//155//

7.4

Das 'zweite Inferno': Die Verbindung mit Emma Pollmer


Sehnsucht und inneres Fühlen, diese Energiequellen seiner Werke hatten May auch in seiner Beziehung zur FRAU sehr beeinflußt. Traumkraft und Phantasie bestimmten wohl sein Verhältnis zu Anna Preßler und Henriette Meinhold, zu all seinen Freundinnen in den sechziger Jahren1 und schließlich zu Emma Pollmer, der künftigen Ehefrau. Auch diese Erlebnisse wurden zum Antrieb für literarisches Schaffen. "Cherchez la femme!"2 Fouchés Maxime gilt auch für May, im höchsten Grade sogar.

   In Mays Roman "Giölgeda padishanün" (später Durch Wüste und Harem, dann Durch die Wüste) behauptet der Ich-Held, "ein Feind aller Frauen und Mädchen"3 zu sein - nach Walther Ilmer "eine glatte Umkehrung der wirklichen Einstellung Karl Mays".4 Denn Frauen spielten in seinem Leben, bis ins hohe Alter, eine bedeutende Rolle.

   Auch in der Mitte der siebziger Jahre, vor der Freundschaft mit Emma Pollmer, dürfte Karl May verschiedenen Frauen sehr nahegestanden sein. Die junge Schneiderstochter Anna Schlott (geb. am 24.11.1860) soll, nach Zesewitz,5 seine Geliebte gewesen sein; sie soll wegen May ihre Webstelle verloren und dann, als seine Sekretärin, Schreibarbeiten für ihn erledigt haben.

   Mit der Cartonarbeiterin Marie Thekla Vogel (1856-1929) aus Hohenstein gab es wohl ebenfalls eine Romanze. Dieses Mädchen wird das Herz des Schriftstellers in der Tiefe berührt haben.6 Marie Thekla könnte identisch sein mit der Punktiererin, die bei Münchmeyer beschäftigt war, Mays Zimmer in Ordnung hielt7 und in dieser Beschäftigung von Minna Ey - der von May Zurückgewiesenen - verdrängt wurde. Marie Theklas Tochter Helene Ottilie Vogel (1876-1952) könnte, einer Hypothese zufolge, ein uneheliches Kind des Schriftstellers gewesen sein.8 Wichtige Fragen (etwa: warum es zur Trennung kam) entziehen sich leider ihrer Beantwortung. Nur Vermutungen kann es hier geben.

   Über Mays Beziehung zu Emma Pollmer aber wissen wir mehr: Wohl Mitte 1876 - die Geographischen Predigten waren eben erschienen - lernte May in der Heimat, nach eigener Angabe im Hause seiner Schwester Wilhelmine Schöne, ein Mädchen kennen: Emma Lina Pollmer (1856-1917) aus Hohenstein.


Sie war so still, so zurückhaltend, so bedachtsam, außerordentlich sympathisch, dazu schön, wie man sich eine Frau nur wünschen kann. Freilich flackerte hinter dieser Stille und Ruhe zuweilen etwas dem Widersprechendes auf. Dadurch wurde mir dieses Mädchen zum Rätsel und also doppelt gefährlich, weil nichts den Schriftsteller so sehr zu fesseln vermag wie ein psychologisches Rätsel, dessen Lösung ihn interessiert.9


   Zu den entscheidenden Begegnungen dürfte es, nach Ilmer, freilich erst zu Beginn des Jahres 1877 gekommen sein.10 Der herrlichen Emma, ihrem "ganz eigenartigen, geheimnisvollen Augenaufschlag",11 war May von jetzt an verfallen. Sie kam "täglich abends zu mir, [...] heimlich, leise, durch meine Hinterthür, die für sie offen stand."12 Karl verfing sich im Netz und kam nicht wieder heraus. Nach vier Jahren war die Hochzeit, nach zweiundzwanzig "Höllenjahren"13 folgte die Scheidung.

   Mays Ehe wurde, nach den Schrecken der Jugend- und Kerkerzeit, als 'zweites Inferno' bezeichnet. Geistig war Emma ihrem Gatten weit unterlegen, und die seelische Harmonie blieb wohl immer ein Wunschtraum des Dichters. Doch der sinnlichen Ausstrahlung, dem Sex-Appeal seiner Frau, konnte er nicht widerstehen.


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   Fritz Maschke schilderte Emma als hausbacken-naiv.14 Der alt gewordene Karl May stellte sie, in fassungsloser Übertreibung, als dämonisches Monstrum dar: als "perverse", gewissenlose Frau, als "raffinirte Courtisane", als besessene "Megäre", als diabolisches Weib, als "seelische Impotenz", als "Vampyr", als entfesselte "Bestie"!15 Dieses "Weib war aller Ränke voll und aller Thaten fähig!"16


7.4.1

Das Frauenbild in den Frühwerken Karl Mays


Um die Tragik und die innere Problematik dieser Ehe zu verstehen, sollte Mays literarisches Frauenbild mit bedacht werden.17 In Mays frühen Erzählungen - erst recht in den Münchmeyerromanen ab Herbst 1882 - himmelt und wimmelt es von anmutig hübschen, teils heiter und schelmisch, teils ernst und besinnlich gezeichneten Mädchengestalten. Meist sind diese Frauen künstlerisch, vor allem musikalisch begabt. Sie sind barmherzig und tapfer; sie opfern sich auf. Sie vermitteln ihren Geliebten das höhere Sein, die göttliche Gnade. Fast übersinnliche, ja engelgleiche Wesen sind sie für ihre Liebsten. Sie verkörpern die Liebe, das 'ewig Weibliche', das die Erde mit dem Himmel verbindet.

   Im Dukatenhof, einer der schönsten Dorfgeschichten Karl Mays, ist das still ertragene Leid und die selbstlose Liebe einer Frau (namens Anna) die handlungstragende Mitte aller Dramatik. Das innere Geschehen ist kompliziert und im Kein metaphysisch: Nach Annas Tod verwandelt ein Schicksalsschlag ihren Ehemann, den Verbrecher Heinrich, in einen reuigen Büßer. Und aus dem rachsüchtigen, in Anna verliebten und von Heinrich - durch einen Mordanschlag - zum Krüppel gemachten Köpfle-Franz wird durch die (posthum noch wirksame) Hingabe dieser Frau ein gütiger, zur Vergebung fähiger Mensch. Er wird zum besonderen Freund des Dukatenbauern, des ehemaligen Nebenbuhlers Heinrich. Und das Glück, der Friede zieht im Dukatenhof wieder ein - in der Gestalt Emmas, der Tochter Heinrichs und Annas. Im Klartext: das Unrecht, das Karl May (dem Köpfle-Franz) widerfuhr, und das (in der Dorfgeschichte, im Vergehen Heinrichs, verzerrt und vergrößert dargestellte) Unrecht, das er selber getan hat, sollen gleichermaßen erlöst werden - durch das mütterliche Verzeihen (Annas), durch die Liebe der Frau, durch die Liebe Emma Pollmers!

   Die Liebe der Frau "kommt von Gott, darum führt sie auch zu Gott. Sie ist die Tochter des Himmels, ohne welche unsere Erde ein Jammertal sein würde."18 Vielleicht noch deutlicher als Der Dukatenhof zeigt Mays Dorfgeschichte Der Giftheiner,19 wie der Schriftsteller seine Emma und ihre 'Erlösungsfunktion' gesehen hat. Eine mehrfache Spiegelung dürfte hier vorliegen: Verschiedene (oder alle!) Frauen-Erlebnisse Karl Mays werden überblendet und miteinander verschmolzen. Das Ergebnis: Emma Pollmer im Glorienschein.

   Die Handlung in knapper Zusammenfassung: Alma, die Tochter Alwines, einer früher bezaubernden, aber leichtsinnigen Sängerin, begegnet dem Silberheiner. Sie sieht ihn - und schenkt ihm ihr Herz. Heinrich Silbermann, der arme Vogelfänger, der in Wahrheit ein Künstler ist, findet - nach schwerster Enttäuschung - sein Glück. Denn Alma gleicht ihrer Mutter an Schönheit, bleibt aber frei von jeglichem Makel: eine Madonnen- und Beatricegestalt.

   Almas Mutter hatte in Heiners Vorgeschichte eine tragische Rolle gespielt. Alwine hatte ihren Liebsten, den Silberheiner, vor zwanzig Jahren mit einer Theatertruppe20 verlassen: weil sein einfaches Leben ihrem Stolz nicht genügte. Doch Almas Liebe ist rein. Sie wird zur (wiedergefundenen) 'Seele' des Heinrich. Sie erlöst seine Qual und auch die


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Schuld ihrer Mutter. Alwine sühnt ihre Untreue: durch den Verzicht auf Heinrich, den zu lieben sie endlich erkannt hat.

   Vielschichtig ist der autobiographische Hintergrund. Alma, die Seele, ist zweifellos Emma Pollmer. Der Name der Mutter erinnert an Malwine Wadenbach, die ihren 'Geliebten', den Landstreicher May, ja verraten hat.21 Aber auch Anna Preßler kann hier gemeint sein:22 das Mädchen, das den 'Sänger' Karl vor zwanzig Jahren verschmäht hat.

   Alwine, die treulose, aber noch immer geliebte Schönheit, fließt in Alma gleichsam hinein. Heiner, der verkannte Sänger und Dichter - ein Selbstporträt Karl Mays -, meint Alma und Alwine, meint Emma Pollmer und Anna Preßler (die junge und die alte Liebe) zugleich: "Sie kam zurück; es war kein Traum, / Und dennoch war sie's nicht. / Es war ihr Bild, nein, nicht ihr Bild, / Sie selbst war's, doch verklärt, / Und nun ist aller Schmerz gestillt, / Der, ach, so lang gewährt."23


7.4.2

Projektion und Ent-täuschung


Die Folgerung liegt auf der Hand: In Emma sah Karl May die erlösende Zukunft, den überreichen Ersatz für die Liebesverluste in der Vergangenheit. Ins Gnadenhafte, ins Absolute gesteigerte Wunschbilder wurden von May auf Emma Pollmer projiziert. "Mann und Weib, und Weib und Mann reichen an die Gottheit an."24 Doch die Wirklichkeit der Ehe entsprach dem Ideal-Bild des Dichters sehr wenig. Die Welt der Träume und die Welt der nüchternen Fakten - der große Zwiespalt und, vielleicht, der Urkonflikt aller Sänger und Dichter!

   Attraktiv und verführerisch war Emma durchaus, aber ein Engel war sie gewiß nicht. Den Jagdtrieb der Männer, der 'Vogelfänger', forderte sie heraus. Und May war, wie er später meinte, "dumm genug, stolz darauf zu sein, daß ich alter Kerl die jungen Anbeter alle ausgestochen hatte."25 Emma verstand es, Briefe zu schreiben. Und sie schwärmte, laut Mayscher Selbstbiographie, von den Geographischen Predigten. Er fiel herein und zwar mächtig. "Sie sprach da von meinem 'schönen, hochwichtigen Beruf, von meinen 'herrlichen Aufgaben', von meinen 'edeln Zielen und Idealen' [...] Welch eine Veranlagung zur Schriftstellersfrau!"26

   Zur Verzauberung kam noch Mitleid hinzu. Emma wuchs auf ohne Vater, und ihre Mutter - Emma Ernestine Pollmer (1830-1856) - war nach der Geburt des Kindes gestorben. Die Hohensteiner waren sehr abergläubisch und selbstgerecht; sie beargwöhnten die Vollwaise als 'Kind der Sünde', als "Nickel", auf dem kein Segen ruhe.27 Für Mays Retter-Manier ein Appell, ein moralischer Auftrag!

   Warum ist Mays Ehe am Ende gescheitert? Das bleibt, zuletzt, natürlich Geheimnis. Aber wichtige Gründe für dieses Scheitern sind gleichwohl erkennbar. Wir müssen darauf, an späterer Stelle,28 zurückkommen. Fürs erste sei nur, ganz allgemein, vermerkt: Der Schriftsteller war sehr verliebt. Verliebte aber verwechseln - nach C.G. Jung - das Du des anderen mit der eigenen "anima",29 mit den Suchbildern des eigenen Ich. Das MUSS, früher oder später, zur Ent-täuschung führen.

   Emma verhielt sich, natürlicherweise, als sie selbst und nicht als "anima" Karl Mays. Der Dichter liebte, so wird man annehmen müssen, nicht Emma Pollmer, sondern die (unbewußten, am Mutterbild orientierten) Wünsche, die er auf seine 'Geliebte' übertrug. An sich nichts Ungewöhnliches: so beginnt fast jede Partnerbeziehung. Aber die Chance, daß ihre Beziehung dann wachsen und reifen würde, war für Karl May und Emma Pollmer vermutlich gering. Die Gegensätze waren zu groß.


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   Die Altersdifferenz - vierzehn Jahre - war noch das wenigste. Die beiden paßten überhaupt nicht zusammen. Ihre Einstellung zum Leben war grundverschieden. Karl May war ein Tagträumer par excellence; Emma hingegen war erdverbunden, für Höhenflüge war sie wohl nicht zu gewinnen.

   Bei 'normalen' Verliebten ist die 'Realitätsflucht' eine Entwicklungsphase; bei May war sie ein beständiger Wesenszug. Sein Verhältnis zur Wirklichkeit war, genauer gesagt, ambivalent. May war - wie im Jenseits-Roman (1899) der kranke Münedschi30 - ein blinder Seher, ein gespaltener Mensch: Einerseits floh er die Realität und verschloß seine Augen vor ihr; andererseits sah er, unter der Oberfläche, die tiefere Wirklichkeit, die 'Seele' der Dinge. Emma konnte ihn da nicht mehr begreifen. Seine literarische Arbeit blieb ihr wohl fremd, für seine Ideen und Träume fehlte ihr das eigentliche Verständnis. Ihm wiederum war sie, sehr bald schon, zu 'niedrig'. In den späten Ehejahren fühlte er sich von ihr nur gestört und beengt. Er hielt sie für dumm und genußsüchtig, für herzlos und faul, für eitel und sinnlich, für geldgierig und primitiv.31

   Die allein 'Schuldige' war Emma sicherlich nicht. Doch unser Thema ist nicht die Würdigung Emma Pollmers. Es soll nur verdeutlicht werden, wie Karl May - subjektiv - diese Beziehung wahrscheinlich erlebt hat. Er hatte die Jugend schon hinter sich; eine echte, eine bleibende Freundschaft war ihm bisher nicht vergönnt. Seine Sehnsucht nach Zärtlichkeit, nach einer liebenden Frau, machte ihn blind für Emmas Natur. Unglück hatten sie beide; auch das lebenslustige Mädchen hatte den falschen Partner gewählt; "denn wozu Emma auch immer veranlagt war, zur 'Schriftstellersfrau' war sie's nicht."32


7.4.3

"Ich werde Dich lieben in Ewigkeit"


Die Entscheidung fiel im Frühjahr 1877. Emmas Großvater, der 'Chirurg'33 und Barbier Christian Gotthilf Pollmer (1807-1880), war gegen diese Verbindung. Er hatte, nach der Darstellung Mays, ganz andere Pläne mit der reizenden Emma: "Die kann andere Männer kriegen. Die soll mir keinen Schriftsteller heiraten, der [...] nur vom Hunger lebt!"34 Aber sie "wählte mich; sie kam. Sie verließ den, der sie erzogen hatte und dessen einziges Gut sie war. Das schmeichelte mir. Ich fühlte mich als Sieger."35

   Am 26. Mai 1877 zog Emma von Hohenstein nach Dresden in die Nachbarschaft Karls. Er brachte sie zu einer Pfarrerswitwe, zu Auguste Petzold (Mathildenstraße 18) und deren "hochgebildeten" Töchtern in Logis. May konnte sie aus eigenen Mitteln nicht ernähren; durch Arbeit in Küche und Haushalt mußte Emma ihren Lebensunterhalt selbst verdienen.36 Sie sollte sich vorbereiten auf den baldigen Ehestand; und sie sollte trainieren für den geistigen Aufstieg, für die höheren Ziele des künftigen Gatten.37

   Zu Beginn des Jahres 1878 konnte sich das Paar eine gemeinsame Parterre-Wohnung leisten: in der 'Villa Forsthaus' in Dresden-Neustrießen, Straße Nr. 4 (später Forsthausstraße). Die beiden galten vor der Öffentlichkeit als verheiratet; der Schriftsteller bezeichnete Emma, auch bei den Behörden, als seine Frau.

   Aufgrund seines Einkommens als Redakteur bei Radelli hatte sich Mays Finanzlage etwas gebessert. Der alte Pollmer - so erläutert es May -


hörte von Kennern, daß ich im Begriff stehe, ein wohlhabender, vielleicht gar ein reicher Mann zu werden.38 Da schrieb er an seine Tochter. Er verzieh ihr, daß sie ihn um meinetwillen verlassen hatte [...] Ich fühlte mich wieder als Sieger. Wie töricht von mir! Hier hatte nicht ich, sondern nur die Erwägung gesiegt, daß ich es wahrscheinlich zu einem Vermögen bringen werde, und es gab sogar die Gefahr für mich, daß diese Erwägung nicht allein vorn Großvater getroffen worden war.39


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   Nach einer 'Probeehe' von fünf oder sechs Monaten kehrte Emma, im Sommer 1878, zu ihrem Großvater zurück. Der alleinstehende Pollmer bedurfte wohl ihrer Hilfe. Karl folgte nach; er wohnte bei seinen Eltern in Ernstthal, zeitweilig auch mit Emma zusammen im Hause Pollmer.40

   "Sie stand nun Tag für Tag in ihrer splitternackten Seelenlosigkeit vor mir [...] Sie gab sich nicht die geringste Mühe, geistig fortzuschreiten."41 So schrieb der Dichter - in maßloser Überzeichnung, nach schwersten Verletzungen - Ende 1907. Schon 1878/79 gab es mit Emma tatsächlich Probleme. Das vermutlich im Spätsommer 1879 entstandene Kapitel 'Der tolle Prinz' in Mays Roman Scepter und Hammer42 gibt die Ängste des Verlobten fast ungetarnt wieder: Der Schriftsteller Karl Goldschmidt sieht Gründe zur Eifersucht. An den körperlichen Reizen seiner Geliebten - Emma Vollmer - hätte selbst "ein Correggio nichts auszusetzen gehabt"; doch Karl erkennt:


"sie bemerkt es, wenn sie bewundert wird, und thut man dies nicht, so fordert sie durch Blick, Bewegung und Geberde dazu auf. Sie hatte mich lieb, aber sie will ihre Vorzüge nicht mir allein widmen, sie bedarf auch der Anerkennung Anderer, welche sie mit suchendem Auge einkassirt."43


   Der arme Goldschmidt möchte diesem Verhältnis ein Ende bereiten und kann es doch nicht, weil er die schöne Kokette "zu innig, zu innig"44 liebt.

   Karl May gewann seine Freiheit nicht wieder. Obwohl er sie, wie er später erklärte, "los sein wollte",45 blieb er Emma verfallen. Seine Eltern und Geschwister "warnten"46 ihn. Aber der alte Pollmer sah die Verbindung des Schriftstellers mit Emma jetzt positiv. Noch im Sterben soll er Karl gebeten haben, seine Enkeltochter nicht zu verlassen.47 Auch sie selbst "beschwor mich bei Gott, beim Himmel, bei meiner eigenen Seligkeit, bei ihrer tiefen Reue und bei den brechenden Augen ihres sterbenden Vaters, ihr Alles zu verzeihen und sie wieder bei mir an- und aufzunehmen."48

   May konnte (und wollte) jetzt nicht mehr zurück. Ein halbes Jahr nach der Bestellung des Aufgebots (!), am 17. August 1880, also kurz nach Pollmers Tod, hat er seinem "Versprechen gemäß die Emma Pollmer aus Mitleid, Gerechtigkeitsgefühl und in der Hoffnung, daß ich mit ihr glücklich werden würde, geheiratet."49 Am Sonntag, dem 12. September 1880, folgte die kirchliche Trauung in Hohenstein, St. Christophori.

   "Ich hab Dich geliebet und liebe Dich heut, und werde Dich lieben in Ewigkeit!"50 Das versprechen sich - in Scepter und Hammer - das Mädchen Ayescha und der Zigeuner Katombo. Auch Karl wird es Emma versprochen haben im heiligsten Ernst. Nur - er konnte sein Versprechen auf die Dauer nicht halten! Die Ehe mit Emma wurde für Karl May zum 'Inferno', weil sie die Grundlage seiner Existenz, weil sie sein höchstes Ideal, die Liebe, zu erschüttern drohte: "Das Band, das Band, das man die Ehe nennt! / Verhaßt, verhaßt, mir fürchterlich verhaßt"!51

   Diese Klage, dieser Aufschrei rührt - nach des Dichters Verständnis - an das Größte, das Heiligste im Herzen des Menschen: an seine 'Gottebenbildlichkeit' (Gen 1, 26f.). Warum? Weil Karl May die Frau als das Bild der göttlichen Liebe und den Mann als das Bild der göttlichen Allmacht betrachtete;52 diese Ebenbilder sind aufeinander verwiesen: auch der Mann ist (durch die Frau) zur Liebe, und auch die Frau ist (durch den Mann) zur 'Allmacht', zum Sieg über Widrigkeiten bestimmt; erst in der Ergänzung der Geschlechter findet der Mensch, nach Mays Überzeugung, zu sich selbst: zur Teilhabe am göttlichen Sein.53

   Im November 1878 hatte May in das Album Anna Schneiders, einer Freundin Emmas, geschrieben:


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Der Mann muß kämpfen mit Gewalten, / Die finster seinen Herd umstehn, / Und seine ganze Kraft entfalten, / Um siegreich aus dem Streit zu gehn. / Und in dem Weib muß ihn umschlingen / Die Liebe warm und hoffnungsreich / Um Muth und Tröstung ihm zu bringen, / Beglückend und beglückt zugleich.54


   Um dieses Glück fühlte sich May von seiner Emma vermutlich betrogen. Aber er gab sich - über zwanzig Jahre lang - Mühe, an das Gelingen seiner Ehe zu glauben. Kara Ben Nemsi gibt dem Ehemann Halef, im Silbernen Löwen I, den wohlmeinenden Rat: "Wenn eine Verschiedenheit der Meinung droht, so müssen Mann und Weib nachdenken und in Liebe miteinander sprechen; dann werden sie schnell einer Meinung werden."55

   Mays Beziehung zu Emma war, wohl von Anfang an, zwiespältig: "Oh du beglückende Pantoffelherrschaft, dein Zepter ist ganz dasselbe im Norden wie im Süden, im Osten wie im Westen!"56 In zahlreichen, teils positiv ins Himmlische, teils negativ ins Dämonische überzeichneten Frauenporträts hat der Dichter sein Verlangen und seine Enttäuschung literarisch 'verarbeitet'. Viele Jahre sollte es dauern, bis er die Ehe dann anders erlebte: mit Klara, seiner zweiten Frau. Diese war, in der Sicht Karl Mays, tatsächlich der 'Engel', den er in Emma vergeblich gesucht hatte.



Anmerkungen


1Vgl. oben, S. 106f.
2Vgl. Klaus Hoffmann: "Nach 14 Tagen entlassen..." Über Karl Mays zweites 'Delikt' (Oktober 1861). In: JbKMG 1979, S. 338-354 (S. 348f.).
3Karl May: Durch Wüste und Harem. Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. I. Freiburg 1892, S. 42.
4Walther Ilmer: Durch die sächsische Wüste zum erzgebirgischen Balkan. Karl Mays erster großer Streifzug durch seine Verfehlungen. In: JbKMG 1982, S. 97-130 (S. 116).
5Näheres bei Roland Schmid: Anna Schlott. In: KMJB 1979. Bamberg, Braunschweig 1979, S. 209-211 (mit Bezug auf einen Brief von Hans Zesewitz vorn 22.6.1940 an Euchar A. Schmid); die Zesewitz-Mitteilung ist freilich "nicht sehr beweiskräftig belegt" (Claus Roxin in einem Brief vom 4.5.1990 an den Verfasser).
6Die wohl eindrucksvollste (nach dem Umkehr-Prinzip zu deutende?) literarische Spiegelung wäre dann Martha Vogels Liebe zum Ich-Erzähler (der Marthas Liebe nicht erwidert) im - von der 'Hausschatz'-Redaktion gestrichenen (vgl. unten, S. 247ff.) - Kapitel 'In der Heimath' des May-Romans Krüger Bei (1894/95); vgl. Hans Dieter Steinmetz: "Der gewaltigste Dichter und Schriftsteller ist ... das Leben". Zur Deutung der Nebatja- und Martha-Vogel-Episode. In: MKMG 40 (1979), S. 12-23 - Walther Ilmer: Der Professor, Martha Vogel, Heinrich Keiter und Mays Ich. In: MKMG 47 (1981), S. 3-12; Fortsetzung MKMG 48 (1981), S. 3-10.
7Vgl. Karl May: Ein Schundverlag. Ein Schundverlag und seine Helfershelfer (1905 bzw. 1909). Prozeßschriften, Bd. 2. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1982, S. 304. - Vgl. auch Fritz Maschke. Karl May und Emma Pollmer. Die Geschichte einer Ehe. Beiträge zur Karl-May-Forschung 3. Bamberg 1973, S. 19.
8Vgl. Steinmetz, wie Anm. 6, S. 15ff.
9Karl May: An die 4. Strafkammer des Königl. Landgerichtes III in Berlin (1911). Prozeßschriften, Bd. 3. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1982, S. 55.
10Vgl. Walther Ilmer: Karl Mays Weihnachten in Karl Mays "Weihnacht!" In: JbKMG 1987, S. 101-137 (S. 107).
11Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg 1910. Hrsg. von Hainer Plaul. Hildesheim, New York 21982, S. 189.
12Karl May: Frau Pollmer - eine psychologische Studie (1907). Prozeßschriften, Bd. 1. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1982, S. 810.
13Ebd., S. 814.
14Maschke, wie Anm. 7, passim.
15May: Frau Pollmer, wie Anm. 12, S. 805ff. - Vgl. aber - hier deutlich milder - auch May: An die 4. Strafkammer, wie Anm. 9, S. 52ff. - Vgl. unten, S. 419ff.


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16May: Frau Pollmer, wie Anm. 12, S. 922. - Vgl. Heinz Stolte: "Frau Pollmer - eine psychologische Studie". Dokument aus dem Leben eines Gemarterten. In: JbKMG 1984, S. 11-27 (S. 15ff.).
17Vgl. - über den Aspekt 'Emma Pollmer' hinaus - Otto Eicke: Die Frauengestalten Karl Mays. In: KMJB 1922. Radebeul 1921, S. 55-88 - Werner Tippel/Hartmut Wörner: Frauen in Karl Mays Werk. SKMG Nr. 29 (1981).
18Karl May: Waldröschen oder Die Rächerjagd rund um die Erde, Bd. II. Leipzig 1988 (Reprint des Dresdner Erstsatzes von 1882-84), S. 762.
19Erstmals 1879 (unter dem Pseudonym 'Karl Hohenthal') in der Zeitschrift 'All-Deutschland!/Für alle Welt!' (Stuttgart) erschienen.
20Nach Walther Ilmer (Brief vom 14.5.1990 an den Verfasser) greift May hier "auf Eigenerlebnisse bei einer Theatertruppe zurück"; als May 1863/64 "komische Vorträge hielt und Musik machte", zog er - wie Ilmer vermutet - "zeitweilig mit 'fahrendem Volk' durch die Lande"; bei dieser Gelegenheit könnte er Malwine Wadenbach und deren Tochter kennengelernt haben. - Vgl. oben, S. 91.
21Vgl. oben, S. 116.
22Vgl. Ekkehard Bartsch: (Werkartikel zu) Der Giftheiner. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 476-478 (S. 477).
23Karl May: Der Giftheiner. In: Ders.: Der Waldkönig. Reprint der KMG. Hamburg 1980, S. 153-191 (S. 183).
24Aus dem Duett des Papageno und der Pamina im 1. Akt der Zauberflöte.
25May: Frau Pollmer, wie Anm. 12, S. 810.
26May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 11, S. 190.
27Vgl. ebd., S. 187ff.
28Vgl. unten, S. 200ff, 338ff. u. 419ff.
29Vgl. Carl Gustav Jung: Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten (1928). In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. VII. Olten, Freiburg 1964, S. 131-264.
30Vgl. unten, S. 362ff.
31Vgl. May: Frau Pollmer, wie Anm. 12, S. 815 u. passim.
32Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 53.
33Pollmer zog auch Zähne und behandelte Wunden; folglich wurde er als 'Chirurgus' betitelt.
34May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 11, S. 192.
35Ebd., S. 193.
36Vgl. Maschke, wie Anm. 7, S. 11.
37Vgl. May: Frau Pollmer, wie Anm. 12, S. 815.
38Von 'Reichtum' konnte damals freilich noch keine Rede sein!
39May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 11, S. 194.
40Vgl. Hainer Plaul (Hrsg.): Karl May, wie Anm. 11, S. 399f. (Anm. 187).
41May: Frau Pollmer, wie Anm. 12, S. 815.
42Zu den Entstehungszeiten der einzelnen Kapitel vgl. Roland Schmid: Anhang (zu Auf fremden Pfaden). In: Karl May: Freiburger Erstausgaben, Bd. XXIII. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1984, A 1-42 (32f.).
43Karl May: Scepter und Hammer (1879/80). Karl Mays Werke II. 1. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1987, S. 174f.
44Ebd., S. 176.
45Aus einer Erklärung Mays vor dem Dresdner Kgl. Landgericht am 6.4.1908; zit. nach Wollschläger, wie Anm. 32, S. 53.
46May: An die 4. Strafkammer, wie Anm. 9, S. 59.
47Ebd.
48May: Frau Pollmer, wie Anm. 12, S. 822.
49May: Erklärung, wie Anm. 45; zit. nach Wollschläger, wie Anm. 32, S. 57. - Wie erst 1992 bekannt wurde, wurde das Heirats-Aufgebot schon am 19.2.1880 bestellt. Dazu Walther Ilmer: Karl May - Mensch und Schriftsteller. Tragik und Triumph. Husum 1992, S. 254: Zwischen Karl und Emma dürfte es "eine erneute beträchtliche Verstimmung" gegeben haben, "die die Heiratsabsicht ernsthaft bedrohte."
50May: Scepter und Hammer, wie Anm. 43, S. 348f.


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51Karl May: Wüste (Notizenkonvolut aus dem Jahre 1902); zit. nach Wollschläger, wie Anm. 32,S.57.
52Vgl. z.B. Karl May: Das Buch der Liebe. Dresden 1875/76. Reprint der KMG. Bd. I (Textband). Hrsg. von Gernot Kunze. Regensburg 1988, S. 38ff. (der Reprint-Paginierung). - Vgl. auch Ernst Seybold: Karl-May-Gratulationen. Geistliche und andere Texte zu und von Karl May. Ergersheim 1987, S. 10ff., 16f. u. 24ff. (Texte zu den Hochzeitstagen).
53Vgl. May: Das Buch der Liebe, wie Anm. 52, S. 39.
54Auszug aus der Schlußstrophe eines Gedichtes von Karl May im 'Album Anna Schneider' (18.11.1878); zit. nach Roland Schmid: Das "Album A. Schneider". In: KMJB 1979. Bamberg, Braunschweig 1979, S. 195-208 (S. 197).
55Karl May: Im Reiche des silbernen Löwen I. Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XXVI. Freiburg 1898, S. 395.
56May: Durch Wüste und Harem, wie Anm. 3, S. 82.



7.5

Die "Stollberg-Affäre": Eine doppelte Blamage


Im Sommer 1878 zogen Karl und Emma, wie schon erwähnt, zu den Eltern nach Ernstthal bzw. zum Großvater Pollmer nach Hohenstein, Am Markt Nr. 243. Auch nach der Heirat wohnte das Ehepaar May (bis April 1883) in Hohenstein, in der Marktstraße 2.

   Im Jahre 1878 war der Schriftsteller, um seinen Verpflichtungen für den Radelli-Verlag nachzukommen, sehr häufig auf Reisen: abgesehen von einer Berlinreise ausschließlich in Sachsen, vor allem zwischen Dresden und Hohenstein.1 "Es war damals eine Zeit ganz eigenartiger innerer und äußerer Entwickelungen für mich."2

   Hinter diesem Satz in der Selbstbiographie verbirgt sich der vierte und letzte Konflikt Karl Mays mit dem Strafgesetz.3 Diese "gerichtliche Blamage"4 war eine dumme, für May aber doch bezeichnende Geschichte.

   Mays Erzählungen haben stets einen kriminalistischen Hintergrund; der Held ist sehr oft auch ein Detektiv. Wir wissen: das Erzählwerk verfremdet tatsächlich Erlebtes. Aber auch umgekehrt ist zu sagen: die romantische Fiktion spielt hinein ins wirkliche Leben des Autors. Mays - an sich ernster und im Grund religiöser - Drang nach dem 'Höheren' glitt bisweilen ab ins Banale, in plattes Großmannsgetue. Oder schlug um ins Skurrile und Komische. So auch jetzt im Banne Emmas, der schönen Verlobten.

   Am 26. Januar 1878 starb Emmas Onkel, der einzige Sohn ihres Großvaters. Der heruntergekommene und trunksüchtige Emil Pollmer (geb. 1828) wurde im Pferdestall des Gasthofes 'Zum braven Bergmann' in Niederwürschnitz bei Stollberg tot aufgefunden.5 Die Sache wurde zu Recht als Unfall betrachtet: Emil Pollmer war im Rausch unter ein Fuhrwerk geraten und konnte sich gerade noch in den Stall schleppen. Der alte Pollmer dachte, aufgrund von Gerüchten, an einen Mord. Er verleitete den künftigen Schwiegerenkel zum Recherchieren. Dieser ließ sich, um Pollmer und Emma zu imponieren, wohl gern überreden. Er nahm - wie später Kara Ben Nemsi im Lande des Großherrn - alles selbst in die Hand und behandelte die Affäre wie einen Kriminalfall.

   Der ehemalige Rechtsbrecher schwang sich auf zum Verwalter des Rechts, "zum freien und autonomen Regler der Lebenswelt".6 In der Nähe des 'Tatorts', in Niederwürschnitz und Neuölsnitz, leitete Karl May am 25. April 1878 seine Untersuchungen ein. In zwei Restaurants befragte er die Gäste nach den näheren Umständen des Todes von Emil Pollmer. Nach Zeugenaussagen trat er als 'höherer, von der Regierung eingesetzter Beamter' auf. Sich einen bestimmten Titel oder Namen zuzulegen, hatte er - wie die Zeugen bestätigten - zwar vermieden; aber er stünde noch höher als der Staatsanwalt, gab er wohl vor.


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Auch mit Drohungen hielt der 'Detektiv' anscheinend nicht zurück: die Leiche des Emil Pollmer wolle er ausgraben und den Staatsanwalt werde er 'einstecken' lassen, falls dieser nicht richtig gehandelt habe.

   Ob May sich tatsächlich, expressis verbis, als 'Regierungsbeamter' bezeichnet hat oder ob die Zeugen, aufgrund seines besonderen Auftretens, nur diesen Eindruck gewannen, ist fraglich.7 Wie auch immer - Karl May hatte Pech. Der für Ölsnitz zuständige Polizist Ernst Oswald hörte von der Geschichte und bauschte sie auf zu einem Skandal. Am 15. Mai zeigte Oswald - nachdem er das Inkognito Mays gelüftet hatte - den Großsprecher an: Bei dem 'höheren Beamten' handle es sich, so der Gendarm in seiner Meldung an die Staatsanwaltschaft in Chemnitz, um den 'berüchtigten Sozialdemokraten' und entlassenen Zuchthäusler Karl May.

   Im Juni 1878 wurde der Schriftsteller in Dresden vernommen. Der Sozialdemokratie in irgendeiner Weise nahezustehen oder gar für deren Parteiblätter gearbeitet zu haben (was ja in der Tat nicht zutraf, sondern von Oswald erfunden wurde), wies er empört zurück. Auch eine 'Amtsanmaßung' bestritt er entschieden.

   Die gerichtlichen Ermittlungen dürften Karl May zunächst nicht besonders beunruhigt haben. Seine - im Frühjahr 1879 erschienene - Dorfgeschichte Der Waldkönig berechtigt zu dieser Annahme.8 Mit einem langen Schreiben (Sommer 1878) an den Untersuchungsrichter9 glaubte May die Sache bereinigt zu haben. Seine schon erwähnte Reisetätigkeit erfolgte wohl "in der Hoffnung, der läppische Fall werde sich am besten in seiner Abwesenheit von selbst erledigen."10 Aber das Gericht nahm die Affäre ernster als May. Am 9. Januar 1879 wurde er vom Gerichtsamt Stollberg wegen 'unbefugter Ausübung eines öffentliches Amtes' (im Sinne des § 132 RStGB) zu drei Wochen Gefängnis verurteilt.

   Dieses Urteil war, wie der Strafrechtler Erich Schwinge zweifelsfrei nachgewiesen hat,11 eine Fehlentscheidung. Claus Roxin kommt zum selben Ergebnis: "Es ist nicht strafbar, wenn jemand sich fälschlich eines öffentlichen Amtes rühmt."12 May hätte dieses Amt auch wirklich ausüben müssen, um rechtmäßig bestraft werden zu können. Eine Amtshandlung im eigentlichen Sinne aber hat er nicht vorgenommen. "Erkundigungen einziehen darf [...] jedermann; und mehr hat er nicht getan."13

   Mays Einspruch wurde am 12.5.1879 vom Bezirksgericht Chemnitz verworfen; sein untertänigstes Gnadengesuch (vom 2. Juli)14 an den sächsischen König Albert - mit der Bitte, die Haft zu verkürzen oder in eine Geldstrafe umzuwandeln - wurde abgelehnt. Auch sein Gesuch vom 30.7.1879 an das Gerichtsamt Stollberg, ihm wenigstens die Schande eines Gefängnisaufenthalts in der eigenen Heimatstadt zu ersparen, fand kein Gehör. Vom 1. bis zum 22. September 1879 mußte Karl May im Arresthaus des Gerichtsamtes Hohenstein-Ernstthal15 seine vierte Haftstrafe verbüßen.

   Vielleicht ist der Streit zwischen Karl und Emma - jenes Zerwürfnis, das in Scepter und Hammer sich spiegelt16 - auch im Zusammenhang mit der 'Stollberg-Affäre' zu sehen. Möglicherweise zog sich das Mädchen von Karl (im Frühjahr 1879) vorübergehend zurück, weil es sich bei andern Männern bessere Zukunftschancen erhoffte.

   Die geschilderten Ereignisse waren für May eine bittere Lehre. Doch sie konnten den Schriftsteller "nicht mehr aus der Bahn werfen [...], obwohl ihm durch die Verurteilung und ihre diskriminierenden Begleitumstände Unrecht geschah."17

   Wie ist die 'Stollberg-Affäre' insgesamt zu bewerten? Als Bagatelle natürlich, was den Sachverhalt als solchen betrifft. Doch erwähnt und erörtert werden muß die Affäre, weil sie beschämend ist - für alle Beteiligten. Blamiert hat sich, zunächst, der Obrigkeitsstaat mit seiner Rechtsprechung: Gegen den 'Zuchthäusler' war das Gericht sicher voreinge-


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nommen. Auch die Verdächtigung, Karl May sei 'Socialdemokrat durch und durch' (Brigadier Oswald),18 war böswillig und diffamierend:


wenn nichts anderes, dann mußte DIESE Beschuldigung zünden in einer Zeit, die mit den Sozialistengesetzen schwanger ging [...] Im Zuchthaus hat er gesessen, Sozialdemokrat ist er auch, [...] das eben war das bösartige Vorurteil gegen Karl May, mit dem der Brigadier das richterliche Ergebnis wie ganz selbstverständlich präjudizierte.19


   Aber blamiert hat sich auch Karl May. Kein neues Delikt, kein strafwürdiges Vergehen, auch keine Sünde im geistlichen Sinne ist seine Handlungsweise gewesen; aber eine unrühmliche Sache war diese Affäre, eine peinliche Episode im Leben des Dichters, der zur Großtuerei neigte und - zugleich - diese Schwäche als solche erkannte und (literarisch) zu bannen versuchte.

   Von der 'Stollberg-Affäre' hat sich Karl May, auf seine besondere Weise, 'frei' geschrieben. In den Fehlern und Schrullen seiner Clowns-Gestalten nimmt er sich selbst auf den Arm.20 Auch sein Auftritt als 'Ermittlungsbeamter' spiegelt sich - mehrfach gebrochen, verschönert und umgedichtet - im Mayschen Erzählwerk: in den beiden (zum sechsbändigen Orientzyklus gehörenden) Reiseromanen Durchs wilde Kurdistan21 und In den Schluchten des Balkan22 zum Beispiel.

   Aus Mays Blamage wurden, in der Fiktion der Romane, die Niederlage der Behörde und der Triumph des erzählenden Wunsch-Ichs. "Was in Niederwürschnitz und Neuölsnitz so kläglich mißlang, Old Shatterhand und namentlich Kara Ben Nemsi führen es immer wieder zu glorreichem Ende."23 In Mays Phantasie läuft alles ganz anders. Der Sieg des Geistes über die Macht des Justizapparates wird im Roman in große Szene gesetzt. Was die Realität dem Schreiber versagte, "ist in einem Balkandorf in Erfüllung gegangen. Die Akten sind geschlossen."24



Anmerkungen


1Vgl. Fritz Maschke: Karl May und Emma Pollmer. Die Geschichte einer Ehe. Beiträge zur Karl-May-Forschung 3. Bamberg 1973, S. 14f. - Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg 1910. Hrsg. von Hainer Plaul. Hildesheim, New York 21982, S. 401f. (Anm. 190).
2May: Ebd., S. 194.
3Vgl. Hainer Plaul (Hrsg.): Karl May, wie Anm. 1, S. 401f. (Anm. 190). - Vollständig dokumentiert ist dieser 'Fall' bei Maschke, wie Anm. 1, S. 129-196.
4Karl May: Frau Pollmer - eine psychologische Studie (1907). Prozeßschriften, Bd. 1. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1982, S. 873.
5Vgl. Maschke, wie Anm. 1, S. Off.
6Gerhard Neumann: Das erschriebene Ich. Erwägungen zum Helden im Roman Karl Mays. In: JbKMG 1987, S. 69-100 (S. 84).
7Nach der Aussage des Zeugen Karl E. Huth hat sich May als 'Redakteur einer Leipziger Zeitung' (also doch wohl nicht als 'Regierungsbeamter') im Niederwürschnitzer Gasthofe vorgestellt; vgl. dazu Heinz Stolte: Die Affäre Stollberg. Ein denkwürdiges Ereignis im Leben Karl Mays. In: JbKMG 1976, S. 171-190 (S. 182).
8Vgl. Maschke, wie Anm. 1, S. 14.
9Diesem Schreiben fügte May auch sein königstreues Gedicht von 1875 (vgl. oben, S. 134) bei!
10Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 55.
11Das Gutachten von Erich Schwinge (Pseudonym Maximilian Jacta) ist vollständig wiedergegeben bei Maschke, wie Anm. 1, S. 130-136.
12Claus Roxin: Mays Leben. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 62-123 (S. 93).
13Ebd.
14Dazu - sehr kritisch - Walther Ilmer: Karl May - Mensch und Schriftsteller. Tragik und Triumph. Husum 1992, S. 62ff.


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15Schon vor der Vereinigung beider Städte (1898) führte diese Behörde den Doppelnamen.
16Vgl. oben, S. 159; vgl. auch Maschke, wie Anm. 1, S. 21.
17Roxin, wie Anm. 12, S. 93.
18Vgl. die Darstellung bei Christian Heermann: Der Mann, der Old Shatterhand war. Eine Karl-May-Biographie. Berlin 1988, S. 134-138. - In Wirklichkeit ist Karl May parteipolitisch kaum einzuordnen. Er dachte 'deutsch', aber nicht nationalistisch; er war 'königstreu', aber auch sozialkritisch und (im Alter zumindest) pazifistisch eingestellt.
19Stolte, wie Anm. 7, S. 184.
20Vgl. ebd., S. 171-174.
21Dazu Stolte: Ebd., S. 187ff.
22Dazu Walther Ilmer: Das Märchen als Wahrheit - die Wahrheit als Märchen. Aus Karl Mays 'Reise-Erinnerungen' an den erzgebirgischen Balkan. In: JbKMG 1984, S. 92-138 (S. 111-114).
23Stolte, wie Anm. 7, S. 187.
24Ilmer: Märchen, wie Anm. 22, S. 114.



7.6

Freier Schriftsteller in Hohenstein (seit 1878): Schöpferische Energie und wilde Phantasien


Seine Tätigkeit bei Radelli wird May "von vorneherein nur als Übergangslösung"1 betrachtet haben. Schon nach Ablauf des Redaktionsjahres 1878 gab er seine Stelle auf, um nun endgültig, bis zum Lebensende, als freier Schriftsteller arbeiten zu können. Auf sich selbst gestellt, ohne festes Gehalt, brauchte May - jetzt erst recht - die Gunst der Verleger: "Seine Abhängigkeit vom Markt war total. Jetzt erlernte er die 'Kunst' des literarischen Opportunismus, der vieles von dem erklärt, was nicht wenigen Zeitgenossen später so schwer verständlich war."2

   So pauschal kann dieses Urteil freilich nicht stehen bleiben. Mays Fähigkeit, auf unterschiedliche Verleger und Leserkreise sich einzustellen und dementsprechend zu schreiben, muß nicht als 'Opportunismus' bezeichnet werden. Denn als Schriftsteller hat May "die Grenzen dessen, was er (bei seinem damaligen Entwicklungsstand) verantworten konnte, wohl kaum - mit Rücksicht auf bestimmte Verleger - überschritten."3

   Für Mays literarischen Werdegang mögen die äußeren Umstände lange Zeit ungünstig gewesen sein. Nach den Werksspiegelungen zu schließen, hatte May aber schon damals den Traum, ein großer Dichter zu werden. Ganz zufrieden war er mit seinen Werken allerdings nicht. Sein Alter ego, der Novellist Karl Goldschmidt in Scepter und Hammer, bedauert: "seit meiner Bekanntschaft mit Emma (!) habe ich nicht eine einzige Arbeit vollendet, welche ich mit gutem Gewissen dem Drucke hätte übergeben dürfen. Wenn es so fortgeht, so bin ich geistig und wirthschaftlich ruinirt."4

   Einer aktuellen Verstimmtheit wird dieses Diktum entsprungen sein. Immerhin konnte May seine literarischen Pläne, wenigstens anfängerhaft,5 verwirklichen. Und seine Hoffnung, dies später noch besser und erfolgreicher zu können, trog ihn nicht.


7.6.1

Eine Reihe von Kurzgeschichten


Die illustrierten Wochenblätter 'Weltspiegel' und 'Deutsche Boten' des Dresdner Verlages Adolph Wolf brachten von Karl May weitere Stücke: die Humoreske Die verwünschte Ziege (Juni 1878) sowie die Dorfgeschichten Der Herrgottsengel (Herbst 1878), Des Kindes Ruf (Dezember 1878) und Der Gichtmüller (Frühjahr 1879). Diese Erzählungen ver-


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raten, wie die früheren Dorfgeschichten, Talent; und für den Biographen enthalten sie wichtiges Material.

   In der Mühlhausener 'Deutschen Gewerbeschau' konnte May Die Rose von Sokna. Ein Abenteuer aus der Sahara (Herbst 1878) publizieren: eine unbedeutende Kidnapping-Geschichte, die May jedoch später, unter dem Titel Eine Befreiung (1894), "um bemerkenswerte, über die Abenteuerhandlung hinausreichende Nuancen bereichert"6 hat.

   Mit diversen Verlagen stand der Schriftsteller in Verbindung. Als besonders ergiebig erwies sich für Karl May die Zusammenarbeit mit dem Stuttgarter Verlag Göltz & Rühling. In dessen Journal 'All-Deutschland!/Für alle Welt!' wurden - zum einen - frühere Erzählungen Mays, teilweise unter verändertem Titel, nachgedruckt: Aus Wanda zum Beispiel wurde Die wilde Polin und aus der Dorfgeschichte Der Herrgottsengel wurde Der Klapperbein.

   Zum andern erschienen im genannten Journal7 die folgenden - erstmals gedruckten -Kurzgeschichten Karl Mays: die Humoreske Die Universalerben. Eine rachgierige Geschichte von Karl Hohenthal (Januar 1879); die in Amerika spielende Erzählung Ein Dichter (Frühjahr 1879); die erzgebirgischen Dorfgeschichten Der Waldkönig (Frühjahr 1879) und Der Giftheiner (Sommer 1879); die Dessauer-Novelle Der Scheerenschleifer (Herbst 1880); die exotische Ich-Erzählung Tui Fanua. Ein Abenteuer auf den Samoa-Inseln von Prinz Muhamel Latréaumont8 (Herbst 1880) - eine Variante von Mays (stark an Gerstäcker orientierten) Südsee-Erzählung Die Rache des Ehri (1878); schließlich die, ebenfalls in der Ich-Form geschriebene und vielleicht schon einige Jahre früher entstandene, Indianergeschichte Die Both Shatters (Anfang 1882) - eine grausige Fabel, in der auch das 'Ich', im Gegensatz zum späteren Old Shatterhand, fast bedenkenlos Indianer tötet. In einzelnen Formulierungen allerdings betrauert Karl May den 'Untergang der roten Rasse' schon hier in dieser frühen Erzählung.9


7.6.2

Der Waldläufer


Im Verlag Franz Neugebauer, dessen Eigentümer die Firma Göltz & Rühling war, erschien im November 1879 das erste Buch Karl Mays: die - von Peter Rosegger zurückgeschickte10 - Neubearbeitung des Old Firehand-Abenteuers (1875) mit dem Titel Im fernen Westen.

   Gleichzeitig und ebenfalls bei Neugebauer kam Mays Bearbeitung der Waldläufer-Erzählung von Gabriel Ferry heraus. "Durch Mays Bearbeitung hat der ursprüngliche 'Waldläufer' [...] in vieler Hinsicht gewonnen."11 Andrerseits sind zahlreiche Ferry-Motive auch noch in späteren Werken Karl Mays nachzuweisen. Ferrys Indianer Rayon Brûlant (in der May-Fassung 'Falkenauge') zum Beispiel wurde mit Recht als der "Ur-Winnetou"12 Karl Mays bezeichnet. Wegen der Anregungen, die May bei Ferry gefunden hat, bleibt die Waldläufer-Bearbeitung unseres Schriftstellers für die Forschung "ein hochinteressantes Feld".13


7.6.3

Scepter und Hammer / Die Juweleninsel


Bei Göltz & Rühling, in der genannten Zeitschrift 'All-Deutschland!/Für alle Welt!', veröffentlichte Karl May seinen ersten großen Doppelroman Scepter und Hammer (1879/80)/Die Juweleninsel (1880-82). Daß May eine Fortsetzung des - in sich selbständigen und im Grunde abgeschlossenen - Textes von Scepter und Hammer verfaßte, ge-


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schah "offensichtlich auf Drängen der Stuttgarter Redaktion, die mit Mays Roman ihre bisherigen Abonnentenzahlen beträchtlich steigern konnte."14

   Eine Buchfassung oder einen Nachdruck in einer anderen Zeitschrift hat es zu Lebzeiten Mays nie gegeben. Nach dem Tode des Autors wurde der verschollene Text wieder aufgefunden und vom Karl-May-Verlag, stark bearbeitet und gekürzt, erneut auf den Markt gebracht.15 Seit 1978 ist die Originalfassung für die Öffentlichkeit wieder zugänglich.

   Als Novellist hatte der Anfänger May, mit seinen erzgebirgischen Dorfgeschichten, schon eine gewisse 'Meisterschaft' erreicht. Gilt dies für May, den Verfasser von längeren Erzähltexten, ebenfalls? Seine Erstlings-Werke als epischer Schriftsteller waren, wie seine Frühwerke überhaupt, von unterschiedlicher Qualität: Im Vergleich zu Auf der See gefangen (1878) ist Scepter und Hammer/Die Juweleninsel konzentrierter und wesentlich kunstvoller komponiert;16 hinter der Formkraft und dem Gesamtniveau des Ende 1880 - also noch während der Arbeit an der Juweleninsel - begonnenen Orientzyklus17 bleibt der, in den Schlußpartien,18 zu hastig und fehlerhaft konstruierte Fortsetzungsroman aber deutlich zurück. Ein 'Meisterstück' ist er nicht.

   Als "wilde Fabeleien"19 hat Claus Roxin die bunten und (teilweise) schaurigen Szenen dieses Werkes bezeichnet; auch bei anderen Auslegern gilt der Doppelroman als wenig geglückt.20 Christoph F. Lorenz indessen hat "subtile Motivkorrespondenzen" entdeckt und eine "sorgfältige Planung"21 des, mit Ausnahme der Schlußkapitel, konsequent durchdachten Romanes aufgewiesen. Ein (völlig unreifes) 'Lehrlingsstück' ist das Werk also auch nicht.

   Die keineswegs 'chaotisch' entworfene (sondern klug konzipierte und systematisch aufgebaute), aber doch bizarre und äußerst unwahrscheinliche Handlung spielt in den fiktiven Staaten Norland und Süderland, in Ägypten, in Indien und im Wilden Westen. Die Verbindungslinien zu den Raubrittergeschichten in Mays Quitzow-Roman (1876/77), zu ihren Klosterruinen, ihren unterirdischen Gängen und geheimnisvollen Türen, sind offenkundig. Auch die Verwandtschaft mit der zeitgenössischen Abenteuerliteratur, die Einflüsse Eugène Sues, Philipp Galens, Frederick Marryats, John Retcliffes, Alexandre Dumas' und der englischen 'Gothic Novel' des 18. und 19. Jahrhunderts, sind unverkennbar.22

   Man möchte fast denken: Mays - durch komische Szenen nur wenig gemilderter -Schauer- und Gruselroman hätte ebensogut von jedem anderen Trivialliteraten verfaßt sein können - wenn jene verräterischen, für May eben doch spezifischen Stellen nicht wären: Motive und Szenen, in denen die persönlichen Traumata, die inneren Spannungen, die ungeheilten Konflikte des Autors ihren Niederschlag finden.

   Nicht nur das berühmte Motiv 'Gefangenschaft und Befreiung', auch das kuriose, den Doppelroman beherrschende Neben- und Ineinander von Königstreue, von Staatsbejahung und zum Teil schon massiver Gesellschaftskritik ist bezeichnend für May: den resozialisierten Gefangenen, der (als 'Leutnant von Wolframsdorf usw.) den Obrigkeitsstaat beleidigt hatte. Im Roman wird die High Society teilweise bewundert und teilweise verachtet: Der edle Ma(y)x Brandauer, aufgrund einer Kindsvertauschung (im trivialen Genre ein bekanntes Motiv) zum Sohn eines Hufschmieds geworden, erhält seinen rechtmäßigen Platz als Kronprinz von Norland zurück; andre Vertreter des Hochadels, der norländische Herzog von Raumburg und der 'tolle Prinz' von Süderland, werden als die Hauptschurken entlarvt und blamiert.

   Der Despotismus des katholischen Königs Max Josef von Süderland, aber auch die "falsche wirthschaftliche Politik" (SH 576)23 des, ansonsten liebenswürdigen, protestanti-


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schen Königs Wilhelm II. von Norland werden gerügt. Und demokratische Ideen spuken herum: Die staatliche Macht bedarf der "Zustimmung" (SH 573) des Volkes! Mays Dichtung ist, wie so oft, auch in diesem Fall Wunscherfüllung: "Wie durch einen Zauberschlag hatte sich [...] die Nachricht verbreitet, daß der König die bisherige Regierungsform aufgegeben, die verhaßten Räthe und Minister entfernt habe und seinem Volke eine Konstitution geben werde." (SH 647)

   'Affirmative' und 'revolutionäre' Elemente sind in Scepter und Hammer/Die Juweleninsel, wie im Gesamtwerk Karl Mays, miteinander verquickt. Das gilt, nicht zuletzt, auch für die Verschränkung von unterschwelliger Frömmigkeit und bissiger Religionskritik.

   Von der 'Gothic Novel' wohl übernommen,24 aber - wie die Quitzow-Geschichten z.B. erhellen - nicht untypisch für den frühen May ist der "Antiklerikalismus"25 des Doppelromans: Das Bündnis der religiösen Obrigkeit mit der Geldgier, dem Absolutismus und der Scheinheiligkeit der Fürsten - die der Kirche ihren "Glanz" verleihen (J 81) - wird angeprangert und desavouiert. Denn mit kirchlichen Amtsträgern hatte May, dies könnte der biographische Hintergrund sein, zum Teil sehr schlechte Erfahrungen gemacht!

   Überraschend und verblüffend wirkt die krasse Überzeichnung, der antikatholische Effekt,26 der möglicherweise einer Tendenz von 'All-Deutschland!' entgegenkam. Die frommen und salbungsvollen Priester, die "Gesellschaft Jesu"27 mit dem Giftmörder Aloys Penentrier an der Spitze, die Mönche und Nonnen, die sexuellen Exzessen sich hingeben und zu abscheulichen Verbrechen bereit sind - an Trivialromane der Goethezeit,28 an Otto von Corvins Pfaffenspiegel (1868),29 an Münchmeyers Venustempel30 und die Hohensteiner 'Schundbibliothek'31 erinnern sie uns.

   Mays Ton ist stellenweise ironisch, ja geradezu frivol - selbst "für das Genre der Kolportage starker Tobak"!32 Im Gegensatz zu den "Seligen", die "kein Geschlecht und keine andere Lust, als die Lust am Herrn" (J 69) kennen, plappern die Mönche - in Mays Juweleninsel - ihre Gebete herunter und frönen, ansonsten, der Fleischeslust in pikanter Manier - hinter der Maske der Frömmigkeit.

   "Die Herren Patres gaben der heiligen Mutter Gottes ihre Erlaubniß, irgend ein in die Augen fallendes Wunder zu verrichten, verkauften Rosenkränze und Heiligenbilder und vertauschten ihren Segen gegen klingendes Metall." (J 51) Was soll man da sagen? Zu solcher Polemik? Der mögliche Mißbrauch, die Perversion der geistlichen Gewalt (vgl. J 71) ist ein ernstes Thema, das Karl May, in den Alterswerken besonders, sehr oft behandelt. Anders als in der Poesie des Spätwerks ist die Tendenz im Doppelroman - mit seinen knalligen Sujets - aber zu grobschlächtig, zu ungerecht und in dieser Form natürlich nicht diskutabel.

   In Scepter und Hammer/Die Juweleninsel gibt es, das sollte nicht übersehen werden, auch gute, erzählerisch geglückte Partien: in der Indien-Episode der Juweleninsel zum Beispiel (wo die tödlich endende Liebesgeschichte des Alphons Maletti und der Begum Rabbadah geschildert wird).33 Doch viele Passagen wirken insgesamt ziemlich unerfreulich; das ständige Blutvergießen z.B. ist, für den sensibleren Leser, eine Zumutung: Selbst die positiven Helden - die mächtige Zarba, der Aufsteiger Katombo, der Apachenhäuptling Rimatta u.a. - stehen im Zwielicht und handeln oft grausam. Da blitzen die Schwerter, rollen die Köpfe, krachen die Kanonen und werden die Comanchen gleich reihenweise (mit dem Henrystutzen!) erschossen. Bhowannie, die von Zarba, der Zigeunerfürstin, noch im Sterben beschworene Göttin der Rache (J 573),34 führt das blutige Zepter. Schonung und Milde sind nur die Ausnahme (z.B. J 421f.). Der Humanitätsgedanke,


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das Nein zur Gewalt, die versöhnliche Liebe, die Karl Mays Schriften, vor allem später, doch prägen, treten in Scepter und Hammer/Die Juweleninsel weitgehend zurück.

   Zwar warnt der Kadi den ergrimmten Katombo: "Das Leben eines Herrschers ist heilig und unantastbar." Und Katombo, der Zigeuner und Admiral in türkischen Diensten, erwidert: "Nicht heiliger und unantastbarer als jedes andere Leben." (SH 467) Doch der Haß scheint in vielen Passagen des Doppelromans weit mächtiger als die Liebe, und die Resignation scheint größer als das Vertrauen. Der Autor fragt: "Sind nicht alle unsere Ideale geistige oder verkörperte Lichtgebilde, welche aufgehen, kulminiren und - verschwinden?" (SH 194)

   Dominiert der Zweifel an Gott? Ist die Skepsis in Scepter und Hammer/Die Juweleninsel das herrschende Selbstgefühl? Das Mädchen Ayescha kniet nieder und betete -


nicht wie eine Muhammedanerin, sondern wie eine Christin zu Isa Ben Marryam, dem Gottessohne, der in die Welt gekommen ist um zu rufen: "Kommet her, Alle, die Ihr mühselig und beladen seid; ich will Euch erquicken und erretten!" (SH 444)35


   Ayescha setzt ihre Hoffnung auf Gott, auf das Kreuz Jesu Christi. Katombo, dem Geliebten, teilt sie es mit:


"So wisse, daß wir eine alte Sklavin hatten, die nach dem Tode der Mutter immer bei uns sein mußte. Sie war keine Gläubige, sondern eine Christin und hat mir und Sobeïden heimlich viel erzählt von ihrem Heilande, der [...] für die Elenden und Armen gar gestorben ist. Die Worte, welche er lehrte, waren wie Thau in der Dürre und wie Balsam für die Schmerzen. Wir haben viel geweint über seine Leiden; aber er wohnt jetzt bei Allah und regiert die Erde. Ich liebe ihn [...]" (SH 348f.)


   Dieses Bekenntnis! Mitten im Gruselroman! In solchen Partien unterscheidet sich das Werk Karl Mays vom abenteuerlichen Genre der zeitgenössischen Trivialliteratur!

   Ayescha und überhaupt die Frau soll, nach May, die Liebe Gottes verkörpern.36 Um so befremdlicher scheint das Verhalten des 'Bowie-Paters', der schaurigsten und widersprüchlichsten Figur der Juweleninsel. Der Pater, der Missionar, der in Wirklichkeit eine Frau, eine Kunstreiterin mit dem Namen Ella (Emma!)37 ist, führt - als 'Indianertöter' - im Wilden Westen ein entsetzliches Leben. Er "muß" (J 415) jeden ermorden, der den christlichen Glauben nicht annimmt. Aus Indianerknochen hat er eine Perlenschnur, eine Art 'Rosenkranz' angefertigt; jede 'Rothaut' soll diese Kette betrachten und zur Jungfrau Maria beten; im Weigerungsfalle stößt der 'Pater' dem 'Wilden' - die Klinge ins Herz (J 404)!

   Die Bekehrungswut - und die Heilung - eines Mannes im Priestergewand finden sich wieder im Friede-Roman (1901/04) Karl Mays, in der Gestalt des Missionars Waller. Während die Entwicklung Wallers überzeugend gestaltet, psychologisch motiviert und theologisch reflektiert wird,38 gibt May für das Treiben des Bowie-Paters so gut wie keine Begründung. Der Leser erfährt nur: dieses Mann-Weib, die frühere Geliebte des Prinzen von Süderland, "ist ein Satan" (J 404), ein "ungelöstes Räthsel" (J 639) zugleich. In ihrem "tief gequälten und ungeheilten" (J 436) Herzen lebt "ein Teufelsweib, welches aus Liebe sündigte und in der Rache Vergessenheit und Vergebung sucht." (J 642)

   Vergebung durch Indianermord? Wieso? Der Autor sagt es uns nicht; und der Interpret kann nur rätseln und spekulieren.39

   Am Ende der Erzählung WEINT Miß Ella "wie ein Kind" und kniet "im tiefen, innigen -Gebete. - -" (J 658f.) Ihr letztes, ihr eigentliches Rachewerk mißlingt: Ihr Todfeind, der 'tolle Prinz', überlebt - durch eine Art Wunder - den Sturz in den Abgrund und entrinnt seiner Strafe. Ein "Zug stiller seliger Befriedigung" (J 660) verklärt jetzt Ellas Gesicht.


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Sie ist wie verwandelt. Ihr Frausein, ihr Menschsein hat sie wiedergefunden. Der 'Drache' in ihr ist erlöst. Und ihre Rache hat sie vergessen.

   Erzähltechnisch gesehen ist das alles absurd, ohne Stringenz40 und ganz und gar unglaubwürdig. Wollte sich der Schriftsteller, gegen Ende seines Romans, von einem Alpdruck befreien? Vom Blut- und Rachegesetz, das so viele Szenen beherrscht?

   Auch in Scepter und Hammer/Die Juweleninsel entpuppt sich May, in einigen Textstellen, als 'Prediger' und 'Katechet'. Aufs Ganze gesehen gehört der Doppelroman freilich zu den dunkelsten, mit bedrückendem Anamnese-Material (aus der Biographie des Autors) aufgeladenen Werken Karl Mays. Erstaunlich ist vieles. Und merkwürdig sind die 'antikatholischen' Spitzen,41 wenn man bedenkt: in Waldheim hatte May seine befreiende Begegnung mit Johannes Kochta, dem katholischen Katecheten;42 später neigte er selbst zum katholischen Glauben (zum Reform-Katholizismus allerdings, zum gesellschaftskritischen, ökumenisch geöffneten Christentum);43 und schon jetzt stand er in geschäftlicher Verbindung mit Friedrich Pustet, dem katholischen Verleger in Regensburg!


7.6.4

Die ersten 'Hausschatz'-Erzählungen


Seit 1879 belieferte May den Pustet-Verlag (Regensburg, New York, Cincinnati), der schon bald, in den achtziger und neunziger Jahren, Mays bekannte Reiseromane in der Ich-Form verbreiten sollte. Mays Beiträge erschienen in Pustets - 1874 mit einer Startauflage von 30000 Exemplaren gegründetem - Wochenblatt 'Deutscher Hausschatz in Wort und Bild', dem katholischen Gegenpart zur bismarckfreundlichen Leipziger 'Gartenlaube'.

   Der Redakteur Venanz Müller bot dem Schriftsteller bereits im Herbst 1879 die Abnahme sämtlicher Manuskripte an: "Ich bitte Sie freundlichst, mir ALLE Ihre Geistesprodukte nach deren Vollendung SOFORT senden zu wollen."44 Zur ausschließlichen Arbeit für den Regensburger Verlag ist es bei May freilich nie gekommen; aber der 'Hausschatz' wurde für lange Zeit sein wichtigstes Publikationsmittel, das ihm soziales Prestige und größte Anerkennung in weiten Kreisen verschaffte.45

   Im Frühjahr 1879 kam bei Pustet Three carde monte. Ein Bild aus den Vereinigten Staaten Nordamerika's von Karl May46 heraus; im Sommer 1879 folgte das Sahara-Abenteuer Unter Würgern (mit der erstmaligen Erwähnung des Namens Old Shatterhand); im Herbst 1879 Der Girl-Robber. Ein singhalesisches Abenteuer von Karl May; Ende 1879 Der Boer van het Roer. Ein Abenteuer aus dem Kaffernlande von Karl May; Ende 1879/Anfang 1880 Der Ehri. Ein Abenteuer auf den Gesellschaftsinseln von Karl May; im Frühjahr 1880 (unter Pseudonym) Ein Fürst des Schwindels47 und die - später für Winnetou III übernommene - Wildwestgeschichte Deadly dust; im Sommer 1880 Der Brodnik. Reise-Erlebnisse in zwei Welttheilen von Karl May; und im Herbst 1880 Der Kiang-lu. Ein Abenteuer in China von Karl May.

   Mit Ausnahme von Deadly dust (wo Old Shatterhand zum ersten Mal auftritt) und Der Kiang-lu (wo der Ich-Erzähler Charley drei wissenschaftliche Arbeiten in chinesischer Sprache verfaßt) sind diese 'Reiseerlebnisse Karl Mays' nur Varianten, verbesserte Zweitfassungen von früheren, bei Radelli erschienenen Werken unseres Autors. Zu seiner eigenen, besonderen Form hat May in diesen Erzählungen noch kaum gefunden; der Stil ist weithin klischeehaft; und die Abenteuermotive dieser - zum Teil recht blutrünstige Episoden enthaltenden - Kurzgeschichten sind immer dieselben: Verbrechen und Sühne, Anschleichen und Lauschen, Gefangenschaft und Befreiung.


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   Charakteristisch sind solche Motiv-Wiederholungen auch für die künftigen 'Reiseerzählungen' Karl Mays; im Blick auf die Form und den Inhalt kommt diesen, in der Regel, jedoch eine andere - subtilere - Qualität zu. Dem exotischen Oeuvre der literarischen Anfänge Mays, einschließlich der genannten Hausschatz-Erzählungen, fehlt noch der künstlerische Schliff, das ethische Niveau, "die durchschlagende Faszination"48 der späteren Reiseromane.

   Andrerseits müßte anerkannt werden: Unter Würgern zum Beispiel zeigt bereits


die Entwicklung, die Mays schriftstellerische Fähigkeiten innerhalb kurzer Zeit genommen haben: schon zwei Jahre nach der Veröffentlichung des Vorläufers Die Gum [...] in den 'Frohen Stunden' [...] ist aus der hart, relativ farblos und knapp ausgeführten Novelle eine wesentlich umgestaltete und spannender geschilderte, ausgereifte, ins Detail gehende Erzählung geworden.49



Anmerkungen


1Claus Roxin in einem Brief vom 4.5.1990 an den Verfasser.
2Gerhard Klußmeier - Hainer Plaul (Hrsg.): Karl May. Biographie in Dokumenten und Bildern. Hildesheim, New York 1978, S. 77.
3Ernst Seybold in einem Brief vom 25.6.1990 an den Verfasser.
4Karl May: Scepter und Hammer (1879/80). Karl Mays Werke II. 1. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1987, S. 176. - Zu literarischen Fehlleistungen Mays in diesen Jahren vgl. Walther Ilmer: Karl May - Mensch und Schriftsteller. Tragik und Triumph. Husum 1992, S. 60.
5Vgl. Ekkehard Koch: Der 'Kanada-Bill'. Variationen eines Motivs bei Karl May. In: JbKMG 1976, S. 29-46.
6Ekkehard Bartsch: (Werkartikel zu) Eine Befreiung/Die Rose von Sokna. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 497-500 (S. 500).
7Vgl. Christoph F. Lorenz: Landesherr und Schmugglerfürst. Eine Rezensionsabhandlung zu den Erzählungen Karl Mays in der Zeitschrift 'Für alle Welt' (= 'All-Deutschland') in den Jahren 1879 und 1880. In: JbKMG 1981, S. 360-374.
8Dies ist die einzige Erzählung Mays, die bisher unter diesem Pseudonym bekannt ist; aber noch in späteren Jahren gab May in 'Kürschner's Literatur-Kalender' das Pseudonym 'Latréaumont' mit an.
9Vgl. Ekkehard Bartsch: (Werkartikel zu) Die Both Shatters. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 6, S. 500-502 (S. 502).
10Vgl. oben, S. 151.
11Hedwig Pauler: (Werkartikel zu) Bearbeitung: Gabriel Ferrys "Der Waldläufer". In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 6, S. 537-540 (S. 539).
12Vgl. Franz Kandolf: Winnetou und Rayon Brûlant. In: KMJB 1932. Radebeul 1932, S. 484-493.
13Pauler, wie Anm. 11, S. 540.
14Christoph F. Lorenz: Verwehte Spuren. Zur Handlungsführung und Motivverarbeitung in Karl Mays Roman 'Die Juweleninsel'. In: JbKMG 1990, S. 265-286 (S. 265).
15Als Bd. 45/46 der 'Gesammelten Werke' Karl Mays.
16Nach Christoph F. Lorenz: (Werkartikel zu) Scepter und Hammer. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 6, S. 371-376 (S. 373f.)
17Vgl. unten, S. 173ff.
18Im 9. Kapitel der Juweleninsel wird "deutlich, daß erst hier der Autor wirklich begann, die Übersicht über frühere Handlungselemente gänzlich zu verlieren." (Lorenz: Spuren, wie Anm. 14, S. 283).
19Claus Roxin: Vorläufige Bemerkungen über die Straftaten Karl Mays. In: JbKMG 1971, S. 74-109 (S. 87).
20Vgl. z.B. Karl Mays erster Großroman "Scepter und Hammer/Die Juweleninsel". SKMG Nr. 23 (1980) (mit Beiträgen von Werner Tippel u.a.) - Ilmer, wie Anm. 4, S. 69ff.
21Lorenz: Spuren, wie Anm. 14, S. 279.


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22Vgl. Lorenz: Scepter und Hammer, wie Anm. 16, S. 371 - Ders.: (Werkartikel zu) Die Juweleninsel. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 6, S. 376-380 - Volker Klotz: Die Juweleninsel - und was man draus entnehmen könnte. Lese-Notizen zu den Erstlingsromanen nebst einigen Fragen zur Karl-May-Forschung. In: JbKMG 1979, S. 262-275 (S. 266ff.).
23Seitenangaben in (SH) bzw. (J) beziehen sich auf May: Scepter und Hammer, wie Anm. 4, bzw. ders.: Die Juweleninsel (1880-82). Karl Mays Werke II. 2. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1987.
24Vgl. Christoph F. Lorenz: Die wiedergefundene "Juweleninsel" II. In: MKMG 46 (1980), S. 14-19 (S. 16) - Ernst Seybold: Karl Mays 'Scepter und Hammer'. In: MKMG 77 (1988), S. 50f.
25Klotz, wie Anm. 22, S. 263.
26Allerdings kommt auch der protestantische Oberhofprediger in Scepter und Hammer nicht besonders gut weg; insofern könnte man selbst in diesem Roman das - für Mays Spätwerk bezeichnende - Bemühen um 'Ökumene' erblicken. - Dazu Ernst Seybold: Karl-May-Gratulationen. Geistliche und andere Texte zu und von Karl May. Ergersheim 1987, S. 26.
27Nach Klotz, wie Anm. 22, S. 267, hat Mays Polemik gegen die Jesuiten in E. Sue's Ewigem Juden ihr Vorbild; natürlich paßt diese Polemik auch zur Politik Bismarcks und zur 'Kulturkampf' -Stimmung der damaligen Zeit.
28Dazu Lorenz: Spuren, wie Anm. 14, S. 267.
29Unter dem Titel Historische Denkmale des christlichen Fanatismus (2 Bände) ist dieses Werk 1845 erstmals erschienen.
30Vgl. oben, S. 135; dazu Gernot Kunze: Einführung. In: Karl May: Das Buch der Liebe. Dresden 1875/76. Reprint der KMG, Bd. II (Kommentarband). Hrsg. von Gernot Kunze. Regensburg 1988/89, S. 12.
31Vgl. oben, S. 55f.
32Lorenz: Spuren, wie Anm. 14, S. 267.
33Ebd., S. 281, wird das "'Liebe-Tod'-Motiv" an neun Stellen der Juweleninsel aufgewiesen.
34Vgl. ebd., S. 278: In der indischen Mythologie ist die Göttin Bhawani sowohl die "alles Gebärende, die Dasein Gebende" als auch die Zerstörerin, die Göttin des Todes und der Rache; die dunkle Seite dieser Göttin wird in Mays Roman hervorgehoben!
35Dieses Jesus-Wort (Mt 11, 28) steht in großen Lettern über dem Portal der Ernstthaler Kirche; der Knabe Karl May wird es jeden Sonntag gelesen haben; und - es wird ihn getröstet haben.
36Vgl. oben, S. 159.
37Werner Tippel/Hartmut Wörner: Frauen in Karl Mays Werk. SKMG Nr. 29 (1981), S. 19, sehen im 'Bowie-Pater' eine Spiegelung Emma Pollmers. - Ähnlich Lorenz: Die Juweleninsel, wie Anm. 22, S. 379 - Ders.: Spuren, wie Anm. 14, S. 275f.
38Vgl. unten, S. 410ff.
39Vgl. Lorenz: Spuren, wie Anm. 14, S. 277f.
40Vgl. den editorischen Bericht zu May: Die Juweleninsel, wie Anm. 23, S. 667-672 (S. 671): Wiedenroth und Wollschläger vermuten den Textverlust eines ganzen Kapitels der Juweleninsel; gegen diese Hypothese führt Lorenz: Spuren, wie Anm. 14, S. 282f., allerdings plausible Argumente an. - Nach Lorenz: Ebd., S. 283, ließ das Interesse des Autors "an der logischen Fortführung des so geschickt Begonnenen sichtlich nach". Seine Aufmerksamkeit galt einem neuen, völlig andersartigen Projekt: dem Beginn des großen Orientzyklus!
41Genaugenommen sind es keine anti-'katholischen', sondern anti-'klerikale' Spitzen; vgl. oben, Anm. 26.
42Dazu Seybold: Scepter und Hammer, wie Anm. 24.
43Vgl. unten, S. 224ff.; auch Hermann Wohlgschaft: Mays Friede-Roman und die Lehre der Kirche. In: MKMG 83 (1990), S. 18-24.
44Aus Müllers Brief vom 14.10.1879 an May; zit. nach Wilhelm Vinzenz: Karl Mays Reichspost-Briefe. Zur Beziehung Karl Mays zum 'Deutschen Hausschatz'. In: JbKMG 1982, S. 211-233 (S. 218).
45Vgl. Fernand Hoffmann: Karl May im katholischen Verlagswesen während des Kulturkampfs. In: Stimmen der Zeit. Freiburg 118. Jg. 1993, S. 177-186.
46Diese Erzählung (eine Überarbeitung von Self-man) hat May später nochmals umgearbeitet und für Old Surehand II (1895) verwendet.
47Vgl. oben, S. 151 f.
48Walther Ilmer in einem Brief vom 14.5.1990 an den Verfasser.


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49Herbert Meier: Einleitung. In: Karl May: Kleinere Hausschatz-Erzählungen. Reprint der KMG. Hamburg, Regensburg 1982, S. 4-43 (S. 11).



7.7

'Im Schatten des Allmächtigen': Mays erster bedeutender Reiseroman in der Ich-Form


Je mehr wir uns mit Karl May und seinen Schriften befassen, um so plausibler wird die Altersthese des Dichters: Alle seine Werke sind Skizzen, Entwürfe und Vorübungen für Künftiges und Besseres.1

   Mays Themen entsprechen den 'Urträumen' des Menschen; seine 'Abenteuer' entspringen den Tiefen, den Angst- und Rettungsbildern der Seele.2 Unser Schriftsteller malt, wie die Mythen und Märchen, mit der "Urfarbe des Traums".3 Für die ersten, bei Münchmeyer und Radelli, bei Pustet und anderen Verlegern erschienenen Abenteuergeschichten trifft dies in geringerem Maße zu; um so mehr aber für die höchste, die literarisch wertvollste Leistung des vierzigjährigen Autors, die nach Forst-Battaglias (die Altersromane Mays zu Unrecht mißachtender) Bewertung das beste Werk Karl Mays überhaupt ist:4 "Giölgeda padishanün". Reise-Erinnerungen aus dem Türkenreiche (publiziert zwischen Januar und September 1881) mit den Fortsetzungen Reise-Abenteuer in Kurdistan (Oktober 1881 bis März 1882), Die Todes-Karavane (Frühjahr bis Herbst 1882), In Damaskus und Baalbeck (November 1882 bis Januar 1883) und Stambul (entstanden wahrscheinlich bis Herbst 1882,5 veröffentlicht im Februar/März 1883).6

   Alle diese - auch 'symbolisch', als verschlüsselte Biographie, als maskierte 'Erinnerungen' an Mays tatsächliche Lebens-'Reise' verstehbaren7 - Erzählungen erschienen in Pustets 'Deutschem Hausschatz'. Sie läuteten den Großerfolg des 'meist gelesenen deutschen Schriftstellers' ein. Jetzt erst hat der Autor zu seinem besonderen, seinem einmaligen und unverwechselbaren Genre gefunden. "Mit 'Giölgeda padishanün' begann Mays eigentliches Ansehen als populärer Schriftsteller von unverkennbar eigener Note und Faszination."8


7.7.1

Die Qualität des Romans


Die genannten Hausschatz-Texte entsprechen, mit geringfügigen Abweichungen, den späteren Fortsetzungsbänden Durch die Wüste, Durchs wilde Kudistan und - zum Großteil - Von Bagdad nach Stambul des insgesamt sechsbändigen Orientromans, der 1892 in Buchform (bei Fehsenfeld in Freiburg) erschien.

   Von Ende 1880 bis Oktober 1882 konzentrierte sich Karl May, von kürzeren Unterbrechungen abgesehen,9 auf die Arbeit an diesem Werk. Wenn wir die literarisch (und theologisch) noch höher stehenden Altersromane zunächst einmal ausklammern, gilt das Urteil Roxins: In "Giölgeda padishanün" und seinen Fortsetzungstexten bewegt sich May "auf einem Niveau, das er in seinen Reiseerzählungen nur noch gelegentlich erreicht und nie mehr übertroffen hat."10

   Roxin erläutert seine These mit vier Bewertungskriterien:


Wenn man sich fragt, worin diese Qualität begründet ist, so wird man sagen müssen, daß sich nirgends in Mays Abenteuerromanen erzählerische Meisterschaft (1) mit zuverlässiger völkerkundlicher Detailinformation (2), psychologischem Hintergrund (3) und ethisch-erzieherischer Vertiefung (4) so zwanglos und faszinierend vereint wie hier.11


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   Was die formale Seite betrifft, lobt Roxin die epischen Kunstgriffe des Autors, die "fast spielerische Leichtigkeit der Stoffbewältigung", die "suggestive Kraft des erzählerischen Vortrages", den "Erfindungsreichtum bei der Ausgestaltung und Variierung der Motive", die "handlungsfördernde Gespanntheit des scheinbar lockeren Dialogs".12

   Auch der Stil, die sprachliche Form des Orientromans ist - wie neuere Analysen bestätigen - alles andere als kunstlos. Hermann Wiegmann scheute sich nicht, die Schreibweise Mays mit der Sprache Franz Kafkas zu vergleichen. Zwar wird dem Leser, so Wiegmann,


alles beschrieben, was wahrnehmbar ist. Das ist anders als etwa bei Kafka, aber so blasphemisch es klingen mag, die traumhafte Deutlichkeit und das nüchterne präzise Papierdeutsch erinnern an keinen modernen Schriftsteller mehr als an ihn, die Sprache ist von fast kafkaesker Reduktion und Präzision.13


   Karl May bewährt sich als Schriftsteller, aber auch als Literatur-Pädagoge. Der geographische, historische und ethnologische Hintergrund seines Romans ist weitgehend authentisch.14 Für seine bunten Schilderungen benutzte May hervorragende Quellen, die er mit größtem Geschick verarbeitete: unter anderem die zweibändige Studie Ninive und seine Überreste (Leipzig 1850) des englischen Assyriologen Austen Henry Layard (1817-1894).15

   Auch ethisch gesehen hat der Schriftsteller May nun eine bedeutend höhere Stufe erreicht als in den früheren Abenteuergeschichten: Kara Ben Nemsi stellt sich "demonstrativ auf die Seite der unterdrückten Völkerschaften"16 - der Araber, der Kurden, der Nestorianer z.B. - und wirkt für den Frieden der verfeindeten Volksgruppen.

   Einer großen und später noch viel größeren Lesergemeinde17 eröffnet Mays Orientzyklus "auf fesselnde Weise den Zugang zu den erstrebenswürdigsten Werten des Menschentums".18 Und nicht zuletzt muß gesehen werden: Mays Roman atmet, so Walther Ilmer, "christliche Gesinnung und stete Hinwendung des Helden zu Gott".19

   Der Literatur-Pädagoge May erweist sich, viel wirksamer als in den Geographischen Predigten (1875/76), als überzeugender Katechet, als Lehrer der 'anderen Dimension': Er vermittelt den Lesern psychologisch sehr fein (fast heimlich, nicht aufdringlich und doktrinär) das 'Urvertrauen' auf Gottes Führung, die - über geheimnisvolle Wege - alles zum Guten lenkt; er verweist, erzählend, auf Gott, der das Recht wiederherstellt, auch menschliches Versagen und menschliche Schuld in seinen Heilsplan mit einbaut, die Leidenden "durch Leiden errettet" (Hiob 36, 15) und, gerade so, "seine Werke offenbar werden läßt" (Joh 9, 3).

   Nimmt man alle - erzählerischen und pädagogischen - Gesichtspunkte zusammen, dann darf man schon fragen, ob nicht so manche Partien des Orientromans als Schullektüre besser geeignet wären "als manches Werk des klassischen Bildungskanons".20


7.7.2

Das Ich-Ideal


Im Orientzyklus bricht Karl May als Autor und (Lebens-) Künstler auf zu neuen Gestaden. Einen "vielversprechenden Anfang"21 seines Weges zu literarischen und menschlichen Höhen bildet der schöne (mehrdimensionale, in vielfacher Hinsicht besonders reizvolle), von May im November 1880 verfaßte22 Eröffnungsdialog zwischen Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar (die hier zum ersten Mal auftreten):

"Und ist es wirklich wahr, Sihdi, daß du ein Giaur bleiben willst, ein Ungläubiger, welcher verächtlicher ist als ein Hund, widerlicher als eine Ratte, die nur Verfaultes frißt?" - "Ja."23


//175//

Ein 'Giaur', ein 'Ungläubiger' ist Kara Ben Nemsi, in der Sicht Halefs, als Christ, als Nicht-Mohammedaner. Halef Omar, der Diener, der Moslem, will seinen Herrn zum Islam, zum 'wahren Glauben' bekehren; und wird doch selbst von Kara Ben Nemsi, nach und nach, in einem langen Prozeß, für die Botschaft Jesu gewonnen.

   Karl May verherrlicht - im ganzen Roman und schon gleich zu Beginn, im Dialog über den christlichen Glauben und die islamische Religion - die Leuchtkraft der Gottes- und Nächstenliebe. Der Schriftsteller wirbt, sehr klug, sehr dezent, für das Christentum; und - er rehabilitiert, in der geistigen Dominanz, der moralischen Überlegenheit des Ich-Helden Kara Ben Nemsi, die eigene Persönlichkeit, die "versehrte Psyche"24 des gescheiterten Lehrers, des Straftäters und Häftlings, "welcher verächtlicher ist als ein Hund" und "widerlicher als eine Ratte, die nur Verfaultes frißt".

   "Giölgeda padishanün", zu deutsch, nach der Erklärung Mays,25 Im Schatten des Großherrn, "will sagen im Schutze des Allmächtigen",26 beginnt in der tunesischen Wüste und führt hinauf zu den albanischen Bergen. In Mein Leben und Streben erläutert der Dichter:


Meine "Reiseerzählungen" haben von der Wüste [...] aufzusteigen [...] Indem mein Kara Ben Nemsi [...] in diese Wüste tritt und die Augen öffnet, ist das Erste, was sich sehen läßt, ein sonderbarer, kleiner Kerl, der [...] sich einen langen berühmten Namen beilegt und gar noch behauptet, daß er Hadschi sei, obgleich er schließlich zugeben muß, daß er noch niemals in einer der heiligen Städte des Islam war, wo man sich den Ehrentitel eines Hadschi erwirbt [...] Und dieser Hadschi ist meine eigene Anima, jawohl, die Anima von Karl May!27


   Mays 'Ich' wird also (für den Autor, 1880, vielleicht noch unterbewußt?) in 'Halef' und 'Kara Ben Nemsi' gespalten.28 Während das 'böse' Ich Karl Mays, der frühere Straftäter, auf verbrecherische Romanfiguren projiziert (und auf diese Weise gebannt) wird,29 hat die Anima eine ganz andere Bedeutung: Halef, das muntere Kerlchen, ist die - eher skurrile, unbeschwert heitere, alles andere als böswillige - Imponiersucht, das triebhafte Leben, das leichtsinnige, allzu waghalsige, aber doch entwicklungsfähige, äußerst liebenswürdige, auch lebenskluge und deshalb notwendige Teil-Ich des Autors.

   Und Kara Ben Nemsi? Das Roman-Ich verkörpert, als Ideal schlechthin, eine große Vision: das höchste Streben, die (göttliche) Berufung des Menschen und des Schriftstellers Karl May.

   Kara Ben Nemsi, Karl der Deutsche,30 zieht durch die Wüste, vom kleinen Hadschi, seinem poetisch "gelungensten alter ego",31 seinem 'Freund und Beschützer' (wie dieser sich nennt), getreulich begleitet. Er steigt auf zu den 'Höhen', von Rih, dem herrlichen Rappen,32 wie auf Flügeln getragen; er überwindet im Schatten des Allmächtigen, im Schutze Gottes,33 des wirklichen 'Goßherrn', jede Gefahr; er besteht, wie der Märchenheld, jede Prüfung; er rettet die Bedrängten, besiegt jeden Feind und läßt Gnade vor Recht ergehen.

   Kein Wunder - die Leser begannen zu fragen: nach Karl May, nach seinen Reisen und seinen Erlebnissen! Schon im Mai 1880, noch vor dem Erscheinen von "Giölgeda padishanün", hatte die Hausschatz-Redaktion eine Leseranfrage nach dem Aufenthalte des Schriftstellers beantwortet: "Gegenwärtig reist er in Rußland und beabsichtigt, bald wieder einen Abstecher in's Zululand zu machen."34

   Im März 1881 folgt die Auskunft, Karl May habe ALLE Schauplätze seiner Erzählungen "selbst bereist"; erst kürzlich sei er von einem Ausflug nach Konstantinopel zurückgekehrt "und zwar mit einem Messerstich als Andenken. Denn er pflegt nicht, mit dem rothen Bädeker in der Hand im Eisenbahn-Coupé zu reisen, sondern er sucht die noch wenig ausgetretenen Pfade auf."35 Und im Oktober 1881 erfahren die Leser, Karl May


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liege "krank darnieder [...] in Folge einer wieder aufgebrochenen alten Wunde. Auf seinen weiten und gefahrvollen Reisen in allen Theilen der Erde hat er sich selbstverständlich manche Wunde geholt."36

   Solche Antworten hat May (der Halef-May, der flunkernde Schelm) - zumindest indirekt - selbst provoziert. Daß das Roman-Ich Kara Ben Nemsi identisch sei mit dem wirklichen, dem bürgerlichen May, wird in den achtziger Jahren vom Autor zwar nicht ausdrücklich behauptet; aber angedeutet, suggeriert wird es im Romantext sehr wohl.

   Gewiß, das erzählende Ich ist zunächst nur ein Kunstgriff, ein (in der Literatur auch sonst sehr verbreitetes) Stilmittel, durch welches erreicht wird, "was das Geheimnis der wahren lebendigen Wirksamkeit jeder Dichtung ausmacht: die unmittelbare Verschmelzung des Lesers mit seinem Helden."37 Darüber hinaus aber hat das 'Ich' Karl Mays eine biographische Relevanz: Seinem - teils bewußten, teils unterbewußten - Ich-Ideal schuf der Schriftsteller jenen Traumraum, jenes imaginäre Umfeld, auf dem es sich voll entfalten und das Publikum faszinieren konnte.

   Die schlichte Gleichsetzung von May und Kara Ben Nemsi ist ein absurdes, von May leider selbst - in den neunziger Jahren - auf groteske Weise gefordertes Mißverständnis. Kara Ben Nemsi und der Autor des Orientromans sind selbstverständlich nicht identisch; aber daß es keine Verbindungen gebe, ist damit nicht gesagt. Was haben Karl May und Kara Ben Nemsi miteinander zu tun? Sehr wenig und sehr viel! Sehr wenig: denn May ist kein strahlender Held. Sehr viel: denn das Ich-Ideal, die 'Vision', die größere Perspektive, die unendliche Sehnsucht gehören zum WESEN des Menschen Karl May (und des Menschen überhaupt).38

   Hat der Schriftsteller, in Kara Ben Nemsi, sein reales Ich völlig zugedeckt? Nicht immer, nicht in jeder Roman-Passage! Im Orientzyklus gibt es wichtige Stellen, in denen das erzählende 'Ich' mit dem wirklichen May tatsächlich verschmilzt: Die Begegnung Kara Ben Nemsis mit Marah Durimeh, der uralten Kurdenfrau, zwingt das 'Ich' zur Selbstoffenbarung. Unter dem Einfluß der schützenden Frau, der mütterlichen Gestalt, legt Kara Ben Nemsi seine Heldenrolle ab: "Er nennt sich einen 'Emir des Leidens, des Duldens und des Ringens'39 und bekennt die zentrale Not seines Lebens, die auch sein Schreiben bis zum Ende bewegte: 'auf wem das Gewicht des Leidens und der Sorge lastete, ohne daß eine Hand sich helfend ihm entgegenstreckte, der weiß, wie köstlich die Liebe ist, nach der er sich vergebens sehnte'".40

   Marah Durimeh verkörpert die verstehende Güte, die May so nötig hat: "'Herr', sagte sie, 'ich liebe Dich!'"41 Dieses - erlösende - Wort, so erläutert Roxin,


bedeutet wie das gesamte abschließende Zwiegespräch mit Marah Durimeh einen Höhepunkt im frühen Werk Mays. Man kann - was die psychischen, nicht die literar-ästhetischen Voraussetzungen betrifft! - den Gehalt der späten Romane aus dieser Szene entwickeln, auf die sich das ganze Kurdistan-Buch hinbewegt.42


   Das Roman-Ich Kara Ben Nemsi und das wahre Ich Karl Mays berühren sich, auf erschütternde Weise, auch in Die Todes-Karavane (in Bagdad und Stambul enthalten), einer der düstersten und beklemmendsten Partien des Orientzyklus, die erzählerisch zu den besten Texten unseres Autors gehört:43 Mit dem 'Verlust der Liebe', der Entfernung von Marah Durimeh, erfaßt den Helden "eine Unruhe, eine Angst, als hätte ich etwas Böses begangen, dessen Folgen ich nun fürchten müsse"!44 Depressionen stellen sich ein, und das 'Ich' begeht Fehler. Es versagt und erkrankt an der Pest. Fast hilflos ist es ausgeliefert an eine ungewisse und dunkle Bedrohung. Der Traum vom gelungenen Leben wird


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"konfrontiert mit der Alternative des Scheiterns"45 - bis der 'Schutz des Allmächtigen' wieder spürbar wird und die neue Wende herbeiführt.

   Der Orientzyklus kann, wie später die Winnetou-Trilogie, als eine Art Entwicklungs- und Bildungsroman verstanden werden: als fiktive "Reise zum Ziel der Selbstbefreiung und Selbstreinigung"46 des Dichters. Denn jede Episode dient "dem Werden und Reifen des Helden und dem Anwachsen seiner Befähigung, es mit Widerständen aller Art [...] erfolgreich aufzunehmen."47

   Auch Mays reales Ich ist auf dem Wege zur Selbstfindung. Seltsam sind freilich die Umwege: Flucht aus der planen Realität, phantastische Überhöhung des wirklichen Ich, wechselnde Teil-Identitäten in zahlreichen literarischen Ich-Derivaten.48 Das Ziel, die Vollendung und die Erlösung des Menschen Karl May, ist scheinbar so nahe und in Wahrheit doch sehr viel entfernter noch als das (im April 1888 bzw. Dezember 1892 verfaßte)49 Ende der - über 3600 Buchseiten umspannenden - Orient-'Odyssee'.



Anmerkungen


1Vgl. z.B. Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg 1910. Hrsg. von Hainer Plaul. Hildesheim, New York 21982, S. 299.
2Vgl. unten, S. 271ff.
3Ernst Bloch: Urfarbe des Traums (3.12.1926). In: JbKMG 1971, S. 11-16.
4Vgl. Otto Forst-Battaglia: Karl May. Traum eines Lebens - Leben eines Träumers. Beiträge zur Karl-May-Forschung 1. Bamberg 1966, S. 171. - Zur Deutung und Bewertung des Orientzyklus vgl. Karl Mays Orientzyklus. Karl-May-Studien Bd. 1. Hrsg. von Dieter Sudhoff und Hartmut Vollmer. Paderborn 1991 (mit Beiträgen von Rudolf Beissel, Claus Roxin, Hermann Wiegmann, Martin Lowsky, Franz Kandolf u.a.) - Heinz-Lothar Worm: Karl Mays Helden, ihre Substituten und Antagonisten. Tiefenpsychologisches, Biographisches, Psychopathologisches und Autotherapeutisches im Werk Karl Mays am Beispiel der ersten drei Bände des Orientzyklus. Paderborn 1992 (ein Buch, das - wegen methodischer Fragwürdigkeiten - freilich umstritten ist).
5Zu den Entstehungszeiten Roland Schmid: Anhang. In: Karl May: Freiburger Erstausgaben, Bd. XXIII. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1984, A 1-42 (32 u. 36); Stambul ist nach Claus Roxin (Brief vom 10.6.1990 an den Verfasser) nicht - wie Schmid vermutet (ebd., A 36) - im Januar 1883, sondern noch vor der zweiten Münchmeyer-Tätigkeit Mays, also bis spätestens Oktober 1882, entstanden.
6Zu den weiteren Fortsetzungstexten des Orientzyklus vgl. unten, S. 198f. u. 218ff.
7Vgl. Walther Ilmer: Durch die sächsische Wüste zum erzgebirgischen Balkan. Karl Mays erster großer Streifzug durch seine Verfehlungen. In: JbKMG 1982, S. 97-130 - Ders.: Das Märchen als Wahrheit - die Wahrheit als Märchen. Aus Karl Mays 'Reise-Erinnerungen' an den erzgebirgischen Balkan. In: JbKMG 1984, S. 92-138 - Ders.: Von Kurdistan nach Kerbela. Seelenprotokoll einer schlimmen Reise. In: JbKMG 1985, S. 263-320 - Ders.: Mit Kara Ben Nemsi 'im Schatten des Großherrn'. Beginn einer beispiellosen Retter-Karriere. In: JbKMG 1990, S. 287-312. - Vgl. unten, S. 268ff.
8Ilmer: Das Märchen als Wahrheit, wie Anm. 7, S. 137 (Anm. 73) - Ähnlich ders.: Mit Kara Ben Nemsi, wie Anm. 7, S. 297. - Vgl. ders.: Karl May - Mensch und Schriftsteller. Tragik und Triumph. Husum 1992, S. 83ff.
9Vgl. Claus Roxin: Einführung. In: Karl May: Giölgeda padishanün - Reise-Abenteuer in Kurdistan. 'Deutscher Hausschatz' 7./8. Jg. 1880-82. Reprint der KMG. Hamburg, Regensburg 1977, S. 2-6 (S. 2).
10Ebd.
11Ebd. - Vgl. auch Claus Roxin: Bemerkungen zu Karl Mays Orientroman. In: Orientzyklus, wie Anm. 4, S. 83-112.
12Roxin: Einführung, wie Anm. 9, S. 2. - Zur erzählerischen Qualität des Romans vgl. auch Hermann Wiegmann: (Werkartikel zu) Der Orientzyklus. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 177-205 (S. 191 ff.) - Ders.: Stil und Erzähltechnik in den Orientbänden Karl Mays. In: Orientzyklus, wie Anm. 4, S. 113-127.


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13Wiegmann: Werkartikel, wie Anm. 12, S. 190.
14Vgl. Roxin: Einführung, wie Anm. 9, S. 3.
15Vgl. Franz Kandolf: Kara Ben Nemsi auf den Spuren Layards. In: KMJB 1922. Radebeul 1921, S. 197-207. - Zu Mays Quellen vgl. auch Roxin: Einführung, wie Anm. 9, S. 3 - Wiegmann: Werkartikel, wie Anm. 12, S. 178f.
16Roxin: Einführung, wie Anm. 9, S. 4.
17Vgl. unten, S. 236f.
18Ilmer: Durch die sächsische Wüste, wie Anm. 7, S. 105.
19Ilmer: Mit Kara Ben Nemsi, wie Anm. 7, S. 288.
20Roxin: Einführung, wie Anm. 9, S. 4.
21Walther Ilmer: Karl Mays Weihnachten in Karl Mays "Weihnacht!": In: JbKMG 1987, S. 101-137 (S. 108).
22Nach Schmid, wie Anm. 5, A 32.
23Karl May: Durch Wüste und Harem. Gesammelte Reiseromane, Bd. I. Freiburg 1892 (seit 1895 Durch die Wüste), S. 1 - Zur Deutung dieses Dialogs vgl. Heinz Stolte: Die Reise ins Innere. Dichtung und Wahrheit in den Reiseerzählungen Karl Mays. In: JbKMG 1975, S. 11-33 (S. 25) - Ilmer: Durch die sächsische Wüste, wie Anm. 7, S. 110f. - Helmut Schmiedt: Karl May. Studien zu Leben, Werk und Wirkung eines Erfolgsschriftstellers. Frankfurt/M. 21987, S. 230-234 - Günter Scholdt: Und ist es wirklich wahr, Sihdi, daß du ein Giaur bleiben willst? Vorläufiges über Erzählanfänge bei Karl May. In: Karl May. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. Sonderband Text + Kritik. München 1987, S. 101-126 (S. 122ff.).
24Stolte: Die Reise ins Innere, wie Anm. 23, S. 32.
25Vgl. May: Durch Wüste und Harem, wie Anm. 23, S. 32. - Die türkische Bezeichnung Giölgeda padishanün ist "syntaktisch wie morphologisch falsch" (Ilmer: Mit Kara Ben Nemsi, wie Anm. 7, S. 288). - Vgl. Jürgen Pinnow: Sächsisches in den Werken Karl Mays. In: JbKMG 1989, S. 230-264 (S. 259, Anm. 18) - Ders.: Fremdsprachliche Angaben Karl Mays aus dem orientalischen Raum. In: MKMG 83 (1990), S. 41-45 (S. 41).
26Ilmer: Durch die sächsische Wüste, wie Anm. 7, S. 109; vgl. ders.: Mit Kara Ben Nemsi, wie Anm. 7, S. 288.
27May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 1, S. 209ff.
28Nach Ilmer: Mensch und Schriftsteller, wie Anm. 8, S. 84ff., bedeutet der Name 'Halef' eigentlich 'Chalef' = 'Kalif' = 'Stellvertreter' (des Menschen Karl May)!
29Vgl. unten, S. 269.
30Vgl. Anton Haider: Was bedeutet Kara Ben Nemsi wirklich? In: MKMG 76 (1988), S. 54 - Ders.: "Karl der Deutsche". In: MKMG 8 1 (1989), S. 54 - Jügen Pinnow: Zum Namen Kara Ben Nemsi. In: MKMG 77 (1988), S. 13f. - Ilmer: Mit Kara Ben Nemsi, wie Anm. 7, S. 289.
31Ilmer: Ebd.
32Dazu ebd., S. 297.
33Vgl. Psalm 91, 1: "Wer im Schutz des Höchsten wohnt und ruht im Schatten des Allmächtigen [...]"
34Zit. nach Gerhard Klußmeier: Karl May und Deutscher Hausschatz. Bibliographische Dokumente aus 30 Jahren. In: MKMG 16 (1973), S. 17-20 (S. 19).
35Ebd., S. 20.
36Ebd.
37Carl Zuckmayer: Palaver mit den jungen Kriegern über den großen Häuptling Karl May (3.4.1929). In: KMJB 1930. Radebeul 1930, S. 35-43 (S. 41).
38Vgl. unten, S. 314ff.
39Karl May: Durchs wilde Kurdistan. Gesammelte Reiseromane, Bd. II. Freiburg 1892, S. 632.
40Roxin: Einführung, wie Anm. 9, S. 4; Binnenzitat: May: Durchs wilde Kurdistan, wie Anm. 39, S.633.
41May: Ebd., S. 636.
42Roxin: Einführung, wie Anm. 9, S. 4.
43Vgl. Claus Roxin: Einführung. In: Karl May: Die Todes-Karavane - In Damaskus und Baalbeck - Stambul - Der letze Ritt. 'Deutscher Hausschatz' 8./9. Jg. (1881-83) bzw. 11./12. Jg. (1884-86). Reprint der KMG. Hamburg, Regensburg 1978, S. 2-6 (S. 3f.) - Wiegmann: Werkartikel, wie Anm. 12, S. 194.


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44Karl May: Von Bagdad nach Stambul. Gesammelte Reiseromane, Bd. III. Freiburg 1892, S. 44; zit. nach Roxin: Einführung (zu Die Todes-Karavane), wie Anm. 43, S. 4 - Zur autobiographischen Deutung vgl. auch Ilmer: Von Kurdistan nach Kerbela, wie Anm. 7, S. 263-320.
45Wiegmann: Werkartikel, wie Anm. 12, S. 195.
46Ilmer: Durch die sächsische Wüste, wie Anm. 7, S. 110 - Zu den Kriterien des 'Bildungsromans' vgl. Gerhard Neumann: Karl Mays 'Winnetou' - ein Bildungsroman? In: JbKMG 1988, S. 10-37 (S. 11 ff.).
47Ilmer: Durch die sächsische Wüste, wie Anm. 7, S. 123f.
48Vgl. Heinz Stolte: Mein Name sei Wadenbach. Zum Identitätsproblem bei Karl May. In: JbKMG 1978, S. 37-59.
49Ende 1892 hat May für den Schlußband Der Schut noch einen Anhang ('Rihs Tod') hinzugefügt.



7.8

Parallel zum großen Orientroman: Winnetous Tod


Neben "Giölgeda padishanün" und den Fortsetzungstexten dieses großen Romans erschienen von May noch weitere, relativ kurze Erzählungen, die ebenfalls in den Jahren 1880 bis 1882 - noch vor Beginn der zweiten Münchmeyer-Tätigkeit des Schriftstellers - verfaßt worden sind.1

   Im Lahrer 'Hinkenden Boten' und in der Dresdner 'Deutschen Gewerbeschau' ergänzte May seine Dessauer-Reihe2 mit den Novellen Fürst und Leiermann (1881), Ein Fürst-Marschall als Bäcker (1882) und Pandur und Grenadier (1883).

   Anspruchsvoller als diese Novellen ist Mays im Herbst 1881 entstandene, in der Bielefeld-Leipziger 'Belletristischen Correspondenz' im Frühjahr 1882 erstmals gedruckte Ich-Erzählung Der Krumir.3 Martin Lowsky hat - sehr beeindruckend - gezeigt, daß man diese Abenteuergeschichte auch als Satire auf die imperialistische Politik der europäischen Großmächte lesen kann.4 Die Thematik des Alterswerks, insbesondere des Friede-Romans, nimmt Der Krumir teilweise vorweg.

   Im September 1882 erschien in Pustets 'Hausschatz' Mays, pseudonym verfaßte, Erzählung Robert Surcouf. Ein Seemannsbild von Ernst von Linden. Unter dem Titel Ein Kaper nahm der Schriftsteller diese - zum Teil historisch belegte - Geschichte in sein späteres Buch Die Rose von Kairwan (Osnabrück 1894) auf.

   Ende Oktober 1882 brachte May beim Stuttgarter Verleger Wilhelm Spemann (der später seine bekannten, von May speziell für die Jugend geschriebenen Romane Die Sklavenkarawane, Der Schatz im Silbersee usw. publizierte) eine weitere, in der Ich-Form erzählte, Novelle unter: Christi Blut und Gerechtigkeit. Diese - seit 1893 - in der Fehsenfeld-Reihe (in Bd. X Orangen und Datteln)5 enthaltene, religiös aufgeladene und autobiographisch interessante Erzählung erschien im Spemann-Journal 'Vom Fels zum Meer'. Vermittler war der berühmte Schriftsteller und Bibliograph Joseph Kürschner (1853-1902),6 der künftig in Mays Leben eine wichtige Rolle spielte.

   In der genannten Zeitschrift 'Vom Fels zum Meer' folgte Ende Februar 1883 Saiwa tjalem, Mays einzige im hohen Norden Europas handelnde Novelle. Ebenfalls bei Spemann, im 4. Band des Jahrbuchs 'Das neue Universum' (1882/83), veröffentlichte May die Old-Shatterhand-Erzählung Ein Oelbrand. Der Text wendet sich, wie Der Krumir, gegen den europäischen Imperialismus und zeigt die Wende des (auch hier in der Ich-Form erzählenden) Autors zum edlen Indianerbild. Die humanitäre Grundtendenz hebt sich von den früheren Wildwestgeschichten Mays sehr "wohltuend"7 ab.


//180//

   Besonders hervorzuheben ist Mays, für Winnetou III (1893) wiederverwendete, Novelle Im "wilden Westen" Nordamerikas. Dieser, 1881 oder 1882 entstandene,8 Text erschien 1882/83 in der Zeitschrift 'Feierstunden im häuslichen Kreise' des Kölner Theissing-Verlages. Die Erzählung ist wesentlich facettenreicher, als der Titel vermuten läßt. Sie kann, was manche (freilich nicht alle) Positionen betrifft, "mit Fug und Recht"9 an die Seite der Erzählung Zadig ou La Destinée (1747) von Voltaire gestellt werden.

   Mays Novelle ist nur vordergründig eine Wildwestgeschichte. Sie weist neben trivialen Elementen auch 'philosophische', auch literarisch bedeutsamere - romantische und aufklärerische - Züge auf.10 Und sie enthält die bekannte, von Walter Killy als Kitsch gebrandmarkte,11 Szene mit Winnetous Tod.

   Gerade dieser Passus verdient unsere Aufmerksamkeit. Wie Siegfried die germanische, so verkörpert Winnetou die indianische Rasse, ihr edelstes Streben und ihren 'Untergang'.12 Und nicht nur das! Der "Untergang des Schuldlosen"13 verklärt das Sterben schlechthin! Das große, in der Zwickauer Haft, im Weihnachtsgedicht des reuigen Sünders,14 schon antizipierte Thema Karl Mays - Tod und Leben, Verwandlung und Erlösung - wird umgesetzt in stärkste Affekte.

   Der in Winnetou III breit ausgeführte Abschnitt von der Todesahnung des Häuptlings fehlt in der Fassung des Urtextes; aber dem Sterben des Apachen geht, auch hier, ein Dialog mit dem Ich-Erzähler Old Shatterhand voraus: Winnetou, der vor Grausamkeiten -bisher - nicht immer zurückschreckte, zieht die Seligkeit des Himmels den 'ewigen Jagdgründen' mit ihrem "Tödten und Morden" (S. 84)15 nun vor. Die Worte des Evangeliums, die der Christ Old Shatterhand dem 'Heiden' Winnetou erschließt, fallen auf fruchtbaren Boden.

   Der Indianer zeigt sich offen für die Botschaft des Erlösers:


"Winnetou wird nicht vergessen [...] den Sohn des Schöpfers, der am Kreuz gestorben ist, und die Jungfrau, welche im Himmel wohnt [...] Der Glaube der rothen Männer lehrt Haß und Tod; der Glaube der weißen Männer lehrt Liebe und Leben. Winnetou wird nachdenken, was er erwählen soll, den Tod oder das Leben." (S. 85)


   Da trifft ihn am Hancock-Berg die tödliche Kugel. Old Shatterhand ist außer sich vor Entsetzen und "Wuth" (S. 99). Er vergißt sein Christentum und erschlägt gleich mehrere Feinde. Doch der Häuptling denkt nicht mehr an Rache. Shatterhand fragt den sterbenden Freund: "Hat mein Bruder noch einen Wunsch?" (Ebd.) Der Indianer spricht vom Gold, das er seinen Freunden noch schenken will; er "sorgt für den Wohlstand",16 für das irdische Glück der weißen Siedler in Helldorf. Doch dies ist nicht alles: "Was noch, Winnetou!" - "Mein Bruder vergesse den Apachen nicht. Er bete für ihn zum großen, guten Manitou!" (Ebd.)

   Der Häuptling wünscht sich das Lied, das er in Helldorf Settlement gehört hat, das Lied von der 'Himmelskönigin'. Nach der zweiten Strophe öffnen sich seine Augen. Er schaut (wie später, in "Weihnacht!", der arme Carpio17) hinauf zu den Sternen.


Dann drückte er mir die Hände und flüsterte: "Char-lih, nicht wahr, nun kommen die Worte vom Sterben?" Ich nickte weinend, und die dritte Strophe begann:


"Es will das Licht des Tages scheiden;
Nun bricht des Todes Nacht herein.
Die Seele will die Schwingen breiten;
Es muß, es muß gestorben sein.
Madonna, ach, in Deine Hände
Leg ich mein letztes heißes Flehn:
Erbitte mir ein ruhig Ende


//181//

Und dann ein selig Auferstehn!
Ave, ave Maria!" (S. 100)18


   In seinen letzten Sekunden erfüllt der Apache den größten, den heimlichsten Wunsch seines Freundes:


Als der letzte Ton verklungen war, wollte er sprechen - es ging nicht mehr. Ich brachte mein Ohr ganz nahe an seinen Mund, und mit der letzten Anstrengung der schwindenden Kräfte flüsterte er: "Scharl-lih, ich glaube an den Heiland. Winnetou ist ein Christ. Lebe wohl!" (Ebd.)


   Der sterbende Winnetou ruht im Schoße Old Shatterhands (S. 99) - ein Bild, das der mittelalterlichen Pietà, der Beweinung Christi durch die Mutter Maria, nachgeformt ist.19 Auch Old Shatterhand weint, und seine Trauer ist wortlos.20 Doch die Suggestivwirkung der Szene von Winnetous Tod auf den Dichter hielt an und verstärkte sich noch - bis zur Behauptung der Wirklichkeit im historischen Sinne (Winnetou starb am "2ten Sept. 1874"21), bis zum tatsächlichen Tränenvergießen durch den Autor,22 bis zur "Heiligsprechung"23 des Apachen in Winnetou IV (1909/10).

   Winnetou hat, historisch gesehen, nie gelebt. Aber er lebt in der Seele des Menschen! Das Geständnis des Kunstkritikers und Schriftstellers Carl Einstein (1885-1940) dürfte sehr vielen May-Lesern aus dem Herzen gesprochen sein: "Das entscheidende Erlebnis war natürlich Karl May, und der Tod Winnetous war mir erheblich wichtiger als der des Achill und ist es mir geblieben."24

   Winnetou ist ein Menschheitssymbol: nicht nur als strahlender Held, sondern - viel mehr noch - als Inbegriff des suchenden, um Erlösung ringenden, von der Gnade gehaltenen Daseins. Der sterbende Winnetou verkörpert zugleich die persönliche, die ureigenste Sehnsucht des Autors, sein Verlangen nach Gott und - dem Schutze der Mutter (der 'Himmelskönigin' und der eigenen, auf Erden lebenden Mutter).25 Beide Aspekte, die autobiographische Relevanz und die menschheitssymbolische Bedeutung, rücken den Tod des Apachen - und das 'Ave Maria' ins Licht eines großen Zusammenhangs: "Ein Zeichen erschien am Himmel, eine Frau [...]" (Offb 12, 1). Die Frau aber steht - in engster Beziehung zum Leben schlechthin!

   Carl Einstein und viele andere May-Leser haben recht: Winnetous Tod gehört zu den bewegendsten Sterbeszenen der Literatur. In der Abenteuergeschichte, im Heldenmythos von 1882/83, mag diese - religiös besetzte - Szene wie ein Fremdkörper wirken; im Kontext der späteren Winnetou-Tetralogie26 und des Mayschen Gesamtwerks aber ist sie doch stimmig.

   Das Bildnis Winnetous hat im Werk Karl Mays die seltsamsten Wandlungen erfahren.27 An der Gestalt des Apachen hat der Dichter vom Anfang bis zum Ende seines Schaffens gearbeitet; die Veredelung Winnetous schreitet, von Erzählung zu Erzählung,28 fort. Doch schon jetzt, in der Novelle Im "wilden Westen" Nordamerika's, ist aus dem Heldenmythos eine "Heiligenlegende"29 geworden: Der kriegerische Häuptling hat sich, durch Gnade, durch 'Christi Blut und Gerechtigkeit', verwandelt in einen Märtyrer; und sein Tod bezeugt, im 'Ave Maria', das Leben.

   Winnetou ist, wie richtig gesagt wurde, eine "lkone"30 geworden. Im "wilden Westen" Nordamerika's, die Schlußszene mit Winnetous Tod, ist die Skizze, der erste Entwurf für diese Ikone.


//182//

Anmerkungen


1Vgl. Claus Roxin: Einführung. In: Karl May: Die Todes-Karavane - In Damaskus und Baalbeck - Stambul - Der letzte Ritt. 'Deutscher Hausschatz' 8./9. Jg. (1881-83) bzw. 11./12. Jg. (1884-86). Reprint der KMG. Hamburg, Regensburg 1978, S. 2-6 (S. 3).
2Vgl. oben, S. 143.
3Der Krumir wurde später in Karl May: Orangen und Datteln. Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. X. Freiburg 1893 (S. 213-426) aufgenommen.
4Vgl. Martin Lowsky: "Mummenschanz mit Tanz". Vieldeutige Abenteuerlichkeit in Karl Mays Tunesien-Erzählung 'Der Krumir'. In: JbKMG 1985, S. 321-347.
5May: Orangen und Datteln, wie Anm. 3, S. 511-544 - Vom Karl-May-Verlag wurde diese Novelle unter dem Titel Schefakas Geheimnis in Bd. 48 (Das Zauberwasser) der 'Gesammelten Werke' aufgenommen.
6Vgl. Jürgen Wehnert: Joseph Kürschner und Karl May. Fragmente einer Korrespondenz aus den Jahren 1880 bis 1892. In: JbKMG 1988, S. 341-389 (S. 342) - Andreas Graf: "Von einer monatelangen Reise zurückkehrend". Neue Fragmente aus dem Briefwechsel Karl Mays mit Joseph Kürschner und Wilhelm Spemann (1882-1897). In: JbKMG 1992, S. 109-161. - Vgl. unten, S. 206f.
7Hartmut Kühne: (Werkartikel zu) Ein Ölbrand. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 506-508 (S. 507).
8Nach Roland Schmid: Vorwort des Herausgebers, In: Karl May: Winnetou's Tod. Reprint Bamberg 1976, S. 3-6 (S. 4), könnte es von dieser Erzählung schon um 1881 einen (verschollenen) Erstdruck gegeben haben.
9Martin Lowsky: Roß und Reiter nennen. Karl Mays 'conte philosophique' von Winnetous Tod. In: Karl Mays 'Winnetou'. Studien zu einem Mythos. Hrsg. von Dieter Sudhoff und Hartmut Vollmer. Frankfurt/M. 1989, S. 306-325 (S. 319).
10Vgl. ebd., S. 306-325.
11Vgl. Walter Killy: Deutscher Kitsch. Ein Versuch mit Beispielen. Göttingen 1962 u.ä. - dagegen: Hermann Wiegmann: Rüdiger von Bechelaren, Max Piccolomini und Winnetou. Beobachtungen zum Topos vom Untergang des Schuldlosen. In: JbKMG 1982, S. 185-195 (S. 193).
12Ausdrücklich findet sich dieser Hinweis später im Vorwort zu Winnetou I (1893). - Vgl. unten, S. 254.
13Wiegmann, wie Anm. 11.
14Vgl. oben, S. 100ff.
15Seitenangaben in () beziehen sich auf Karl May: Im "wilden Westen" Nordamerika's. In: Ders.: Winnetou's Tod, wie Anm. 8, S. 54-100.
16Lowsky: Roß und Reiter, wie Anm. 9, S. 317.
17Vgl. unten, S. 299.
18Später hat May die drei Strophen des 'Ave Maria' selbst vertont.
19Vgl. Ingmar Winter: "Er lag in meinem Schoße". Gedanken zu Sterbeszenen im Winnetou-Roman. In: MKMG 67 (1986), S. 38-40 - Lowsky: Roß und Reiter, wie Anm. 9, S. 314 u. 324 (Anm. 20).
20Daraus zu folgern, daß "Old Shatterhand seine Stimmung nach dem Tod des Freundes außerordentlich [...] kalt wiedergebe (Wolfram Ellwanger/Bernhard Kosciuszko: Winnetou - eine Mutterimago. In: Karl Mays 'Winnetou', wie Anm. 9, S. 366-379, hier S. 366), ist - im Blick auf den Wortlaut des Textes - ziemlich verfehlt.
21Karl May: Briefe an das bayerische Königshaus. In: JbKMG 1983, S. 76-122 (S. 77) - In Wien (1898) gab May, einer augenblicklichen Stimmung gehorchend, den 23. Februar als Todestag Winnetous an. - Vgl. unten, S. 326f.
22Vgl. unten, S. 329.
23Heinz Stolte: Der Volksschriftsteller Karl May. Beitrag zur literarischen Volkskunde (Reprint der Erstausgabe von 1936). Bamberg 1979, S. 95.
24Zit. nach Harald Eggebrecht: Vorbemerkung. In: Karl May, der sächsische Phantast. Studien zu Leben und Werk. Hrsg. von Harald Eggebrecht. Frankfurt/M. 1987, S. 7ff. (S. 7).
25Im Ansatz dürfte die Assoziation Winnetou - Madonna - barmherzige Frau - Mutter schon hier, in dieser frühen Erzählung, vorliegen.
26Vgl. unten, S. 252ff. u. 728ff.


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27Vgl. z.B. Franz Kandolf: Der werdende Winnetou. In: KMJB 1921. Radebeul 1920, S. 336-360 (auch in: Karl Mays 'Winnetou', wie Anm. 9, S. 179-195) - Horst Wolf Müller: Winnetou. Vom Skalpjäger zum roten Heiland. In: Karl Mays 'Winnetou', wie Anm. 9, S. 196-213.
28Daß der Autor seinen Winnetou schon in der Erzählung Im "wilden Westen" Nordamerika's sterben läßt, legt den Gedanken nahe, daß May an weitere Winnetou-Erzählungen zu diesem Zeitpunkt wohl kaum gedacht hat.
29Vgl. Gunter G. Sehm: Der Erwählte. Die Erzählstrukturen in Karl Mays 'Winnetou'-Trilogie. In: JbKMG 1976, S. 9-28. - Dazu unten, S. 254ff.
30Dazu Manfred Durzak: Winnetou und Tecumseh. Literarische Ikone und historisches Bild. In: Karl Mays 'Winnetou', wie Anm. 9, S. 148-176 - Vgl. Heinz Stolte: "Stirb und werde!" Existentielle Grenzsituation als episches Motiv bei May. In: JbKMG 1990, S. 51-70 (S. 65).



7.9

"Kitsch"-Lieferant beim Münchmeyer-Verlag (1882-87): Dranghaftes Schaffen und Rücksicht auf den Lesergeschmack


Nach der Aufgabe seiner Redakteurstätigkeit bei Radelli (1878) hatte May mit erheblichen Geldschwierigkeiten zu kämpfen. Zusammen mit den Kurzgeschichten sicherten der Doppelroman Scepter und Hammer/Die Juweleninsel gerade noch "das Existenzminimum"1 des Verfassers. Auch Friedrich Pustet zahlte lediglich eine Mark pro Manuskript-Seite. Der Autor verdiente "bei pausenlosem Schreiben von Januar 1881 bis Juni 1882 ganze 1840,- Mark [...] Und er hat eine nicht eben anspruchslose Frau [...] und für die Zukunft nurmehr nichts als Pläne ..."2

   Da May, neben seiner Arbeit für den 'Deutschen Hausschatz', relativ wenig Neues publizieren konnte und die Nachdruckhonorare höchst bescheiden waren, betrug sein gesamtes Jahreseinkommen etwa 1500 Mark. "Das entspricht dem Gehalt eines weniger gut bezahlten Arbeiters zu jener Zeit und mochte zur Fristung des Lebensunterhaltes für ein kinderloses Ehepaar in den dörflichen Verhältnissen Hohenstein-Ernstthals gerade ausreichend sein. "3


7.9.1

Der Abstieg zur Kolportage


Seine Geldnöte warfen May, so kann man es sehen, in seiner schriftstellerischen Entwicklung weit zurück: Er unterbrach die Arbeit für den 'Hausschatz' und vernachlässigte die Aufträge Pustets, d.h. die Fortsetzung seines (an die 'Hochliteratur' schon nahe heranreichenden) Orientromans. Mays Hauptbeschäftigung wurde die Niederschrift von - wie die Kritiker meinen - dubiosen, in ihrem Wert bis heute umstrittenen 'Reißerromanen' für den bekannten Geschäftsmann Heinrich G. Münchmeyer.

   Münchmeyers Firma war eine der größten Kolportagefabriken des Deutschen Reiches geworden: mit Filialen in Berlin und später (seit 1892) in Hamburg.4 Sogar in New York und Chikago wurden die Verlagsprodukte vertrieben - vorwiegend minderwertige Literatur, zur billigen Unterhaltung gedacht.

   Der Selbstbiographie zufolge urteilte May bereits im Jahre 1874, unmittelbar nach der Entlassung aus Waldheim, über den Verlagsbesitzer: "Dieser Mann will Schundromane, aufregende Liebesgeschichten, weiter nichts. Solche Sachen schreibe ich nicht [...] Ich habe ganz andere [...] Ziele!"5 Dennoch ließ er sich, im Spätsommer 1882, vom selben Verleger, mit dem er - nach schlechten Erfahrungen - schon 1877 gebrochen hatte,6 erneut gewinnen. Über seine Bedenken siegte die Überlegung: "In dem Umstand, daß Münchmeyer Kolportageverleger war, lag kein Zwang für mich, ihm nun auch meinerseits nichts Anderes als nur einen Schund- und Kolportageroman zu schreiben. Es konnte etwas Besseres sein. "7


//184//

   Im Dresdner Hotel 'Trompetenschlößchen' sagte May (vielleicht beeinflußt durch Emma8) Münchmeyer zu, in regelmäßigen Lieferungen einen großen Unterhaltungsroman zu verfassen, dem dann vier weitere, ebenso lange Romane - mit je ca. 2500 großformatigen Seiten! - folgten. Die Erscheinungsjahre, aber auch die Entstehungszeiten überschneiden sich. Mays Arbeitstempo: für jedes dieser Mammutwerke brauchte er im Durchschnitt elf Monate!

   Der erste, pseudonym erschienene, Roman dieser Reihe hatte den Titel Waldröschen oder Die Rächerjagd9 rund um die Erde. Großer Enthüllungsroman über die Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft von Capitain Ramon Diaz de la Escosura.10 Karl May begann mit der Niederschrift im Herbst 1882.11 Die Auslieferung erfolgte (in 109 Heften) ab November 1882 und war vermutlich im August 1884 abgeschlossen.

   Vereinbart war, nach der Darstellung Mays,12 eine Auflage von 20000 Exemplaren. Danach sollten alle Rechte an den Autor zurückfallen. Doch der Kontrakt war, zu Mays späterem Schaden, "kein schriftlicher, sondern ein mündlicher"13 Eine Abrechnung wurde dem Autor nie vorgelegt. Und die "feine Gratifikation",14 die ihm Münchmeyer in Aussicht stellte, hat er nie erhalten.15

   "Schon nach einigen Wochen kamen günstige Nachrichten. Der Roman 'ging'."16 Das Waldröschen, eine "der kolossalsten Kuriositäten der Weltliteratur",17 erreichte eine "galaktische"18 Auflagenhöhe: 500000 Exemplare in 20 Jahren. Dieser Roman, der "mit den herkömmlichen Maßstäben der literarischen Kritik"19 überhaupt nicht zu messen ist, erfuhr schon bald viele Nachdrucke und Übersetzungen: ins Englische, Tschechische, Holländische, Italienische, Polnische und Slowenische.20 Das Waldröschen wurde gelesen und wieder gelesen, bis es "völlig zerfleddert war".21 Die Leser hatten prickelnde Stunden und, wenn sie offen waren fürs Transzendente, auch religiöse Erbauung.

   Der große Gewinner war Heinrich Münchmeyer. Mit dem Waldröschen erzielte er einen Umsatz von fünf Millionen Mark!22 Seine Honorare für Karl May, zunächst nur 35 (später 50) Mark pro Lieferungsheft, waren schäbig. Trotzdem war May finanziell nun saniert: Innerhalb eines Jahres verdiente der Autor zum Pustet-Gehalt (bis zum Frühjahr 1883 war genügend 'Hausschatz'-Manuskript vorhanden) noch 3815 Mark hinzu.23 Damit waren alle Existenzsorgen behoben, und May konnte seinen Plan, nach Dresden umzuziehen, am 7. April 1883 verwirklichen. Er wohnte nun mit Emma in Dresden-Blasewitz, Sommerstraße 7 - in der Nähe von Münchmeyer.

   Nach dem Erfolg des Waldröschen setzte May seine Kolportagetätigkeit fort mit den Lieferungswerken Die Liebe des Ulanen. Original-Roman aus der Zeit des deutsch-französischen Krieges von Karl May (erschienen zwischen Herbst 1883 und Ende 1885), Der verlorene Sohn oder Der Fürst des Elends. Vom Verfasser des Waldröschens (1884-86), Deutsche Herzen, deutsche Helden vom Verfasser des "Waldröschen" und "der Fürst des Elends" (1885-87) sowie Der Weg zum Glück vom Verfasser des "Waldröschen", "Verlorener Sohn ", "Deutsche Helden" etc. (1886-88).24

   Mays richtiger Name war durch die Hausschatz-Erzählungen nun doch schon ziemlich bekannt. Das Gütezeichen 'Karl May' hätte Münchmeyer gerne benützt, doch der Autor ließ sich darauf nicht ein.25 Er schrieb, von Die Liebe des Ulanen abgesehen,26 unter dem Pseudonym des Verfassers von Waldröschen. Doch schon 1883 hat der Verleger, in Werbeprospekten, das Pseudonym gelüftet.27 Und 1888 ließ Münchmeyer eine Buchausgabe erscheinen mit dem Titel Der Weg zum Glück. Roman aus dem Leben Ludwig des Zweiten von Karl May.28 Dem Autor wird dies entgangen sein; Mays spätere Aufregung über die


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Preisgabe des Pseudonyms durch den Münchmeyer-Nachfolger Adalbert Fischer29 wäre sonst kaum verständlich.

   Der Abstieg zur Kolportage zwang dem Schriftsteller - streckenweise - eine bombastische, eine triviale und knallige Schreibweise auf, die er mit seinen letzten Hausschatz-Texten schon "glücklich verlassen"30 hatte. Seine erneute Tätigkeit für den 'Schundfabrikanten' hat den Dichter in späteren Jahren wohl selbst irritiert:


Ich hatte genug zu tun. Man drängte sich bereits an meine Werke; ich brauchte also keinen Verleger, am allerwenigsten aber einen Münchmeyer, der nach den Erfahrungen, die ich an ihm gemacht hatte, nie wieder ein Manuscript von meiner Hand bekommen hätte.31


   May setzte - der Ehefrau Emma zuliebe, wie er betont32 - seine Entwicklung als Künstler "tatsächlich aufs Spiel".33 Die plausible Erklärung ist, wie gesagt, in der Finanzlage des Autors zu suchen. Mays Jahresproduktion für Münchmeyer erreichte, aufgrund des geringeren ästhetischen Niveaus, den mehr als dreifachen Umfang der Hausschatz-Texte. Karl May erschrieb sich, nach der Aufstockung des Honorars auf 50 Mark pro Heft, ein Jahresverdienst von fünf bis sechstausend Mark, was dem Einkommen eines akademisch gebildeten Staatsbeamten entsprach.34 Mit Hilfe der Kolportage kam er zum ersten Mal aus dem Hungerdasein heraus. Seine Eltern zu unterstützen und das Leid, das er ihnen zugefügt hatte, zum Teil wiedergutzumachen, war er nun endlich imstande. Und er hat es auch wirklich getan. Auch seiner Schwester Karoline hat er - 1883 - geholfen: durch die Finanzierung eines Hebammenkurses.35 Bedenkt man dies alles, dann "sollte man mit moralischen und literarischen Vorwürfen wegen der Kolportage-Schriftstellerei [...] zurückhaltend sein."36

   Was die Romane selbst betrifft - zumindest EIN Verdienst ihres Verfassers ist nicht zu bestreiten: Für die Erforschung der Trivialliteratur sind Mays 'Hintertreppenromane' höchst aufschlußreich! Das wissenschaftliche Interesse an ihnen ist, seit dem Erscheinen der Reprint-Ausgaben, erstaunlich gewachsen.37

   Bezüglich der Form freilich schien May sein literarisches Gewissen verraten zu haben. Kritisiert wurde vor allem der Stil dieser Werke. Immer "falscher wird der Ton des Bandwurmromans, immer alberner, kitschiger, pfuscherhafter die Sprache",38 rügte Hans Wollschläger. Doch ganz so entsetzlich ist es, bei genauerer Betrachtung, gar nicht gewesen. Mays Lieferungswerke sind, auch ästhetisch gesehen, nicht völlig wertlos.39 Wie neuere Untersuchungen belegt haben, "überschreitet May die Konventionen der Kolportage"40 durchaus.


Dem Autor gelang es - abweichend von seiner sonstigen Schreibweise - einen Stil zu finden, der heute durch seine fast kabarettistisch anmutende Überzogenheit einen ganz besonderen Lesereiz bietet und damals einen geradezu unglaublichen Erfolg erzielte.41


   Mays Münchmeyerromane entsprechen dem Lesergeschmack des wilhelminischen Deutschland, den Wunschbildern und Tagträumen vor allem (aber nicht nur) der 'unteren Klasse'.42 Der Schriftsteller hatte ein "Flair für das, was die Massen anspricht".43 Er kam ja selbst aus der Unterschicht und schrieb für deren - legitime - Bedürfnisse: volksnah, behäbig und sentimental.


7.9.2

Bizarres Geschehen und bunte Kulissen


Bemerkenswert sind die Themen, die Motive, das Weltbild der Mayschen Kolportageromane. Eine Inhaltsangabe ist, im Rahmen dieser Gesamtdarstellung, nur in gröbsten Umrissen möglich. Die (mehr oder minder geschickt) in die Hauptfabel eingeflochtenen Ne-


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benhandlungen können hier nicht berücksichtigt werden. Und von den zahllosen Romanfiguren müssen die meisten, darunter auch interessante, ungenannt bleiben.

   Das Waldröschen spielt in fast allen Teilen der Erde. Die wichtigsten Schauplätze sind Spanien, Mexiko und Deutschland. Historische Personen wie Benito Juarez44 und Otto von Bismarck verleihen dem Roman einen pseudo-authentischen Anstrich. Im Mittelpunkt des Geschehens stehen die Grafenfamilie de Rodriganda Sevilla und der deutsche Arzt Karl Sternau, ein illegitimer Sohn des Herzogs von Olsunna. Doktor Sternau ist, von seiner Schießfreudigkeit in wilden Gegenden45 einmal abgesehen, ein sympathischer Mensch und ein gläubiger Christ obendrein - eine strahlende Heldengestalt, die alles weiß und alles kann. Er heilt in Spanien den Grafen Emanuel von der Blindheit. Sein Lohn: die Verbindung mit der Tochter des Grafen. Der bürgerliche Sternau, der von seiner wahren Herkunft nichts ahnt, heiratet Rosa de Rodriganda, eine herrliche Frau, eine makellose Schönheit. Doch den Brüdern Cortejo und ihren Verbündeten (dem Piratenkapitän Henrico Landola, der scheinheiligen Klosterschwester Clarissa, dem hinterlistigen Pater Hilario u.a.) gelingt es, die Rodrigandas und Sternau - mit all seinen Gefährten - ins Unglück zu stürzen. Es gibt kein Verbrechen, zu dem die Schurken nicht fähig wären. Aber am Ende werden die Schufte zur Strecke gebracht; es siegt die Gerechtigkeit. Nach langer Irrfahrt und sechzehnjähriger Gefangenschaft auf einer verlorenen Insel kehrt Sternau zu Rosa zurück. Wie Penelope auf Odysseus hat die treue Gemahlin auf den Gatten gewartet.

   Die Liebe des Ulanen schildert, über drei Generationen, die Schicksale einer preußischen Offiziersfamilie. Die Schauplätze sind im wesentlichen Deutschland und Frankreich. Im Hintergrund stehen die deutsch-französischen Kontroversen in den Jahren 1814 bis 1870. Der Ulanenrittmeister Richard von Königsau, der Enkel des von Marschall Blücher46 protegierten Husarenleutnants Hugo von Königsau, reist unter dem Inkognito des Erziehers Dr. phil. Andreas Müller nach Ortry, einem fiktiven Ort in Lothringen. Täuschend verkleidet, mit Brille und künstlichem Buckel, löst er militärische Aufträge. Er deckt geheime Kriegsvorbereitungen auf und durchkreuzt die Machenschaften des Gardekapitäns Albin Richemonte. Auf dem Weg nach Ortry rettet er Marion, der Tochter des Barons von Saint-Marie, das Leben und entdeckt seine Liebe zu ihr. Insgesamt kommt es zu zehn Eheschließungen über die Völkergrenzen hinweg. Zwar tragen die Dunkelmänner in der Regel französische Namen; von nationaler Überheblichkeit ist im Roman dennoch wenig zu spüren. Es fällt "kein böses Wort gegen Frankreich oder das französische Volk, selbst dann nicht, wenn politisches Geschehen unter dem damals üblichen Wilhelminischen Blickwinkel gesehen wird."47 Pazifistische Tendenzen sind durchaus erkennbar und sogar "die Erlösungsmystik des alten May findet sich stellenweise vorgeformt".48

   Der verlorene Sohn spielt in der deutschen Heimat des Autors. Mit der "Residenz" ist Dresden gemeint; die "Provinz" läßt sich als erzgebirgische Landschaft identifizieren. Die Fron der "Sklaven der Arbeit",49 das Elend der Ärmsten, der brutale Zynismus ihrer Ausbeuter und Zwingherren werden plastisch geschildert. Zu Beginn der Geschichte steht ein schnödes Verbrechen: ein Doppelmord. Der unschuldige Försterssohn Gustav Brandt soll, wegen dieser Bluttat, ins Zuchthaus gebracht werden. Der Augenschein spricht gegen ihn. Denn der wirkliche Täter, Baron Franz von Helfenstein, hat den Verdacht - durch eine gemeine Intrige - auf Brandt gelenkt. Als Bankier und Kohlengrubenbesitzer, als Menschenverächter und Hauptmann einer Verbrecherbande, unterdrückt der Baron, in den folgenden Jahren, die Proletarier. Doch der Försterssohn hatte sich, durch Flucht, der Gefangenschaft entzogen; nach zwanzigjährigem Aufenthalt in der Fremde (wo er zum 'Fürsten von Befour' avanciert und zu größtem Reichtum gelangt ist) kehrt er zu-


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rück, tritt - unter verschiedenen Masken - der Canaille entgegen und legt ihr das Handwerk.


Der zunächst aus privaten Motiven geführte Kampf Brandts nimmt bald den Charakter einer breit angelegten sozialen Befreiungsaktion an. Engagiert und hilfsbereit sucht Brandt die Not der Ärmsten zu lindern und sie vor kapitalistischer Willkür zu schützen. Unerkannt, als geheimnisvoller 'Fürst des Elends', macht er sich zum Schutzengel der Armen und wird ihr Retter und Wohltäter.50


   Deutsche Herzen, Deutsche Helden ist in drei Hauptteile gegliedert, die im Orient, in Nordamerika und in Sibirien spielen. Zentrales Thema ist die Wiedervereinigung der deutschen Familie von Adlerhorst. Der Vater, der Diplomat Alban von Adlerhorst, wurde umgebracht. Albans Ehefrau Anna und die fünf Kinder - Hermann, Georg, Martin, Tschita und Magda - wurden anschließend durch die Ränke des türkischen Paschas Ibrahim-Bei und des Kammerdieners Florin (alias Derwisch Osman alias Bill Newton alias Peter Lomonow) in alle Winde verstreut. Ihr Los ist teilweise ein schreckliches. Ihr Leid, ihre Qual übersteigt jedes Maß. Dem Allround-Genie Oskar Steinbach (von den Indianern als 'Fürst der Bleichgesichter' bewundert, in Rußland mit der Uniform eines Generalleutnants geschmückt, in Deutschland als Bruder eines regierenden Großherzogs bekannt) glückt aber - mit entscheidender Hilfe des aus Sachsen stammenden Präriejägers Sam Barth - die Rettung und die Zusammenführung der Adlerhorsts. Das Happy-End: Mutter Anna umarmt ihre Kinder; Hermann heiratet die schöne Zykyma; Georg wird vereint mit Karpala, dem 'Engel der Verbannten'; Martin findet das Glück in Almy, der 'Taube des Urwalds'; Tschita bekommt den Maler Paul Normann; für Magda interessieren sich zwei gleichwertige Bewerber, was der Autor aber, im Verlauf der Erzählung, zu vergessen scheint. Überhaupt sind May - in Deutsche Herzen auffälliger als in den anderen Münchmeyerromanen - etliche Schnitzer in der Komposition unterlaufen. Manche Widersprüche und Unstimmigkeiten verärgern den, besonders aufmerksamen, Leser. Dennoch kann der Roman über weite Strecken hinweg als "Meisterwerk der Spannungsliteratur"51 gelten.

   Der Weg zum Glück handelt in Bayern, Böhmen und Österreich. Das Milieu erinnert an die erzgebirgischen Dorfgeschichten.52 Der Aufstieg der Magdalena Berghuber (der 'Muhrenleni') von der einfachen Sennerin zur begnadeten Sängerin wird beschrieben. Das Geschick dieser, auch menschlich, sehr hochstehenden Frau wird - in unglücklicher Liebe - verknüpft mit dem Leben des Wildschützen Anton Warschauer (des 'Krickelanton'), eines komplizierten Charakters, der sich ebenfalls zum großen Künstler entwickelt. Der Märchenkönig Ludwig II. - dessen geheimnisumwittertes Wesen und dessen Tod am 13. Juni 1886 Karl May (wie zahlreiche andere Schriftsteller) zur romanhaften Darstellung angeregt hat - fördert die Talente so mancher verkappter Genies. Auch Richard Wagner und Franz Liszt treten auf. Die eigentliche Hauptperson ist, neben dem Helden und Lehrer Max Walther, der 'Wurzelsepp'; eine markante Figur, die May dem Schauspiel Der Pfarrer von Kirchfeld (1872) von Ludwig Anzengruber entlehnt hat. Der Wurzelsepp gehört, nach Walther Ilmer, zu Mays "bestgelungenen Schöpfungen überhaupt".53 Er ist ein Sonderling, halb kauzig, halb ernsthaft geschildert. Befreundet mit aller Kreatur, wird er zum selbstlosen Helfer in jeder Art von menschlichem Leid.

   Wegen kitschiger Ausrutscher und des verunglückten bayerischen Dialekts wurde der Roman als krachlederne Schnulze heruntergesetzt, die "endgültig zur literarischen Talfahrt"54 des Autors geraten sei. Auf Randphänomene und einzelne Textstellen bezogen mag dieses Urteil berechtigt sein; dem Roman als ganzem aber wird es in keiner Weise gerecht. Der Weg zum Glück ist ein Zeugnis echter Menschlichkeit und, in manchen Par-


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tien, subtiler Darstellungskunst. Im Gegensatz zum Waldröschen und den Deutschen Helden werden die Charaktere und Ereignisse nur selten ins Überdimensionale verzerrt. Neuere Studien "lassen erkennen, daß Mays letzter Kolportageroman eine genauso sorgfältige Analyse, Deutung und Wertung verdient, wie seine anderen Werke."55

   Welcher Münchmeyerroman ist der beste und welcher der schlechteste? Man kann diese Frage pauschal nicht beantworten. Trotz vieler Ähnlichkeiten in den Sujets hat jeder Roman seine eigene Prägung, seine spezifischen Schwächen und seine besonderen Stärken. Besser als ihr Ruf sind diese Werke allemal.

   Trivial ist die Story, die oberschichtige Fabel in den Mayschen Kolportageromanen. Doch die äußere Handlung ist, wie in nahezu allen Werken unseres Schriftstellers, nur EINE Dimension der komplexen Gesamtstruktur. Weitere Dimensionen - versteckte biographische Anspielungen, mit Märchen und Mythen verwandte 'Urphantasien', ins Transzendente, ins Metaphysische hineinreichende Botschaften56 - kommen hinzu. Aus diesem Grund wäre es verfehlt, den (zweifellos vorhandenen) qualitativen Abstand zu anderen, früheren oder späteren, Werken des Dichters im Sinne eines totalen Leistungsabfalls zu interpretieren.


7.9.3

Äußerer Zwang und innere Triebkraft


In der Frühzeit seines literarischen Schaffens hatte Karl May historische Erzählungen, religiöse Betrachtungen (Geographische Predigten), erzgebirgische Dorfgeschichten, Humoresken und exotische Abenteuer verfaßt. Seine, viele Episoden aneinanderreihenden, Kolportageromane sind eine Mischform dieser literarischen Gattungen: Übersteigert ins Gigantische und durchsetzt mit märchenhaften Elementen.

   Mays Glanzleistung sind die Münchmeyerromane, vom ästhetischen Standpunkt her, sicher nicht. Aber genial, virtuos sind sie in ihrer Art doch. Schöne Einzelszenen, interessante Figuren und reizvolle Details gelingen sehr wohl. Ethisch halten die Kolportagewerke (manche Kapitel in Waldröschen und einige Partien in Deutsche Herzen abgerechnet) das Niveau des Orientzyklus. Und sie boten dem Autor die Chance, sich in einem "zügellosen Fabulieren von seinen inneren Spannungen freizuschreiben."57

   Das rasante Arbeiten fiel May, laut Selbstbiographie, nicht schwer:


Ich brauchte nicht, wie andere Schriftsteller, mühsam nach Sujets zu suchen; ich hatte mir ja reichhaltige Verzeichnisse von ihnen angelegt, in die ich nur zu greifen brauchte, um sofort zu finden, was ich suchte. Und sie alle waren schon fertig durchdacht; ich hatte nur auszuführen; ich brauchte nur zu schreiben.58


   Mit fieberhaftem Fleiß, Tag und Nacht schaffend,59 sich stärkend mit Kaffee und Zigarren, brachte er seine Riesenromane hervor. Einen Ich-Erzähler gibt es hier nicht. Eine Gleichsetzung der Superhelden (Doktor Sternau, Richard von Königsau, Gustav Brandt, Oskar Steinbach, Max Walther u.a.) mit dem Schriftsteller wird nicht suggeriert. Aber viele Figuren sind - wie im Orientroman und den späteren Reiseerzählungen - heimliche Teil-Ichs des Autors: unterbewußte Spaltprodukte der Psyche Karl Mays.


Der Zwang, Woche um Woche ohne Unterbrechung [...] für die Kolportagemühle liefern zu müssen, brachte May in die Situation jener Testpersonen, die in möglichst rascher Folge zu bestimmten Stichworten alles, was ihnen einfällt, auch scheinbar Nebensächliches oder Unwichtiges, niederschreiben [...] Damit floß anamnestisches Material in Fülle in diese Werke ein, die damit zu einer einzigartigen Quelle für die biographische Forschung wurden.60


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   Wie in Scepter und Hammer/Die Juweleninsel erinnern viele Sensations-Motive - Kindsvertauschung und Wahnsinn, Vergiftung und Scheintod z.B. - ans gängige Genre der Trivialliteratur. Schriftsteller wie Eugène Sue oder Alexandre Dumas standen Pate. Auch historische Vorlagen wurden benutzt. Doch die Hauptquelle war die persönliche Lebensgeschichte des Autors. Das biographische 'Innenmaterial', aus dem die Lieferungswerke Karl Mays entstanden sind, ist offenkundig. Die frühesten Eindrücke Mays, die Armut und die Not seiner Eltern, die Erblindung des Kindes, die Wiedergewinnung des Augenlichts, die Prügelstrafen des Vaters, die Märchen der Großmutter, die Bibel- und Räuberhauptmannlektüre, die Theatererlebnisse der Kindheit und Jugend, das berufliche Scheitern, die amourösen Erfahrungen, die enttäuschte Liebe, die kriminellen Vergehen, die Verhaftung, die Flucht und die Wiederergreifung durch die Gendarmen, der lange Freiheitsentzug, das Bekehrungs- und Rettungserlebnis in Waldheim, der Venustempel und die Recherchen der Polizei, die Probleme mit Emma, die Stollberg-Affäre, die Ängste und Wünsche, die Träume und Phantasien des Autors, die gegenwärtige Zwangslage des Verfassers, der Einfluß des Kolportagemilieus, die Erwartungen einer breiten Leserschicht, die Krise einer kranken Gesellschaft61 - so vieles wirkt hier zusammen, verstärkt sich und erzeugt: unendlich lange 'Bandwurmromane'.

   Warum hat May diese Werke geschrieben? Der äußere Grund war die Geldnot. Doch gab es, darüber hinaus, wohl auch innere Gründe. Der Autor konnte, er wollte, er mußte sich 'freischreiben'! Das trancehafte Schnellschreiben, das dämonische Vielschreiben (dem er, wenn auch nicht in diesem gigantischen Ausmaße, seit Beginn seiner Schriftstellerei ja verfallen war) wird ihm, zumindest anfänglich, eher zur Lust als zur Last geraten sein.62


ich brauchte das, was ich schreiben wollte, nicht, wie bei Pustet, auf viele Jahrgänge auseinander zu dehnen, sondern ich konnte es flottweg hintereinander schreiben, um das, was jetzt als Heftroman erschien, später in Buchform herauszugeben. Das bestrickte mich.63


   Das Fabulieren lag May nun einmal im Blut, das Erzählen war seine große Begabung. Er hatte "andere Ziele" als Liebes- und Verbrechergeschichten, gewiß. Aber er beherrschte dieses Metier. Die Gefahr des Verweilens war inhärent. Der Druck des Verlegers und die Wünsche des Publikums waren Realität und Alibi zugleich. Äußere Umstände und innere Bereitschaft, Getriebenwerden und Sich-treiben-lassen, das fügte sich eben zusammen. Zum Unterhaltungsschriftsteller, zum literarischen Massenproduzenten hatte May die Fähigkeit und - in diesen Jahren - auch die entsprechende Neigung.

   Das schließt nun freilich nicht aus: Was Karl May in der Hauptsache wollte, war auch hier, in den 'trivialen' Münchmeyerromanen, etwas Ernstes und Großes. Die Intention auch in diesen Werken ist - 'Erziehung' und 'Predigt'.


7.9.4

Der religiöse Appell


Die Sekundärliteratur über Mays Kolportageromane hat vorwiegend den gesellschaftspolitischen Aspekt untersucht. Mays Verhältnis zur Obrigkeit, seine Einstellung zum Adelsstand, sein "Unverständnis" (wie gesagt wurde) für die wahren Ursachen von Elend und Unterdrückung64 wurden - kontrovers - oft erörtert. Man wird wohl zugeben müssen: Was die Politik betrifft, ist die 'Ideologie' der Mayschen Lieferungswerke eher verworren und nicht konsequent.65 Wir wenden uns im folgenden einem anderen Gesichtspunkt zu: der katechetischen Grundtendenz in Mays Kolportageromanen. Denn in dieser Hinsicht vor allem unterscheidet sich May von gewöhnlichen Trivialliteraten seines Genres.


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   Nicht nur Pustet und nicht nur den Lesern des Hausschatzes gegenüber fühlte sich May zu "religiösen Reverenzen verpflichtet";66 denn der Glaube an Gott, das Bekenntnis zum Christsein gehören, unabhängig von Verlegern und Auftraggebern, "zu den Wurzeln seines Schaffens".67

   Auch die Kolportagewerke unseres Autors sind (oder enthalten zumindest) religiöse Appelle. Ihr Thema ist Mays Schlüsselerlebnis: der Schrei nach Erlösung, das Eingreifen Gottes in der äußersten Not.

   "Ich glaube an Gott, und habe tausendmal erkannt, wie seine Hand selbst das Entfernteste verbindet."68 Dies ist der Punkt: In Mays Kolportageromanen drücken alle Motive "noch etwas anderes aus als sich selber, alles tritt in Beziehung zueinander, deutet aufeinander und über sich hinaus."69 Konkreter gesagt: Diese Romane sind, wie Mays Gesamtwerk, eine 'theologia narrativa',70 eine erzählende Verkündigung, die - mag die Darstellungsweise für den hohen Geschmack auch platt oder naiv erscheinen - doch etwas ahnen läßt von der göttlichen Welt, von der Real-Utopie des himmlischen Reiches.

   Das Waldröschen hat Roxin als "metaphysischen" Roman bezeichnet: Die ganze Erde wird hier zum "Welttheater, auf dem die dunklen und hellen Mächte unablässig miteinander ringen."71 Für die übrigen Romane gilt dasselbe: Zwei Welten, das Gute und das Böse, liegen miteinander im Streit. Und die Lichtmächte stürzen, nach schweren Rückschlägen, die Dämonen vom Thron.

   Die Darstellung des Bösen ist mitunter sehr kraß. Was May - an sich selbst oder anderen - als sündig erlebt, soll verpönt "und abgestoßen werden".72 Die Läuterung des Autors und seiner Leser ist, wie immer bei May, auch hier intendiert.

   Hinter der Larve des Ehrenmannes (und des gottesfürchtigen Christen) tragen vermummte Sadisten die Züge des Satans. Geheimnisvolle Fremde - der "Pater Dominikaner"73 zum Beispiel - treten ihnen entgegen, gleichsam als Boten der anderen Welt. Sollte ihren Gegenspielern, den Teufeln und Unterteufeln, die Macht nicht genommen werden - und lange sieht es so aus -, dann "ist Gott ein Teufel und die Engel im Himmel sind böse Geister!"74

   Ange et Diable75 wirkt nach! Doch jetzt mit anderem Vorzeichen: Gottes Güte, die Wiederherstellung des Rechts, den Sieg der Gnade zu demonstrieren, ist das Anliegen der Kolportagehefte Karl Mays. "Hahaha, der Teufel ist mein Genosse; er ist oft mächtiger als dieser Gott, vor dem sich Tausende fürchten, ohne daß sie sagen können, daß er auch wirklich existirt!"76 Diese Ansicht zu widerlegen, ist das katechetische Ziel des 'Schundschriftstellers' Karl May.

   Es geht um die Theodizee, um die Frage nach Gott angesichts des Leidens der Welt: "Warum läßt Du so viele, viele Unglückliche geboren werden! Du bist nicht so gütig, wie in den Büchern steht!"77 Dieser Schrei, des Schriftstellers Schrei, soll beantwortet werden. Der Leser (und der Autor) soll zum Glauben zurückfinden. Er soll erfahren: die Bibel hat recht; Gottes Wort ist verläßlich, seine Verheißungen setzen sich durch; Gottes Wege sind nicht zu begreifen, aber er schreibt, wie sich erweisen wird, gerade - auch auf krummen Zeilen!

   Wie in allen May-Werken ist das Grundmotiv der Aufstieg ins höhere Sein. Das 'Höhere' hat bei May eine profan-materielle, aber (vor allem) auch eine geistige und geistliche Komponente: Arme Soldaten werden "zu Pascha's, oder niedrige Schreiber zu Effendi's";78 Bürgerliche werden geadelt und Gefangene werden zu Fürsten; aus Dorfmusikanten werden begnadete Künstler; und Sterbende - der alte Bettler in Waldröschen zum Beispiel79 - schauen die Herrlichkeit Gottes.


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   Das Gleichnis vom 'verlorenen Sohn' (Lk 15, 11 ff.) ist nicht nur der Titel des dritten Münchmeyerromans; es ermöglicht "auch einen Zugang zum Erzählwerk Mays überhaupt".80 In den Kolportagewerken werden Bibelstellen zwar relativ selten zitiert; aber indirekte Zitate, messianische Zeichen, alt- und neutestamentliche Motive (die im Gleichnis vom verlorenen Sohn kulminieren), bestimmen die wichtigsten Episoden in den fünf Riesenromanen: Fesseln werden gelöst und Kerker geöffnet; die Sonne leuchtet für die, die im Finsteren sitzen und im Schatten des Todes; Weinende werden getröstet und Letzte werden zu Ersten; 'frommen' Heuchlern wird die Maske entrissen; Stolze werden erniedrigt und Kleine erhöht; Unheilbare finden den richtigen Arzt, der sie rettet; Blinde sehen, Lahme - durch giftige Mittel Gelähmte - gehen und Getrennte finden sich wieder; die Schuld der Väter, der Nachkommen Adams, wird "abgetragen";81 den Sündern wird Vergebung zuteil82 und den Ärmsten wird, nach entsetzlicher Pein und schrecklichen Martern, die gute Nachricht verkündet: ihr seid nun erlöst.

   Den prophetischen Heilsvisionen und der Botschaft Christi vom, in Jesus selbst, schon gekommenen Gottesreich (Lk 4, 16-21) sind diese Szenen nachgebildet: 'Leben-Jesu-Romane' sind die Mayschen Kolportagewerke zwar nicht; aber die Helden, Karl Sternau besonders, erscheinen als - freilich kriegerische, zum Gebrauch der Waffen bereite - "Doppelgänger Christi";83 sie sind, präziser gesagt, die Boten des Herrn, die selbst der Erlösung bedürfen, die dem Irdischen noch durchaus verhaftet sind, denen aber die Vollmacht gegeben ist, große Zeichen zu tun: 'in neuen (zärtlichen) Sprachen' zu reden, die Dämonen zu vertreiben, das Giftige zu entgiften und die Kranken zu heilen (vgl. Mk 16, 17f.).

   Und die humoristischen Einlagen, die Zoten, der Spott, der Sarkasmus? Unterlaufen die - in den Münchmeyerromanen oft sehr gelungenen - komisch-ironischen Szenen84 das hehre Konzept, zerstören sie die metaphysische Grundstruktur der Romane? Auch die Schelmerei hat einen tieferen Sinn. Der Spaß lockert auf, die Ironie wirkt befreiend und die Satire entlarvend:85 Die jetzigen, trostlosen Verhältnisse werden - wie in Mays Humoresken86 - durchschaut in ihrer Vorläufigkeit. Die Henker und Wucherer, die Schwindler und Lüstlinge, sie alle werden blamiert. Und das Lachen nimmt vorweg, was später dann kommen wird: die herrliche Welt, das Leben in Fülle.

   Kein Zweifel: 'Ardistan' und 'Dschinnistan',87 die literarisch und theologisch bedeutenden Spätwerk-Motive, sind - mit den Ausdrucksmitteln. der Kolportage - in den Münchmeyerromanen schon vorgebildet. Auch die Kolportagehefte sind Übungen, Entwürfe für Größeres, das Karl May schon damals im Sinn hatte. Bei allem Störenden, bei aller Nähe zum Absurden und Reißerischen, zum Kitschigen und Rührseligen, sind sie die Vorbereitung für künftige Dichtung: für das Hochland von Dschinnistan, für das Reich des Friedens und der wiedergefundenen Liebe.

   Der Dichter selbst sah, in den Altersjahren, seine Heftchenromane differenziert. Er dachte an diese Werke "nicht ohne Genugtuung" und "nicht ohne tiefe Beschämung".88 Was den Stil, die trivialen Klischees und die sprachliche Disziplin, betrifft, gehören die Lieferungswerke zu den kuriosesten Schriften des Autors. Insofern: ein Grund zur "Beschämung"! Einen, der Aussage nach, guten Kolportageroman verfassen zu können, ist jedoch "keine Schande, sondern eine Ehre",89 meinte der Schriftsteller in der Dresdner Justizzeitung (1905). Insofern: ein Grund zur "Genugtuung" für Karl May!

   Die 'Trivialliteratur', die er selbst überwunden hatte, lehnte der Dichter nie grundsätzlich ab. Noch in der Selbstbiographie mahnt er seine Kollegen:


Schreiben wir nicht wie die Langweiligen, die man nicht liest, sondern schreiben wir wie die Schundschriftsteller, die es verstehen, Hunderttausende und Millionen Abonnenten zu machen!


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Aber unsere Sujets sollen edel sein, so edel, wie unsere Zwecke und Ziele. Schreibt für die große Seele!90


   Unter dem Decknamen des Oberlehrers Franz Langer hat May seine Kolportagezeit verteidigt. Er gibt zu bedenken:


Wenn man doch endlich einmal einsehen wollte, daß die Schundschriftsteller und Schundverleger nur darum so riesige Erfolge erzielen, weil sie sich nicht an den Kopf, sondern an das Herz [...] des Lesers wenden! Das Volk, besonders aber die Jugend, hungert nach Idealen. Die auf die Seite Geschobenen, die Kinder der Armut, die Söhne und Töchter der Arbeit und Sorge [...] wollen WENIGSTENS LESEN, daß das Glück, nach dem sie sich vergeblich sehnen, wirklich vorhanden ist. Das Leben bietet ihnen nur Arbeit, Mühe und Plage, weiter nichts. Die höheren Güter, die sie früher besaßen, die hat man ihnen genommen. Der Glaube ist weg. Das Gottvertrauen verschwand. Der Herzensfriede ging verloren. Es gibt keine Ewigkeit, keinen Himmel, keine Seligkeit mehr. Alle diese Dinge wurden ihnen so gründlich wie möglich verleidet. Es gibt überhaupt kein Glück, weder oben im Himmel noch unten auf Erden! Oder dennoch? Wäre es möglich? Die Seele hält noch einen Rest von Hoffnung fest. Da kommt der Kolporteur. Er sagt: "Ja, es gibt noch ein Glück, noch viel Glück. Ich bringe es Dir. Hier, lies!"91


   Nur Utopie, nur Illusion und sonst weiter nichts? Karl May hat eine ERFAHRUNG gemacht: Es gibt ein Licht auch im Dunkel, ein Erbarmen auch hinter den Mauern, eine Vergebung für den reuigen Sünder. Das Erlebnis der Rettung, die Verwandlung der Todesnacht in die 'Weih-nacht', wollte der Schriftsteller weitervermitteln, wollte er - auch in den Münchmeyerromanen - mit-teilen an seine Leser:


"Darum gilt auch Dir die Freude,
Die uns widerfahren ist;
Denn geboren wurde heute
Auch Dein Heiland, Jesus Christ!"92


   Was Roxin zu den Reiseerzählungen Karl Mays bemerkte, gilt für die Münchmeyerhefte genauso: Angesichts des Unglücks, der Schmerzen und der Verzweiflung einer geschundenen Kreatur halten sie "das Bewußtsein für andere Möglichkeiten" offen; sie lassen nicht vergessen, "wessen der Mensch neben Lohn und Brot sonst noch bedarf"; diese Erinnerung wachzuhalten, "ist eine gesellschaftlich durchaus wichtige Aufgabe von Literatur".93


7.9.5

'Erotische' Szenen


Im Jahre 1887 hat Karl May seinen fünften und letzten Kolportageroman (Der Weg zum Glück) beendet. Einen sechsten Roman (Delilah)94 begann er und ließ ihn dann liegen. Er machte nach fünfjähriger 'Fron'-Arbeit "Schluß"95 mit seiner Tätigkeit für den Münchmeyer-Verlag. Doch das Nachspiel war böse!

   Mays Kolportageromane wurden, für heutige Maßstäbe völlig unverständlich, als 'unsittlich' verdächtigt. Schon gleich nach Erscheinen wurden das Waldröschen, Die Liebe des Ulanen und Der verlorene Sohn vom "Feilbieten im Umherziehen" ausgeschlossen.96 Und mit Datum vom 7. Juni 1887 fand sich im Index des Königlich Sächsischen Gendarmerieblattes auch "Der Weg zum Glück [...] Heft 1-10 (240 Seiten)".97

   Nach der Jahrhundertwende bekam der Schriftsteller den größten Ärger mit seinen Kolportageromanen. 'Abgrundtief unsittliche' Stellen hielt mm ihm vor!98 Der Vorwurf ist gänzlich unhaltbar: Mays Liebesszenen sind harmlos, zum Teil eher kitschig, zum Teil auch schön und ergreifend. Sexuelles wird tabuisiert oder allenfalls angedeutet - behutsam und zart. Mit Pornographie haben diese Romane überhaupt nichts zu tun.

   Gewiß, es gibt auch Szenen wie diese:


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Da stand sie nun, [...] vor Scham bebend und doch stolz wie eine Fürstin. Das durchsichtige Gewand ließ ihre ganze Gestalt erkennen. Denn das blendend weiße Fleisch der vollen, üppigen Formen leuchtete durch die feinen Maschen [...] Nun befühlte der Herrscher die Arme und Schenkel, die Schultern und den Busen; er betrachtete die feinen Hände und die nackten Füßchen.99


   Von schmachtenden Jünglingen, erblühenden Mädchen und "wogenden Busen" ist öfter die Rede; aber Partien wie die eben zitierte haben in den Kolportagewerken Mays einen Seltenheitswert. Außerdem ist klar zu ersehen: Das Treiben seiner Lüstlingsfiguren mißbilligt der Autor entschieden!

   Um so merkwürdiger ist die Art, wie May die Beschuldigungen zurückwies: Anstatt die moralische Unbedenklichkeit auch seiner Lieferungshefte zu unterstreichen, bestritt er - in wichtigen Punkten - die Authentizität der gedruckten Romantexte:


Nehme ich meine damalige Arbeit jetzt in die Hand, so erkenne ich sie kaum wieder. Das ist nicht jener wohlbedacht artikulierte Leib, in welchem meine Seele zum Leser sprechen sollte [...] Sondern das ist ein formlos dicker Rumpf, von ordinären Genüssen aufgeschwollen, mit verkrüppelten Armen und Beinen [...] Sinnlichkeit und nichts als Sinnlichkeit, wohin ich nur schaue! Pfui! Und dieser Kerl soll ich sein? [...] Und wie konnte sich die schlanke, kräftige, zwar auch nicht sündenlose Menschlichkeit, die ich gezeichnet habe, in eine so feiste, schwammige, nach Ehebruch lüsterne Abscheulichkeit verwandeln, wie ich sie hier zu sehen bekomme! Wer hat meine wohlabgemessenen Worte in Klumpen zusammengeballt, meine leichtfliessenden Sätze in hässlich breite, langsam vorwärtskriechende Krötenleiber verwandelt? [...] Die Anlage stammt von mir, der Bau, die Disposition, die Gliederung [...] aber von Schritt zu Schritt bemerke ich mehr und mehr, dass sich fremde Geister in dieses Werk geschlichen haben. Ich stosse auf Fäden, die ich nicht kenne, auf Spuren, die nicht von meiner Psyche, sondern von anderen Seelen stammen. Ich entdecke Münchmeyers wohlbekannte Stapfen und höre seine Schritte förmlich hallen. Sein rührseliges Schluchzen. Sein halblautes, verliebtes Lächeln. Das Tätscheln frischer Wangen. Die satte Deutlichkeit in der Beschreibung weiblicher Reize. Redewendungen, die nur ihm allein eigen waren.100


   Korrekturfahnen wurden May gar nicht vorgelegt. Das war ihm recht; denn zur Lektüre hatte er "keine Zeit".101 Auch Belegbögen von Erstausgaben hat er wohl nicht gelesen.102 Später konnte er die Druckwerke mit seinen (inzwischen vernichteten) Manuskripten nicht mehr vergleichen. In seiner Kampfschrift Ein Schundverlag (1905) behauptet er allerdings:


Es wurde mir einmal gesagt, dass Münchmeyer riesig ändere. Da ging ich hinein, liess mir den letzten Druck und das letzte Manuskript geben und schaute nach. Da entdeckte ich nun freilich derartige Veränderungen, dass ich drohte, sofort mit Schreiben aufzuhören, falls das nur noch ein einziges Mal vorkomme. Er versprach hoch und teuer, es nicht wieder zu tun, weder selbst, noch von anderen tun zu lassen.103


   Ob diese Darstellung zutrifft, ist kaum zu entscheiden. Interessant ist aber ein May-Text, dessen Entstehung - gerade noch - in die Kolportagezeit unseres Autors fällt. Der Passus findet sich in Mays Jugenderzählung Der Sohn des Bärenjägers (1887): Der bekannte Lügenbaron hat, wie Hobble-Frank zu berichten weiß, nicht Münchhausen, sondern Münchmeyer geheißen. "Een Münch, der andere bemeiert, kann eben nur Münchmeier heeßen."104 Was meint Karl May? Die Täuschungsmanöver des Verlagsbesitzers bei den Polizeiaktionen um 1875?105 Oder - vielleicht doch - auch gewisse Textmanipulationen durch Münchmeyer?

   Daß Mays Handschriften wirklich verändert wurden, ist keineswegs auszuschließen. Ein Kolporteur sucht das Sensationelle. Er übertreibt, unterschlägt, lügt hinzu und bringt es unter die Leute. So kann es Münchmeyer bzw. sein "Hauptfaktotum" August Walther106 auch mit den Manuskripten Karl Mays gemacht haben.

   Eingriffe durch die Redaktion wurden vom Münchmeyer-Nachfolger Adalbert Fischer im Jahre 1901 bestritten, dann aber (1903) zugegeben. Endgültig bewiesen ist freilich nichts.107 Daß der Schriftsteller Paul Staberow, im Auftrage Fischers, zwei Maysche


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Kolportageromane (in den Jahren 1900ff.) bearbeitet hat, steht zwar fest;108 aber ob schon Münchmeyer die Texte verändert hat, ist - trotz der Bestätigung durch Fischer - nicht restlos geklärt. OB geändert wurde, WIEVIEL gestrichen oder erweitert wurde und WELCHE Passagen manipuliert wurden, läßt sich nicht mit Gewißheit ermitteln.109 Die Manuskripte sind verschwunden; der Verlag wird sie vernichtet haben.

   Am wahrscheinlichsten dürfte die folgende Hypothese sein: Münchmeyer oder seine Mitarbeiter haben die May-Texte tatsächlich 'korrigiert', aber wohl nicht in dem Ausmaß, das der Dichter dann später unterstellt (und vermutlich, aufgrund einer Selbsttäuschung, auch wirklich angenommen) hat. Wie auch immer: selbst in der Form, wie sie bei Münchmeyer gedruckt wurden, sind Mays Romane - unter künstlerischen Aspekten - zwar nicht von der feinsten Art; doch schlüpfrig und 'unsittlich' sind sie nicht. Aber der VORWURF der 'Unsittlichkeit' hat den Dichter zutiefst getroffen und in seinem öffentlichen Ansehen aufs schwerste geschädigt. Der Autor mußte sich wehren. Und die Prüderie seiner Angreifer könnte sich, im Zuge der Selbstverteidigung, übertragen haben auf May (der im Alter ohnehin zur 'mystischen', rein geistigen und geistlichen Liebe tendierte) -so daß er zu seinen Kolportageromanen, den 'erotischen' Stellen, nicht mehr stehen konnte!

   Gernot Kunze hat wohl nicht völlig unrecht: In der Stickluft einer von Enge beherrschten geistigen Atmosphäre mußte der Schriftsteller "mit den Wölfen heulen und seinerseits das Banner der Sittlichkeit möglichst hoch halten, z. B. indem er Hermann Cardauns110 in der Beurteilung der 'abgrundtiefen Unsittlichkeit' der Münchmeyer-Romane noch zu übertreffen versuchte.



Anmerkungen


1Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 59.
2Ebd.
3Claus Roxin: Einführung. In: Karl May: Die Todes-Karavane - In Damaskus und Baalbeck - Stambul - Der letzte Ritt. 'Deutscher Hausschatz' 8./9. Jg. (1881-83) bzw. 11./12. Jg. (1884-86). Reprint der KMG. Hamburg, Regensburg 1978, S. 2-6 (S. 3).
4Vgl. Gerhard Klußmeier: H.G. Münchmeyer in Hamburg und anderswo. In: Neues vom "Waldröschen" und seinem Verleger Münchmeyer. SKMG Nr. 31 (1981), S. 12-20.
5Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg 1910. Hrsg. von Hainer Plaul. Hildesheim, New York 21982, S. 178.
6Vgl. oben, S. 149.
7May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 5, S. 200.
8Vgl. Karl May: Frau Pollmer - eine psychologische Studie (1907). Prozeßschriften, Bd. 1. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1982, S. 831f. - Ders.: Mein Leben und Streben, wie Anm. 5, S. 198ff.
9In den Nachdrucken hieß es 'Verfolgung' anstelle von 'Rächerjagd'.
10Dieser Roman entspricht den Bänden 51-55 (Schloß Rodriganda usw.) der Bamberger Ausgabe. Die Fassung des Karl-May-Verlags ist jedoch, im Vergleich zum Originaltext, verkürzt und abgeändert.
11Vgl. Klaus Hoffmann: Nachwort zum Faksimile-Druck des Waldröschen. Hildesheim, New York 1971, S. 2619-2686 (S. 2623).
12May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 5, S. 201.
13Ebd.
14Ebd.
15Nach Claus Roxin: Mays Leben. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 62-123 (S. 95).
16May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 5, S. 202.


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17Heinz Stolte: 'Waldröschen' als Weltbild. Zur Ästhetik der Kolportage. In: JbKMG 1971, S. 17-38 (S. 17).
18Karl Guntermann: Der 'Waldröschen'-Nachdruck des Olms-Verlags. In: Karl Mays Waldröschen. Ein Kolportageroman des 19. Jahrhunderts. SKMG Nr. 1 (1972), S. 17-26 (S. 23).
19Gert Ueding: (Werkartikel zu) Das Waldröschen. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 15, S. 380-389 (S. 388) - Zur Kritik: Volker Klotz: Machart und Weltanschauung eines Kolportagereißers. Karl Mays "Das Waldröschen". In: Karl May. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. Sonderband Text + Kritik. München 1987, S. 60-89.
20Münchmeyer hatte, wahrscheinlich ohne Wissen des Autors, alle Übersetzungsrechte für das Waldröschen an den Wiener Verleger Josef Rubinstein verkauft. - Vgl. Hoffmann: Nachwort, wie Anm. 11, S. 2624 - Christian Heermann: Der Mann, der Old Shatterhand war. Eine Karl-May-Biographie. Berlin 1988, S. 367 (Anm. 12) - Klaus-Peter Heuer: Rosetta delle Selve - Das italienische "Waldröschen". In: MKMG 86 (1990), S. 14-18.
21Guntermann, wie Anm. 18, S. 23.
22Nach Ueding: Waldröschen, wie Anm. 19, S. 380.
23Nach Roxin: Mays Leben, wie Anm. 15, S. 96.
24Diese Romane entsprechen den - gekürzten und gegenüber den ursprünglichen Texten veränderten - Bänden 56-59 (Der Weg nach Waterloo usw.), 64-65 u. 74-75 (Das Buschgespenst usw.), 60-63 (Allah il Allah usw.) und 66-68 u. 73 (Der Peitschenmüller usw.) der Ausgabe des Karl-May-Verlags Bamberg.
25Nach Hoffmann: Nachwort, wie Anm. 11, S. 2620f.
26Dieser Roman erschien in der Münchmeyer-Zeitschrift 'Der Wanderer'; da dieses Journal kein Kolportageblatt im engem Sinne war, sah May wohl keinen Grund zur Pseudonymität. - Als Reprint der Erstveröffentlichug hat der Karl-May-Verlag Die Liebe der Ulanen neu herausgebracht (Bamberg 1993).
27Belegt bei Heermann, wie Anm. 20, S. 170.
28Hervorhebung von mir.
29Vgl. May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 5, S. 243.
30Roxin: Mays Leben, wie Anm. 15, S. 96.
31May: Frau Pollmer, wie Anm. 8, S. 831.
32Wie Anm. 8.
33Roxin: Einführung, wie Anm. 3, S. 3.
34Ebd.
35Nach Fritz Maschke: Karl May und Emma Pollmer. Die Geschichte einer Ehe. Beiträge zur Karl-May-Forschung 3. Bamberg 1973, S. 45.
36Roxin: Einführung, wie Anm. 3, S. 3.
37Vgl. die Literaturangaben bei Martin Lowsky: Karl May. Stuttgart 1987, S. 48-51.
38Wollschläger, wie Anm. 1, S. 64 - Ähnlich Arno Schmidt: Abu Kital. Vom neuen Großmystiker. In: Dya Na Sore. Gespräche in einer Bibliothek. Karlsruhe 1958; hier zit. nach Helmut Schmiedt (Hrsg.): Karl May. Frankfurt/M. 1983, S. 45-74 (S. 53).
39Daß Mays Kolportageromane auch subtile Formulierungen enthalten, zeigt z.B. Helmut Schmiedt: Die Thränen Richard Wagners oder Der Sinn des Unsinns. Thesen zu einem Konstruktionsprinzip in Karl Mays Kolportageromanen. In: Schmiedt (Hrsg.), wie Anm. 38, S. 229-244.
40Lowsky, wie Anm. 37, S. 45 - Vgl. Heermann, wie Anm. 20, S. 165-175.
41Gerhard Klußmeier: Vorwort (nicht paginiert) zu Karl May: Waldröschen oder Die Rächerjagd rund um die Erde. Leipzig 1988 (Reprint des Dresdner Erstsatzes von 1882-84).
42Vgl. Friedhelm Munzel: Karl Mays Erfolgsroman "Das Waldröschen". Eine didaktische Untersuchung als Beitrag zur Trivialliteratur der Wilhelminischen Zeit und der Gegenwart. Hildesheim, New York 1979, S. 238f. - Ueding: Waldröschen, wie Anm. 19, S. 385ff.
43Otto Forst-Battaglia: Karl May. Traum eines Lebens - Leben eines Träumers. Beiträge zur Karl-May-Forschung 1. Bamberg 1966, S. 62.
44Als Quelle für die Mexiko-Teile des Waldröschens benutzte May unter anderem die historische Darstellung Johannes Scherrs (Das Trauerspiel in Mexiko, Leipzig 1868), der er "oft nahezu wörtlich folgt" (Ueding: Waldröschen, wie Anm. 19, S. 381).
45Vgl. z.B. May: Waldröschen, wie Anm. 41, S. 864 u. 924: Sternau erschießt - mit dem Henrystutzen - bedenkenlos viele Piraten bzw. Briganten! Old Shatterhand hätte das nicht getan!


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46Vgl. Gerhard Linkemeyer: Karl Mays "Vater Blücher". In: MKMG 85 (1990), S. 3-10.
47Heermann, wie Anm. 20, S. 171.
48Claus Roxin: 'Die Liebe des Ulanen' im Urtext. In: MKMG 14 (1972), S. 23-26 (S. 25).
49Ein Kapitel des Romans ist mit diesem Titel überschrieben.
50Klaus Hoffmann: (Werkartikel zu) Der verlorene Sohn. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 15, S. 397-404 (S. 400).
51Walther Ilmer: (Werkartikel zu) Deutsche Herzen, Deutsche Helden. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 15, S. 404-410 (S. 408).
52Vgl. oben, S. 150f.
53Walther Ilmer in einem Brief vom 15.11.1989 an den Verfasser.
54Heermann, wie Anm. 20, S. 174.
55Klaus Hoffmann: (Werkartikel zu) Der Weg zum Glück. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 15, S. 410-418 (S. 418). - Eine relativ positive Wertung von Der Weg zum Glück findet sich z.B. bei Walther Ilmer: Karl May - Mensch und Schriftsteller. Tragik und Triumph. Husum 1992, S. 101.
56Vgl. unten, S. 268ff.
57Gerhard Klußmeier - Hainer Plaul (Hrsg.): Karl May. Biographie in Dokumenten und Bildern. Hildesheim, New York 1978, S. 91.
58May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 5, S. 205.
59Vgl. Maschke, wie Anm. 35, S. 34.
60Engelbert Botschen: Die Banda Oriental - ein Umweg zur Erlösung. In: JbKMG 1979, S. 186-212 (S. 188).
61Dazu Gert Ueding: Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch und Kolportage. Frankfurt/M. 1973.
62Vgl. unten, S. 200ff.
63May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 5, S. 204.
64Vgl. auch Ueding: Glanzvolles Elend, wie Anm. 61, S. 122-129.
65Vgl. Stefan Schmatz: Karl Mays politisches Weltbild. Ein Proletarier zwischen Liberalismus und Konservativismus. SKMG Nr. 86 (1991).
66Heermann, wie Anm. 20, S. 156.
67Ebd.
68May: Waldröschen, wie Anm. 41, S. 743.
69Ueding: Waldröschen, wie Anm. 19, S. 388.
70Vgl. Walter Schönthal: Christliche Religion und Weltreligionen in Karl Mays Leben und Werk. SKMG Nr. 5 (1976), S. 37ff. - Ernst Seybold: Karl-May-Gratulationen. Geistliche und andere Texte zu und von Karl May. Ergersheim 1987, S. 79 (Anm. 20).
71Claus Roxin: Stimmen zum ersten Band des "Waldröschen"-Nachdrucks. In: MKMG 3 (1970), S. 13-16 (S. 14).
72Wiltrud Ohlig: Karl May hat das "Fegefeuer" aufgewertet. Eine Betrachtung. In: MKMG 67 (1986), S. 17f. (S. 18).
73May: Waldröschen, wie Anm. 41, S. 190-213: Der unscheinbare Pater ist hier der eigentlich Mächtige, nicht der Superheld Karl Sternau!
74Karl May: Deutsche Herzen, Deutsche Helden. Bamberg 1976 (Reprint der Dresdner Erstausgabe von 1885-87), S. 166.
75Vgl. oben, S. 118ff.
76May: Waldröschen, wie Anm. 41, S. 132.
77May: Deutsche Herzen, wie Anm. 74, S. 74.
78Ebd., S. 523.
79May: Waldröschen, wie Anm. 41, S. 35-45.
80Christoph F. Lorenz: Nachwort. In: Karl May's Gesammelte Werke, Bd. 74: Der verlorene Sohn. Bamberg 1985, S. 424-432 (S. 426). - Vgl. Heinz Stolte: Karl May und alle seine verlorenen Söhne. In: JbKMG 1992, S. 10-33.
81Vgl. z.B. May: Deutsche Herzen, wie Anm. 74, S. 1479: "Mein lieber, lieber Vater, wenn Du es erfährst, wirst Du zufrieden sein mit Deinem Sohne. Bald, bald wird Deine Schuld glänzend abgetragen sein!" (Auch die Schuld des Vaters Heinrich May ist hier mitgemeint!) - In seinem Spätwerk, besonders in Ardistan und Dschinnistan (vgl. unten, S. 696ff.), hat May dieses Motiv in großartiger Weise weiterentwickelt.


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82Vgl. z.B. Karl May: Der verlorene Sohn oder Der Fürst des Elends. Hildesheim, New York 1971f. (Reprint der Dresdner Erstausgabe von 1884-86), S. 1956: Zwei Toten, dem Leutnant von Scharfenberg und dessen Vater, wird die Vergebung ins Jenseits nachgesandt. - Überhaupt ist die Schuldvergebung, meist schon auf Erden, ein häufiges Motiv in Mays Kolportageromanen (und in seinem Gesamtwerk).
83Gert Ueding: Die Rückkehr des Fremden. Spuren der anderen Weit in Karl Mays Werk. In: JbKMG 1982, S. 15-39 (S. 36).
84Zum Teil gegen Schmiedt: Thränen, wie Anm. 39, S. 240, sieht Heinz Stolte: Narren, Clowns und Harlekine. Komik und Humor bei Karl May. In: JbKMG 1982, S. 40-59 (S. 44), auch in den Kolportagewerken Mays eine echte, gelungene Komik.
85Forst-Battaglia, wie Anm. 43, S. 94, entdeckt im Waldröschen eine "grimmige Satire auf zeitgenössische Zustände". - Auf die Nähe zur Parodie, die allerdings nicht der entscheidende Aspekt sei, verweist auch Schmiedt: Thränen, wie Anm. 39, S. 242.
86Vgl. oben, S. 143f.
87Vgl. unten, S. 503ff. u. 682ff.
88May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 5, S. 204.
89Aus einem Brief Mays vom 5.4.1905 an die Redaktion von 'Der Beobachter und Dresdner Justizzeitung'; zit. nach Hoffmann: Nachwort, wie Anm. 11, S. 2619.
90May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 5, S. 227.
91Franz Langer (= Karl May): Die Schund- und Giftliteratur und Karl May, ihr unerbittlicher Gegner. In: Augsburger Postzeitung Nr. 160 (20.7.1909), zit. nach: Schriften zu Karl May. Materialien zur Karl-May-Forschung, Bd. 2. Ubstadt 1975, S. 199-218 (S. 204f.).
92May: Der verlorene Sohn, wie Anm. 82, S. 454 - Vgl. oben, S. 100ff.
93Claus Roxin: Karl May, das Strafrecht und die Literatur. In: JbKMG 1978, S. 9-36 (S. 29).
94Bei den zivilrechtlichen Auseinandersetzungen im letzten Lebensjahrzehnt Karl Mays spielte das Delilah-Manuskript eine Rolle. - Vgl. unten, S. 397.
95May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 5, S. 207. - Die näheren Umstände dieser zweiten und endgültigen Trennung von Münchmeyer sind leider nicht bekannt; vgl. Ilmer: Mensch und Schriftsteller, wie Anm. 55, S. 102f.
96Vgl. Hoffmann: Der verlorene Sohn, wie Anm. 50, S. 397.
97Faksimile-Wiedergabe bei Klußmeier - Plaul (Hrsg.), wie Anm. 57, S. 100.
98Vgl. unten, S. 393ff.
99May: Waldröschen, wie Anm. 41, S. 1323.
100Karl May: Ein Schundverlag. Ein Schundverlag und seine Helfershelfer (1905 bzw. 1909). Prozeßschriften, Bd. 2. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1982, S. 375ff.
101May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 5, S. 202.
102In Mays Nachlaß fanden sich Belegbögen der Waldröschen-Erstausgabe in größtenteils unaufgeschnittenem Zustand (nach JbKMG 1990, S. 286, Anm. 34).
103May: Ein Schundverlag, wie Anm. 100, S. 352.
104Karl May: Der Sohn des Bärenjägers. In: Der Gute Kamerad, Spemanns Illustrierte Knabenzeitung. 1. Jg. 1887, S. 315 (in der späteren Buchausgabe wurde dieser Passus gestrichen) -Vgl. Wilhelm Vinzenz: Die zweite Bärengeschichte. In: MKMG 28 (1976), S. 23f.
105Diese Ansicht vertritt Gernot Kunze: Einführung. In: Karl May: Das Buch der Liebe. Dresden 1875/76. Reprint der KMG. Bd. 11 (Kommentarband). Hrsg. von Gernot Kunze. Regensburg 1988/89, S. 7-50 (S. 18).
106Vgl. May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 5, S. 237.
107Nach Wollschläger, wie Anm. 1, S. 67.
108Vgl. unten, S. 393.
109Interessant ist freilich der Hinweis bei Hoffmann: Nachwort, wie Anm. 11, S. 2665: "Mays Schreibweise ist gekennzeichnet durch die eingehende Charakterisierung der handelnden Personen. Auch die weiblichen Figuren hat er durchaus 'plastisch' beschrieben. Diese allerdings flüchtige Skizzierung der weiblichen Reize bot die Möglichkeit zur Interpolation, um deren Aussage erotisch zu verstärken. Karl Mays Darstellung verleitete dazu wie kaum der Text eines anderen Autors. Die Verlegung von ganzen Handlungsabschnitten in den Bereich des sittlich Anstößigen (Verlorener Sohn: Bordellszene) leistete dem Bearbeiter weiteren Vorschub."
110Vgl. unten, S. 393f.
111Kunze, wie Anm. 105, S. 33.




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