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XIII. Wahrnehmungen


Wenn auch die erste Lektüre der ›Studie‹ nur die Wahrnehmung zugelassen haben mag, daß da jemand rast und wütet in allgemein als negativ bewerteten Gefühlen der Angst und der Aggression, daß da jemand, höchst ungerecht, ja ›krankhaft verzerrt‹, Realität umdeutet: so belegen doch alle bislang vorgenommenen Überprüfungen, daß die geschilderten Anknüpfungspunkte für die Gefühlsausbrüche sehr reale Ereignisse sind. Je besser ein angesprochenes Ereignis dokumentiert ist, um so höher ist der erzielte Grad an Verifizierung, was den Umkehrschluß zuläßt, daß dem bloßen Nicht-Vorhandensein von Gegenproben keine entscheidende Bedeutung beigemessen werden kann. Soweit Privatestes ausgesprochen wird, das sich der Überprüfbarkeit naturgemäß entzieht, dürfte es daher ebenfalls zutreffend dargelegt sein; diese Annahme erscheint auch deshalb zwingend, weil die Erörterung dieser Tatsachen jeweils mit peinlichen Selbstbeschädigun-


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gen des Verfassers verbunden ist. Ein nachvollziehbarer Grund für eine bloße Konstruktion solcher Sachverhalte, die sich zudem alle als psychologisch widerspruchsfrei erweisen, ist nicht ersichtlich. Der Grad an selbstbelastender, auch juristisch relevanter, Aufrichtigkeit (Stollberg-Verfahren, Drohbriefe im Scheidungsverfahren) ist so erstaunlich hoch, daß getrost von einer Gesamtwahrheit der mitgeteilten Sachverhalte ausgegangen werden kann. Und wenn es im Text um die Schilderung von Konflikten, Wortwechseln, Auseinandersetzungen geht, kann es ohnehin niemals nur eine Wahrheit geben. Wie denn der eine welches Wort gemeint habe und wie der andere die Erwiderung auffassen mußte, entzieht sich von vorneherein einem dingfest machenden Zugriff, der einen geradezu naturwissenschaftlichen Wahrheitsbegriff voraussetzte, der hier nicht taugen kann. Wer jemals in die Niederungen juristischer Aufklärungsversuche über den Beginn einer Wirtshausschlägerei - wer hat den gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff begonnen, wer handelte in Notwehr, oder hat man es gar mit einer provozierten Notwehrlage zu tun? - herabgestiegen ist, wird dem ohne weiteres zustimmen müssen.

   May jedenfalls ist mit dem ihm möglichen Höchstmaß an Objektivität vorgegangen, derer er sich zu jedem Zeitpunkt der Niederschrift vergewissert hat; man kann ihn richtig sehen, wie er da nächtens schreibt und schreibt, umgeben von Fotos, Ansichtskarten, Aktenstücken, Briefen, aus denen er jeweils zitiert ... Als er sich ein einziges Mal vergaloppiert hat, als ihm Wertung und Sachverhalt durcheinandergerieten - nämlich bei dem Vorgreifen auf die Damaskus-Szene - mäßigt er sich sofort, ruft sich zur Ordnung: Doch hiervon später! (Studie, S. 882), und was dann später tatsächlich kommt, belegt seine überschießende Anfangshypothese keineswegs. Subjektiv war allein seine Auswahl an Sachverhalten, die er für entscheidend hielt. Ein objektives Bild seiner Ehe zu zeichnen: das war nicht sein Ziel. Selbstverständlich hat er eine höchst subjektive Negativ-Auswahl derjenigen hunderttausend Momente getroffen, die ein Zusammenleben von mehr als 22 Jahren komponieren. Daß aber die beschriebenen Szenen unzutreffend seien oder auch nur die Auswahl grob verzerrend: läßt sich nicht feststellen. Subjektiv auch seine Entscheidung, Klara so weit wie möglich aus dem Spiel zu lassen (Hierbei mag es sich bewenden! Studie, S. 881); aber das ungesagte Wissen darum, wie nah sie Emma wirklich stand, entlädt sich an der Stelle, als er beschreibt, wie sie endlich die Fesseln zerriß (Studie, S. 921), um so heftiger. Nicht ohne Grund stellt diese Szene den Gipfel an Emotion dar, während die Unterdrückungsleistung im übrigen nur die kritischen Begleitkommentare zu Klara als »Gänschen« (Studie, S. 897) färbt und in der Kälte Ausdruck findet, mit der er seine Begründung für die Eheschließung mit Klara niederlegt.

   Die Faktizität der beschriebenen Ereignisse macht die nur scheinbar unkontrolliert herrschenden Gefühle normalpsychologisch daher nachvollziehbar, auch wenn ein von Ratio geleiteter Kopfmensch auf dieselben Er-


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eignisse sicherlich kühler reagiert hätte. Tatsächlich wirken sich die May beherrschenden und im Schreiben gleichermaßen entfesselten wie gebannten Gefühle nur in der Wortwahl und in der Wertung aus; gleichzeitig wird der Text aber durch eine Härte und Konsequenz strukturiert, die die zugrundeliegenden Sachverhalte in größter Genauigkeit und Kontrolle beim Namen nennt und der anfänglichen Theoriebildung unterwirft. Das Programm wird schonungslos durchgezogen.

   Wer May so etwas nicht zutraute, hat sich geirrt. Es existiert ein zweites Dokument, ein Brief, in dem er sich zu einer vergleichbaren Härte durchgerungen hat, wenngleich es ihm nicht möglich war, diesen Brief an diejenige zu adressieren, die es anging: Marie Hannes. Und wiederum vermischen sich in diesem Brief, der in der Zeit zwischen dem 20. und dem 24. Januar 1903 verfaßt wurde und den er formal als ein offenes Gespräch mit Klara über Marie Hannes gestaltete, wissend, daß er der eigentlichen Empfängerin zugehen würde, zwei Dinge: auf der Oberfläche der Auseinandersetzung mit der - hoffnungslos in May verliebten - jungen Frau mit literarischen Ambitionen ging es um die Veröffentlichung einer von Marie Hannes verfaßten Verteidigungsschrift für Karl May. Die Veröffentlichung dieses unbedarften Machwerks, ›Allerlei von Karl May‹,516 das über die auf Backfischniveau angesiedelte Schwärmerei einer 15jährigen für ihren Autor berichtete, mußte May tatsächlich verhindern. Es konnte ihm nur schaden, von so einer naiven, dazu noch wegen einer Rückgratverkrümmung gehbehinderten 22jährigen, die Bildung und Reife ihres Alters nicht besitzenden jungen Frau verteidigt zu werden. Zumal Marie Hannes seine zwar rührenden, aber aus Mays Old-Shatterhand-Phase stammenden Briefe an sie zu veröffentlichen drohte, darunter den ersten vom 16. August 1896, in dem er ihr versprochen hatte, ein Haar von seinem herrlichen Winnetou zu schicken ...517 Das wäre für seine Gegner ein gefundenes Fressen gewesen.

   Tatsächlich aber geht die Auseinandersetzung weitaus tiefer; in Wirklichkeit verarbeitet May seine Enttäuschung, daß Maries reine Frauenseele, die er zu bilden und retten versucht habe, durch ihre egoistische gefällige Schriftstellerei voller erotischer Anspielungen entweiht worden sei: Dem kühnen Mann sei es erlaubt, im Schmutz zu rühren, um ihn ehrlich aufzudecken; das Weib jedoch sei auch als Dichterin vor allen Dingen rein!518

   Die Gleichzeitigkeit der Auseinandersetzung mit dieser jungen Frau - für May besonders bedrückend, weil er sie wie eine Tochter ins Herz geschlossen hatte - und der Auseinandersetzung mit Emma ist schon ein erstes Indiz für Übertragungsphänomene, die da stattgefunden haben könnten. Und die Parallelität der von May so gewerteten Nähe beider Frauen zum feindlichen Lager - bei Emma durch ihre Freundschaft mit Pauline, die Emma als unbewußtes Werkzeug ihrer Rache benutzt; bei Marie, die ihm mit allerbesten Absichten, aber verhängnisvoll falsch, zur Seite stehen möchte - : das deutet bereits auf eine Verschränkung auch der gefühlsmäßigen Ebenen seiner Reaktion hin.


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   Nachdem May von Marie Hannes brieflich erfahren hat, daß sie - und das auch noch im Verlag Fehsenfeld - die Herausgabe einer Verteidigungsschrift ›Allerlei von Karl May‹ plane, der sie einige der an sie gerichteten ›Onkel Karl-Briefe‹ beifügen werde, es sei denn, er habe hiergegen fristgerecht etwas einzuwenden, reagiert May mit äußerster Schärfe. Am 7. Dezember 1902 schreibt er ihr aus Riva (und eigentlich wollte er dort neue Kraft schöpfen nach den kräftezehrenden Reisewochen mit Emma und Klara) einen Brief, der eindeutiger nicht hätte ausfallen können:

   Liebes Mariechen!, heißt es zwar noch einigermaßen freundlich in der Anrede, (obwohl er sonst ›Mein Liebling‹ schrieb), aber dann wird er auch bald sehr ernst:


Also auch für Dich bin ich die bekannte Zitrone, welche öffentlich ausgequetscht werden muß! Euch armen Menschen ist nichts mehr heilig! Selbst das Edelste wird breitgetreten, damit dann jeder Lump es als willkommenen Spucknapf benutzen kann!

   Ich habe bisher geglaubt, daß Du Zartgefühl besitzest. Jetzt sehe ich mich aber leider zu der Versicherung veranlaßt, daß Du kein geschriebenes Wort mehr von uns erhalten würdest, falls Du die mir ganz unbegreifliche Idee ausführtest, Dich denen zuzugesellen, welche mich öffentlich prostituiren, um sich einen ebenso wohlfeilen wie verächtlichen Ruhm zu erwerben! ...

   Mit Fehsenfeld aber und jedem andern Verleger, der Dein Elaborat aufnähme, würde ich kurzen Prozeß machen! Ich bin kein Seiltänzer, dessen Geistes- oder Seelensprünge man vor Aller Augen produzieren darf!

   ... Wenn Du Dein weibliches Fein- und Zartgefühl dadurch an den öffentlichen Pranger stellst, daß Du über eine Kur- und Leidensanstalt für unglückliche Kranke »lustige Gedichte« drucken lässest [›Bunte Bilder aus dem Gögginger Leben‹, 1902], so hast Du das eben nur mit Dir und Deiner robusten Empfindungsart abzumachen. Wenn Du aber mich als ebenso gefügiges Sujet behandeln wolltest, so hättest Du das nicht mit Dir, sondern mit mir abzumachen. Das ist der große Unterschied. Karl May ist kein Göggingen!


Und dann die bedrohliche Grußformel: Es grüßt für heute noch Dein Onkel.519

   Natürlich empört es ihn, daß Marie seine privaten Briefe an sie veröffentlichen will; aber letztlich hat sie ihm ja Gelegenheit gegeben, seine Zustimmung zu verweigern. Der emotionale overkill seiner Ablehnung und seine Wortwahl öffentlich prostituiren, robuste Empfindungsart, gefügiges Sujet und kurzen Prozeß sind durch Emma ausgelöste Assoziationsketten, die auch damit zu tun haben, daß May Maries freche Gedichte über ihren 16monatigen Klinikaufenthalt in Göggingen, die sie ihm im Herbst 1902 zugeschickt hatte, schlicht und einfach als unerträglich empfinden mußte. Niedrige Materie war es für ihn ›natürlich‹, wenn sie etwa ein Gedicht mit dem Titel ›Die nächtliche Erstürmung des jungfräulichen Schlafgemaches‹ verfaßt, in dem jemand die Tür des Krankenzimmers verwechselt und nur der »eingedrückte Riegel« die untergründig wohlig erschrockene Jungfer


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vor dem Schlimmsten bewahrt ...520 Die durch den humoristischen Grundton der Gedichte nur mühsam auf altkluge Distanz gehaltene erwachende Sexualität der jungen Frau, die auch die Geschlechtergrenzen freizügig überschreitet: »Doch ist im biedern schwarzen Frack - / Er ganz und gar nicht mein Geschmack - / Viel lieber seh' ich die grazieuse - / Die ganz fameuse Balleteuse!« dichtet Marie über den »feurige(n) Ungar« »Sandor«, den sowohl-als-auch Charmeur:521 das muß auf May in dieser Krisenphase seines Lebens abstoßend gewirkt haben und wäre als ein weiterer Grund für seine harschen Formulierungen zu benennen.

   Dennoch, und das erscheint nach Erhalt dieses Briefes kaum erklärbar, gab Marie Hannes, die offensichtlich stolz auf ihr Produkt war, den Gedanken an die Veröffentlichung ihrer Schrift nicht auf; vielleicht auch deshalb, weil May sich in seinem ersten Brief lediglich gegen die Veröffentlichung seiner privaten Briefe gewandt hatte, nicht aber gegen die Veröffentlichung der Verteidigungsschrift selbst, die er noch nicht kannte.

   Am 24. Dezember 1902 schrieb May nicht nur seinen berühmten Brief an Fehsenfeld über sein Projekt ›Silberlöwe IV‹, sondern auch einen acht Seiten langen Brief an Marie Hannes, mit dem er auf eine Antwort von ihr reagierte, in der sie offensichtlich ihre verletzten Gefühle - und nur diese - nach Erhalt seines Briefes vom 7. Dezember 1902 ausgebreitet hatte. Mays Antwort in seinem Weihnachtsbrief ist herzbewegend, denn trotz seiner Schonungslosigkeit in der Sache transportiert er auch seine frühere, besitzergreifende Liebe zu der jungen Frau und das traurige Wissen, daß diese Liebe, wohl irreparabel aus seiner Sicht, zerstört ist. Mein Liebling! heißt es da, und:


Soll ich wirklich dieses Wort noch schreiben? Du thust ja ganz entsetzlich bös mit mir! Ja, Jugend von heute!

   ... Und wenn er einmal einem unerfahrenen, heißblütigen Menschenkinde, welches er besonders liebt, in den Furunkel sticht, damit das Blut sich reinigen möge, so wird ihm Vorwurf anstatt Dank gesagt. ... Es fällt der ergrimmten Unbedachtsamkeit gar nicht ein, über Gründe nachzusinnen. Was wäre der Onkel für ein Kerl, wenn er der Nichte wehe täte, ohne zu wissen, daß es ihr Segen bringen wird!

   Du entschuldigst Dich damit, daß Du es gut gemeint hast. Das weiß ich ja. Aber der Bär meinte es auch gut, als er dem Einsiedler die Fliege von der Nase scheuchen wollte, und ihm doch den ganzen Kopf zerschlug. Bärentatzen!

   Und das kleinste, niedlichste Damenhändchen kann zu einer solchen Tatze werden, wenn es sich in Dinge mischt, die es nicht versteht.


Er warnt sie vor seinen Feinden, die sie zerpflücken würden wie ein Gänseblümchen, nennt ihre Mission Selbstmord und sagt voraus: Man würde unser edles, reines Verhältniß mit allergrößter Wonne in den Schmutz zerren und man würde Dich moralisch vernichten! Dann wird er sehr persönlich: und ganz eindeutig schwingt hier seine Angst mit, Marie könne wie Emma werden oder gar schon so sein:


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Ich werde einfach wieder an das Kreuz geschlagen. Anstatt des I.N.R.I hängt man Deine Brochure über mir auf; ich bin abermals geächtet, und da ich über eine solche unüberlegte Eigenmächtigkeit in heiligen Zorn gerathe, kanzelt mich Mariechen ab wie einen dummen Jungen!

   ... muß ich Dir acht Seiten schreiben, nur damit Du das Eine begreifen mögest, daß ich es herzensgut mit Dir gemeint habe.

   Ich seh Dich nämlich als Patientin vor mir stehen. Denn Alles, was Du für Dich sagst, durchschaue ich. Dahinter aber stand ein drohendes Gespenst, von dem ich Dich befreien wollte. Ich kenne dieses Gespenst schon seit längerer Zeit. Es hat schon manche gute Veranlagung vernichtet. Es scheint, auch Du fällst ihm anheim!

   Ich setzte einst eine schöne Hoffnung auf Dich. Ich wollte Dir mehr sein als nur der Titel-Onkel. Ich wollte Deine Seele, Deinen Geist für das Edelste gewinnen, was es auf Erden giebt. Du hast nicht gewollt, denn Du bestimmst ganz nach eigenem Ermessen sogar über mich und über meine Briefe. Du hast Dich von mir entfernt. Ich sehe Dich verschwinden - - - in der gewöhnlichen Alltäglichkeit! Mein liebes, kleines, enthusiastisches, hochherziges Mariechen, die einst adressirte: »An Ihn!«, ist verschwunden. Ich schreibe ihrer Nachfolgerin zwar diesen Weihnachtsbrief, welcher ihrer Seele das Höchste bringt, was ich zu verschenken habe; aber sie wird ihn ebenso wenig verstehen wie den vorigen; sie wird das Geschenk gar nicht sehen; sie wird wieder zornig werden - - - den Brief in den Ofen stecken.522


Die Wortwahl abkanzeln wie einen dummen Jungen, gewöhnliche Alltäglichkeit, sein Hinweis auf vergebliche Veredelungsbestrebungen, seine matte Resignation vor ihrem imaginierten Zorn, seine Phantasie, sie werde den Brief in den Ofen stecken: dahinter steht, überdeutlich, die Vorstellung von Emma. Und mit dem Gespenst meint er Eigenliebe und Sexualität, vor deren üblen Einfluß er schon die 17jährige Marie im Jahr 1898 bewahren zu müssen glaubte:


Mein Liebling, ich bitte Dich dringend - hüte Dich ja vor Gerhard [!] Hauptmann, Ibsen, Sudermann, dem zynischen Wüstling Grabbe! Ich bin förmlich darüber erschrocken! - Diese Lektüre beschmutzt und zerstört das weibliche Herz und Gemüt vollständig. Ich bin in sehr großer Sorge um Dich - ...523


Wann genau May erfahren hat, daß er selber es war, den Mariechen in ihrem schwärmerischen Liebesgedichten ›Irrlichter‹ von 1900/1901 anredete, ist leider unbekannt. Als May sie erhielt, bewahrte er jedenfalls zunächst schulmeisterlich-intellektuelle Distanz und notierte gar zu ihrem Poem ›Irrlichter IV‹, von dem er wie auch von den anderen liebevolle Abschriften fertigte, weil Maries chaotische Handschrift zur Unleserlichkeit tendierte: Es ist also noch keine unglückliche Liebe. Sie fragt ja noch! Und doch die Welt verhaßt?524 Da hatte er recht: in der ersten Strophe war der ruhelos an den Einen denkenden Verfasserin die Welt bereits verhaßt, und die dritte Strophe, in der sie versichert, »bis zu dem letzten Hauch« an ihn zu denken, endet mit der Frage: »Sag, denkst du mein wohl auch?« Das ist wahrhaftig ein Verstoß gegen die Logik. Bei Maries Gedicht ›Sonett‹ hätte ihm dann


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aber wirklich ein Licht aufgehen müssen, denn dort geht es um ein weibliches Ich, das als Kind von späterem »hohe(n) Glück« träumt, bis dann das neue Leben dem »gläubgen Kinderauge« strahlt, denn Er ist eingetroffen, und schon ist das »süße Spiel der Minne«, »das Entsagen« wie auch das »Gluthverlangen« nicht mehr fremd. »Wem meines Herzens tiefste Seufzer galten, / Du wußtest drum - und ließest lächelnd zu / Der jungen Seele jauchzendes Entfalten.«525

   Als er's dann erfährt, dann auch noch versehen mit der schockierenden Unterstellung, er habe dies ohnehin von Anfang an geglaubt, reagiert er fassungslos; in einem Brief an Marie, der in einer undatierten und unvollständigen Abschrift von Klara vorhanden ist (und die zwischen Januar 1901 und April 1901 entstanden sein soll) - mithin zum Zeitpunkt seines sexuellen Rückzuges von Emma -, schreibt er: Diese Deine »sogenannte« Liebe ist krankhaft, Du hast Dich von ihr freidichten wollen. Das ist der Zweck dieser Reime; weiter sollen sie keinen haben. Vernichte sie. Wenn sie das nicht tue,


so kannst Du Dich nicht frei machen sondern bist noch immer gefangen und liegst gerade ebenso schwach und krank in dieser sauerbittersüßen Erinnerung, wie Du in Deinem lazarethlichen Streckbette liegst! Glaube mir, wäre ich nicht Dein alter, verheiratheter Onkel, so würde ich nicht anstehen, Dir zu zeigen und zu beweisen, daß es mit der »ehelichen« Liebe denn doch eine ganz andere und viel höhere und unendlich reinere Bewandtniß hat, als man in Deinen jungen Jahren denkt. Da bleibt alle Leidenschaft ausgeschlossen, denn keine Leidenschaft ist rein und gut. Eine sogenannte »unglückliche« Liebe ist stets krank und auf Täuschungen beruhend, denn entweder sie ist verwerflich leidenschaftlich, oder sie führt zu einem stillen, heimlichen, dummen Hadern mit der Vorsehung, welche ihr grad die 120-150 Pfund Menschenfleisch versagt, auf welche sie es partout abgesehen hat.526


Er selbst allerdings bewahrte seine Abschriften ihrer Gedichte auf, wie er ja auch zu viel Respekt vor dem eigenen geschriebenen Wort hatte, um mehr Text als nur irgend nötig zu verwerfen.

   Marie hatte doppeltes Pech; nicht nur, daß May der Auffassung war, ein körperlich behindertes, monatelang im Streckbett liegendes junges Mädchen dürfe überhaupt gar keine erotischen Wünsche haben, Maries sexuelles Erwachen fiel auch noch ausgerechnet in eine Zeit, in der Karl sich voller Grauen ob der dämonischen Anziehungskraft Emmas in die sexuelle Enthaltsamkeit geflüchtet hatte, wobei im Dezember 1902/Januar 1903 seine Ablehnung der körperlichen Liebe ihren Kulminationspunkt erreicht hatte. Im übrigen trog ihn seine Menschenkenntnis nicht: Marie verstand ihn nicht und gab auch ihren Plan keineswegs auf. Marie beklagte in ihrem Antwortbrief an ihn nur den grausamen Liebesentzug und erkundigte sich gar, was er denn mit dem »Gespenst« gemeint habe ...527 Dann sandte sie Klara eine erste, wenig leserliche Manuskriptfassung ihrer Verteidigungsschrift mit der Bitte, sich für sie bei May einzusetzen. Klara - die in der Familie von Marie Hannes als Emmas Schwester bekannt war - muß ihr hier-


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auf einen netten Brief geschrieben haben, den Marie sofort als Ermutigung auffaßte: am 31. Dezember 1902 bedankte sich Marie wie folgt:


Meine geliebte Tante, mein Trostengel!

   In diesem Augenblick erhalte ich Deinen gütigen Brief und setze mich sofort, Dir zu schreiben und zu danken für die Liebe, die mir zwischen den Zeilen entgegenleuchtet und die mir der Onkel, wie es scheint, entzogen hat!


Dann qualifiziert sie ihre Gögginger Gedichte, die sie nun auch Klara schickt, als einen »in einer Woche zusammengekritzelt[en]« »großen Spaß«, der nicht ernst zu nehmen sei, nicht ohne dann jedoch voller Stolz hinzuzufügen: »Sonst ist ja das Dingelchen nicht als litterarisches Erzeugnis zu rechnen, obgleich einige meinen, ich soll es illustrieren lassen - à la Busch, weißt Du.« Ihre Abqualifizierung des eigenen Werks hat ein Motiv: offenbar hat May ihr ein Gedicht mit dem Titel ›Verloren‹ geschickt, in dem er sie für ihr Abirren in die oberflächliche humoristische Reimerei tadelte, denn sie fährt fort:


Weißt Du, nach dem wunderschönen Gedicht »Verloren« habe ich das Gefühl, als hält es Onkel Karl für Sünde, daß ich diese lustigen Dummheiten schrieb und nicht ihn fragte wie er denkt. Er sagt wieder, ich verlasse ihn - ich schleiche nicht fort - ich will Geist sein - das alles will mir nicht ganz klar werden. Es klang Ferdi u. mir so, als will er, daß ich ihm ganz folge - daß die Saiten meiner Leier wie unter seinem Fingerdrucke ertönen sollen, daß ich mich in den Schatten seiner Geister- und Seelenschwingen stelle - daß ich Religiöses schaffen soll - edles - hohes Ideales wie er, da[s] die Menschen erhebt und klärt - Nichts täte ich lieber als das (...).528


Aber natürlich ist Karl auch daran Schuld, daß sie auf eigene Faust gedichtet hat, denn er hat ihr ja keine Anleitung gegeben und zu ihren letzten Gedichten auch nichts gesagt. Die Mischung aus enttäuschter Liebe, Unterwerfung und Halsstarrigkeit ist bemerkenswert; nervöse Satzfetzen, durch ständige Gedankenstriche unterbrochen, eine irgendwie geordnete Gedankenführung ist nicht zu erkennen: aber ihre Unerbittlichkeit, Onkel Karl (auch zu eigenem Ruhme, denn sie will ja Schriftstellerin werden) zu helfen, schimmert giftig durch den ganzen Brieftext. Anfang Januar 1903 muß Marie noch eine weitere Abschrift ihres Manuskriptes geschickt haben, woraufhin Klara ihren Besuch ankündigte: man war alarmiert im Hause May, und das dürfte sich durch eine Karte vom 7. Januar 1903 von Marie an Klara mit der Adressierung: Villa Ploehn, Radebeul-Dresden, Gellertstr. 5 (also hinter Mays Rücken) noch weiter gesteigert haben, denn Marie schreibt an »Meine geliebte Tante Clara!«:


Warum ich Dir eine Abschrift schickte? - Sieh, ich habe ja das Erste fast alles stenographiert - das, was Du jetzt bekamst, war für Fehsenfeld bestimmt, für den Druck - er hatte es aber noch nicht gelesen - nur vorläufig acceptiert - Ich bin so froh, daß es Dir gefällt!529


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Dies ist das Ausgangsszenario für Mays Brief vom Januar 1903, und die Parallelen zu Emma und ihrem Verhalten May und Klara gegenüber fallen ins Auge: Marie ist nicht mehr steuerbar in ihrer Mischung aus enttäuschten Gefühlen und schriftstellerischem Drang; Fehsenfeld ist bereits im Spiel, und auf den ist kein Verlaß, wie seine ungeschickte Verteidigung gegen die Angriffe der ›Frankfurter Zeitung‹ im Jahr 1899 und sein Einknicken in Sachen von Mays eigener Verteidigungsbroschüre ›Der dankbare Leser‹ im Januar 1902 gezeigt hatten. Marie ist schwankend und unberechenbar wie Emma: gegen Mays literarische Bevormundung lehnt sie sich zwar auf, um dann aber sogleich Demutsgesten, gepaart mit Vorwürfen mangelnder lektorierender Betreuung, zu vollziehen. Und jetzt beeinflußt sie auch noch die weiche Klara für ihre Zwecke, die für das junge Mädchen tatsächlich auch Mitleid hegt. Unerfüllte Liebe: das dürfte sie kennen, gerade zu diesem Zeitpunkt in ihrer Beziehung zu May ...

   Am 14. Januar 1903, dem Tag der Verkündung des Scheidungsurteils von Karl May, begibt Klara sich nach Wernigerode zu Marie, und auch diese Mission hat wie die zu Emma nach Bozen von Ende November 1902 einen doppelten Zweck: Klara soll und muß Mays Originalbriefe an Marie wieder an sich bringen, und Marie soll aus ihrer hysterischen Schwärmerei herausgerissen, befriedet und getröstet werden. Auch hier schweigen die Dokumente, ob Klara von May, der eine solche Begegnung nach seinem Bruch mit Marie niemals selbst hätte bewältigen können, geschickt wurde oder ob sie selbständig handelte, mit der vorrangigen Motivation, ihren Karl einmal mehr zu retten; eine wiederum heikle Mission, denn sie muß dem Mädchen so viel Vertrauen einflößen, daß es ihr die Briefe übergibt, nur um dieses Vertrauen dann später zu zerstören. Denn May, das wird Klara zu diesem Zeitpunkt bereits klar gewesen sein, wird Marie diese Briefe, die ihr Heiligtum sind, niemals mehr zurückgeben. Mal wieder eine derjenigen Zerreißproben für sie, der sie sich wohl aus Schuldgefühlen wegen ihres Besuches bei Emma unterwirft; ein Liebesbeweis für Karl sozusagen.

   Drei Stunden dauert ihr erfolgreicher Besuch bei Marie. Emma hätte vermutlich erklärt, sie habe die Briefe ›unter hypnotischem Einfluß‹ Klaras herausgegeben. Marie dagegen bezeichnet das wahre Motiv: Liebe. Denn sie überträgt ihre schwärmerische Liebe zu Karl May sofort auf Klara, die ihre einzige und letzte Verbindung zu Karl darstellt; Klara ist erschüttert: »Am 14. Januar war ich bei Mariechen. Ein armes, unglückliches, überreiztes Kind. Könnte ich ihr doch Etwas sein«, notiert sie in ihr Tagebuch.530 Und schreibt ein überschwengliches Gedicht von Marie ab, das sie zu Hause, nach einem Kurzaufenthalt in Leipzig, vorfindet, »Wernigerode d. 14. Januar 1903«, ist es betitelt. »O wolle mir ein Himmelsbote sein«, heißt es da, und die letzten drei Zeilen lauten: »Nur einen Blick durft in Dein Herz ich tun - / Der Blick - er gab die Richtung meinem Pfad. / Ihn deckte Nacht - voll Sonne ist er nun!«531


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   Irgend etwas Magisches ist da zwischen den Frauen passiert, und Maries Brief vom 15. Januar 1903 an Klara, mit dem sie ihr weitere May-Briefe zurücksendet, auch jenen vom 24. Dezember, kündet davon; und obwohl Marie einfach nicht in der Lage ist, sich präzise auszudrücken, bekommt man eine Ahnung davon; nach zahlreichen ekstatischen Danksagungen für diesen Besuch schreibt Marie:


Du sagtest mir von dem furchtbar guten Mädchen in Hamburg [Elisabeth Felber, geb. 1885], daß sie Dir Mutter sagt - ich habe eine liebe gute Mutter - aber sie ist nicht in allem Mutter für mich - es ist da etwas - das Beste glaube ich, tief tief innen - das ist verwaist - niemand kennt und liebt es - ich dachte, der Onkel sieht es - aber jetzt denke ich das nicht mehr - willst Du mir für dies - - - was glaube ich - mich selbst, meinen »Halef« bedeutet - willst Du mir dafür Mutter sein? - Als Du mit mir sprachst, war es mir immer so, als ob dies aus mir hervorgeholt und gelöst würde, ganz leise und anfing zu knospen und zu blühen und lebendig zu werden unter dem Segen Deiner Augen - es war so ein wundervolles Gefühl, daß ich zuerst immer merkte, daß ich zitterte - ganz richtig - zitterte - aber es war keine Nervosität, ich bin nicht nervös. Es war, als ob etwas tastete und suchte in mir nach dem Verwandten, das in Dir wohnte, so wundervoll herrlich und klar, wie es in mir dunkel und schwach wohnt. Ich kann Dir's nicht deutlicher machen - aber Du wirst jetzt viele Briefe von mir erhalten - Du wirst mich nicht mehr los, Du liebe liebe Tante Du -532


Aber praktisch und konsequent und unbeirrbar bleibt Marie dennoch:


Ich bin unbeschreiblich gespannt, was Du bei dem lieben, schlimmen Onkel ausrichten wirst, ob er mir »Gedankenfreiheit« zubilligen will. Ich bin ja so glücklich, wie lange lange nicht - Wenn es der Onkel wünscht, so will ich auch alles technische mit größerer Sorgfalt behandeln. Bei den Gögginger Sachen habe ich mich in formeller Beziehung all zu sehr gehen lassen -533


Bei aller wortreicher Wortlosigkeit: was da zwischen beiden Frauen passiert ist, dürfte das Wiedererkennen der in der jeweils anderen gärenden unerfüllten erotischen Träume um May gewesen sein. Bei Klara, die in der besseren Ausgangsposition war, mit siegreicher Klarheit (auch wenn May es noch nicht gewußt hat), bei Marie in wachsender Selbsterkenntnis. Schon am 18. Januar 1903 schickt sie Klara den nächsten Brief, schickt Gedichte mit, von denen sie möchte, daß May sie herausgibt, von dem sie wünscht, daß er seine Beziehungen dazu nutze, einen Verleger für sie zu finden (und das mutet schon, gerade im Hinblick auf die doch empfindlich gestörte Beziehung, wie eine ziemlich dreiste Ausnutzung ihrer Bekanntschaft mit May an). Den Ernst seiner Gefühle versteht sie nämlich keineswegs: »Schreib mir auch bitte die Stimmung des Doktors gegen mich und ob ich wirklich definitiv aus ›meiner Stellung entlassen‹ bin!«, lautet ihr Nachsatz in dem Brief, in dem sie Klara vertraulich, mit scheinbarer Abgeklärtheit, ganz von Frau zu Frau, gesteht: »Jetzt singe ich fleißig Schumann - ›seit ich ihn gese-


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hen‹ - ich denke dabei immer an den Doktor - ich glaube, wenn er 40 Jahre jünger wäre - ich würde mich richtig in ihn verliebt haben.«534

   Die Frauensolidarität wirkt tatsächlich: Klara setzt sich bei Karl für Marie ein. Ein psychologisches Kammerspiel zwischen zwei Frauen, das durch May, der jetzt, zwischen dem 20. und dem 24. Januar 1903, handelt, zerstört wird, und zwar ebenso subtil wie auch brutal. Eine Frau wird sich nie wieder zwischen Klara und ihn stellen, wird er sich geschworen haben: und so adressiert er seinen 24seitigen Brief an Marie Hannes, der die Technik und den Inhalt der ›Studie‹ vorwegnimmt, perfiderweise an Klara, Liebes Herz! genannt. Klara ist diejenige, die zählt, macht er damit deutlich, und auch, daß sie und er voreinander keine Geheimnisse haben.


So nenne ich Dich heut, weil es ja eben Dein Herz, das liebe, ist, welches Dir diesen neuesten seiner immer gütigen, menschenfreundlichen Streiche spielte.

   Du hast mir wieder einmal meine kostbare Zeit ganz unnützer Weise für Andere gestohlen, doch klage ich Dich nicht an. Es ist ja eben grad der wahren Seelengröße eigen, sich klein zu machen, um den Kleinen aufzuhelfen. Ich billige das, vorausgesetzt, daß das Kleine nicht auch noch niedrig ist.


Und dann wird die Dreifaltigkeit von Körper, Geist und Seele behandelt, wie er es, Jahre später, in der ›Studie‹ tun sollte; Das Wernigeroder Kind war mir von größtem, psychologischen Interesse, schreibt er, seine Liebe auf Beobachtung reduzierend wie bei Emma, nachdem er vor ihr in den Schutz der wissenschaftlichen Distanz geflüchtet war.


Nicht mehr und nicht weniger als eine kränkelnde Blume für den Botaniker. Die Eltern bangten um den Körper; ich aber sah die Psyche in Gefahr. Das Gespenst der Vergötterung stand drohend hinter ihr. Der Körper war mir gleichgültig. Geist stand nicht zu erwarten, und wenn er heut noch käme, er würde krank grad wie der Körper sein. Aber nach der Seele fragte ich: Wird sie sich stark genug erweisen, dieses arme, junge Menschenkind zu retten?

   ... Ich bemerkte, daß die Seele um so mehr zurückweichen mußte, je älter das Kind wurde. Dafür trat das Gespenst nun in den Vordergrund. Der Götze »Ich«, dem Alles dienen muß, der selbst die eigne Mutter und ihre tausend Opfer nicht mehr achtet!


Und alles materialisiert sich für ihn in ihren Gögginger Gedichten, die nur noch von angeborene(r) Findigkeit für Reime zeugten, deren Berliner Friedrichsstraßen-Inhalt und Nuditäten aber dazu geführt hätten, daß er die Kranke auf(gab).535

   Die Vergötterung des Kindes durch die Eltern hier, Emmas Verwöhnung durch den auf ihre Schönheit stolzen Großvater dort: beide Entwicklungen führen für ihn zur Herausbildung eines übersteigerten Egos; der Abgrund von Geistlosigkeit und Sexualität tut sich auf: die Bilder gleichen sich.

   Dann geht er auf Maries Verteidigungs-Manuskript ein: Weißt Du, was Du mir empfohlen hast? Die öffentliche Vernichtung dieses armen Wesens!536


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Mitleid will er sich nicht gestatten, zu ihrem eigenen Besten; mit intellektueller Brillanz und größtmöglicher satirischer Distanz geht er zu Werke, und was er da als kurze Blüthenlese aus den ersten Seiten (was an den Satz in der ›Studie‹, S. 912, erinnert: Das ist so eine Blüthenlese der Reden, die sie führte) zitiert und als imaginierter Redacteur kommentiert, ist ein Vernichtungswerk ersten Ranges, und zwar völlig zu Recht.


»Karl Mays herrliche Persönlichkeit!« - - Ist sie verliebt in ihn, oder verrückt?

   »Er ging im Süden von Mund zu Mund.« - - Wahrscheinlich ist er Zahnarzt und hausirt in Bayern mit falschen Gebissen!

   »Die Quellen haben Zuflüsse.« Seit wann? Früher war das noch nicht.

   »May hat ein wohlberechnetes offizielles Benehmen.« - - Der Kerl ist also Heuchler! Dachte es mir!537


Und so geht das weiter, bis hin zur Zerpflückung des unlogischen Titels der Broschüre und zu deren Entlarvung als Selbstvergötterung, die auf den ersten zwanzig Seiten eine von May sarkastisch demontierte Selbstbespiegelung sei, wobei seine eigenen Briefe dem Götzenbilde die Krone aufzusetzen haben.538

   Ihre Selbstüberheblichkeit, das Bild, das sie in der May-Broschüre von sich selbst abgebe, sei eine einzige große Lüge. Das Leben ist gnadenlos, schreibt er. Und im geistigen Leben herrscht noch größere Härte ...539 Und in eben diesem Sinne teilt er ihr mit, wie unglaublich es sei, daß sie sich in dieser Broschüre körperliche Vorzüge aneigne, obwohl er, Karl May, sie doch kenne! Die Presse würde über sie herfallen und ein Bild von ihr entwerfen, dem kein Stock, keine Krücke, keine künstliche Corsage und keine Carbolflasche erlassen bliebe. So ungefähr werde die Presse über sie schreiben:


»So sieht die große körperliche und geistige Schönheit aus, die kürzlich geschrieben hat, daß sie sich in ihn verlieben würde, wenn er 40 Jahre jünger wäre! Welchem Menschen, und wäre er auch noch so alt, möchte es wohl einfallen, auf solche Liebe einzugehen! Das Mädchen ist ja toll und von einer Einbildung, die ihres Gleichen sucht!«540


   Das ist ein doppelter Tiefschlag für die wahre Empfängerin, zitiert May doch nicht nur aus ihrem vertraulichen Brief an Klara, sondern weist - höchst indirekt - ihre Liebe schon unter dem Hinweis auf ihre körperliche Unattraktivität zurück. Schroff auch lehnt er ihre Selbstüberschätzung ab, mit der sie seine Protektion für einen Gedichtband erbat, und verkündet, er habe ihr Manuskript nebst allen seinen Briefen verbrannt (was keineswegs stimmt, nur die meisten seiner Briefe sind vernichtet worden).

   Dann redet er Klara an:


Du stehst zwar physisch, psychisch und intellectuell gradezu himmelhoch über ihr, aber ihr Selbstbewußtsein ist tausendmal stärker als das Deine. Sie glaubt an den Wahnsinn, daß jede Frau, die sich für klug hält, schreiben müsse.


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Dann kommt er zu dem eigentlichen Thema seiner Enttäuschung: Mariechen hat nur aufgeschnapptes Wissen, und was sie weiß, das sollte sie lieber noch nicht wissen. Fragst Du aber nach einem vollen Wissen, nach krystallisirter Erfahrung, so ist es eine Null, die Du findest. Und dann tritt May, der Große Kenner der Erotik, auf den Plan; er deckt, wie bereits erörtert, lüsterne, erotische Bedeutungen in Marie Hannes Reimereien in ihrem Bändchen ›Bunte Bilder aus dem Gögginger Leben‹ aus dem Jahr 1902 auf, kenntnisreich und subtil, und wenn er ihren unbedacht-verschwenderischen Gebrauch von Gedankenstrichen interpretieren muß, welche doch wohl keinen andern Zweck haben können, als anzudeuten, was nicht gesagt werden darf!541

   Maries einziger Lebenszweck sei es, sich bewundern und bedienen zu lassen. Ihr Weg sei nicht der der Kunst: Als ich ... die Atmosphäre roch, in der die Reime klangen, da wußte ich sofort, woran ich war: ihr Weg sei der zum - drei Gedankenstriche - Geldverdienen!542

   Der Brief war in der Sache und zu diesem Zeitpunkt nicht zwingend erforderlich, denn eine Veröffentlichung der Verteidigungsschrift von Marie Hannes nebst Mays Briefen war, nachdem er von beidem die Originale in Besitz hatte, unmittelbar nicht zu befürchten. Daß es May drängte, diesen Brief, der von der Empfängerin als »moralisches Todesurteil«, »mit erbarmungsloser Hand entworfen«, und von ihrem Onkel trotz aller Berechtigung in der Sache als »übertrieben hart, oft schonungslos grausam«543 aufgefaßt wurde, dennoch zu schreiben, läßt sich nur mit der gerade vollzogenen Scheidung von Emma Pollmer erklären: denn das, was er Marie vorwirft, machte für ihn Emma aus. Selbstüberschätzung und Eigenvergötterung. Mediale Begabung auch bei Marie übrigens.544 Emanzipatorischer Drang zum eigenen Geld. Materialismus. Geistlosigkeit. Freche, ›schmutzige‹ Sexualität - und das auch noch bei mangelnder physischer Ausstattung. Denn Schönheit, die gehörte für May dann doch dazu, wie seine an Klara gerichteten Worte, insbesondere in ihrer Reihenfolge, belegen. Marie hingegen hatte ein Frauenbild offenbart, das er, der in patriarchalischen Vorstellungen verhaftet war, zutiefst ablehnte. Sein Liebling Marie, ein Mädchen, das er seit 1896 wie ein eigenes Kind liebte und nach seinen Vorstellungen ›erziehen‹ und zu Höherem führen wollte, wies Emmas Züge auf!

   Es erstaunt nicht, daß in der Bewertung der Herausgeber der Korrespondenz May-Hannes dieser Brief als »das erschreckende Dokument einer Herzenskälte, wie wir sie sonst nur noch von der ›psychologischen Studie‹ ›Frau Pollmer‹ kennen«,545 bezeichnet wird. Der eigentliche inhaltliche Zusammenhang zwischen beiden Selbstzeugnissen ist evident, und auch die Zweischichtigkeit in der Anlage und in der Darstellung, nämlich konzentrierte intellektuelle Distanz in den literaturkritischen Passagen einerseits und hoher Gefühlsanteil in den von Enttäuschung kündenden Abwertungen der Person Maries andererseits, ist identisch.


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   Die ›Studie‹ ›Frau Pollmer‹ ist mithin keineswegs Ergebnis einer persönlichkeitsfremden Ausfallerscheinung ihres Urhebers, sondern stellt eine radikale Verbalisierung von seit langer Zeit gehegter Gedanken und Empfindungen dar: wer erinnert sich bei dem Satz von der Null, die man auf der Suche nach vollem Wissen und krystallisierter Erfahrung in Marie finde, nicht an die Sätze über Pekala, geschrieben nach der Scheidung von Emma und nach dem Brief an Marie bis zum 17. Juli 1903 im ›Silberlöwen IV‹:


Und nun hier plötzlich diese geistige Nichtigkeit, zehnfach, hundertfach nichtig grad durch ihre strahlend freundliche Gestalt! Diese Null war hohl; hierüber gab es keinen Zweifel. Aber hinter ihr stand eine ganze Finsternis bereit, sie mit dem Verderben für uns vollständig anzufüllen! (Silberlöwe IV, S. 202)


Aber war Mays Wertung, sein Rückblick auf Emma, wirklich nur subjektiv? Und zwar so subjektiv, daß sie von keinem anderen, der Emma kannte, nachvollzogen werden konnte?

   Wenn man Mays Blick auf seine Frau mit Bewertungen anderer Personen vergleicht, und hier kommen als Vergleichsmaßstab nur Äußerungen männlicher Personen, insbesondere die von Emma beauftragten Rechtsanwälte als relativ neutral einzustufende Zeitzeugen, in Betracht: dann fallen jedenfalls Parallelen auf. So beschrieb der ja auch in der Sache um professionelle Objektivität bemühte Rechtsanwalt Kohlmann in einem Schreiben vom 20. Februar 1908 die Persönlichkeit von Emma Pollmer, die ihn am 18. März 1903 aufgesucht hatte: »Frau  M a y  erschien mir unklar und schwankend in ihren Entschlüssen, leicht beeinflußbar - von hypnotischer Suggestion habe ich nichts bemerkt.«546

   Eine von Mays Gefühlen nicht allzu weit entfernte, nämlich negativ gefärbte Irritation gegenüber der Frau wie auch der Mandantin, hatte Emma in Rechtsanwalt (Finanzrat, vortragender Rat im Großherzoglichen Staatsministerium Weimar) Dr. Neumann erregt, den sie ebenfalls im Jahr 1903 zwecks Anfechtung des Scheidungsurteils aufgesucht hatte: Neumann schrieb am 9. Februar 1908:


Man wird daraus ersehen können, daß ich die Mandantin als eine krankhafte, nervös gereizte Frau vom ersten Augenblicke an angesehen habe und daß dieser pathologische Zustand mich bestimmt hat, möglichst einen Ruhezustand für die aus einem Extrem ins andere verfallende Mandantin zu schaffen. (...) während die Auftraggeberin in dem einen Augenblick auf dem Gipfel leidenschaftlichen Hasses war, brach im nächsten Moment wieder eine ebenso leidenschaftliche Liebe für ihren Gatten durch, daß sie jede Maßnahme von sich wies, die diesen Gatten in ernstliche Verwicklungen bringen konnte. (...) Es war der Weisheit letzter Schluß, daß sie mit der Existenz ihres Mannes ihre eigene vernichtete. Deshalb hat sie sich auch immer weiter von ihren ursprünglichen Forderungen abdrängen lassen: sie brauchte nötigst die ihr vorenthaltenen Subsistenzmittel. Insoweit schien sie die Situation völlig klar zu erkennen. Ich habe sie überhaupt nicht etwa für unzurechnungsfähig angesehen, wohl aber für geistig minderwer-


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tig und vor allem völlig schwankend und leicht durch jeden neuen Einfluß bestimmbar. Sie stellte sich mir auch als Spiritistin vor und glaubte namentlich das Wiedersehen mit ihrem Gatten im Jenseits unerträglich, wenn sie mit dem Vorwurfe belastet sein würde, ihn ins Verderben gestürzt zu haben.547


Und so berichtete er auch, ohne Hinweise auf eine ›hypnotische Beeinflussung‹ Emmas durch Klara May, daß Emma zusammen mit der zweiten Frau May in sein Büro gekommen sei; Klara May habe bei dieser Gelegenheit Briefabschriften mitgenommen, von deren Inhalt er aber keinerlei klare Vorstellungen mehr habe.

   Andere Rechtsanwälte schließlich nahm Emma so für sich ein, daß eine geradezu unprofessionelle Identifizierung zwischen Anwalt und Mandantin sichtbar wird:

   Der bereits im Oktober 1902 in Bozen von Emma konsultierte ehemalige Rechtsanwalt Dr. jur. Kunreuther senior, offenbar ein väterlicher Typ, beurteilte am 12. Februar 1908, lediglich gestützt auf seine Erinnerung, Emma Pollmer als eine


Dame, die auf mich einen intelligenten und glaubwürdigen Eindruck machte (...). Die Stimmung der Frau war in ihrer damaligen Situation eine sehr deprimierte. Insonderheit erinnere ich mich, daß sie in steter Furcht vor ihrem Manne lebte. (...) Wenn ich mir aber das damalige Wesen und Verhalten der sehr unglücklich scheinenden Frau heute noch sehr lebhaft vorstelle und mir ins Gedächtnis rufe, welchen Wert sie auf den Besitz der fraglichen Schriftstücke legte, so erscheint mir ihre Behauptung, sie sei zur Herausgabe jener Schriftstücke durch hypnotische Beeinflussung veranlaßt worden, wohl glaubhaft.548


Rechtsanwalt Giese, ein Bekannter der bereits erwähnten May-Feinde Constanze und Franz Meyer, war von Emma auf Veranlassung jenes Ehepaars Meyer aufgesucht worden. Der Zeitpunkt der angeblich aus Zahlungsgründen beendeten Beratung ist ungewiß; er liegt aber jedenfalls nach der Konsultation der Kollegen Dr. Kunreuther senior, Thieme/Kohlmann und Dr. Neumann sowie nach Emmas Rückgabe von an sie gerichteten Briefen von Karl und Klara an die Verfasser. Giese schrieb am 25. Februar 1908 über seine Einschätzung von Emma Pollmer:


Immerhin weiß ich mich bestimmt zu erinnern, daß die  M a y  mir allerdings von Briefen  M a y ' s  und seiner jetzigen Ehefrau gesprochen hat, die sie in einem hypnotischen Zustand Beiden wieder ausgehändigt haben will.

   Ich bemerke hierzu, daß die  M a y  überhaupt hypnotisch veranlagt zu sein schien, dies ist mir seinerzeit und erst kürzlich wieder von den Eheleuten Hotelier  M e y e r  (...) bestätigt worden (...).

   Physisch und psychisch machte die  M a y  mir den Eindruck, daß sie eine kränkliche und schwächliche Person zu sein schien, die überdies durch seelische Mißhandlungen  M a y ' s  und seiner jetzigen Frau geistig nicht mehr völlig intakt erschien, wenigstens war sie sehr aufgeregt bei den Verhandlungen mit mir und sich über manches, was sie mir erzählte, nicht ganz klar.


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   Daß die  M a y  vollständig unter dem Einflusse der Eheleute  M a y  stand, habe ich bei meinen Verhandlungen mit ihr empfunden, dies werden auch insbesondere die vorgenannten Eheleute  M e y e r  bestätigen können.


Rechtsanwalt Giese schöpfte diese Erkenntnisse allein aus seiner Begegnung mit Emma Pollmer und kommentierenden Unterredungen mit dem Ehepaar Meyer; denn: »Mit den Eheleuten May habe ich meiner Erinnerung nach weder brieflich noch mündlich verkehrt.«549

   Bereits aus diesen Stellungnahmen von Männern, die lediglich kurzen, geschäftlichen Kontakt zu Emma Pollmer hatten, wird deutlich, daß Emma Pollmer polarisierte: entweder provozierte sie Ablehnung und Abwertung als geistig beschränkte, exaltierte, von überschwenglichen Gefühlen und mystischer Denkungsart beherrschte Frau, wie auch bei Staatsanwalt Dr. Erich Wulffen im Jahr 1909, oder aber sie überzeugte derart, daß akademisch gebildete und von Berufs wegen eher zum Zynismus neigende Männer gar hypnotische Einflußnahme auf Emma einschließlich ›seelischer Mißhandlung‹ durch das Ehepaar May für möglich hielten, ohne die ›Täter‹ je kennengelernt zu haben.

   Auch wenn diese Rechtsanwälte Emma Pollmer in einer krisenhaft zugespitzten Lebenssituation erlebten - jede Trennung ist traumatisch, insbesondere aber eine, die auch die soziale und materielle Lebensgrundlage zerstört -, bestätigen alle Zeugen wesentliche derjenigen charakteristischen Eigenschaften Emmas, die May in seiner ›Studie‹ beschreibt. In seiner subjektiven Wertung Emmas, nämlich der Bescheinigung einer suggestiven, sicherlich die ersten Ehejahre hindurch hochwirksamen Anziehungskraft, dann aber auch in seiner Ablehnung ihrer intellektuellen Dürftigkeit, ihrer heftig-aggressiven Gefühlsausbrüche und ihrer Unberechenbarkeit, dürfte May sich mithin im Einklang mit anderweitiger männlicher Wahrnehmung von Emma Pollmer als Frau befunden haben. Eine auf persönlichen Defiziten, gar krankhaften Fehleinschätzungen beruhende verzerrte Beurteilung wäre ihm damit nicht vorzuwerfen; wenn auch diese Wertung darunter leiden muß, daß ein vollständiges Bild dieser Frau nicht gezeichnet werden kann. Ihre Selbstzeugnisse sind zu gering, um sie unabhängig von der Rolle, die sie im Leben von Karl May spielte, betrachten zu können. Hätte Emma einen Chemnitzer Bahnbeamten um den Finger gewickelt, einen Viehhändler aus Glauchau ins Unglück gestürzt oder einen Kaufmann aus Hohenstein um Geld & Gut gebracht: wir wüßten gar nichts von ihr, und ihre Zeitgenossen hätten vielleicht nur durch einen Zeitungsartikel über einen Suizid oder über eines jener klassischen Kapitalverbrechen im sozialen Nahbereich von ihr erfahren: Frauen wie Emma Pollmer können bis aufs Blut reizen. Sie verlangen einen souveränen Partner, der für sie eine fortdauernde Herausforderung darstellen muß. Die Nachwelt kann Emma Pollmer ausschließlich in ihrer Wirkung auf Karl May würdigen, der für sie der falsche Mann war: ein Mann allerdings, dem unsere eigentliche Anteilnahme gilt.




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