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IX. Todesangst


Die Bestie will May an den Kragen, psychisch wie physisch, so empfindet er das. Er macht die langsam in ihm hochkriechende existentielle Angst vor dieser Frau an einigen wenigen Sachverhalten fest:

   Einmal natürlich an dem Umstand, daß Emma das Sterben und der Tod ihres Großvaters nicht nur gleichgültig war, was die Suche nach dem Nachlaß des Sterbenden belege; sie habe vielmehr an seinem Tod Schuld getragen. Kurz nach der Eheschließung sei ihm nämlich zu Ohren gekommen, daß Pollmers Schlaganfall bereits am Tage vor Mays Ankunft geschehen sei; aus diesem Grund habe der erst am nächsten Tag herbeigerufene Arzt gesagt, daß es nun zu spät sei, den Tod zu verhindern. Eine quälende Nacht lang habe der alte Pollmer versucht, zum Kanapee zu kriechen, sich dabei aber vollständig unter dem Kanapee verkeilt - während Emma die Nacht in einem fremden Bett verbracht und dann auch noch verbreitet habe, sie habe bei May übernachtet, der aber erst am nächsten Tag angekommen sei: Der Erste, den sie marterte, war ihr Großvater. Er ist daran gestorben, elend am eigenen Geifer erstickt, direct durch ihre Schuld! (Studie, S. 817f.; vgl. S. 825) Die Parallele zu dem Sudermann-Stück ›Heimat‹ ist fürwahr frappierend. Hier wie dort die ›leichtfertige‹, nach Selbstverwirklichung und sexueller Erfüllung strebende Frau, die ihren verlassenen ›Vater‹ in den tödlichen Schlaganfall treibt.

   Dann gab es, und man hat das Ereignis auf das Jahr 1887 zu datieren, eine wissenschaftlich beglaubigte Warnung des berühmten Heil-Magnetiseur und Spiritisten Professor Hofrichter, Dresden, Marienstraße, dessen Frau Emma kennen- und als Komplott-Komplizin schätzen gelernt habe. Gegenseitige Besuche mit verblüffenden Experimenten der von ihm ausgeübten Kraft sollen stattgefunden haben, wobei oft Dresdener wissenschaftliche Größen und Vertreter der Presse bei ihm versammelt gewesen seien. Während May wie Watte in seiner Hand gewesen sei, habe seine Kraft bei Emma versagt.


Sie war stärker als er. Sie beeinflußte ihn, anstatt er sie. Er schwitzte große Tropfen, wenn er sie auch nur zwingen wollte, die Augen zu oder auf zu machen. Das gab ihr Spaß. Sie war stolz auf diese ihre Macht. ... Er bekam Angst um mich. (Studie, S. 842f.)


Und dann folgt als Zitat - wobei May das erste Anführungszeichen vergißt, was Zweifel an dem Zitat erweckt - eine Ansprache von Prof. Hofrichter, in der all die Mayschen Erkenntnisse zusammengefaßt sind, die May im ersten Teil der ›Studie‹ bereits dargelegt hat. Diese Szene ist die einzige, wissen-


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schaftliche Autorität beanspruchende, Passage in dem ›zweiten‹ Teil der ›Studie‹: In dieser Frau wirken diabolische Kräfte, die, wenn sie sich nicht nach außen betätigen können, Emmas Körper vernichten. Hüten Sie sich also! Solche Mächte sind zu Allem fähig, selbst zum Gattenmord und Vatermord, wenn sie denken, daß es nicht anders geht! Und May fährt fort: Das war Professor Hofrichters fachmännische und zugleich auch persönliche Meinung ... (Studie, S. 844)

   Die präzise Adressenangabe und die Mitteilung von Presseanwesenheit bei den wissenschaftlichen Experimenten legen einen realen Hintergrund dieser Begegnung nahe; dennoch ist es offenbar noch nicht gelungen, zu ermitteln oder auch auszuschließen, ob es jenen Professor Hofrichter tatsächlich gegeben hat.260a

   Dann der Vorfall in Damaskus; dort hört May (und auch Emma soll es gehört haben), daß von dem Karawanenweg nach Bagdad wegen umherstreifender kriegerischer Araber sowie wegen der herrschenden Gluthitze mit Leichenpest, Hungertod und Dysenterie im Gefolge dringend abzuraten sei. Ja, so Mays Wertung, eine solche Reise bedeute den unbedingt sichere(n) Tod für jeden, der so wahnsinnig sei, zur jetzigen Jahreszeit dorthin zu fahren (Studie, S. 900). Trotzdem soll Emma auf seine Fahrt nach Bagdad massiv hingewirkt haben, und das, obwohl May ihr die aus seiner Sicht bestehenden Gefahren selbst dargelegt und auf das unzureichende Reisegeld sowie seinen aktuell durch Krankheit geschwächten Zustand hingewiesen habe. Da brach bei ihr die Angst vor meiner Heimkehr und die Wuth durch (Studie, S. 901), denn sie mußte ja seinen Zorn wegen der von ihr vernichteten Papiere fürchten. Es folgt die bereits beschriebene Szene Emmas wegen der Geldverschwendung; Karl stehe da wie ein dummer Junge ..., der sich vor einem Bischen Sand und Wärme fürchtet und wegen der albernen, ganz unschädlichen Ruhr in ein Angstgeheul ausbricht. Und nun delegiert May seine eigenen Ängste an seinen arabischen Diener: Mein arabischer Diener stand dabei und machte ganz große, entsetzte Augen. Er fühlte, daß mich dieses Weib gradezu in den Tod schicken wollte. (Studie, S. 901) Zum Verhältnis des arabischen Dieners Sejjid Omar zu Emma hatte er zuvor bereits geschrieben: Er konnte sie nicht ausstehen, denn er war ein unverdorbenes, unangekränkeltes Naturkind und stand als solches außerhalb des Einflusses einer sinnlichen, europäischen Frau. (Studie, S. 890)

   Auch hier also wieder ein zurückhaltend formulierter Sachverhalt, der die viele Seiten zuvor niedergeschriebene Behauptung:


Sie wünschte, daß ich überhaupt nicht wiederkommen möge, und hat sich dann später die größte Mühe gegeben, mich mitten in der Pest- und Fieberzeit in die Wüste und nach Bagdad zu treiben, ein ebenso wahnsinniger wie mörderischer Gedanke, dessen Ausführung ganz unbedingt mein Leben gekostet hätte. Doch hiervon später! (Studie, S. 882)


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auf einen realen Vorfall reduziert, der Deutungen eröffnet, aber keinen Beweis liefert.

   Denn Emma scheint seine Gefahreneinschätzung ja für übertrieben zu halten, Emma nimmt sie - und damit ihren Mann - schlicht nicht ernst, wie schon bei seiner Bitte, die Münchmeyer-Briefe wegen ihrer eminenten Wichtigkeit gut aufzubewahren. Dann aber kann ihr ein wie auch immer gearteter Todeswunsch nicht unterstellt werden. Und daß May zur Kommentierung dieser Szene seinen Diener vorschiebt, der Emma ohnehin nicht leiden kann, belegt seine Distanzierung von der anfänglichen Wertung. Emmas Kapitaldelikt schrumpft real zu einer für das Selbstbewußtsein des Mannes tödlichen Ablehnung: sie glaubt nicht an ihn, hält ihn für einen kleinen Jungen ...

   Im Vergleich zu seiner Eingabe an das Landgericht Berlin im Jahr 1911 ist die ›Studie‹, die mit höherem Gefühlsaufwand verfaßt wurde, in ihrer Wirkung zwar suggestiver, aber letztlich im mitgeteilten Sachverhalt vergleichbar: und dort sagt er präzise zu der im übrigen ähnlich geschilderten Damaskus-Episode: Es wurde mir ängstlich, auch ohne daß ich dies wußte (nämlich daß Emma ihm zusätzlich auch noch Honorareinnahmen während seiner Abwesenheit von nur 6.000 Mark angegeben hatte, sie aber tatsächlich mehr als das vierfache entgegengenommen habe); es trieb mich heim. Ich nahm zwar nicht an, daß sie meinen Tod wünsche, aber daß sie aus irgend einem Grunde den Tag unserer Heimkehr fürchtete, das schien mir gewiß zu sein.261

   Tatsächlich muß in Damaskus etwas Dramatisches zwischen Karl und Emma vorgefallen sein, denn May schrieb am 12. Juni 1900, dem Tag der Abreise von Damaskus nach Beirut, ein Gedicht für Emma: Du zürnst mir, weil ich oft streng gewesen ... Das Gedicht beschreibt eine gewisse Resignation, nachdem das heilige Zürnen, das an der Geliebten tadelte, was sie fest am Staube hält, zwecklos blieb. Die Geliebte wurde nur vergällt. Nun werde er mit den strengen Worten aufhören und sie schweigend aufwärts tragen; wenn sie aber ihre Ketten liebe, könne er nur auf Gottes Hilfe hoffen, denn noch gebe er sie nicht auf.262

   In Beirut soll es noch zu einem bittern, eigentlich herzbrechenden Kampf zwischen mir und ihr gekommen sein.


Sie wußte, daß es in Berut die letzte Möglichkeit gab, mich los zu werden. Ging es von hier fort, so war Alles zu spät. Darum wurde auch Alles versucht. Sie fürchtete sogar die größte Unvorsichtigkeit nicht und auch nicht die Gefahr, nun völlig durchschaut zu werden. Mir wurde um mein Leben himmelangst. Es gab eine Angst und eine Wuth in ihr, die zu Allem fähig war. Ich getraute mich nicht, mit ihr zusammen zu wohnen. Sie bekam im Hotel ein besonderes Zimmer, zwar das schönste, was es gab, doch von dem meinen vollständig abgelegen. Und während der ganzen Heimreise durch Kleinasien, Griechenland und Italien habe ich von ihrer Hand keinen Bissen mehr gegessen, außer wenn sie selbst auch davon aß oder wenn ich ganz genau wußte, daß sie nichts dazu hatte thun oder daran machen können. (Studie, S. 902)


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Auch wenn man diese Passage mehrfach liest: sie enthält nichts außer Mays Angst angesichts Emmas heftiger Gefühle der Angst (vor der Entdeckung ihrer Missetat) und der Wut, zu der sie bei Auseinandersetzungen fähig ist. Er beschuldigt sie nicht, einen Anschlag auf ihn geplant zu haben. Er hält aber ihre Gefühle, ihn los werden zu wollen, seine Heimkehr verhindern zu müssen, für so stark, daß er in existentielle Ängste gerät.

   Einen unmittelbaren Niederschlag in sein Reisetagebuch oder in eine andere Dokumentation haben dieser heftige Streit in Beirut und seine Folgen nicht gefunden, was aber nicht entscheidend gegen die Richtigkeit seiner Selbstdarstellung spricht.

   Mays programmatische Eintragungen in sein Reisetagebuch vom 17. Juni 1900, am Tag vor der Abreise aus Beirut niedergeschrieben, reflektieren allerdings bereits die späten utopisch-idealen Literatur- und Lebensziele, weltfern und heilsbringend. Und diese Hinwendung ins Bedeutend-Allgemeine läßt sich auch als Fluchtbewegung aus einer bedrückenden Realität deuten:


Aber selbst in diesen Trümmern blieb Jahrtausende lang das Eine, Ewige erhalten: Der Himmelsschein des göttlichen Waltens, dessen Zerrbild das menschliche Streben gewesen war und heute noch ist - die Rückahnung zum Paradiese, welche die Seele dieser Bauten geworden war. Und nach dieser Seele habe ich zu suchen, um von ihr zu lernen, mit ihr zurückzukehren zum Anfang und dort einzusehen, daß die Nichtigkeit des Menschen und all seiner Werke nur mit der Erkenntniß aufhört, daß der Mensch auf die Erde kam, um sie nach dem Bilde dessen, was er jenseits sah, zum Paradiese zu gestalten. Dazu gehört vor allen Dingen, daß er der persönlichen Macht für persönliche Zwecke entsagt und einzig und allein bestrebt ist, das Glück und Heil der Allgemeinheit zu erwirken. ... Das ist die soziale Aufgabe der Völker, der Gemeinden, der Familien und auch jedes einzelnen Menschen, also ein allgemeines Auf- und Untergehen im Streben nach dem Glücke der Gesamtheit, dem Gesamtglück aller Menschen. Wer nicht daran teilnimmt, ist nicht nur unnütz, sondern sogar schädlich.


Erst wenn der Mensch diese Ziele erstrebe, werde ihm erlaubt sein, zurückzukehren in ein Paradies, von dem May ausdrücklich anmerkt, daß der Garten Eden ... niemals auf der Erde gelegen habe.263

   Auf der Schiffsreise von Beirut nach Istanbul, am 22. Juni 1900 notiert, verfaßt May unter der Überschrift: Sujet, letzte Strophe, unter anderem folgende Zeilen:


... Du bist nicht gut und bist nicht schlecht / Und also deiner Schwachheit Knecht. // Daß zwischen bös sein oder gut, / Die Schwachheit auf dem Kissen ruht. // »Ich bin nicht bös«, sagst du von dir / Und bist mit dir so recht zufrieden, / Doch merkst du auf, so wirst du hier / Und dort von irgendwem gemieden.264


Diese Sätze könnten Emma meinen, aber auch May selbst, der immer nur mit mattem Rückzug zu reagieren weiß.


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   Der Streit setzt sich zu Hause, nach Entdeckung, daß Emma die Papiere vernichtet hat, fort, gesteigert dadurch, daß May von ihrem Leben in seiner Abwesenheit erfährt und entsprechende Spuren im ›nackten Zimmer‹ besichtigt.


Es war nachgerade nicht nur schlimm, sondern lebensgefährlich und ekelhaft geworden. Ich schlief nicht mehr in demselben Zimmer mit ihr, sondern droben in einer kleinen, niedrigen Bodenkammer, die nicht einmal mehr reingehalten wurde, wenn ich nicht selbst dafür sorgte, daß es geschah. (Studie, S. 904)


Emma ist unbeeindruckt, denn sie baut auf ihre physische Anziehungskraft und droht im übrigen, bei Trennung sich wie die Münchmeyer an die Presse zu wenden. Für den Fall, daß er Pauline Münchmeyer in einen Strafprozeß verwickele, der sie, Emma, wegen der Briefvernichtung auch erfassen könne, werde sie mit allen Möglichkeiten reagieren. Sie fürchtete, so May, eine hieraus sich ergebende Scheidung, gegen die sie kämpfen werde: Sobald es sich um eine Scheidung handle, sei ihr Alles gleich, ob gut oder schlecht, ob lebendig oder todt! Lebendig oder tot, das nimmt er ernst. Die Sorge für meine Ehre und für mein Leben rieth mir also, den Rückweg anzutreten ... (Studie, S. 906)

   Und dann bricht sie aus ihm heraus, die Qual der letzten langen Jahre bis zum dramatischen Schluß, die in der Rückschau alle auch schönen, befriedigenden, intensiven Momente dieser Ehe zu einem Nichts zusammenschnurren läßt:


Sie [Pauline Münchmeyer] wird es höchst wahrscheinlich auch noch so weit bringen, daß sich die Bestie [Emma] den eigenen Ast, auf dem sie sitzt, absägt und dann vollends und ganz zu Grunde geht, zur völlig congruenten Strafe dafür, daß sie sich jahrelang die größte Mühe gegeben hat, mich straflos auszulöschen, wie man eine Lampe auslöscht, deren Docht man heimlich immer tiefer schraubt. Das hat sie wirklich gethan! Und zwar mit voller Absicht! Mit beispiellosem Raffinement! Und mit einer Ausdauer, die keine Pause des Erbarmens kannte! Ich bin jahrelang ein Langsam-Sterbender gewesen. Ich war dem Schicksal ausgesetzt, körperlich und seelisch verhungern und verkummern zu müssen. Daß dies nur bis zu einem gewissen Grade, nicht aber ganz geschah, das habe ich meiner überaus kräftigen, widerstandsfähigen Constitution und meiner jetzigen Frau zu verdanken, die sich im letzten Augenblicke meiner erbarmte und mit unendlicher Geduld und Aufopferung meine schon fast abgestorbenen Verdauungswerkzeuge zwang, wieder lebendig und thätig zu werden. Sie hat sich meiner schweren Erkrankung wie eine Pflegerin von Beruf, wie eine barmherzige Schwester angenommen ... (Studie, S. 909)


Es bedarf keiner näheren Erläuterung, daß die Metaphern, die May für seine Wahrnehmung der letzten Ehejahre wählt, einen realen Tötungsvorsatz Emmas nicht einmal ansatzweise nahelegen. Es sind Bilder, die einen Verlust an Lebenskraft illustrieren, der an die Grenze des physisch Ertragbaren führte.


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   Mays Hinweise auf Emmas Redensarten »Er frißt fast gar nichts mehr. Das macht mir Spaß!« oder »Er schläft nur noch in der Bodenkammer. Damit will er mich kriegen; ich lach ihn aber aus!« (Studie, S. 912), Emmas verdächtiges Interesse an homöopathisch verdünnten Giften aus Plöhns Verbandstoffabrik (Studie, S. 912f.), ihre hämischen Kommentare zu Klaras Trauer nach dem Tod des Ehemanns - der Emma ablehnte - (Studie, S. 914), das alles ist gar nicht mehr nötig, um die seelische Krise nachzuvollziehen, in die May spätestens 1901, Beginn auch des Fischer-Prozesses, bis ins Jahr 1902, Beginn auch des Münchmeyer-Prozesses, geriet: Ich war ihr im Wege; sie wollte frei sein, und sie ist eine perverse, gewissenlose Frau; das genügt für beide, für den Psychologen und für den Psychiater! Nicht für den Juristen, wie wir wissen. Aber für den Ehemann allemal, und May ist sich dessen gewiß. Er hat Angst um sein Leben: Ich konnte überhaupt schon fast gar nichts mehr essen und lebte nur noch von ein Bischen Milch und Obst. Die Folgen blieben nicht aus; der Verfall trat ein ... (Studie, S. 913f.)

   Die Entfremdung, die gegenseitige Aggression, die nach Verzicht auf sexuelle Begegnung unüberbrückbar gewordene Distanz zwischen den beiden: das erzeugt ein Gefühl der totalen Einsamkeit, der Angst, neben dem Vernichtungsfeldzug von Presse und Verlagen, der öffentlichen Ablehnung des neuen Werkes - ›Himmelsgedanken‹ (1900), ›Et in terra pax‹ (1901) - nun auch noch im persönlichen Bereich um die bloße Existenz kämpfen zu müssen. Das ist zu viel für May: und für wen wäre eine solche Situation überhaupt zu ertragen? Daß einem die Nähe eines Menschen ekelhaft wird, daß sich einem die Kehle zuschnürt bei gemeinsamen Mahlzeiten, dürfte jedem Menschen, der bereits einmal eine krisenhafte Trennung durchlebt hat, bekannt sein. In seiner Eingabe hat May, wohl bezogen auf eine Zeit vor 1896, seine generell empfindliche Reaktion auf atmosphärische Störungen während der Nahrungsaufnahme eindrucksvoll dargestellt.


Dazu kam, daß die Pollmer allen Zank und alle Quälereien, in denen sie Virtuosin war, auf die Essenszeit verlegte. Sie begründete das damit, daß ich ja Tag und Nacht beim Schreibtische sitze und sie also nur während der Mahlzeiten Gelegenheit habe, mir vorzuwerfen, was ihr nicht gefalle. Da stand ich still vom Tische auf und kehrte, ohne gegessen zu haben, an meine Arbeit zurück, um, wenn der Hunger kam, ihn dann im Restaurant zu stillen. Dies war ihr nicht etwa unlieb, sondern lieb, denn nun war ich vom Hause fort und sie konnte mit ihren Freundinnen schalten und walten, wie es ihr beliebte.265


Wenn dann die Entfremdung so stark wird, daß einem die Situation ›auf den Magen schlägt‹, und wenn schließlich, nach wochenlanger psychosomatisch bedingter Nahrungsreduktion, physische Störungen auftreten, die tatsächlich Nahrungsaufnahme und Verdauung verhindern, sind das nachvollziehbare Entwicklungen.266 Bei May münden sie in die heftige Anklage: Emma ist schuld. Und wenn ich jetzt stürbe: wäre es ihr egal.


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   Die Folgen dieser Entwicklung jedenfalls, Mays Schwäche und Hinfälligkeit, sind nicht nur auf Fotos aus jener Zeit erkennbar,267 sondern in dem nahezu in Echtzeit geschriebenen ›Silberlöwen III‹ (Februar 1902 bis 15. Juli 1902), ab dem 2. Kapitel ›Ueber die Grenze‹ und ›Am Tode‹ nachzulesen, in denen der Held lebensgefährlich erkrankt ist, bis zum Skelett abmagert, Schakara als Mutter-Imago und Pflegerin auftritt und eine bis zur comic-haften Harmlosigkeit verniedlichte Köchin Pekala erscheint, die keinen suggestiven Blick mehr hat, nein, aber da gerät May ins Stammeln: Und die Aeuglein unter ihr! [der Stirn] Ja, diese Aeuglein! Wer kann überhaupt Augen beschreiben? Und nun gar so liebe, kleine, gute, außerordentlich lebendige! (Silberlöwe III, S. 348f.)

   Nein, das kann er natürlich nicht, mit seiner Angst vor Emmas zwingendem dunklen Blick, wie er auch Pekalas Gesicht nicht beschreiben kann, das aus den Halbkügelein der Wangen, neckischem Grübchen im Kinn und einem Näschen besteht, das frohsinnig in die Welt hinausschaut:


Und das Gesicht? Könnte ich es doch beschreiben! Dieses Gesicht war zwar etwas Ganzes, sogar etwas seltsam Harmonisches, und aber doch schien es, als ob jeder einzelne seiner Teile sich bestrebe, herauszutreten und für sich selbst zu bestehen. ... Man darf ja nicht denken, daß es häßlich gewesen sei. O nein! Es war zwar nicht schön, nicht hübsch, nicht lieblich, nicht - - ja, was noch nicht? Es war überhaupt alles nicht, aber es war gut, ja wirklich gut! Aber wie alt? Zwanzig? Dreißig? Vierzig? Wer das nur sagen könnte! Ich wollte genauer hinsehen, da aber drehte sie sich um und verschwand nach innen. (Silberlöwe III, S. 348f.)


Gott sei Dank, schwingt da mit; und nie wieder sieht er genau hin, er wiederholt allenfalls die harmlosen Details dieses Gesichts: Mündchen, Wänglein, Näschen und Aeuglein. (Ebd., S. 353) Nicht einmal dem auktorialen Autor gelingt also die Reduzierung einer Dämonin auf eine niedlich-komische Kochmamsell: wer ein Gesicht zu gut kennt, kann es nicht mehr beschreiben. Und wer einen suggestiven Blick in geradezu unbeschreiblich liebe Äuglein verwandelt, bekommt Probleme. Dabei geht es in den ›Silberlöwe‹-Bänden III und IV um Sehen, Nicht-Sehen-Können, die Unmöglichkeit, die Augen zu öffnen, mit den Augen der Phantasie Erschauen, und es geht um Augen und Augenblicke bis hin zu Sehduellen, Ich oder Er. Und wie May Augen beschreiben kann! Die Augen des Pedehr zum Beispiel:


Geradezu selten schön waren seine großen, sonderbaren Augen. Es schien, als ob eine bisher unberührte Gazellenunschuld in ihren dunklen Tiefen wohne. Und doch konnten aus diesen Tiefen Blitze aufsteigen, als ob sich da unten plötzlich ein verborgener Krater geöffnet habe. Dann bekam die schwarze Pupille einen hellen, fast möchte ich sagen, gelben Ueberschein, und die Lider öffneten sich hoch und weit, als ob alle Ströme und Fluten einer unbekannten seelischen Welt hervorbrechen wollten. ... und doch war er unter allen Anwesenden der einzige, dem ich ohne allen Vorbehalt meine Hand hätte geben können. Warum, das wußte ich nicht, aber ich fühlte so. (Silberlöwe III, S. 168f.)


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Und, wie Halef bemerkt:


»Jetzt aber möchte ich mich fragen, ob ich wohl schon einmal etwas so Schönes wie diese Augen gesehen habe. ... Im Herzen des Menschen wohnt entweder der Himmel oder die Hölle, und das Auge ist das Fenster, durch welches entweder Allah oder der Scheitan seinen Blick nach außen richtet.« (Silberlöwe III, S. 242)


Aus Emmas Augen blickt May die Hölle an. Und dieses Gefühl ist so stark, daß selbst die literarisch schlichteste Form des Bannens der Furcht, nämlich die Umkehrung der realen Verhältnisse in ihr Gegenteil, fehlschlägt. Etwas Mächtiges in ihm sträubt sich dagegen. Er hat bereits am eigenen Leibe erlebt, daß solche künstlerischen Strategien mißlingen.

   Mays ›Studie‹ ist keine juristische Anklageschrift gegen Emma, wie sie zum Teil mißverstanden worden ist.268 Sie ist das Dokument der Selbstdarstellung eines Mannes, der mit Angst - ob in Form von angemessener Furcht oder vom Anlaß sich krankhaft entfernender, reaktiv-psychotischer Angst, muß hier nicht nur mangels näheren Erkenntnisgewinnes offenbleiben - und Selbstzerstörung auf weibliche alltägliche wie auch sexuelle Aggressivität reagierte. Für May war die Wahl ›sie oder ich‹ im Jahr 1902 existentiell geworden, und er hatte mit Klara eine Frau zur Seite, die, nachdem May im August 1902 die Entscheidung gegen Emma getroffen hatte, dafür sorgte, daß sie auch relativ geräuschlos umgesetzt wurde.




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