewußtseins. Das Ergebnis wäre genau die in tiefen Schichten wirkende Verknüpfung von Autoerotik und Schriftstellerei, wie wir sie bei May beobachten,112 die im Bemühen, die eine Seite davon zu unterdrücken, diese zugleich in der anderen mit Wirkung nach außen hin sublimiert.113 Man könnte, mit anderen Worten, von einer zu diesem Zeitpunkt initiierten Abspaltung eines ganz wesentlichen Persönlichkeitsanteils Mays sprechen; dieser Begriff soll für die nachfolgenden Überlegungen prägend werden.



4.2 Sappho und Carpio: Die Persönlichkeitsspaltung


Ein kleiner Exkurs sei mir zuvor gestattet. Wie man sieht, habe ich angenommen, daß es bei der Interpretation der zitierten Textpassagen durchaus legitim ist zu unterstellen, daß Mays wirksame Verdrängungstechniken ihm Ersatzbilder bereitgestellt haben, die geeignet waren, unliebsame Vorstellungen unmittelbar in eine Sphäre vermeintlicher Harmlosigkeit zu überführen. Zum Warum dieser Ersatzbildung hat Watzlawick die Annahme eines zwangsläufigen und daher völlig normalen »Zustandes der Konfusion« vorgeschlagen, wie ihn auch jede affektgeladene Situation induziert: »Nach einer ursprünglichen Lähmung löst also jeder Zustand der Konfusion eine sofortige Suche nach Anhaltspunkten aus, die zur Klärung der Ungewißheit und dem damit verbundenen Unbehagen dienen können. Daraus folgt zweierlei. Erstens wird diese Suche, wenn erfolglos, auf alle möglichen und unmöglichen Bezüge ausgedehnt und wird unter Umständen die unbedeutendsten und abwegigsten Zusammenhänge einbeziehen. Zweitens neigt man in diesem Zustand von Konfusion ganz besonders dazu, sich an die erste konkrete Erklärung zu klammern, die man durch den Nebel der Konfusion zu erkennen glaubt«, was dann wiederum die Ursache scheinbar absonderlicher Zwangshandlungen werden kann: »So soll zum Beispiel ein Mann unfähig gewesen sein, eine Erektion zu haben, wenn ihn seine Partnerin nicht beim Ohr zog. Dieser ungewöhnliche Zusammenhang kam angeblich dadurch zustande, daß ihn sein Lehrer beim ersten Masturbationsakt unter seinem Pult ertappte und am Ohr hochzog.«114

   Es ist festzuhalten, daß May diesen Mechanismus durchaus durchschaut und davon literarischen Gebrauch gemacht hat - und das erzeugt eine Art Rückkopplung, die jedem hermeneutischen Versuch eine zusätzliche Dimension hinzufügt, die nicht außer acht zu lassen ist. Im vorliegenden Fall ist es Carpio, der schon als Jugendlicher eine Fehlleistung nach der anderen produziert und dies immer und ohne jeden Anflug von Selbstzweifel als Fehlleistung eines anderen deklariert, sei es seiner Schwester, seines Freun-


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des Sappho oder seines Onkels. Zudem geht er so weit, sogar eine ganz zweifellos bezeugte, selbstproduzierte Fehlleistung der Jugendzeit (Magenverstimmung nach heimlichem Tortenverzehr) in der Erinnerung im vollen Ernst auf einen anderen (Sappho) zu übertragen (320f.). Indem May diese Projektionsvorgänge (er nennt sie Verwechslung) nachvollziehbar vorführt und durch Überzeichnung karikiert, erweist er sich im Widerspruch zu seiner andernorts sichtbaren äußerst kruden Erkenntnisfähigkeit als Psychologe von Wert mit der Fähigkeit, diese Einsichten auch noch in populärer Weise zu vermitteln. So spricht denn auch Wollschläger von »Erkenntnissen, die wiederum Freud, wenn ihm May bekannt gewesen wäre, aufs höchste erstaunt hätten«.115 Und der Bogen von May zu Watzlawick spannt sich, wenn Carpio in einer ›Projektion der Projektion‹ sagt: »Ich mag hinkommen, wo es nur immer sei, stets treffe ich eine Person, welche eine Konfusion anrichtet.« (320)

   Die zu der schon vorhandenen narzißtischen Störung hinzutretende sexuelle Fixierung Mays auf sich selbst als Folge der Plauener Inquisition und das Bemühen, diese zu unterdrücken, dürfte nun allmählich zu der zuvor schon angelegten Persönlichkeitsspaltung geführt haben, die dann schließlich in der Form teilweise äußerst skurriler (wohl auch, aber nicht in erster Linie, krimineller) Verhaltensweisen zutage trat. May hat in seiner Autobiographie, also der bewußten Schilderung, dieses Gespaltensein drastisch und sehr bewegend geschildert, aber auch erst relativ spät in die Zeit zwischen seiner ersten Festnahme und der Verurteilung zum Gefängnisaufenthalt in Zwickau datiert.116 In der weniger bewußten Mitteilung des Gespaltenseins, nämlich innerhalb der zur Diskussion stehenden Erzählung, verlegt May dadurch, daß er die Spaltung in Gestalt zweier Gymnasiasten personifiziert, deren Entstehung zurück in seine Ausbildungszeit. Das sollte uns als Indiz dafür genügen, daß sie tatsächlich spätestens in Plauen eingesetzt hat; die zeitliche Nähe zu den dortigen Ereignissen begründet zwar keinen kausalen Zusammenhang, rückt diesen aber immerhin in den Bereich der Wahrscheinlichkeit. Wollschläger hat nun sehr einfühlsam die Ursachen der »neurotischen Erkrankung« in der frühesten Kindheit angenommen und meint, daß es erst »nach dem großen Schock, der den Verlust von Zeugnissen und Lehrberechtigung brachte«, zu den beobachteten »akuten Ausbrüchen« kam.117 Er erklärt aber nicht, wodurch es überhaupt zu Fehlleistungen Mays kommen konnte, die dem »großen Schock« vorangingen. Hier ist es, meine ich, hilfreich, eine stufenweise fortschreitende Verschlimmerung der Erkrankung zu unterstellen, und ich nehme aufgrund der bisher ausgewerteten Indizien an, daß nach den Plauener Ereignissen der ›point of no return‹ auf dem Weg zur großen Krise erreicht war.

   Ilmer ist davon ausgegangen, daß vor allem die Figur des von Torheit über Verwechslung zu Konfusion taumelnden Carpio den autobiographisch dokumentierten zerrütteten Seelenzustand des jüngeren May spiegelt.118 Er


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sieht in ihm »das kranke Ich« abgebildet (und belegt dies unter anderem mit dem irreführenden Hinweis auf das lateinische ›carpere‹119), in Sappho hingegen »das gesunde Ich«.120 Dieser Befund ist so nicht haltbar, denn wir haben oben gesehen, daß - ungeachtet der pathologischen Struktur Carpios - in der Dynamik von Opfer und Retter der letztere keineswegs den Zustand geistiger Gesundheit verkörpert. Hinzu kommt, daß einerseits ausgerechnet der ›gesunde‹ Sappho den weiblichen, der ›kranke‹ Carpio hingegen den männlichen Namen trägt, worüber schon Ilmer gestolpert war,121 was aber im Einklang mit Schmiedts Mutter-Kind-Deutung122 steht, andererseits jedoch nach einer der zwei Deutungsvarianten der Sterbeszene Carpio die weibliche Mutter, Sappho den männlichen Sohn spiegelt, die Geschlechterrollen also wieder umgekehrt aufzufassen sind. Diese Widersprüche lassen sich meines Erachtens am plausibelsten auflösen, wenn wir unterstellen, daß Sappho und Carpio beide Abspaltungen des in seiner Urform gesunden Ich sind, beide neurotisch gestört und beide austauschbare Inkarnationen sowohl der weiblichen als auch der männlichen Anteile Mays. Ilmers Feststellung, daß May ohnehin »männliche und weibliche Züge in seinem Wesen vereinigt«,123 bedarf aber der Ausdeutung, wenn sie kein Gemeinplatz bleiben soll. Diese Züge, soweit sie für uns sichtbar und im Text der Erzählung zu belegen sind, können nämlich durchaus als Hinweis nicht etwa der platonischen Art auf eine ursprünglich allen Menschen immanente Zweigeschlechtlichkeit,124 sondern als höchst konkreter Wink auf die autoerotische Fixierung Mays aufgefaßt werden, der auf der unbewußten Suche nach einem literarischen Ausdruck der Spannung in seinem Inneren auf das naheliegende Äquivalent der Geschlechterpolarität verfiel.

   Unsere erste These zur psychologischen Deutung der Carpio-Sappho-Beziehung soll daher lauten: Folgen der Plauener Inquisition waren einerseits die zusätzliche sexuelle Fixierung Mays auf sich selbst, andererseits das beginnende Zutagetreten der zuvor latenten Persönlichkeitsspaltung. Beides - und nichts anderes, insbesondere kein homoerotisches Erlebnis - ist in der Carpio-Sappho-Beziehung abgebildet.

   Wie ist in diesem Kontext die oben getroffene Feststellung zu bewerten, daß May ein ironischer Autor war? Ging seine professionelle Distanz am Ende doch so weit, daß er quasi wie ein Puppenspieler jederzeit alle Momente des Spiels durchschaute und im Griff hatte? Wenn dies so wäre, müßten wir annehmen, daß May alle Schritte der Verwandlung seines inneren Dramas in Literatur bewußt vor- und wahrgenommen hätte; das aber ist nach der Lage anderer Selbstzeugnisse auszuschließen. May war wohl eher, was uns nicht überraschen sollte, auch in seiner Haltung als Autor ebenso gespalten wie in den anderen Ausprägungen seiner Persönlichkeit: einerseits in einen zu überlegener ironischer Distanz fähigen, ausgesprochen erwachsenen, mitunter überraschend tief reflektierenden, andererseits in einen mit einem Hang zur Pseudologie versehenen, allzu-


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menschlich in seine eigenen ungelösten Traumata verstrickten, überwiegend kindlichen Anteil, mit welchem er dem in das ausgeformte Psychodrama125 involvierten Ich-Erzähler relativ nahestand und möglicherweise seine Hauptwirkung bei der Leserschaft erzielte. Diese Deutung würde ebenso den oben bemerkten Widerspruch zwischen Mays Ironie und der mit seiner Erzählung versuchten Kanonisierung der ›Old-Shatterhand-Legende‹ aufheben wie Mays damaliges Verhalten in der Öffentlichkeit126 erklären, denn er hatte so die Möglichkeit, jederzeit hinter den pseudologischen Anteil zurückzutreten und sich über diesen zu mokieren. Ja noch mehr: Es ist sogar wahrscheinlich, daß May sich erst an seinem Schreibtisch - aber nicht immer und ausnahmslos, wie seine Briefe zeigen - in den ironisch-erwachsenen Teil seiner selbst verwandelte, daß dieser also, was auch nicht verwundern dürfte, eher den ›literaten‹, der pseudologisch-kindliche Teil dagegen eher den ›oralen‹ Anteil127 seiner Persönlichkeit verkörperte.



4.3 Carpios Tod: Die Reintegration


Wenn die bisher getroffenen Annahmen stichhaltig sind, läßt sich auf der psychologischen Ebene der Tod Carpios nur in der Weise deuten, daß May hier vor der Kulisse der nordamerikanischen Felsengebirge die Befreiung von seiner Ich-Spaltung inszeniert hat. Diese erfolgt so umfassend in allen Bereichen, daß es für May ganz natürlich erschienen sein muß, die gesamte Dramatisierung mit dem Erlösungsmotiv des Weihnachtsgedichts leitmotivisch zu durchweben. Wir haben schon gesehen, wie nicht nur die textimmanent erkennbare Verbindung der ›siamesischen Zwillinge‹ Sappho und Carpio mit dem Tod des letzteren aufgehoben wird, sondern wie beider Existenz an diesem Punkt endet. Das aber bedeutet zugleich das Ende der abgespaltenen Anteile und deren Resorption in die Gesamtpersönlichkeit Mays. Diesem Verschmelzungsprozeß entspricht im Leben des Autors die Behauptung, er und Old Shatterhand seien identisch; das ist, als Metapher der Reintegration gedeutet, von unanfechtbarer Wahrheit.128 Damit wird auch deutlich, daß ›»Weihnacht!«‹ in der Tat einen Wendepunkt in Mays Leben und Schaffen darstellt, der binnen weniger Monate zur großen Orientreise und zum Spätwerk überleitet.129 Die Vermutung von Roxin, die sich auf den Essay von Neumann stützte und so eigentlich noch auf schwachen Füßen stand, wäre infolgedessen hinreichend bewiesen: »Man wird künftig nicht erst ›Am Jenseits‹, sondern schon ›Weihnacht‹ an die Schwelle zum Spätwerk zu setzen haben.«130

   Wir können die Deutung aber auch umkehren. Dann hätte sich bei May, zunächst eher innerhalb des altbekannten pseudologischen Musters und getragen von der ihm aus seiner wachsenden Berühmtheit zuströmenden Energie, bei seinen zahlreichen öffentlichen Auftritten und innerhalb sei-


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ner Leserkorrespondenz anfangs nur die Grenze zwischen realem und erschriebenem Ich zunehmend verwischt, bis er zu ahnen begann, daß sich hier für ihn die Möglichkeit zu einer Reintegration bot, wohlgemerkt ohne dabei grundlegende neurotische Verhaltensmuster (Autoerotik, Sucht) aufzugeben. Dabei wäre es um nichts Geringeres als die Wiederherstellung der ursprünglichen narzißtischen Persönlichkeit vor Manifestation der Spaltung gegangen, keine eigentliche Therapie von Grund auf zwar, aber doch die Heilung schlimmster Traumata. Und wer wollte leugnen, der Mays Alterswerk kennt, daß ihm dieses Kunststück - mit einem kleinen, aber heftigen Rückschlag auf der Orientreise131 - gelungen ist? Wenn nun gerade in diesem Augenblick seines Lebens, zur Zeit dieser alle Kräfte fordernden psychischen Transformation, die Phantome der Vergangenheit aus ihrem unterirdischen Dasein ausbrachen, mag man das je nach Weltanschauung Zufall nennen oder Vorsehung oder Karma oder Tragik: Mays wahrhaft erstaunliche psychische Leistung wird dadurch nicht geschmälert. In solchem Kontext wäre ›»Weihnacht!«‹ nur das literarische Echo dieser sich unabhängig davon abspielenden und der Vollendung zustrebenden seelischen Vorgänge, nicht das Abbild eines erst durch die Niederschrift initiierten, synchron mit ihr ablaufenden und von ihr gestützten inneren Klärungsprozesses. Es geht demnach in diesem Roman keineswegs, wie unterstellt wurde, nur um ein allgemeines Leitthema von Mays Leben, die Wiedergewinnung der verlorenen Liebe - »Der Leser wird Zeuge einer Heilung, die sich in jedem Buch von neuem vollzieht«132 -, sondern ganz besonders um einen einzigartigen und nur in diesem Buch gespiegelten psychischen Vorgang.

   Lassen Sie uns an dieser Stelle noch einmal auf die oben getroffene Feststellung zurückkommen, daß Carpios Tod ursprünglich wohl nicht in Mays Absicht gelegen hatte, sondern erst etwa zur Mitte der Erzählung beschlossene Sache war. Wir haben schon dort die Frage gestellt, ob es dafür eine besondere Notwendigkeit gab, und stellen diese Frage nun unter psychologischem Vorzeichen erneut. Nähern wir uns der Antwort, indem wir überlegen, was einen Autor veranlaßt, eine seiner Figuren sterben zu lassen.

   Aus meiner Sicht gibt es dafür im wesentlichen vier mögliche Gründe, zwei gute und zwei weniger gute. Erstens mag es sich um einen genrebedingten Todesfall handeln, der beispielsweise als Folge eines Verbrechens die Gattung des Kriminalromans erst konstituiert. Zweitens kann der Tod einer Figur dramatischer Höhepunkt einer längeren Entwicklung von kausaler Zwangsläufigkeit sein wie etwa in der klassischen griechischen Tragödie; unter diese Kategorie darf man aber auch alle ›natürlichen‹ Todesfälle durch Alter, Krankheit, Krieg oder Naturereignisse subsumieren. Drittens - und das ist nun ein weniger guter Grund - könnte der Autor sich veranlaßt sehen, eine Figur zu ›beseitigen‹, die ihm entbehrlich geworden ist oder de-


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ren Konfliktpotential er anderweitig nicht mehr lösen zu können glaubt; er begeht an seiner Figur gewissermaßen einen literarischen Mord, so wie ein realer Mord ebenfalls signalisiert, daß jemand einen möglichen Konflikt nicht ausgehalten hat. Viertens wird es, wie es im wirklichen Leben niedrige und allerniedrigste Beweggründe gibt, auch in einer gewissen Art von Literatur Autoren geben, die sich von möglichst vielen Leichen eine möglichst hohe Auflage versprechen, die also ihre Figuren mechanisch und ohne Mitgefühl wahllos und in großer Zahl sterben lassen: ein Vorwurf, den man wohl zeitweise auch Karl May in bezug auf sein ›Waldröschen‹ gemacht hat.133

   In welche Rubrik literarischen Sterbens gehört nun Carpios Tod? Erfolgt er wirklich mit der kausalen Zwangsläufigkeit einer unheilbaren Krankheit? Oder hat sich May von Carpio als Symbol seiner Ich-Spaltung nur auf diese Weise befreien können? Bei der textimmanenten Analyse hatten wir gesehen, daß der Tod Carpios aus erzählerischer Sicht keineswegs notwendig war, da er auch hätte geheilt werden können, sogar ohne das Leitmotiv des Erlösungsgedankens aufgeben zu müssen. Nun hat, wie wir gesehen haben, die Figurenkonstellation in ›»Weihnacht!«‹ eine unmittelbare Entsprechung in der psychischen Verfassung Mays, und hier dürfte mittlerweile unumstritten sein, daß nur eine aufwendige Therapie mit unsicherer Prognose in der Lage gewesen wäre, May wieder in eine völlig integrierte Persönlichkeit zu retransformieren. May war aber fünfundfünfzig Jahre alt und damit nach allem Dafürhalten nicht mehr therapierbar, was er womöglich ahnte, ganz abgesehen davon, daß die Psychologie damals noch gar nicht über die Möglichkeiten zu einer solchen Therapie verfügte. Das aber bedeutet, daß ihm keine andere Wahl blieb, als sich für die gewaltsame Befreiung zu entscheiden, die sich im literarischen ›Mord‹ spiegeln sollte. Es war daher womöglich die Ankündigung dieses gewaltigen seelischen Schrittes, den er, soweit bekannt ist, ohne äußere Hilfe vollzog, die ihn inmitten der Erzählung von seiner ursprünglichen Fabel abweichen und Carpios Tod beschließen ließ, in äußerst bezeichnender Weise nach der Wiederbegegnung mit ihm, der ihm nun, das Symbol der Ich-Spaltung dem Erwachsenen, wahrhaftig wie ein Gespenst erscheinen mußte: Die Augen lagen tief in ihren Höhlen; die Wangen waren eingefallen ... (306) Noch dieser Formulierung ist der Schrecken anzumerken, der May befallen haben muß, als er - auch wenn dies weitgehend unbewußt geschehen sein mag - nach so vielen Jahren daranging, noch einmal die Konfrontation mit der Ich-Spaltung aufzunehmen.

   Unsere zweite These zur psychologischen Deutung der Carpio-Sappho-Beziehung möge also wie folgt lauten: Die in ›»Weihnacht!«‹ erstmals vor breitestem Publikum vorgetragene Identität von Karl May und Old Shatterhand bedeutete für den Autor auf psychischer Ebene nichts Geringeres als eine Reintegration seiner abgespaltenen Persönlichkeitsanteile und die Möglichkeit, sich insbesondere von dem zwar authentischen, jedoch tief-


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greifend gestörten und latent bedrohlichen Anteil zu trennen. Dies ist in der Sterbeszene Carpios abgebildet.

   Wir dürfen hier einen wichtigen Aspekt nicht vergessen, der in der Parallelität von Carpios Tod und dem der Mutter Mays zum Ausdruck kommt: Die Sterbeszene zeigt demnach nicht nur Mays Erlösung von der Ich-Spaltung, sondern in gleicher Weise sowohl die Erlösung der Mutter als auch Mays Erlösung von seiner Mutter. Die von May wohl noch bei der Niederschrift empfundene Bewegung - Ich war tief erschüttert und weinte wie ein Kind (518) - ist somit über den Kontext der Erzählung hinaus Ausdruck der mit dieser vielfachen Erlösung verbundenen Emotionen, die zugleich der Erleichterung von einer jahrelang als Spaltung wahrgenommenen, als Menschheitsspaltung überhöhten, bedrückenden Last wie auch dem wiedergefundenen Zugang zu einem Teil der verlorenen Kindheit entsprungen sein mögen.134 Zugleich bestätigt dieser Befund, daß bei May Ich-Spaltung und Mutterbild auf das innigste miteinander verwoben sind. Einmal mehr hätte sich damit Wollschlägers glänzende Analyse von 1972 als zutreffend erwiesen.

   Insgesamt umspannt ›»Weihnacht!«‹ also allein mit seinem Hauptmotiv, der Sappho-Carpio-Beziehung, den gesamten seelischen Prozeß vom Auseinanderbrechen einer (bereits tiefgreifend gestörten) Persönlichkeit in der ausgehenden Pubertät bis zu deren Wiederherstellung im Erwachsenenalter und erscheint somit als literarische Miniatur eines fast vierzig Jahre lang dauernden Psychodramas.



5. Ausblick


Wir sind nun nach unserer textimmanenten, biographischen und psychologischen Untersuchung imstande, den Ansatz zu einer alle Blickwinkel integrierenden, ganzheitlichen Interpretation der Carpio-Sappho-Beziehung aufzuzeigen, die nicht mehr einen dieser Zugänge überbetont, sondern sich dem Gesamtverständnis gewissermaßen von vielen Seiten zugleich nähert. Diese müßte Querverbindungen ziehen zwischen allen Aspekten - der wechselseitigen Bedingtheit von Sappho und Carpio; der Ironie des Autors; der Opfer-Retter-Konstellation; der Veränderung der ursprünglichen Fabel auf den Tod Carpios hin; der biographischen Camouflage von Onanieskandal, Winterwanderung und Tod der Mutter; der narzißtischen Störung, der Persönlichkeitsspaltung und ihrer Reintegration - und nicht nur die Widerspruchsfreiheit dieser Aspekte, sondern auch ihre kausalen Verknüpfungen darlegen. Dazu ist hier zwar der Anfang getan, doch würde es nötig sein, erheblich viel mehr Materialien heranzuziehen und auszuwerten, als dies im Rahmen der vorliegenden Arbeit geleistet werden konnte.

   Ich will auch nicht versäumen, nochmals auf die grundlegende methodische Unsicherheit hinzuweisen, die ich bereits in der Vorbemerkung ange-


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sprochen habe und die uns stets bewußt sein sollte, wenn wir dem Anspruch von Wissenschaftlichkeit genügen wollen.135 Darum ist letztlich auch der hier vorgestellte Ansatz ungeachtet aller augenscheinlichen Plausibilität, die für ihn sprechen mag, zunächst kaum mehr als ein weiterer tastender Versuch innerhalb der großen ›terra incognita‹ untergegangener Zeugnisse und Erinnerungen, der vielleicht mehr Fragen aufwirft als beantwortet. Zugleich aber enthält er die Herausforderung an andere Forschende, diesen Weg weiterzuverfolgen und bei künftigen Interpretationen Mayscher Werke einerseits mit der Anwendung von Etymologie, Psychologie und biographischem Material fürderhin äußerst behutsam umzugehen, andererseits aber das zu tun, was sich wahrscheinlich auch Karl May gewünscht hätte: nicht nur »erst einmal den Text genau zu lesen«,136 was ja offensichtlich nicht ausreicht, da ›einmal‹ nicht oft und ›genau‹ nicht genau genug ist, sondern den Text wieder und immer wieder zu lesen, mit akribischer Präzision noch im kleinsten sprachlichen Detail ebenso wie in der Bildung von übergreifenden Aspekten, und das mit unbefangener Neugier, mit ungebrochener Entdeckerlust und nicht zuletzt mit wissenschaftlicher Sorgfalt.



1 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. IV Bd. 21: »Weihnacht!«. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1987; soweit Zitaten und Belegstellen im Text in Klammern die Seitenzahl folgt, bezieht sie sich auf diese Ausgabe.

2 Walther Ilmer: Durchbruch zum Ich. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (M-KMG) 99/1994, S. 17-19 (18)

3 Arno Schmidt: Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen, Werk & Wirkung Karl May's. Karlsruhe 1963. Reprint Frankfurt a. M. 1985; zur Sappho-Carpio-Beziehung vgl. insbesondere S. 38f.; weitere Erwähnungen von ›»Weihnacht!«‹ S. 32, 34f., 107f., 140, 154, 168, 174, 185, 202, 266f., 268.

4 Vgl. Heinz Stolte und Gerhard Klußmeier: Arno Schmidt & Karl May. Eine notwendige Klarstellung. Hamburg 1973.

5 Schmidt, wie Anm. 3, S. 185

6 Helmut Schmiedt: Karl May. Leben, Werk und Wirkung. Dritte, abermals überarb. Auflage. Frankfurt a. M. 1992, bes. S. 174-79

7 Hartmut Vollmer: »Weihnacht!« - ein »Erlösungswerk« Karl Mays. In: M-KMG 46/1980, S. 3-13

8 Gerhard Neumann: Das erschriebene Ich. Erwägungen zum Helden im Roman Karl Mays. In: Germanistik in Erlangen. Hundert Jahre nach der Gründung des ›Deutschen Seminars‹. Hrsg. von Dietmar Peschel. Erlangen 1983, S. 335-63; Nachdruck in: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1987. Husum 1987, S. 69-100 (Zitate nach dieser Ausgabe)

9 Heinz Stolte: Der Fiedler auf dem Dach. Gehalt und Gestalt des Romans ›»Weihnacht!«‹. In: Jb-KMG 1986. Husum 1986, S. 9-32

10 Ulrich Schmid: Das Werk Karl Mays 1895-1905. Erzählstrukturen und editorischer Befund. Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 12. Ubstadt 1989, bes. S. 89-110

11 Walther Ilmer: Karl Mays Weihnachten in Karl Mays ›»Weihnacht!«‹. Eine Spurenlese auf der Suche nach Fährten. Teil I in: Jb-KMG 1987. Husum 1987, S. 101-37; Teil II in: Jb-KMG 1988. Husum 1988, S. 209-47; Teil III in: Jb-KMG 1989. Hu-


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sum 1989, S. 51-83 - Manches an Ilmers Ansatz ist originell, doch bleibt seine Analyse weitgehend spekulativ und methodisch fragwürdig.

12 Andreas Graf: Lektüre und Onanie. Das Beispiel des jungen Karl May, sein Aufenthalt auf dem Seminar in Plauen (1860/61) - und die Früchte der Phantasie. In: Jb-KMG 1998. Husum 1998, S. 84-151

13 Ebd., S. 105

14 Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o. J. (1910), S. 53; Reprint Hildesheim-New York 31997. Hrsg. von Hainer Plaul

15 Graf, wie Anm. 12, S. 105

16 Bei Graf, ebd., finden sich zahlreiche Anklänge an die ›Etym‹-Methode Arno Schmidts und die daraus abgeleiteten Befunde, zum Beispiel in der phonetisierenden Gleichsetzung ›Poem=Penis‹ (S. 99) oder vulgärpsychologischen Formeln wie ›Sappho=Homoerotik‹ (S. 104f.), ›Geld=Sperma‹ (S. 106) oder ›Carpio/Karpfen=Oralverkehr‹ (ebd., S. 146, Anm. 30).

17 Schmiedt: Karl May, wie Anm. 6, S. 177

18 Ebd., S. 178f.

19 Ebd., S. 178

20 U. Schmid, wie Anm. 10, S. 94

21 Unter dieser veränderten Perspektive revisionsbedürftig ist das Statement von Rainer Jeglin: Werkartikel ›»Weihnacht!«‹. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 272-77 (276): »Unter Mays Amerika-Romanen ist »Weihnacht!« von der Forschung unter literaturpsychologischer und biographischer Akzentsetzung mittlerweile eingehend gewürdigt worden.«

22 Vgl. Stolte/Klußmeier, wie Anm. 4, S. 18: »Es ist falsch, es ist methodisch schlechthin unerlaubt, aus Motiven eines literarischen Werkes spezifische Rückschlüsse auf biographische Fakten zu ziehen.«

23 Claus Roxin: Mays Leben. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 21, S. 62-123; Hainer Plaul: Auf fremden Pfaden? Eine erste Dokumentation über Mays Aufenthalt zwischen Ende 1862 und Ende 1864. In: Jb-KMG 1971. Hamburg 1971, S. 144-64; Ders.: Alte Spuren. Über Karl Mays Aufenthalt zwischen Mitte Dezember 1864 und Anfang Juni 1865. In: Jb-KMG 1972/73. Hamburg 1972, S. 195-214; Klaus Hoffmann: Karl May als »Räuberhauptmann« oder Die Verfolgung rund um die sächsische Erde. Karl Mays Straftaten und sein Aufenthalt 1868 bis 1870. 1. Teil in: Jb-KMG 1972/73. Hamburg 1972, S. 215-47; 2. Teil in: Jb-KMG 1975. Hamburg 1974, S. 243-75

24 Vgl. Sigmund Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum. Mit einem Vorwort von Alexander Mitscherlich. Frankfurt a. M. 382.-384. Tsd.1989.

25 Dazu Freud (ebd.): »Eine klare und unzweideutige Schreibweise belehrt uns, daß der Autor hier mit sich einig ist, und wo wir gezwungenen und gewundenen Ausdruck finden, der, wie so richtig gesagt wird, nach mehr als einem Scheine schielt, da können wir den Anteil eines nicht genugsam erledigten, komplizierenden Gedankens erkennen oder die erstickte Stimme der Selbstkritik des Autors heraushören.« (S. 85) Und: »Wo ein Irrtum vorliegt, da steckt eine Verdrängung dahinter. Richtiger gesagt: eine Unaufrichtigkeit, eine Entstellung, die schließlich auf Verdrängtem fußt.« (S. 173f.) Sowie: »Jedesmal, wenn wir uns versprechen oder verschreiben, dürfen wir eine Störung durch seelische Vorgänge außerhalb der Intention erschließen, aber es ist zuzugeben, daß das Versprechen und Verschreiben oftmals den Gesetzen der Ähnlichkeit, der Bequemlichkeit oder der Neigung zur Beschleunigung folgt, ohne daß es dem Störenden gelungen wäre, ein Stück seines eigenen Charakters in dem beim Versprechen oder Verschreiben resultierenden Fehler durchzusetzen.« (S. 176)


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26 Der Streit um diese Frage wurde auch schon innerhalb der Karl-May-Gesellschaft geführt und ist wohl nie ganz frei von Dogmatismen; hier soll sie nicht entschieden werden. Vgl. z. B. Hans Wollschläger: Anmerkung zum Aufsatz von Klaus Eggers: »Hobble und Oedipus«. In: M-KMG 58/1983, S. 30f.; sowie als Antwort Herbert Meier: Hobble und Oedipus auf schwachen Füßen. Anmerkungen zu einem Komplex. In: M-KMG 59/1984, S. 43-50 (insbesondere 44f.).

27 Eine derartige ›Überinterpretation‹ kennzeichnet nach Freud, wie Anm. 24, S. 200f., den Paranoiker: »Die Kategorie des Zufälligen, der Motivierung nicht Bedürftigen, welche der Normale für einen Teil seiner eigenen psychischen Leistungen und Fehlleistungen gelten läßt, verwirft der Paranoiker also in der Anwendung auf die psychischen Äußerungen der anderen. Alles, was er an den anderen bemerkt, ist bedeutungsvoll, alles ist deutbar. Wie kommt er nur dazu? Er projiziert wahrscheinlich in das Seelenleben der anderen, was im eigenen unbewußt vorhanden ist, hier wie in so vielen ähnlichen Fällen. In der Paranoia drängt sich ebenso vielerlei zum Bewußtsein durch, was wir bei Normalen und Neurotikern erst durch die Psychoanalyse als im Unterbewußtsein vorhanden nachweisen. Der Paranoiker hat also hierin in gewissem Sinne recht, er erkennt etwas, was dem Normalen entgeht, er sieht schärfer als das normale Denkvermögen, aber die Verschiebung des so erkannten Sachverhalts auf andere macht seine Erkenntnisse wertlos.«

28 Hans Wollschläger: »Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt«. Materialien zu einer Charakteranalyse Karl Mays. In: Jb-KMG 1972/73. Hamburg 1972, S. 11-92; Claus Roxin: Vorläufige Bemerkungen über die Straftaten Karl Mays. In: Jb-KMG 1971. Hamburg 1971, S. 74-109; Kurt Langer: Der psychische Gesundheitszustand Karl Mays. Eine psychiatrisch-tiefenpsychologische Untersuchung. In: Jb-KMG 1978. Hamburg 1978, S. 168-73

29 Neumann, wie Anm. 8, S. 71

30 Ebd.

31 Ebd., S. 71f.

32 Ebd., S. 100

33 Stolte: Fiedler, wie Anm. 9, S. 17

34 U. Schmid, wie Anm. 10, S. 92f.

35 Zur Unterscheidung der Begriffe ›fiktional‹ und ›fiktiv‹ vgl. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 1957, passim; insbesondere Dies.: Noch einmal: Vom Erzählen. In: Euphorion 59 (1965), S. 46-71 (61ff.).

36 Gert Ueding: Das Spiel der Spiegelungen. Über ein Grundgesetz von Karl Mays Werk. In: Jb-KMG 1990. Husum 1990, S. 30-50 (39); vgl. auch Wolfgang Kayser: Wer erzählt den Roman? In: Ders.: Die Vortragsreise. Studien zur Literatur. Bern 1958, S. 82-101 (91): »Der Erzähler ist eine erdichtete Person, in die der Autor sich verwandelt hat«; sowie Dorrit Cohn: The Distinction of Fiction. Baltimore/London 1999, S. 124: »(...) the author/narrator differential by now appears to be a widespread poetological axiom«.

37 Ein gutes Gegenbeispiel für eine authentische autobiographische Erzählung in Er-Form ist Alfred Andersch: Der Vater eines Mörders. Eine Schulgeschichte. Zürich 1980. Andersch begründet in seinem ›Nachwort für Leser‹ überzeugend, weshalb er meinte, daß er beim vorliegenden autobiographischen Sujet in der Er-Form authentischer sein konnte als in der Ich-Form: »Gerade das Erzählen in der dritten Person erlaubt es dem Schriftsteller, so ehrlich zu sein wie nur möglich. Es verhilft ihm dazu, Hemmungen zu überwinden, von denen er sich kaum befreien kann, wenn er sagt: Ich. (...) Andererseits habe ich einen Roman, Efraim, in der Ich-Form geschrieben, und im Gegensatz zu Franz Kien ist Efraim durchaus nicht mit mir identisch, sondern ein ganz anderer, als ich es bin - darauf muß ich bestehen. Übri-


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gens schließt jenes Buch mit der Erwägung, vielleicht sei unter allen Masken das Ich die beste. So widersprüchlich geht es zu in der Werkstatt des Schreibens.« (S. 130f.)

38 U. Schmid, wie Anm. 10, S. 100

39 Chang und Eng Bunkes (1811-1874) aus Siam, dem heutigen Thailand, waren die ersten medizinisch ausführlich untersuchten ›siamesischen Zwillinge‹, deren Geschichte May bekannt gewesen sein dürfte.

40 Vgl. Vollmer, wie Anm. 7, S. 7f.

41 Anonym: Anleitung zur Poesie. Darinnen ihr Ursprung, Wachsthum, Beschaffenheit und rechter Gebrauch untersucht und gezeigt wird. Breslau 1725, S. 93f. Zit. nach Jürgen Fröchling und Gert Ueding: Literarische Wirkungsabsicht und rhetorische Tradition im 18. und 19. Jahrhundert. In: Einführung in die Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. Hrsg. von Gert Ueding. Stuttgart 1976, S. 100-55 (109)

42 Karl May: Hinter den Mauern und andere Fragmente aus der Haftzeit. In: Jb-KMG 1971. Hamburg 1971, S. 122-43 (125f.); zur Datierung vgl. Anmerkung der Redaktion, ebd., S. 143.

43 Vgl. Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. II Bd. 3: Waldröschen. Erster Band. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Bargfeld 1997, S. 213, 284, 286; Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. II Bd. 15: Der verlorne Sohn. Zweiter Band. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Bargfeld 1995, S. 627ff.

44 Arno Schmidt, wie Anm. 3, S. 38, erkannte scharfsinnig, dies könne bedeuten, »daß er es als ›Verbrecher‹, sprich ›im Gefängnis‹, geschrieben hat«. Auf diese biographisch-psychologische Deutung verzichten wir hier und beschränken uns auf den selbstkritischen Aspekt der Formulierung.

45 Sappho (eigentlich Psappho) von Mytilene auf Lesbos, um 600 v.Chr.

46 Ich verwende diesen Begriff in Analogie zur Tiefenpsychologie, wobei ich davon ausgehe, daß die verschiedenen Persönlichkeitsaspekte Eigennamen tragen. Vgl. Uwe Henrik Peters: Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie. München-Wien-Baltimore 1984, S. 406: »Persona (f). (C. G. Jung, 1928). Lateinisch: Theatermaske. Aspekt der Persönlichkeit. Gesamtsumme konventionellen Verhaltens. Aus dem Zusammenwirken von unbewußter Identifikation und bewußter Anpassung an Menschen und Situationen bildet sich eine ›Maske‹ augenblicklichen Verhaltens. Introvertierte identifizieren sich stark mit einer Einzelperson, Extrovertierte [sic] passen sich leicht an die jeweilige Situation an.«

47 ›Ergreife den Tag!‹: Q. Horatius Flaccus (Horaz): Oden I, 11, V. 8

48 Vgl. etwa Ilmer: Weihnachten II, wie Anm. 11, S. 214; Graf, wie Anm. 12, S. 103.

49 Vgl. Ilmer: Weihnachten II, wie Anm. 11, S. 214f.: Wenn Ilmer, abgesehen von dem philologisch sehr fragwürdigen Zusammenhang zwischen ›Carpio‹ und ›carpere‹, dem Verb als Hauptbedeutung ›zerstückeln, zersplittern‹ unterstellt, was in Wahrheit eine untergeordnete Nebenbedeutung ist, die Langenscheidt (Handwörterbuch Lateinisch-Deutsch. Bearbeitet von Dr. Erich Pertsch auf der Grundlage des Menge-Güthling. Erweiterte Neuausgabe. Berlin-München 1983, S. 91) ausdrücklich als ›klassisch selten‹ bezeichnet, scheint er nach der Devise zu handeln: Wenn die Fakten nicht zur Theorie passen, um so schlimmer für die Fakten.

50 Vgl. Ilmer: Weihnachten II, wie Anm. 11, S. 214, 223f.: Ilmer bringt es fertig, in der Absicht, einen bestimmten interpretatorischen Kontext herzustellen, mit seinem vorgeblichen Zitat »Carpius ... sagte ... leise« in ungewöhnlich eklektizistischer Manier gewissermaßen mit Schere und Klebstoff einen Satz aus Bestandteilen zu konstruieren, die in der Historisch-kritischen Ausgabe durch vier Seiten Text voneinander getrennt sind; die Sätze lauten im Original: Ich trug mein volles


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Weinglas dem Alten hin, um ihn trinken zu lassen, und Carpius, dessen Teller noch voll war, gab ihn dem Knaben, der sich mit wahrem Heißhunger sofort über das Essen hermachte (45) sowie Als Carpio [sic!] dies sah, sagte er leise zu mir: ... (49).

51 Insofern greift die Feststellung von U. Schmid, wie Anm. 10, S. 98 - »In der ›Einleitung‹ wird der Ich-Erzähler, obwohl Schüler, innerhalb kürzester Zeit zur geschehensregelnden Instanz« - zu kurz.

52 Vgl. dazu Vollmer, wie Anm. 7, S. 9: »(...) darum ist dieser Glaube, für den das Gedicht stellvertretend zu sehen ist, immer wieder erlösend.« Diese Analyse geht jedoch an der Realität vorbei. Der Glaube, wie ausgeführt, erlöst das Opfer nicht, sondern bindet es an den Retter, während das Gedicht wiederum nicht stellvertretend für den Glauben steht, sondern des Glaubens bedarf, um überhaupt als Erlösungsversprechen verstanden zu werden.

53 Schmiedt: Karl May, wie Anm. 6, S. 177

54 Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übers. und hrsg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S. 82ff. (Kap. 24,7 = 1460a,27): .

55 Vgl. May: Leben und Streben, wie Anm. 14, S. 228: Die Wahrheit ist, daß ich auf meinen Stil nicht im Geringsten achte. ... Ich verändere nie, und ich feile nie. Weitere Zeugnisse und Selbstzeugnisse zu diesem Thema sind angeführt bei U. Schmid, wie Anm. 10, S. 265 (Anm. 57).

56 Vgl. Helmut Schmiedt: Handlungsführung und Prosastil. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 21, S. 147-76 (151).

57 Nur dieses Zitat kann U. Schmid, wie Anm.10, S. 103, gemeint haben, wo es über Carpio heißt: »(...) doch im Wilden Westen entpuppt sich dieses Gegenbild des Helden als tragische Gestalt, nämlich als flehend-verzweifeltes Kind, das in ergreifender Weise das Elternpaar Old Shatterhand/Winnetou um Hilfe anfleht.« Diese Aussage verblüfft angesichts der Tatsache, daß Carpio buchstäblich niemand anderen als Sappho anspricht. Wie schon oben ausgeführt: Die Personae Old Shatterhand und Sappho sollten nicht verwechselt werden; Carpio kommuniziert nur mit letzterer. Der Irrtum Schmids kam vielleicht dadurch zustande, daß er sich auf die Vorarbeit von Schmiedt: Karl May, wie Anm. 6, bezog: Dieser zitiert auf S. 177 dieselbe Stelle, ersetzt aber den Namen ›Sappho‹ durch Auslassungspunkte, um weiterhin ohne Irritation von Old Shatterhand sprechen zu können.

58 Zu dieser Erzähltechnik vgl. die Ausführungen zum ›selbstzitierten Monolog‹ in: Dorrit Cohn: Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction. Princeton 1978, S. 161-65.

59 Vgl. B. Tomachevski: Thématique. In: Théorie de la littérature, S. 282. Zit. nach: Gérard Genette: Die Erzählung. München 1994, S. 224 (Anm. 14): »Wenn am Anfang einer Novelle gesagt wird, daß ein Nagel in der Wand ist, muß sich der Held am Ende an diesem Nagel erhängen.«

60 Es wurde vermutet, daß Dr. Rost eine literarische Abbildung von Friedrich Eduard Bilz (1842-1922) sei, der als Begründer des Naturheilverfahrens gelte und mit dem May befreundet gewesen sei. Vgl. Hans-Dieter Steinmetz: Mariechen, Ferdinand und Onkel Karl. Zu einem unbekannten Kapitel im Leben des Ustad. In: M-KMG 69/1986, S. 6-24 (17).

61 Vgl. Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. IV Bd. 1: Durch die Wüste. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Zürich 1990, S. 79: Nun war mir unglücklicherweise in Kairo eine alte, noch halb gefüllte homöopathische Apotheke von Willmar Schwabe in die Hand gekommen; ich hatte hier und da bei einem Fremden oder Bekannten fünf Körnchen von der dreißigsten Potenz versucht; ebd., S. 86: Ich erhob mich, warf ein anderes Gewand über und griff nach mei-


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nem Kästchen mit Aconit, Sulphur, Pulsatilla und all' den Mitteln, welche in einer Apotheke von hundert Nummern zu haben sind; Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. II Bd. 19: Der verlorne Sohn. Sechster Band. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Bargfeld 1996, S. 2902: »... Ja, Du gehst ganz nach der Lehre von Samuel Hahnemann: Die Füße warm und den Kopf kalt; da wird man wie Methusalem so alt!«; schließlich ist nicht zu übersehen, daß sich das Grundprinzip der homöopathischen Lehre Hahnemanns, das sogenannte ›Simileprinzip‹, schon zu Beginn von ›»Weihnacht!«‹ ›eingeschlichen‹ hat: Similia similibus curantur, Aehnliches mit Aehnlichem, Gleiches mit Gleichem, Hunger mit Hunger! (May: »Weihnacht!«, wie Anm. 1, S. 85)

62 Homöopathisches Repetitorium. Arzneimittellehre in Tabellenform. Hrsg. von der Deutschen Homöopathie-Union [Rechtsnachfolgerin der ursprünglich von Willmar Schwabe, vgl. Anm. 61, gegründeten Firma] unter Beratung von Dozent Dr. med. Heinz Schoeler. Karlsruhe 1982, S. 183

63 Als Beispiele seien genannt (mit freundlicher Unterstützung der Abteilung Dokumentation der Deutschen Homöopathie-Union, Karlsruhe):

Dr. Bernhard Hirschel: Der homöopathische Arzneischatz in seiner Anwendung am Krankenbette. Für Familie und Haus. Leipzig 1873, S. 303: »Lachesis. Blutgefässkrankheiten 81. - Entzündung des Halses 170, des Herzens und Herzbeutels 81. - Gesichtsschmerzen 123. - Krämpfe 118. - Magenerweichung 189. - Muskelatrophie, progressive 243. - Schlafleiden 97. - Seelenleiden 98. - Wassersucht 70. - Entzündung des Gehirns 86.«

Dr. Th. Bruckner: Homöopathischer Hausarzt. Anleitung zur Selbstbehandlung nach den Grundsätzen der Lehre Hahnemann's. Mit besonderer Berücksichtigung der neuesten homöopathischen Literatur Nordamerika's. Fünfte, vermehrte und wesentlich verbesserte Auflage. Leipzig 1881, S. 37: »46. Lachesis (Schlangengift). Diese zuerst von Hering geprüfte und in die Praxis eingeführte Substanz hat sich als ein sehr wirksames Heilmittel bewährt. (Es ist aber vor Allem nöthig, dass man sicher weiss, dass das Präparat echt und zuverlässig ist.) Viele epidemische Krankheiten, wie z. B. Diphtheritis, Nervenfieber, Wechselfieber etc., finden zu gewissen Zeiten in der Lachesis ihr specifisches Heilmittel.«

Dr. Caspari's homöopathischer Haus- und Reisearzt. Mit besonderer Berücksichtigung der Frauen- und Kinderkrankheiten sowie der Unfälle, welche sofortige Hilfe erfordern. Dreizehnte, wesentlich bereicherte und mit zahlreichen Illustrationen versehene Auflage, bearbeitet von Dr. H. Goullon. Leipzig 1888, S. 478: »96. Lachesis. Schlangengift. 6. Gegen Schlangenbiß. - Zungenlähmung.«

64 Diese Deutung stünde nicht notwendigerweise im Widerspruch zu der Ilmers, der im Namen Lachner die Verschlüsselung des biographisch nachweisbaren Schulinspektors Pfützner sieht (vgl. Ilmer: Weihnachten III, wie Anm. 11, S. 58f.). Ergänzend sei darauf hingewiesen, daß Ilmer den Schlüssel ›Pfützner‹ auf den alten Lachner bezieht, während ich den hypothetischen Schlüssel ›Lachesis‹ auf Carpio beziehe: eine mögliche doppelte Codierung, wie sie etwa bei psychoanalytischen Deutungen stets zu erwarten ist. Ungeklärt bliebe, wieviel von dieser Verschlüsselung, sollte sie überhaupt korrekt identifiziert sein, bewußt erfolgt ist.

65 Die vollständige seitenweise Auszählung (Excel-Tabelle) kann beim Autor angefordert werden.

66 Vgl. Anm. 2.

67 Zum Nachrechnen: Sappho sind 35,5 Seiten zugeordnet, davon ist er 29,5 Seiten (die Hälfte von 59) in Interaktion mit Carpio; das entspricht 83 Prozent.

68 Old Shatterhand sind 81,5 Seiten zugeordnet, davon 14,5 Seiten (18 Prozent) in Interaktion mit Winnetou.

69 Schmiedt: Karl May, wie Anm. 6, S. 178. Eine unhinterfragte Übernahme dieses Zitats findet sich bei Martin Lowsky: Karl May. Stuttgart 1987, S. 99.


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70 In der vollständigen Kreuzauswertung liegt die Konfiguration Winnetou-Carpio mit 3,0 Seiten auf Platz 33 von 84.

71 Es handelt sich nur um einen ›biographischen‹ Sachverhalt.

72 Vgl. Graf, wie Anm. 12, S. 104.

73 Vgl. Ilmer: Weihnachten I, wie Anm. 11, S. 113ff.; Ders.: Weihnachten II, wie Anm. 11, S. 218f. Ilmer sieht den Waldenburger Kerzendiebstahl auch im Gedichtwettbewerb und in zahlreichen Motiven der späteren, in Amerika spielenden Teile der Erzählung gespiegelt. Als verführerisch erscheint mir in diesem Zusammenhang - wenn man sich denn auf diese Art der Interpretation einlassen möchte - die Gleichsetzung des ›Prayer-man‹ Frank Sheppard mit dem Waldenburger Seminardirektor Friedrich Wilhelm Schütze (I: S. 119f.) und die des von Sheppard betrogenen und ermordeten Guy Finnell mit dem vom Direktor relegierten Gustav Fiedler (I: S. 124). Viele andere ›Entschlüsselungen‹ sehen hingegen aus wie übers Knie gebrochen, so etwa die Identifikation von Personen und Orten nur über die Initialen des Namens (I: S. 120, 127, 128, 129) oder die Deutung des Weihnachtsgedichts als Mays Eingabe an das Ministerium nach seiner Verweisung (I: S. 115). Besonders kühn sind Formulierungen wie: »Welley - man hört das ›Illing‹ förmlich heraus« (I: S. 126).

74 Vgl. ›Repertorium C.May‹ in: May: Hinter den Mauern, wie Anm. 42, S. 132-43 (134): 41.) Meine erste Liebe. (A. P. 7ten Januar); Ludwig Patsch: Karl Mays erste Liebe. In: Karl-May-Jahrbuch 1979. Bamberg-Braunschweig 1979, S. 189-94.

75 Vgl. Roxin: Mays Leben, wie Anm. 23, S. 62-123 (74).

76 Vgl. Graf, wie Anm. 12, S. 89.

77 Zur Zulässigkeit dieser spekulativen Vorgehensweise sogar als Methode positivistischer Literaturwissenschaft vgl. Wilhelm Scherer: Kleine Schriften zur neueren Litteratur, Kunst und Zeitgeschichte. Hrsg. von Erich Schmidt. Berlin 1893, S. 67f.: Scherer fordert den Interpreten auf, die Methode der »historischen Analogie« anzuwenden, um mit der »klaren und sicheren Kühnheit der Combination und Construction« von dem in der Gegenwart Bekannten auf das weitgehend Unbekannte der Vergangenheit zu extrapolieren, und die Phantasie einzusetzen, da die »Denkbarkeit des Geschehenen« dem Historiker genügen müsse, wo schriftliche Zeugnisse fehlten. Auf der anderen Seite sei aber an die Warnung erinnert, daß Wissenschaftlichkeit erst aus einer extrem selbstkritischen Haltung entsteht, daß also alle Ergebnisse der Phantasie besonders zu hinterfragen sind. Dazu Max Weber: Vom inneren Beruf zur Wissenschaft [1919]. In: Ders.: Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik. Mit einer Einleitung von Eduard Baumgarten. Hrsg. und erläutert von Johannes Winckelmann. Sechste, überarbeitete Auflage. Stuttgart 1992, S. 311-39 (311): »Und wer also nicht die Fähigkeit besitzt, sich einmal sozusagen Scheuklappen anzuziehen und sich hineinzusteigern in die Vorstellung, daß das Schicksal seiner Seele davon abhängt: ob er diese, gerade diese Konjektur (...) richtig macht, der bleibe der Wissenschaft fern.« - Da Scholdt, wie ich nachträglich bemerke, dieses Zitat seinem hervorragenden Beitrag vorangestellt hat, sei in diesem Kontext auch daran noch einmal erinnert, was meines Erachtens nicht oft genug geschehen kann: Günter Scholdt: Karl-May-Forschung und Karl-May-Gesellschaft. In: Jb-KMG 1987. Husum 1987, S. 258-95. Aber wie sagt er selbst? »Ich schlage das Karl-May-Jahrbuch von 1978 auf (...) und sehe, daß offenbar alles oder wenigstens manches schon einmal dagewesen ist.« (S. 291)

78 Graf, wie Anm. 12, S. 100

79 Karl May: Ein wohlgemeintes Wort. In: Neuer deutscher Reichsbote. Deutscher Haus- und Geschichts-Kalender 1883. Stolpen 1882; Reprint in: Karl May: Ein wohlgemeintes Wort. Frühe Texte aus dem ›Neuen deutschen Reichsboten‹ 1872-1886. Mit einer Einleitung von Peter Richter und Jürgen Wehnert. Lütjenburg 1994, S. 129-33. Vgl. auch Graf, wie Anm. 12, S. 109-19.


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80 Graf, wie Anm. 12, S. 100

81 Vgl. Roland Schmid: Nachwort (zu ›Am Jenseits‹). In: Karl May: Freiburger Erstausgaben Bd. XXV. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1984, N3. Erwähnt auch bei Jeglin, wie Anm. 21, S. 272

82 Vgl. Ilmer: Weihnachten II, wie Anm. 11, S. 241, Anm. 62.

83 Vgl. Anm. 14.

84 Den ›Höhepunkt‹ solcher Deutung bildet meines Erachtens die Ableitung von ›Krüger‹ aus ›Münchmeyer‹ (vgl. Ilmer: Weihnachten III, wie Anm. 11, S. 80, Anm. 159): Scrabble-Etymologie.

85 Vgl. Hoffmann: Räuberhauptmann 1, wie Anm. 23, S. 237f.; zusammenfassend Roxin: Mays Leben, wie Anm. 23, S. 62-123 (85).

86 Vgl. dazu May: »Weihnacht!«, wie Anm. 1, S. 28-30 und 96-98: Die Reiseroute der Freunde ist Rehau-Asch-Eger-Tirschnitz-Falkenau-Gossengrün-Bleistadt-Heinrichsgrün; ursprünglich war geplant, wie der reale May von Falkenau nach Karlsbad zu gehen (ebd., S. 87). Ilmer vermutet, daß May Weihnachten 1869 nicht in der Stadt Falkenau, sondern im namensgleichen Dorf Falkenau bei Kamnitz verbracht hat; vgl. Ilmer: Weihnachten II, wie Anm. 11, S. 214; ebenso Walther Ilmer: Zweimal 25 Kilometer ... In: M-KMG 75/1988, S. 43. Bezüglich der von May abgebildeten winterlichen Witterungsverhältnisse vgl. Wilhelm Brauneder: Aus Nordböhmens Hain und Flur: Mays Winter 1869/70. In: M-KMG 108/1996, S. 21-25 (22).

87 Hoffmann: Räuberhauptmann 1, wie Anm. 23, S. 245

88 Vgl. die Aussage Mays vom 3. 7. 1869 vor dem Bezirksgericht Mittweida, zit. bei Hoffmann: Räuberhauptmann 2, wie Anm. 23, S. 269; vgl. auch Ders.: Räuberhauptmann 1, S. 221ff.; so auch gedeutet bei Ilmer: Weihnachten II, wie Anm. 11, S. 222. Heermann hält die Aussage Mays für eine Mystifikation; vgl. Christian Heermann: Der Mann, der Old Shatterhand war. Eine Karl-May-Biographie. Berlin 1988, S. 87.

89 Vgl. Ilmer: Weihnachten II, wie Anm. 11, S. 225.

90 Vgl. Jeglin, wie Anm. 21, S. 272; Ilmer: Weihnachten II, wie Anm. 11, S. 241 (Anm. 62); anders dagegen Stolte: Fiedler, wie Anm. 9, S. 25.

91 Dazu sehr materialreich Ilmer: Weihnachten II, wie Anm. 11, dem ich darin nicht so weit folgen möchte. Ich stimme zwar mit ihm in der trivialen Feststellung überein, daß sich im Werk eines Autors letztlich die gesamte Biographie manifestiert, doch halte ich es für gewagt, mit dem Anspruch aufzutreten, in einer Erzählung jede biographische Spiegelung aufzuspüren, insbesondere dann, wenn ein Korrektiv in Form von entsprechenden Selbstzeugnissen des Autors nicht gegeben ist. Scholdt (Karl-May-Forschung, wie Anm. 77, S. 268) spricht denn auch von »Ilmers uferlos biographistischen Interpretationen«.

92 Ilmer: Weihnachten I, wie Anm. 11, S. 109

93 Vgl. die Briefe Mays an Seyler, z. B. vom 12. 8. 1897, vom 18. 5. 1898 und weitere. In: Fritz Maschke: Karl May und Emma Pollmer. Die Geschichte einer Ehe. Bamberg 1973, S. 228-50.

94 Mir persönlich wäre es angenehm, wenn an diese von mir eher satirisch gemeinte Bemerkung keine weiteren Überlegungen geknüpft würden. Ein parapsychologisches Forschungsgebiet ›May als spiritistisches Medium‹ hätte uns gerade noch gefehlt.

95 Vgl. Schmiedt: Karl May, wie Anm. 6, S. 176ff.; Vollmer, wie Anm. 7, S. 8f.

96 Vgl. Roxin: Mays Leben, wie Anm. 23, S. 78f.; Hoffmann: Räuberhauptmann 2, wie Anm. 23, S. 260ff; grundlegend Plaul, wie Anm. 23.

97 Zit. nach Wollschläger: Die sogenannte Spaltung, wie Anm. 28, S. 50; auch bei Roxin: Mays Leben, wie Anm. 23, S. 96.

98 Vgl. Schmiedt: Karl May, wie Anm. 6, S. 178; ausführlich Ingmar Winter: »Er lag in meinem Schoße«. Gedanken zu Sterbeszenen im Winnetou-Roman. In: M-KMG 67/1986, S. 38-40; so auch angeführt von U. Schmid, wie Anm. 10, S. 97; vgl. insbesondere auch: Wolfram Ellwanger/Bernhard Kosciuszko: Winnetou - eine Mutter-


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imago. In: Karl Mays ›Winnetou‹. Hrsg. von Dieter Sudhoff/Hartmut Vollmer. Frankfurt a. M. 1989, S. 366-79.

99 Wollschläger: Die sogenannte Spaltung, wie Anm. 28, S. 51

100 May: Leben und Streben, wie Anm. 14, S. 9

101 Günter Scholdt: Vom armen alten May. Bemerkungen zu ›Winnetou IV‹ und der psychischen Verfassung seines Autors. In: Jb-KMG 1985. Husum 1985, S. 102-51 (131)

102 Schmiedt: Karl May, wie Anm.6, S. 179

103 Heinz Stolte: Die Reise ins Innere. Dichtung und Wahrheit in den Reiseerzählungen Karl Mays. In: Jb-KMG 1975. Hamburg 1974, S. 11-33 (29)

104 Peters, wie Anm. 46, definiert wie folgt (S. 405): »Persönlichkeitsstörung, narzißtische (f). (O. Kernberg, 1974/75). Behandlungsbedürftige neurotische Abwandlung der Persönlichkeitsstruktur. Gestört sind die ›internen‹ Beziehungen zu anderen Menschen, während das soziale Verhalten eher unauffällig ist. Die Betroffenen haben ein abnormes Verhältnis zu sich selbst (libidinöse Besetzung des Selbst). Dies äußert sich in verschiedenen Charaktereigenschaften und den Abwehren dagegen: intensiver Ehrgeiz; Größenphantasien; Minderwertigkeitsgefühle; Abhängigkeit von Bewunderung, Zustimmung und [›feinen‹, möchte man mit May hinzufügen] Gratifikationen von außen; Gefühle der Langeweile und Leere; Bestreben, wohlhabend, mächtig und schön zu sein; stetige Ungewißheit und mangelnde Genugtuung über sich selbst; bewußte oder unbewußte Ausbeutung anderer; intensive Neidgefühle; Tendenz zu omnipotenter Kontrolle [von May literarisch projiziert auf Figuren wie Old Shatterhand] und narzißtischem Rückzug. Es handelt sich nicht um das Stehenbleiben auf einer frühen Entwicklungsstufe oder um Regression, sondern um eine Fehlentwicklung von Anfang an. Aus pathologischen Objektbeziehungen kommt es zur verfälschten Entwicklung von Ich und Über-Ich. Nach R. Battegay (1977) wäre gemäß dt. Tradition eher von einer narzißtischen (Charakter-)Neurose zu sprechen.«

105 Vgl. Roxin: Vorläufige Bemerkungen, wie Anm. 28; grundlegend Langer, wie Anm. 28.

106 Vgl. Alice Miller: Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst. Frankfurt a. M. 1979.

107 Graf, wie Anm. 12, S. 95

108 Vgl. z. B. das diesbezügliche Zeugnis von Fehsenfeld, in: Maschke, wie Anm. 93, S. 44; ferner die Mitteilung Max Weltes, »daß Karl May nur ein Zündholz am Tag brauche, weil er Kettenraucher sei«, ebd., S. 78.

109 Vgl. nochmals die Definition der narzißtischen Störung bei Peters, wie Anm. 104: »Es handelt sich (...) um eine Fehlentwicklung von Anfang an.«

110 Vgl. Wollschläger: Die sogenannte Spaltung, wie Anm. 28, S. 44ff.

111 May: Leben und Streben, wie Anm. 14, S. 98; vgl. Graf, wie Anm. 12, S. 103.

112 Unberücksichtigt bleibt dabei Mays heterosexuelles Leben, aus dessen Anfangszeit einige Frauenbekanntschaften (Anna Preßler 1858/59; Henriette Meinhold 1861; Auguste Gräßler 1868/69; Malwine und Alma Wadenbach 1869; Anna Schlott 1874/75; Marie Thekla Vogel 1875/76) überliefert sind und das sich im Zusammensein mit Emma Pollmer von der ersten hypnotisch-erotischen Begegnung über den allmählichen Rückzug vor ihrem animalischen Wesen bis hin zum Enthaltsamkeitsgelübde nach der Orientreise wandelte, aber wohl auch die eine oder andere Affäre seinerseits nicht ausschloß, während er es in der Ehe mit Klara Plöhn vollends ins asexuelle Edelmenschentum transformieren durfte, wobei ihr aufschlußreicher Kunstname ›Schakara‹ - man verzeihe mir diese Sitarismen - wie eine Mischung aus ›Scheker‹ (zuckersüßes Kosewort), ›Schanker‹ (Bestrafung der Sexualität, Schuldgefühle, Angst), ›Schakal‹ (Animalität, Angst) und


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›Scharlih-Kara‹ (Autoerotik) klingt. Wenn schon eine biographische und tiefenpsychologische Aufarbeitung der ersten Ehe Mays überfällig ist (die affirmativ verharmlosende Dokumentation von Maschke, wie Anm. 93, leistet das keinesfalls), so gilt dies um so mehr für die zweite Ehe, ihre Vorgeschichte und ihre Wirkung weit über Mays Tod hinaus.

113 May ist beileibe nicht der einzige Autor, der unterdrückte Sexualenergie auf diese Weise nach außen abgeleitet hat. Erinnert sei etwa an Thomas Mann, der im Hinblick auf seinen Trieb von den »Hunde(n) im Souterrain« sprach (Brief an Grautoff vom 17. 2. 1896, zit. nach Hermann Kurzke: Thomas Mann. Epoche - Werk - Wirkung. 3., erneut überarb. Aufl. München 1997, S. 56). Auch bei Hermann Hesse oder Franz Kafka ließe sich in dieser Hinsicht wahrscheinlich Material zutage fördern. Das bedeutet aber keinesfalls, daß sexuelle Askese eine Voraussetzung für Kreativität ist. Ein klassisches Gegenbeispiel dürfte Goethe sein, dem seine gelebten Beziehungen einen ungeheuren Fundus an schöpferischer Rohmasse bereitstellten. Meines Wissens gibt es zu diesem Thema bislang keine systematische Untersuchung.

114 Paul Watzlawick: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn, Täuschung, Verstehen. München 1976, S. 38f.

115 Hans Wollschläger und Harald Eggebrecht: Rückblick auf Karl May. In: Karl May - der sächsische Phantast. Studien zu Leben und Werk. Hrsg. von Harald Eggebrecht. Frankfurt a. M. 1987, S. 131-52 (152)

116 Vgl. May: Leben und Streben, wie Anm. 14, S. 111ff.

117 Vgl. Wollschläger: Die sogenannte Spaltung, wie Anm. 28, S. 45.

118 Vgl. Ilmer: Weihnachten II, wie Anm. 11, S. 210ff.

119 Vgl. Anm. 49.

120 Vgl. Ilmer: Weihnachten II, wie Anm. 11, S. 215.

121 Vgl. ebd.

122 Vgl. Schmiedt: Karl May, wie Anm. 6, S. 177ff.

123 Ilmer: Weihnachten I, wie Anm. 11, S. 118

124 Vgl. Platon: Symposion. In: Ders.: Sämtliche Werke Band 2: Lysis, Symposion, Phaidon, Kleitophon, Politeia, Phaidros. Übers. von Friedrich Schleiermacher. Reinbek 1994, S. 37-101 (60ff. = 189c-190c).

125 Ich erlaube mir, diesen Begriff bei seinem ›Erfinder‹, dem Wiener Psychiater Jakob Levy Moreno (1921), auszuleihen, um damit seelische Vorgänge zu kennzeichnen, die quasi wie in einem Drama innerhalb derselben Persönlichkeit auf mehrere Rollen verteilt sind, wohl wissend, daß Moreno unter ›Psychodrama‹ etwas ganz anderes verstanden wissen wollte, nämlich eine bestimmte Methode der Psychotherapie, bei der im freien dramatischen Spiel unter anderem psychische Konstellationen nachgestellt und auf diese Weise bewußt gemacht werden. Die von mir gewählte Bedeutung hingegen verweist auf eines der Lieblingsworte Mays: ... nicht Einzelwesen, sondern Drama ist der Mensch. (May: Leben und Streben, wie Anm. 14, S. 111)

126 Vgl. Claus Roxin: »Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand«. Zum Bild Karl Mays in der Epoche seiner späten Reiseerzählungen. In: Jb-KMG 1974. Hamburg 1973, S. 15-73.

127 Die Begriffe ›literat‹ und ›oral‹ bezeichnen die relative Nähe zu den Polen von reiner Schriftlichkeit und reiner Mündlichkeit, die in der Geschichtswissenschaft schon lange unterschieden, in der Literaturwissenschaft aber erst seit einigen Jahren (z. B. in Untersuchungen zur Alltagssprache) diskutiert werden. Auf keinen Fall will ›oral‹ hier in Freudschem Sinn verstanden werden.

128 Dagegen spricht nicht, daß es sich im einen Fall um die Reintegration gestörter Anteile handelt, im anderen Fall um die Amalgamierung von Ich und Ich-Ideal. Das ›tertium comparationis‹, das die Metapher in zulässiger Weise konstituiert,


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ist der jeweilige Verschmelzungsprozeß, nicht die Gleichsetzbarkeit der zugehörigen Ingredienzien.

129 Auch hierin ist Ilmer zu widersprechen, der den »Durchbruch zum Ich« erst in der Erzählung ›Am Jenseits‹ gespiegelt und ›»Weihnacht!«‹ lediglich als abschließenden Höhepunkt (»letzte Winnetou-Erzählung«) der Reiseerzählungen sieht. Vgl. Ilmer: Durchbruch, wie Anm. 2.

130 Claus Roxin: Fehsenfeld's Wiederkehr (III). In: M-KMG 62/1984, S. 47-54 (49)

131 Vgl. Wollschläger: Die sogenannte Spaltung, wie Anm. 28, S. 55f.

132 Schmiedt: Karl May, wie Anm. 6, S. 179

133 Vgl. Euchar Albrecht Schmid: Karl Mays Tod und Nachlaß. In: Karl May's Gesammelte Werke Bd. 34: »Ich«. Bamberg. 37. Aufl. 310. Tsd. 1985, S. 313-52 (327).

134 Roxin (»Dr. Karl May«, wie Anm. 126, S. 58) spricht in diesem Zusammenhang vom »Regressionsschock, der May auf die Stufe des kleinen Kindes zurückwarf und so die zerstörte Mutterbindung wiederherstellte«, der hier »vorweggenommen« sei. Ich meine hingegen, daß May hier nichts »vorweggenommen« hat, sondern das weniger schockierende als vielmehr mit großer Erleichterung wahrgenommene Erlebnis einer Reintegration auf vielen Ebenen, gerade eben auch in bezug auf die Beziehung zu seiner Mutter, literarisch ausgestaltet hat.

135 Es sei hier nochmals an den zu diesem Thema grundlegenden Beitrag von Scholdt: Karl-May-Forschung, wie Anm. 77, erinnert.

136 Harald Fricke: Wie trivial sind Wiederholungen? Probleme der Gattungszuordnung von Karl Mays Reiseerzählungen. In: Erzählgattungen der Trivialliteratur. Hrsg. von Zdenko Škreb und Uwe Baur. Innsbruck 1984, S. 125-48 (126). Zit. nach U. Schmid, wie Anm. 10, S. 13.




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