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8.4

Mays Bestseller-Romane bis 1896:Unterhaltungslektüre für kleine Buben?


In erster Linie seinen Bestseller-Romanen bis 1896 verdankt Karl May das Etikett 'Jugendschriftsteller' und das Stigma 'Trivialliterat'. Zu Recht? Viele Einzelmotive in diesen Werken sind der kindlichen Vorstellungswelt entnommen.1 Nicht nur die, bewußt für die Jugend geschriebenen, 'Union'-Bände Mays, sondern ebenso seine Reiseerzählungen (bei Pustet und Fehsenfeld) sind Jugendliteratur.2 Aber auch Erwachsene können sie lesen - mit Lust, mit Betroffenheit, mit Gewinn an tieferer Einsicht.3

   Schon im Jahre 1899 belief sich die Gesamtauflage der May-Bücher auf 722.000 Exemplare.4 Bis 1975 etwa hat der Schriftsteller, nach Schätzungen und Berechnungen, allein im deutschsprachigen Raum ca. 175 Millionen Leser gefunden:5 weil er Freude, weil er Vergnügen bescherte. Und weil er die Seele, das Innerste und Tiefste seiner Leser berührte. Junge und Alte, sehr verschiedenartige Menschen mit unterschiedlichem Bildungsgrad, mit unterschiedlicher Denkrichtung und ungleichem psychischen Habitus konnten berichten, was May ihnen gegeben hat.6

   Nicht die hochliterarischen Spätwerke Karl Mays, sondern seine vermeintlich so schlichten und leicht zu verstehenden Abenteuerromane haben die Massen erreicht. Den äußerst komplizierten Silberlöwen III/IV (1902/03) werden Jugendliche - und Erwachsene, die von May nur Unterhaltung erwarten - spätestens nach der Lektüre von 200 Seiten enttäuscht in die Ecke stellen. Auch Mays bedeutendstes Werk Ardistan und Dschinnistan (1907-09) lesen, mit Verstand, nur wenige. Winnetou aber kennt, und sei es nur übers Fernsehen, nahezu jeder. Auch Durch die Wüste, Der Schut, Der Schatz im Silbersee, Im Lande des Mahdi usw. sind heute noch populär.

   Die Gründe für Mays Erfolg, bei jungen und naiven Lesern speziell, sind nicht schwer zu erkennen. Das 'Ich' (in den Reiseerzählungen) fasziniert - wie Harun al Raschid in Tausendundeine Nacht. Der Hauch des Exotischen, die märchenhafte Verkleidung verleihen einen besonderen Reiz. Der Stil wirkt einfach und anspruchslos, für Konsumenten natürlich eine Erleichterung. Die Handlung ist unwahrscheinlich, dafür um so spannender. Die Schauplätze, die er Autor gar nicht gesehen hat, werden plastisch und - aufgrund der Quellen, die der Schriftsteller benutzte - in der Regel authentisch7 geschildert. Die Namen von Orten und Landschaften klingen verlockend im Ohr. Der Schott el Dscherid, das wilde Kurdistan, die Traumstädte Bagdad und Stambul, die Schluchten des Balkan, die Wüste Mapimi, der Llano estacado, der Yellowstone-Park, die Rocky Mountains - jedem May-Leser sind sie vertraut. Auch die Waffen, die 'Wundergewehre', erfreuen das kindliche Herz. Die Silberbüchse des Häuptlings, den Henrystutzen und den Bärentöter Old Shatterhands - jeder Schuljunge kennt sie. Und die Tiere, die Wunderrappen Hatatitla und Iltschi und Rih! Sie tragen die Helden, zusammen mit den Lesern, in eine andere Welt - in die "Fluchtlandschaften"8 des Orients und des Wilden Westens.

   Erfolg hatte der Mythendichter vor allem mit seinen bunten Figuren. Die Helden, ihre Gefährten und Widersacher prägen sich ein in die Psyche des jungen Lesers. Carl Zuckmayer, der seiner Tochter den Namen 'Winnetou' gab, verleugnet es nicht: "Karl Mays Gestalten begleiten uns wahrhaftig durchs Leben, als hätten wir mit ihnen gelebt; sie sind keine Schatten für uns, sondern Wirklichkeiten, wir werden sie nie vergessen, und sie werden uns immer treu bleiben."9


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   Durch ihre Kostüme, ihre vornehmen oder grotesken Gewänder, sind sie schon typisiert: die Edelindianer und Wüstenscheiks, die listigen Trapper und verschrobenen Käuze, die eingebildeten Paschas und korrupten Gesetzesverdreher. Auch die großen Verbrecher sind, bis auf wenige Ausnahmen (wie Murad Nassyr in Mahdi), sofort als solche erkennbar; ihr stechender Blick, ihr böses Gesicht verraten sie gleich von Anfang an.

   Mays Phantasiegestalten sind, so wird oft gesagt,10 nur gut oder böse. Ihre Charaktere erscheinen klar, eindeutig und unkompliziert: wie Schablonen, wie Holzschnittfiguren im Marionettentheater. Gerade diese "Vereinfachung ist es, die dem Dichter das rasche Verständnis, die drangvolle Anteilnahme seiner Leser sichert."11 Zwar gibt es auch in den Bestsellerromanen bis 1896 differenzierte Charakterzeichnungen; aber die Schwarz-Weiß-Malerei dominiert. Sie wird, vom reiferen Leser, mit einigem Recht kritisiert. Doch der Naive liebt "solche Werke, wo reinlich zwischen Engeln und Teufeln geschieden ist. Er weiß dann genau und bequem, mit wem er zu sympathisieren hat. Charaktere, die aus guten und schlechten Elementen zusammengesetzt sind, mag er nicht."12

   Kein Wunder: Die 'ernsthafte', dem Realismus des 19. Jahrhunderts verpflichtete Literaturwissenschaft hat sich mit den Reiseromanen Karl Mays überhaupt nicht befaßt oder hat sie, als 'nichtig', heruntergemacht. 1929 (und auch noch 1962) stellte Ernst Bloch mit Bedauern fest: "Karl May gilt als anrüchige Sache, höchstens als Ulknummer ohne literarischen Wert."13 Prominente, die Mays Erzählungen schätzten - Peter Rosegger, Albert Schweitzer, Heinrich Mann, Ernst Bloch, Carl Zuckmayer, Bert Brecht, Hermann Hesse, Theodor Heuß, Romano Guardini und andere14 -, waren, in ihrer Freude an May, doch die Ausnahmen im Kreise der Literaturkenner.

   Seit Arno Schmidts, in manchen Punkten freilich verfehlten,15 Bemühungen um die May-Exegese wurde der Schriftsteller ernster genommen. Aber auch Schmidt hatte, um einige Spätwerke um so höher zu stellen, Mays Gesamtproduktion bis zur Jahrhundertwende mit einem Killer-Satz abgetan: als "quantité négligeable", die "früher oder später rettungslos verschwinden"16 werde.

   Die umgekehrte Position vertrat der Historiker und Genealoge Otto Forst-Battaglia: In den Reiseerzählungen der achtziger und neunziger Jahre sah er - wie Bloch und manche andere, auch heutige Interpreten - die Bestleistung Mays, in den Altersromanen aber ein verblassendes und kraftloses Greisenwerk.17 Auch dieser Auffassung muß, aufgrund der Textanalysen, widersprochen werden: Den späten wie den früheren Erzählungen Mays kommt, in je eigener Weise, eine nicht zu unterschätzende Würde zu. So verschieden die Denkansätze innerhalb der May-Forschung auch sind, so viel ist heute geklärt: die diffizileren Alterswerke, aber auch die bekannten Reiseerzählungen (und manche frühere Schriften) Mays sind mehrschichtig und verdienen das Interesse auch der Gebildeten.

   Man sah (und sieht) dennoch May weitgehend als Jugendschriftsteller an. Der Autor selbst aber war, im Alter, gegen diese Bezeichnung allergisch. Er verbat es sich dringend, als "Indianer- oder Beduinen-Schriftsteller" betrachtet zu werden," in dessen Büchern das Reiten, Hauen, Schießen, Stechen ec. die Hauptsache ist."18 Nein, seine Werke seien "etwas ganz Anderes als das, wofür man sie zu halten pflegt."19

   Karl May fühlte sich mißverstanden. Im IV. Band des Silberlöwen (1903) meinte der Schriftsteller - als Kara Ben Nemsi zum Ustad, dem Spiegel-Ich des Erzählers:


"Ich schrieb eine Menge Bücher. Ich ließ mein 'Ich' in ihnen sprechen. Ich wurde nicht verstanden. Ich gab das Köstlichste, was es auf Erden giebt, in irdenem Gefäße [...] Es tranken Hunderttausende daraus, doch allen war der Trank nichts als nur Wasser. Die Schale täuschte alle! Ich hatte es den Menschen zu bequem gemacht. Man trank gedankenlos und lachte mich dann aus."20


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   Seine Hoffnung setzte der Dichter auf künftige Leser, die ihn neu entdecken würden: Sie werden "zurück nach jenen Schalen greifen, die man zur Seite stellte. Dann leben meine alten Werke auf. Man wird sie mit ganz andern Augen lesen; die Seele tritt hervor, die tief in ihnen lebt."21

   In der Selbstbiographie erklärte der Autor, daß seine 'Reiseerzählungen' gar keine "Reisearbeiten" seien, "sondern ein ganz anderes, bis jetzt unbebautes Genre bilden sollen."22 Sie seien persönlich erlebt, aber nicht im wörtlichen Sinne:


Ich hatte meine Sujets aus meinem eigenen Leben, aus dem Leben meiner Umgebung, meiner Heimat zu nehmen und konnte darum stets der Wahrheit gemäß behaupten, daß Alles, was ich erzähle, Selbsterlebtes und Miterlebtes sei. Aber ich mußte diese Sujets hinaus in ferne Länder und zu fernen Völkern versetzen, um ihnen diejenige Wirkung zu verleihen, die sie in der heimatlichen Kleidung nicht besitzen.23


   Der Inhalt seiner Geschichten sei - so beteuerte May - rein bildlich gemeint, er bestehe "fast nur aus Gleichnissen";24 "rein deutsche Begebenheiten" habe er "im persischen Gewande"25 erzählt, um sie farbiger und interessanter zu gestalten.

   Solche Sätze klingen erstaunlich. Auf die Schlußbände des Silberlöwen treffen sie zweifellos zu. Aber die Indianerromane mit ihren stereotypen Handlungsstrukturen, ihren Flucht- und Verfolgungs-, ihren Gefangenschafts- und Befreiungsszenen! Sind sie tiefgründiger, sind sie hintersinniger als 'normale' Abenteuergeschichten? Die Landschaftsbeschreibungen mit ihren Prärieen und Wüsten, ihren Oasen und Höhlen, ihren Bergen und Gewässern, ihren Schluchten und Talkesseln - 'symbolisch' sollen sie sein? Eine durchsichtige Ausrede - nachdem sich herausgestellt hatte, daß der 'Weltläufer', entgegen seinen Behauptungen,26 bis 1899 den Orient und bis 1908 Amerika nie gesehen hat?

   Mays nachträgliche Erklärung ist dennoch keine Selbsttäuschung. Der Dichter hatte in einem viel "höheren Maße recht, als die Forschung ihm bislang zugestehen wollte."27 Denn in wichtigen Punkten ist die Interpretation der 'Reiseerzählungen' durch den Autor sehr hilfreich und "buchstäblich wahr".28

   In einer Hinsicht hat May seine Bestseller-Romane sogar noch unterbewertet: wenn er meint, sie seien künstlerisch ohne Bedeutung. "Die künstlerische Kritik braucht sich also mit meinen Reiseerzählungen nicht zu befassen, weil es gar nicht meine Absicht ist, ihnen eine künstlerische Form oder gar Vollendung zu geben."29 In diesem Fall stapelt May eher tief, wie ihm Heinz Stolte bescheinigt.30

   Daß Mays Romane mehr sind als reine Unterhaltungsliteratur, wurde - an Beispielen - bereits erörtert.31 Daß diese Bände nur scheinbar immer dasselbe erzählen, in Wirklichkeit aber jedes Buch seine spezifische, nur ihm allein zukommende Eigenart besitzt, wurde ebenfalls deutlich. Freilich gibt es Strukturen und Elemente, die sich - in je verschiedener Weise - in fast allen May-Bänden wiederholen. Diese werkübergreifenden Merkmale sollen im folgenden erläutert und in ihrem 'Mehrwert' über das spannende Abenteuer hinaus veranschaulicht werden.

   Mays Reiseerzählungen bis 1896 gleichen, wie (mit anderen Stilmitteln und anderen Prioritäten) auch seine übrigen Werke, Vexierbildern mit mehreren Böden. Auf den ersten Blick sieht jeder die Story, die Bewegung im Raum, die fesselnde Handlung. Was die Fabel betrifft, hat May, bis zur Jahrhundertwende, Abenteuergeschichten geschrieben: in einer Tradition, die bis zur Antike zurückreicht und - über die mittelalterlichen Ritter-Epen, über Defoes Robinson, Swifts Gullivers Reisen, Coopers Lederstrumpf, Vulpius' Rinaldo Rinaldini und ähnliche Werke - zu Mays Erzählungen führt.32 Verändert man


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aber den Blickwinkel, so entdeckt man, hinter der abenteuerlichen Fabel, in den Schriften Mays noch ganz anderes:

   Der Sohn des Webers hat (1.) sein ganzes Leben, seine inneren und äußeren Erlebnisse, in die Erzählstoffe verwoben - in zum Teil sehr kunstvoller Manier; er hat (2.) die Tiefe, die Wahrheit der menschlichen Seele gesucht - im Gewand der Märchen, der Träume, der archetypischen Bilder; er hat (3.) im Sinne der "Gleichnisse Christi"33 'gepredigt': die Macht der Reue, die Erlösung von Angst, die Überwindung des Todes, die Heilung des Menschen; und er hat (4.) seinen Geschichten eine politische, eine gesellschaftskritische Relevanz verliehen: sofern sie die, religiös fundierte, 'neue Ordnung' der Liebe literarisch vorwegnehmen.


8.4.1

Biographische Spiegelungen


Nichts, was May schrieb, ist vollkommen. Aber auch nichts ist literarisch ganz wertlos. Und das meiste ist authentisch im Sinne des echten Erlebens.34 Denn in allem gab der Autor sich selbst:


Ich schreibe ein Werk, in dem ich mein inneres Wesen sprechen lasse. Ich lege alles Hässliche hinein, was mich quälte, und alles Schöne und Edle, was mich begeisterte und hob. Ich will ehrlich zeigen, wie ich sank und wie ich stieg, damit alle, die mich lesen, nicht sinken, sondern steigen. Ich gebe meinen Geist und meine ganze Seele hin, genau so, wie ich bin, im Gemüt, im Kopf, im Herzen. Für diese meine innere Persönlichkeit und all ihr Glauben, Hoffen, Lieben, Dulden und Leiden, artikuliere ich den einzig möglichen Körper, in dem sie von anderen Leuten verstanden und begriffen werden kann; er hat die Gestalt eines Romans.35


   Seine Erzählungen hat May, so Walther Ilmer,


als ein Instrument genutzt, sich die aus [...] den Straftäterzeiten herrührenden Qualen aus dem Inneren des Ich herauszuschreiben und auch die jeweils aktuellen, im Lebensverlaufe neu hinzutretenden Problemlasten mit zu verarbeiten [...] Insoweit sind eben die Reise-Erzählungen der getreue Spiegel des Lebens ihres Autors und gewinnen auch eben dadurch ihren ganz besonderen unauslöschlichen Reiz.36


   In den Freuden und Leiden eines Vielgelesenen (1896) versicherte May: "Weil ich meist Selbsterlebtes erzähle und Selbstgesehenes beschreibe, brauche ich mir nichts auszusinnen."37 Richtig verstanden ist diese Aussage wahr. Die Frage ist nur: WAS hat der Verfasser der Ich-Romane persönlich erlebt? Hat er die Großtaten Old Shatterhands und Kara Ben Nemsis persönlich vollbracht?

   Der strahlende Held, das erzählende Ich heißt - so wird es in den Reiseerzählungen angedeutet (und im Satan-Roman ausdrücklich gesagt) - mit bürgerlichem Namen Karl May.38 Also mußte natürlich der Eindruck entstehen, NUR in Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi habe der Autor, in maßloser, hybrider und verlogener Selbstüberhöhung, sich präsentiert. Dieser Eindruck der Selbstglorifizierung des Schriftstellers wird jedoch - weitgehend - abgeschwächt, wenn man die autobiographische Darstellungsweise des Dichters näher betrachtet.

   Das literarische 'Ich' kompensiert die tatsächlichen Schwächen, die Ängste und Nöte des Menschen Karl May: des blinden Kindes, des unterdrückten Heranwachsenden, des rachsüchtigen Kriminellen, des gedemütigten Strafgefangenen, des unzufriedenen Ehemanns. Biographisch signifikant ist aber nicht nur Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi: der überlegene Held, die idealisierte Ich-Perspektive des Erzählers, die "Regeneration der versehrten Psyche"39 des Autors. Nein - Mays Leben spiegelt sich, verdeckt und verfrem-


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det, in mehreren (oder fast allen) Personen seiner Romane, nicht selten auch in den Randfiguren.40

   Maskiert und verschlüsselt erzählt der Dichter sein "wahres Erleben auf mehreren, einander durchdringenden Betrachtungsebenen und unter mehreren, einander tragenden Betrachtungswinkeln."41 Ein und dasselbe Ereignis aus der realen vita des Autors nimmt - cum grano salis dem Traumgeschehen vergleichbar - in der Fiktion des Romans viele Gestalten an, und umgekehrt bündeln sich viele reale Erlebnisse Mays in ein und derselben Szenenfolge des Romans.42

   In Mays Erzählwerk kann, für den kundigen Leser, jede Silbe und jeder Buchstabe (in den Namen43 der Romanfiguren oder der Schauplätze zum Beispiel) von großer Bedeutung sein. Dem zwölf- oder vierzehnjährigen Leser werden solche Feinheiten selbstverständlich entgehen; viel mehr als das äußere Kleid, die oberschichtige Handlung, die Abenteuer und Späße, wird er nicht registrieren. Mays Lebensspuren im Romangeschehen zu lesen, sie richtig zu deuten, die zunehmend brillanter werdende Verschleierungstechnik des Autors zu durchschauen, in seiner traumhaften Schreibweise die psychische Steuerung zu erkennen, die Assoziationen, Überblendungen, Entstellungen, Verwechslungen und Umkehrungen des Dichters zu interpretieren, seine Spiele mit Wörtern, Buchstaben und Zahlen zu entschlüsseln, das alles ist eine Wissenschaft für sich, die Scharfsinn, Fähigkeit zu Analyse und Kombination, literaturpsychologisches Wissen, philologische Versiertheit und eine genaue Kenntnis möglichst zahlreicher Mikrodetails aus dem Leben des Schriftstellers erfordert.

   Mays literarische Selbstdarstellung ist wesentlich feiner, komplizierter und kunstvoller, als der oberflächliche, mit der Biographie und der Schreibweise Mays nur wenig vertraute Leser vermuten wird. Denn das wirkliche 'Ich' des Schriftstellers hat, über das Wunsch-Ich Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi hinaus, sehr viele Gesichter; und das "Mittel der vielfach gebrochenen Identität setzt Karl May souverän ein."44

   Was zur Spiegelung konkreter Ereignisse aus dem Leben des Dichters gesagt wurde, gilt in ähnlicher Weise fürs Personal: Mehrere Personen aus der realen vita des Autors können, durchgehend oder in manchen Partien, versammelt sein in einer einzigen Romanfigur; und eine einzige Person aus der tatsächlichen Biographie Karl Mays, etwa die Ehefrau Emma, kann - in ihren verschiedenen Wesenszügen - projiziert werden auf mehrere (idealisierte oder dämonisierte) Romangestalten. Auch und vor allem der Autor selbst begegnet dem Leser in mehrfacher Weise: Viele Romanfiguren stellen sich als verschiedene Rollen "des einen Menschen Karl May"45 dar.

   Solche Rollenspiele des Dichters sind nicht nur der Ausdruck eines eitlen und kindlichen Gemüts. Dahinter verbirgt sich etwas sehr Ernstes und Wahres. Karl May hatte, wie wir alle, seine Licht- und seine Schattenseiten. Um die "Schreckensvorstellung eines 'Ich', das die Verbrecherlaufbahn zuende gegangen wäre"46 literarisch zu bannen, schuf May seine reuigen Sünder (wie Old Death oder Klekih-petra), aber auch seine echten Bösewichte, seine Räuber und Mörder. Die inneren "Stimmen",47 die den ehemaligen Lehrer zu seinen Straftaten trieben, werden vom Schriftsteller objektiviert in 'fremden' und doch sehr vertrauten, zum 'Ich' in inniger Beziehung stehenden Verbrechern. Mit teuflischen Zügen entstellte Figuren (wie Harry Melton) kann man verstehen als, dem Autor wohl unbewußte, "Vater-Imagines";48 sie sind aber auch Ich-Derivate, ins absolut Böse gewendete 'Doppelgänger' des erzählenden 'Ich'.49 Vom Wunsch-Ich werden sie abgespalten, um nach schweren Kämpfen vernichtet (in den Abgrund gestürzt oder, wie Hamd el Amasat, geblendet50) oder, wie der Sendador, doch noch erlöst zu werden.


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   Karl May hatte, dies wurde wohl deutlich, einen sehr ernsten Charakter. Er war aber zugleich auch ein Schelm! Auch in den Clowns und den Narren seines Erzählwerks begegnet uns - voller Selbstironie - ein psychischer Teilbereich, ein Wesenszug des wirklichen May. Besonders im kleinen Halef und seinen Macken, aber auch in Pseudo-Helden wie Selim, dem ausgestoßenen Feigling, dem 'unbezahlbaren' Aufschneider im Mahdi-Roman, parodiert der Schriftsteller sich selbst:


"Ich war der berühmteste Krieger meines Stammes und nehme es, wie du weißt, mit allen Helden des Weltalls auf [...] Sende mir nur einmal leibhaftige, lebendige Feinde, etwa fünfzig oder hundert oder meinetwegen auch tausend! Du sollst sehen, wie mein Heldenarm unter ihnen aufräumt! Mein Mut ist wie der Sturm der Wüste, der alles niederreißt, und vor meiner Tapferkeit erbeben selbst die Felsen. Wenn ich im Kampfe meine Stimme und meinen Arm erhebe, so rennen selbst die Tapfersten davon, und vor dem Brüllen meines Gewehres hält kein Verwegener stand."51


   In vielen Szenen und vielen (dem Charakter und Temperament nach ganz unterschiedlichen, gelegentlich auch widersprüchlichen, in sich selbst gespaltenen) Figuren schildert Karl May seine innere Biographie, seine eigene Seelenwelt: "Ich schreibe nieder, was mir aus der Seele kommt, und ich schreibe es so nieder, wie ich es in mir klingen höre."52 Dieser Hinweis in der Selbstbiographie trifft sicherlich zu. Daß Mays Werke, besonders die in der Ich-Form erzählten Reiseromane, in Wahrheit 'Reisen ins Innere'53 sind, daß sie die - nach der Meinung verständiger Interpreten oft "großartig gelungene"54 - Umsetzung seines Innenlebens in Literatur, daß sie mehrfach geschichtete Schlüsselromane, daß sie im Grunde bewundernswerte 'Seelenprotokolle' des Autors sind, dies haben die Untersuchungen Walther Ilmers, Claus Roxins, Heinz Stoltes u.a. so plausibel gezeigt, daß an der grundsätzlichen Richtigkeit und Ergiebigkeit dieses Forschungsansatzes nicht mehr zu zweifeln ist.55

   May wollte, sein Leben lang, frei werden von Schuld, von Angst und von Lüge, von Jähzorn und Haß, vom - Zweifel an Gott.56 Sein Leben war ein Kampf, ein wahrhaft erschütternder Kampf gegen sich selbst, gegen die finsteren Elemente seines so spannungsreichen Charakters. Die in solcher Häufigkeit in der Literatur sonst nirgendwo anzutreffenden Motiv-Wiederholungen57 - Anschleichen und Lauschen, falsche Namen und verhüllende Masken, Gefangenschaft und Befreiung, Zweikampf auf Leben und Tod, Verbrechen und Gottesgericht58 - sind als (scheinbar eintönige, in Wirklichkeit aber fein variierte) Spannungsmomente der Fabel, aber auch als die alten, immer noch wirksamen, sich stets wieder meldenden Traumata des noch immer nicht befreiten, noch immer nicht erlösten Schriftstellers zu verstehen.

   Ob alle diese - teils verdeckten, teils offenkundigen - Selbstspiegelungen Karl Mays ein bewußter oder in den Bestseller-Romanen noch unbewußter, erst im Alter von May reflektierter Vorgang gewesen sind, kann hier offenbleiben. Ob May nun mit Absicht, nach einem bestimmten System, 'allegorisch' geschrieben hat oder ob er - unbewußt dranghaft, "den geheimen Befehlen des Unterbewußten folgend"59 - einfach niederschrieb, was ihm einfiel, oder ob (was wahrscheinlicher ist) "Bewußtes und Unbewußtes, Absichtsvolles und Undurchschautes sich in der Niederschrift mischten":60 faszinierend bleibt in jedem Fall, wie sich die oberschichtige Story, das phantastische Abenteuer, mit der "Binnenhandlung",61 den Erlebnissen und Erleidnissen des Schreibers verknüpft.


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8.4.2

Die Botschaft der Seele


Das Wesen des Kunstwerks besteht - nach C.G. Jung - darin, "daß es sich weit über das Persönliche erhebt und aus dem Geist und dem Herzen und für den Geist und das Herz der Menschheit spricht."62

   Das Geheimnis seines Erfolges hat hierin einen tieferen Grund: Karl May bewegte die Massen, weil er, über selbstbiographische Spiegeleffekte hinaus, 'archetypische' Bilder aus dem Unterbewußten der "Menschheitsseele"63 geschöpft hat. Der Dichter selbst kommentierte sein Schaffen in einem Brief aus dem Jahre 1905: "Ich schreibe nicht Romane und nicht Reiseerzählungen, sondern ich bin Psycholog."64

   Eine bombastische Selbsttäuschung? Ein Psychologe wie Freud oder Jung war May zwar natürlich nicht, theoretische Lehrbücher hat er keine verfaßt; aber er war, immerhin, wahrscheinlich beeinflußt von der Psychologie der Romantik, speziell wohl von Carl Gustav Carus (1789-1869) und indirekt vielleicht auch von Gotthilf Heinrich v. Schubert (1780-1860), dem in Hohenstein - der Heimat Karl Mays - geborenen Naturphilosophen.65

   Mays Reiseerzählungen spielen, geographisch, zwar meist im Orient oder im Wilden Westen; aber ihr 'seelischer' Schauplatz liegt, so May (1906) an Prinzessin Wiltrud von Bayern, "in unserm tiefsten Innern".66

   Als überindividuelle 'Volksdichtung'67 entspringen Mays Erzählungen dem "kollektiven Unbewußten", wie C.G. Jung die 'Menschheitsseele' genannt hat. Mays Geschichten sprechen 'von Seele zu Seele'; sie dringen - befreiend und heilend68 - ins Unbewußte, in die Innenbezirke des Lesers hinein. Auch unter diesem Gesichtspunkt sind sie 'symbolische', die abenteuerliche Handlung übersteigende Schriften.

   Wie hat May selbst den Erfolg seiner Bücher erklärt? Der 'Oberlehrer Franz Langer', mit Karl May sicher identisch, brachte es auf den Punkt.


Der Erfolg eines Buches hängt davon ab, ob aus ihm der Geist oder die Seele des Verfassers spricht und ob es an den Geist oder an die Seele des Lesers gerichtet ist [...] Wer eine allgemeine, unbeschränkte Wirkung erstrebt, wer ganze Kreise, ganze Klassen, ja vielleicht gar ein ganzes Volk hinreißen und begeistern will, der spreche von Seele zu Seele. Und das ist nicht leicht; die Volksseele läßt sich nicht täuschen. Der Verkehr von Seele zu Seele gleicht einer drahtlosen Telegraphie. Die Stimmung muß hüben wie drüben auf dieselbe Schwingung gestellt sein. Der Geist mag noch so sehr raffinieren, mag es noch so pfiffig anfangen, mag sich noch so große Mühe geben, für die Seele gehalten zu werden, er wird doch keine Wirkung erzielen, weil ihn die Seele da drüben gar nicht hört und also auch gar nicht versteht.69


   Karl May spricht, wie die Märchen und Mythen, aus der (so oft) verschütteten Tiefe, aus der 'Menschheitsseele' heraus zum Herzen des Lesers. Aus Ur-Symbolen der Angst und der wunderbaren Errettung, aus archetypischen Träumen, aus dem Urgrund, in dem das Menschliche zuunterst verwurzelt ist, steigen seine Geschichten herauf. Dies verleiht ihnen die zeitlose Gültigkeit, über das Individuelle, Karl May nur persönlich Betreffende hinaus: Jeder Leser kann sie auf sich, "auf die Widerfahrnisse seiner eigenen Seele beziehen"!70

   Mays Bestseller-Romane können als "Skizzen", als "Vorübungen" fürs Spätwerk interpretiert werden;71 doch Makulatur sind sie deshalb noch lange nicht. Sie sind, in ihrer besonderen Art, etwas durchaus Bedeutendes: "Zwischen Goethes Faust und Mays Volksbüchern gibt es", so Wolf-Dieter Bach in einem vorzüglichen Essay,


nichts in der deutschen Literatur, was sich in ähnlicher Fülle und Deutlichkeit mit Archetypen beladen ins Herz des Lesers wälzt. Goethe mochte sich für den letzten Homeriden halten; Karl May IST der letzte Homeride gewesen [...] Der in die Subkultur geflohene Homer ist Karl May.72


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   Bach geht noch weiter: Er traut May eine Kenntnis der menschlichen Psyche zu, die "nicht geringer war als die seiner jüngeren Zeitgenossen von der analytischen Zunft".73 Nach Bach war May, zumindest im Alter,


sich dessen bewußt, daß seine Phantasiewelt dieselben Inhalte besaß wie die große mythische und religiöse Tradition, und daß diese Tradition ein PSYCHOLOGISCHES Phänomen darstelle - eine damals höchst fortschrittliche Einsicht gegenüber der offiziellen akademischen Haltung, die Mythen nur als verdunkelte Berichte von naturhistorischer [...] Wirklichkeit zu deuten versuchte.74


   Die Mythen enthalten - wie die Märchen - eine Botschaft, die nicht nur für Kinder bestimmt ist. Denn in Mythen und Träumen, in Märchen und Sagen wohnt die Seele des Menschen, die verlorene Seele des 'erwachsenen' Denkens. Die Psychologen und zum Teil auch die Theologen75 haben das inzwischen erkannt. Karl May, der "mythologische Puppenspieler",76 wußte dies früher schon:


Wie man behauptet, daß das Märchen nur für Kinder sei, so bezeichnet man mich als "Jugendschriftsteller", der nur für unerwachsene Buben schreibe. Kurz, ich brauche mich gar nicht zu entschuldigen, daß ich so verwegen gewesen bin, nur ein Märchen- und Gleichnisschriftsteller sein zu wollen.77


   Daß May schon in den Reiseerzählungen (bis zur Jahrhundertwende) ein 'Märchen-Schriftsteller' sein WOLLTE, mag man bezweifeln;78 aber er IST es gewesen. Er war, wie Ernst Bloch sagte, aus dem Geschlecht Wilhelm Hauffs, "nur mit mehr Handlung"; er schrieb "keine blumigen Träume, sondern Wildträume, gleichsam reißende Märchen".79 Spätestens um 1900 hat May den Märchen-Charakter seiner Werke erkannt; als "Hakawati", als - verkannten - Märchenerzähler, hat er sich selbst nun bejaht: "Das Märchen und ich, wir werden von Tausenden gelesen, ohne verstanden zu werden, weil man nicht in die Tiefe dringt."80

   Märchen- und Legendenhaftes findet sich, freilich "zum Rationalen hin transformiert"81 (der Märchenerzähler May war zugleich auch der Aufklärung, dem rationalen Denken verpflichtet), in fast allen Werken Karl Mays, besonders in den Orientromanen und in der Winnetou-Trilogie.82 Die im IV. Band des Orientzyklus, In den Schluchten des Balkan, enthaltenen Geschichten um den Schmied Schimin, den Färber Boschak und den Bettler Saban zum Beispiel weisen fast vollständig die - May natürlich bekannten - Motive des Grimm-Märchens 'Rotkäppchen' auf.83 Die Entführung Senitzas in Durch die Wüste erinnert, teilweise, an das Hauff-Märchen 'Die Errettung Fatmes'.84 Und auf die Verwandtschaft der Mayschen Orientromane mit der Märchensammlung Tausendundeine Nacht wurde schon oft, von Heinz Stolte z.B.,85 hingewiesen.

   Märchen und Träume (im weiteren Sinne) sind nicht nur manche Einzelpassagen in Mays Erzählwerk. Märchen-Reisen sind seine 'Reiseerzählungen' - weithin auch seine Kolportageromane - insgesamt. Den großen Menschheitsträumen sind sie entstiegen: dem Traum von der glücklichen Heimkehr nach gefahrvoller Wanderschaft; dem Traum von der Rettung aus jeglicher Not; dem Traum von der wunderbaren Erhöhung nach vielen und schwierigen Prüfungen;86 dem Traum von der "Göttererscheinung in täuschend-dürftiger Gestalt";87 dem Traum von der heimlichen Königswürde des 'verwunschenen' Menschen; dem Traum von der endgültigen Erlösung des verkannten, in ein niedriges, ihm nicht wesensgemäßes Dasein gestoßenen Menschenkinds.

   Karl May habe, so wird gesagt, für Kinder geschrieben - und für Erwachsene, die sich regressiv in die Flucht-Räume ihrer Kindheit zurückziehen. Doch erwachsenes Leben fordere, so wird gesagt, den Sinn für die Realität und damit den Traumverzicht. Aber dieser Verzicht läßt den Menschen in einem sehr wichtigen (weil emotionalen) Teil seines


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Wesens verkümmern. Wir können unsere Träume verraten oder verdrängen; unbewußt wirken sie fort. "Karl Mays Geschichten geben uns die Gelegenheit, wenigstens lesend unseren Verrat rückgängig zu machen - darum sind sie wahr."88


8.4.3

Die mystagogische Intention


Mays Reiseerzählungen sind nicht nur fesselnde Abenteuerromane und nicht nur verkappte Selbstbiographie und nicht nur mythologische Tiefenpsychologie. Alle diese Bereiche werden überschritten ins Metaphysische, ins Theologische. Mays epische Dichtung ist, dieser Aspekt wird oft übersehen, zumindest streckenweise 'erzählende Theologie'.89

   Daß Mays Erzählungen fromme Abschnitte enthalten, ist jedem Leser bekannt. Aber umstritten ist zunächst der Stellenwert solcher Passagen: Ist die religiöse Verkündigung der eigentliche Inhalt der Mayschen Erzählungen? Sind die Abenteuer nur 'Gewand', nur äußere Hülle? Oder ist, im Gegensatz zu den Spätwerken, in den Bestseller-Romanen das Religiöse "nur Nebensache"?90 Ist zum Beispiel die Feindesliebe Old Shatterhands, seine Bereitschaft, die Schurken wieder laufen zu lassen, nur ein Erzähltrick: um neue Intrigen, neue Verfolgungen, neue Gefahren, also neue Spannungseffekte zu erreichen? Oder ist, um ein anderes Beispiel zu nehmen, die bei May so auffällige Bestreitung des 'Zufalls' lediglich ein literarisches Mittel: um "handwerkliche Verlegenheiten zu vertuschen"91 und durch 'göttliches Eingreifen' den unwahrscheinlichen Handlungsverlauf plausibel zu machen?

   Daß die Reiseerzählungen bis 1896 religiöse Programmdichtung seien, hat Volker Klotz entschieden negiert:


Karl May schrieb nicht, wie er im Alter behauptete, ethische Romane trotz ihres Abenteuergerüstes, er schrieb, umgekehrt, Abenteuerromane trotz ihres ethischen Programms. Es ist offensichtlich, wie die Ideologie dem Bau seiner Romane mehr als erzähltechnische Funktion denn als 'Botschaft' zugute kommt.


   Was für May - so Klotz - "nur Gefäß schien", das Abenteuer, "war die Sache selbst, wofür wir ihm wider seinen Willen dankbar sind".92

   Mays Freude am Fabulieren scheint in der Tat die religiöse Tendenz und das ethische Programm zu überlagern. Klotz' These überzeugt dennoch nicht. Denn May ist beides, Geschichtenerzähler und religiöser Erzieher, in einem: Der Märchenerzähler ist Katechet, und der Katechet vermittelt seine Botschaft in den Geschichten. Um die Romane in die Länge zu ziehen, hätte es andere Mittel gegeben als die Verschonung der Bösewichte durch den Ich-Helden. Und rein erzähltechnisch gesehen wirken die Dialoge und Betrachtungen über die 'Vorsehung', über Gottes Gnade, über Reue und Vergebung, über die Macht des Gebetes, über Psalmworte, über Jesu Gebot usw. wohl eher störend als fördernd. Daraus folgt aber doch: Solche Stellen sind Selbstzweck, dem Autor mindestens ebenso wichtig wie die äußere Handlung. Dies um so mehr, als ja nicht nur einzelne Partien, sondern die Romane als ganze 'metaphysisch' konzipiert93 sind.

   Biblische Einzelmotive strukturieren die Handlung, wie schon erörtert,94 zwar keineswegs durchgehend; aber religiöse (in der Regel biblische) Maximen bestimmen den Gesamt-Duktus der Mayschen Reiseerzählungen: Alle diese Geschichten setzen die Ewigkeit Gottes voraus, die "unsere Zeit umschließt";95 sie schildern den Menschen, der schuldig wird und, im Falle der Reue, Vergebung findet; sie führen - so Walther Ilmer - einen Bogen von "der Ursprungs-Schuld zur endgültigen Sühne";96 und sie beschwören, über


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den Sühne-Gedanken hinaus, die 'neue Ordnung', die Ordnung der Liebe, die "Versöhnung der Gesellschaft, ja des ganzen Kosmos"97

   Überall in Mays Werken, von den frühesten Dorfgeschichten bis zu Winnetou IV, speziell auch in den Reiseromanen bis 1896, finden sich Hoffnungsbilder und Rettungsszenen in schier unendlicher Fülle. Verweisen sie, als "Spuren der anderen Welt",98 auf die Wirklichkeit Gottes? Oder sind sie, als Wunsch- und Erfüllungsträume, immer nur 'Deckschilderungen'99 für innerpsychische, pathologische Vorgänge im Autor selbst?

   Mays Charakter hatte, ohne Zweifel, neurotische Züge; zu den Beladenen und seelisch Geplagten (vgl. Mt 11, 28) gehörte May sicher; aber mit dieser Feststellung müßte die Transzendenz, die religiöse Echtheit in Mays Leben und Werk nicht bestritten oder desavouiert werden. Denn die Hoffnungsbilder dieses Schriftstellers sind, wie Gert Ueding formulierte, "ein Wunschmysterium von gewaltiger Wirkkraft": weil Mays Erzählwerk gerade NICHT die bloße "Verkleidung von Seelenvorgängen prätendiert, sondern hinausgreift über die begrenzten Zwecke unseres Daseins."100

   Anders gesagt: die Rettungsszenen Karl Mays entsprechen der - kollektiven - Sehnsucht nach innerer Heilung, nach wirklichem Heil, das nicht die menschliche Psyche erfunden, sondern "Gott für alle bereitet hat, die ihn lieben" (1 Kor 2, 9).

   Mays Reiseerzählungen sind nicht nur ich-bezogene Wunscherfüllungen. Wie schon die Kolportageromane verweisen sie auf die Transzendenzerfahrung des Menschen überhaupt: auf Heil und Erlösung. Insofern sind sie der romantischen Hochliteratur vergleichbar!101 Gert Ueding zeigte am Beispiel des Satan-Romans und anderer May-Texte erstaunliche Parallelen auf zu Byrons Kain, E.T.A. Hoffmanns Die Elixiere des Satans, Hauffs Memoiren des Satans, Raabes Abu Teyan und Strindbergs Erlösungsdrama Nach Damaskus.102 Gemeinsam ist diesen Texten das Entsetzen vor dem absolut Bösen, aber auch das 'Prinzip Hoffnung', die Suche nach Heil.

   Mit unzulänglichen Mitteln (in den Spätwerken wird es dann besser), "in oft unangemessenen Formen, gewiß, [...] aber mit einer ästhetischen Leidenschaft ohnegleichen, der Leidenschaft eines großen Erzählers - und der Leidenschaft eines geistigen Führers"103 deutet May auf die göttliche Welt, die 'andere Dimension' unsres Lebens. Bei der "zügellosen Diesseitigkeit"104 vieler Zeitgenossen bleibt er nicht stehen. Erträumte Reisen, gefahrvolle Wege, leidvolle Prüfungen und die siegreiche Rückkehr des Helden sind im Genre des Abenteuerromans (und der Märchen) beliebte Erzählmuster;105 doch May führt diese Motive aus ihrer Profanität, ihrer platten Verweltlichung heraus. Er interpretiert das Leid und das Böse nicht weg. Er schildert es in seiner dunkelsten und bedrückendsten Gestalt. Aber er läßt es, nach erschütternden Kämpfen, doch umschlagen in 'Heilsgeschichte': als diesseitige Wiederherstellung von Recht und Gerechtigkeit, als jenseitige - in ergreifenden Sterbeszenen (im Tode Old Death's, Klekih-petras und Winnetous z.B.) vorausgeschaute - Neue Schöpfung durch Gott.

   So große Gegensätze, wie Britta Berg es vermeinte,106 sind der "Winnetou-May" (der Abenteuergeschichten) und der "religiöse May" (der Alterswerke) wahrhaftig nicht. Auch die Reiseromane der neunziger Jahre sind, als Rettungsgeschichten, im Grunde Mysterien. Sie intendieren, auf ihre Art, was Karl Rahner den künftigen Theologen zur Aufgabe stellte: geistliche Führung, missionarische "Mystagogie"107 - Einführung in die, vom Mystagogen persönlich durchlittene, aufgrund von Gnade tatsächlich erfahrene, religiöse Wirklichkeit.

   Mays Romanheld Old Surehand, der nach schlimmen Erlebnissen "den Glauben verloren" hat, stellt gequält, aber mit größtem Verlangen die Frage, ob Gott existiere. Gibt es


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das: ein Heil, eine Rettung, ein Leben nach dem Tode, ein Wiedersehen in der Ewigkeit? Old Shatterhand antwortet: "Ja"! Mit welcher Berechtigung? Wer legitimiert seine Antwort? Wie begründet er seinen Glauben? "Ich beweise es Euch, indem ich zwei Koryphäen vorführe, deren Kompetenz über allen Zweifel erhaben ist [...] Eine sehr, sehr hochstehende und eine ganz gewöhnliche [...] Gott selbst und ich."108

   Ist Shatterhands Rede absurd und blasphemisch? Stellt er sich mit Gott auf dieselbe Stufe? Nein - der Abstand zwischen dem Schöpfer und den Geschöpfen wird ja betont.109 Aber Shatterhand, und in diesem Fall ist er identisch mit Karl May, spricht mit der Autorität eines Wissenden, der Kompetenz eines Weisen. Er spricht mit dem Sachverstand eines - Armen, dem die Nacht des Zweifels nicht fremd ist, und dessen Glaube "durch zahlreiche Prüfungen"110 ging. Er argumentiert nicht, philosophierend, 'von außen'; er bringt sich selbst mit ins Spiel: Er spricht mit dem ganzen Gewicht eines Menschen, der Gott schon ERFAHREN und - wie Hiob - an diesem Gott sehr zu leiden hatte. Ein 'Gottesbeweis' im Sinn der Scholastik ist das sicherlich nicht. Doch 'Mystagogik' im Sinne Rahners ist es sehr wohl: Zeugnis eines schwachen und sündigen Menschen, der aber von Gott schon berührt wurde und später, nach der Jahrhundertwende, "von jenem Herrn da droben"111 noch ganz anders berührt werden soll.

   Die religiöse Tendenz, die mystagogische Intention auch der 'klassischen' Reiseerzählungen (bis 1896) ist, nach dem Textbefund, nicht in Frage zu stellen. Hinterfragbar ist freilich die Qualität, die besondere Eigenart der Mayschen 'Verkündigung' in den Bestseller-Romanen. Es wäre zu fragen, wie fundiert oder (allzu) schlicht, wie überzeugend oder (allzu) naiv, wie feinsinnig oder trivial, wie ungewöhnlich oder konventionell, wie einladend oder penetrant und belehrend sie ist. Dies müßte differenziert - gesondert für jede Erzählung und jede wichtige Einzelpartie -, mit methodischer Sorgfalt und theologischem Sachverstand untersucht werden.112

   So viel steht fest: Dem 'Transzendenzverlust' des modernen Menschen stellt May, unter dem Einfluß der Bibel und (höchst wahrscheinlich) auch des Gedankenguts Lessings und Herders,113 den Glauben an Gott, das Vertrauen in die rettende Liebe entgegen. Woher kommt das Böse, wenn Gott doch die Liebe ist? May weiß es auch nicht genau. Aber er läßt sich die Hoffnung, die größere Perspektive nicht nehmen - die Hoffnung auf "noch ungewordene Möglichkeit":114 auf das, was nicht ist, aber werden kann (vgl. Röm 8, 24ff.)!


8.4.4

Gesellschaftskritische Ansätze


Der Schriftsteller glaubt an die Macht und die Weisheit des Schöpfers; aber die Kreatur, der Mensch, wird nicht entmündigt in der Sichtweise Mays. Die Weltverantwortung des Menschen wird ernstgenommen. Denn Mays Reiseerzählungen setzen immer voraus: Erlöst wird durch Gott, aber nicht ohne den Menschen, nicht gegen ihn und nicht an seinem Wollen und Handeln vorbei.

   Hat Karl May die politischen, die gesellschaftskritischen Implikationen dieses religiösen und doch sehr 'weltlichen' Denkansatzes erkannt? Gibt es in seinen Geschichten eine 'Vision' von der besseren Welt, für die der Dichter sich einsetzt und die er, erzählend, antizipiert? Wenn ja - wie stellt sich der Autor in seinen Reiseromanen die ideale Gesellschaft vor?

   In der Sekundärliteratur werden diese Fragen kontrovers diskutiert und unterschiedlich beantwortet.115 Läßt der Textbefund der Reiseerzählungen solche Differenzen in der Aus-


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legung zu? Fordert er sie womöglich heraus? Einen grundsätzlichen Einwand gegen die ethische (und religiöse) Substanz des Mayschen Erzählwerks hat Helmut Schmiedt formuliert: Er sieht eine mißliche Ambivalenz und so manche Brüche im Weltbild des Schriftstellers; und er betont "die manifesten Widersprüche, die der Autor selbst nicht wahrnimmt".116 Da es in Mays Erzählungen - was religiöse, ethische und politische Zielvorstellungen betrifft - progressive und regressive, geradezu revolutionäre, aber auch sehr konservative Elemente gebe,117 irrten 'rechts' stehende oder gar faschistisch denkende May-Freunde "kaum weniger als die, die in May nur den Pazifisten und Kosmopoliten sehen."118

   Günter Scholdt hat dieser (von Schmiedt selbst, an anderen Stellen seiner May-Studien, wieder abgeschwächten) Kritik widersprochen:


Ganz so gleichwertig, wie Schmiedt es hier nahelegt, nehmen sich die Tendenzen in Mays Werk nämlich trotz weitgehender Offenheit für unterschiedliche Deutungen keineswegs aus; die dominierende Haltung läßt sich durchaus bestimmen, [...] der rote Faden humanitärer Gesinnung gerät bei abwägender Deutung nie außer Blickweite.119


   Wichtige (freilich nicht die einzigen) Ursachen für das Leid in der Welt sind die Unwissenheit, die menschliche Selbstsucht, die rücksichtslose Profitgier, die nationale und rassistische Überheblichkeit, die weltanschauliche und religiöse Intoleranz, die Bereitschaft zum Krieg, zur gewaltsamen Durchsetzung der eigenen Interessen. Gegen alle diese Strömungen wendet sich May, wenn auch nicht so pointiert wie im Spätwerk, in seinen Bestseller-Romanen. Der Grundtenor, auch in den Reiseerzählungen bis 1896, ist die Gerechtigkeit, die friedliche Aussöhnung, die Liebe im Sinne des Evangeliums. Das den 'Abenteuerromanen' zugrundeliegende Lebensgefühl ist anti-materialistisch, anti-rassistisch, anti-kolonialistisch120 und mit zunehmender Konsequenz auch anti-militaristisch.121 Es richtet sich, deutlich genug, gegen den Ausbeutungswillen der 'Ölprinzen', die Geldgesinnung, der 'Yankees',122 die Brutalität der Sklavenjäger und Indianerverderber.

   Die Habgier der Reichen, das Unrecht der Unterdrücker, in Old Surehand III (1896) auch die Mitschuld der Gesellschaft an den Verbrechen der einzelnen,123 werden benannt und an den Pranger gestellt. Über ungerechte 'Strukturen', wie sie Karl Marx im Blick hatte, wird zwar kaum reflektiert; aber die Tränen der Sklaven werden gesehen, und die Schmerzen der geschundenen Kinder124 werden, durch den Ich-Helden Kara Ben Nemsi, gelindert.

   Karl May tritt ein für die Rechte der Schwachen: der Indianer, Kurden und Neger125 vor allem. Und er weckt die Sympathien des Lesers für fremde Völker und fremde Kulturen. Gewiß, in den Reiseerzählungen finden sich - eher harmlose, dem erzählerischen Effekt dienende - Klischees und mancherlei Vorurteile: über die Chinesen (die im Spätwerk um so höher geschätzt werden) und die Armenier zum Beispiel;126 auch gibt es bei May, neben 'guten' Indianern wie den Apachen, auch 'böse', das heißt von den Weißen verführte (im Spätwerk, in Winnetou IV, freilich rehabilitierte) Indianer wie die Komantschen, die Kiowas oder die Sioux. Der Haupttendenz des Autors entspricht aber die Rede Old Shatterhands in Surehand I: "Ich [...] habe unter den schwarzen, braunen, roten und gelben Völkern wenigstens ebenso viel gute Menschen gefunden wie bei den weißen, wenigstens, sage ich, wenigstens!"127

   Dennoch wurden dem Schriftsteller - von Edwin Hoernle (1929), Hartmut Lutz (1985) und anderen Kritikern128 - Nationalismus und 'Deutschtümelei' vorgeworfen. Diese stark überzogene und zum Teil schon böswillige Schelte verkennt das zentrale Anliegen Karl Mays. Zwar liebte und schätzte der Dichter sein eigenes Volk;129 auch sind die Helden


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und die ehrlichen Westmänner oft deutsch oder deutschstämmig; doch dies ist, in der Hauptsache, "ein erzählerisches Mittel, dem heimischen Leser die Fremde vertraut zu machen, und zugleich ein erzieherischer Appell. Die deutschen Helden leben die Solidarität mit fremden Völkern der Leserschaft vor."130

   Mays Parteinahme gilt weder dem deutschen noch dem europäischen Kolonialismus: "eine Haltung, die um so erstaunlicher ist, als gerade in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts zahlreiche Jugendschriftsteller und -verlage einen eindeutigen Schwenk zur Kolonialpropaganda vollzogen".131

   Endgültig und massiv im Friede-Roman (1901/04),132 aber auch schon viel früher im Buch der Liebe (1875/76)133 und, zumindest andeutungsweise, in den Reiseerzählungen (bis 1896) übt Karl May Kritik an der Menschenverachtung des Imperialismus und der Aggression unter dem Deckmantel der Religion. In den Praktiken des 'christlichen' Abendlandes sieht, um das markanteste, freilich den - erst im folgenden Abschnitt zu besprechenden - späten Reiseerzählungen (ab 1896) entnommene Beispiel zu wählen, Karl May bzw. der Farmer Harbour - in Old Surehand III - einen Verrat an Christus:


"'An ihren Früchten sollt Ihr sie erkennen', steht in der heiligen Schrift. Nun zeigt mir gefälligst die Früchte, welche die Indsmen von den [...] christlichen weißen Gebern geschenkt bekommen haben! Geht mir mit einer Civilisation, die sich nur von Länderraub ernährt und nur im Blute watet! [...] Schaut in alle Erdteile, mögen sie heißen, wie sie wollen! Wird da nicht überall und allerwärts grad von den Civilisiertesten der Civilisierten134 ein fortgesetzter Raub, ein gewaltthätiger Länderdiebstahl ausgeführt, durch welchen Reiche gestürzt, Nationen vernichtet und Millionen und Abermillionen von Menschen um ihre angestammten Rechte betrogen werden? Wenn Ihr ein guter Mensch seid, [...] so dürft Ihr Euer Urteil nicht nach der Ansicht der Eroberer richten, sondern nach den Meinungen und Gefühlen der Besiegten, der Unterdrückten, Unterjochten [...] 'Ich bringe Euch den Frieden; ich lasse Euch meinen Frieden!' hat der Weltheiland gesagt; nun tragt als Christen diesen Frieden hin in alle Lande und hin zu allen Völkern! Steckt, wie Petrus, Eure Schwerter in die Scheide; Eure einzige Waffe soll nur die Liebe sein, und auf Eurem Banner darf man nur das Wort Versöhnung lesen. Wie es einen Menschen gab, welcher die erste Mordwaffe erfand, so wird es dereinst [...] auch einen Menschen geben, der die letzte Waffe zwischen seinen Fäusten zerbricht."135


   Die Welt und ihre Geschichte nicht mit den Augen der Sieger, sondern der Besiegten, der Opfer, betrachten! Das ist - alternatives Denken! Mays Bestseller-Romane als "ehrlichen Revolutionsersatz"136 oder als "Schule des aufsässigen Denkens"137 zu interpretieren, mag neckisch und überzogen sein; die Autorität, die staatliche Ordnung werden von May, dem resozialisierten Strafgefangenen, nicht grundsätzlich abgelehnt; eine absolut 'machtfreie' Gesellschaftsstruktur (die ja nun wirklich illusionär wäre und auch nicht wünschenswert ist) wird von May nicht gefordert. Aber kritisiert wird der MISSBRAUCH von Macht; bloßgestellt wird die rein formale, in Sachkompetenz und moralischer Integrität nicht begründete 'Autorität' der Tyrannen.

   In Mays Reiseerzählungen eine 'systemstabilisierende' Rechtfertigung des Wilhelminismus und eine rückwärtsgewandte bürgerliche Ideologie zu sehen,138 wäre grundverkehrt. Diese Romane sind nonkonformistisch:139 Der Autor sehnt sich nach Offenheit, nach umfassender Freiheit, nach unendlicher Weite;140 seine Erzählungen bauen die Gegenwelt "zur gesellschaftlichen Realität, in der zu leben er verdammt war":141 die Gegenwelt zur Abhängigkeit vom Lohn, zur Bürokratie, zur starren Bindung an die Familie, zur - herkunftsbedingten - Einschränkung der Persönlichkeit.142

   Die Realität der europäischen Lebensverhältnisse hat May, jedenfalls indirekt, kritisiert. Weitblickend, um nicht zu sagen 'prophetisch', ist - nicht zuletzt - auch seine Einstellung zu Technik und Wissenschaft, wie sie in den Reiseerzählungen zur Geltung kommt. Kein 'Zurück zur Natur' im Sinne Rousseaus zwar!143 Der wissenschaftliche


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Fortschritt, die Zivilisation, die Technik werden nicht generell verurteilt, sondern grundsätzlich bejaht; insofern wird auch von May die europäische Kultur als der indianischen (und orientalischen) überlegen betrachtet.144 Zugleich aber wird die Gefahr doch gesehen: die Gefahr des Verlustes der 'Seele', der Trennung von Mensch und Natur, der Lösung des Geschöpfes vom Schöpfer.

   Ein "früher Grüner"145 wurde May schon genannt. Nicht ganz richtig, aber auch nicht gänzlich verfehlt ist diese Bemerkung.146 Mays Klage über den Untergang des 'roten Mannes' ist auch in DIESEM Lichte zu sehen: Die 'Wilden', die 'Primitiven' wußten um die Einheit des Menschen mit den Flüssen und Bäumen, mit der Erde und ihren Tieren.


Jeder Teil dieser Erde ist meinem Volk heilig [...] Wir sind ein Teil der Erde, und sie ist ein Teil von uns [...] Was ist der Mensch ohne die Tiere? [...] Was immer den Tieren geschieht - geschieht bald auch den Menschen. Alle Dinge sind miteinander verbunden. Was die Erde befällt, befällt auch die Söhne der Erde [...] Eines wissen wir, was der weiße Mann vielleicht eines Tages erst entdeckt - unser Gott ist derselbe Gott [...] Dieses Land ist ihm wertvoll - und die Erde verletzen heißt ihren Schöpfer verachten.147


   So nicht bei Karl May, sondern in der Rede des Häuptlings Seattle zu lesen. Aber man nehme nur Winnetou I zur Kenntnis! Dieselbe Klage, derselbe Protest, dieselben Perspektiven!148

   Und das alles soll für 'kleine Schuljungen' sein?149 Die Verlegenheit, die Karl May der Literaturwissenschaft bereitet, hat - vor allem - darin ihren Grund, daß dieser Autor sich "unterfing, die größten Themen mit weithin trivialliteratischen Mitteln anzupacken. Gleichwohl liegt in dieser außenseiterischen Position Mays ein wesentliches Element seiner Originalität und Wirkung."150



Anmerkungen


1Vgl. Martin Lowsky: Karl May. Stuttgart 1987, S. 78f.
2Vgl. Claus Roxin: Vorläufige Bemerkungen über die Straftaten Karl Mays. in: JbKMG 1971, S. 74-109 (S. 89). - Vgl. oben, S. 210.
3Vgl. Gunter A. Öslers Interview mit Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. In: Der Rabe. Magazin für jede Art von Literatur Nr. 27. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Zürich 1989, S. 230-244.
4Nach Claus Roxin: Mays Leben. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 62-123 (S. 101).
5Nach Heinz Stolte: Wertung im Widerspruch. Ein Literaturbericht. In: JbKMG 1978, S. 264-291 (S. 276 mit Bezug auf Jochen Schulte-Sasse).
6Vgl. z.B. 'Das gab mir Karl May'. Mitglieder berichten über Leseerfahrungen. SKMG Nr. 66 (1986).
7Dazu Lowsky: May, wie Anm. 1, S. 57ff. (dort auch ausführliche Angaben zur Sekundärliteratur).
8Vgl. Wolf-Dieter Bach: Fluchtlandschaften. In: JbKMG 1971, S. 39-73.
9Carl Zuckmayer: Palaver mit den jungen Kriegern über den großen Häuptling Karl May. In: KMJB 1930. Radebeul 1930, S. 35-43 (S. 39).
10Vgl. z.B. Lowsky: May, wie Anm. 1, S. 64.
11Max Finke: Karl Mays Schreibart. In: KMJB 1924. Radebeul 1924, S. 267-289 (S. 268).
12Richard Müller-Freienfels: Psychologie der Kunst I. Leipzig, Berlin 1923, S. 215; zit. nach Viktor Böhm: Karl May und das Geheimnis seines Erfolges. Gütersloh 21979, S. 143 (Anm. 33).
13Ernst Bloch: Die Silberbüchse Winnetous (Neufassung des Erstdrucks von 1929). In: Ders.: Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt/M. 1962, S. 169-173; neu abgedruckt bei Helmut Schmiedt (Hrsg.): Karl May. Frankfurt/M. 1983, S. 28-31 (S. 28).


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14Vgl. Erich Heinemann: Über Karl May. Aussprache namhafter Persönlichkeiten, mit 40 Zeichnungen von Carl-Heinz Dömken. Materialien zur Karl-May-Forschung, Bd. 5. Ubstadt 1980. - Zu Romano Guardini vgl. unten, S. 367, Anm. 37.
15Vgl. besonders Arno Schmidt: Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen, Werk & Wirkung Karl Mays. Karlsruhe 1963 - dazu Heinz Stolte - Gerhard Klußmeier: Arno Schmidt & Karl May. Eine notwendige Klarstellung. Hamburg 1973 - Hans Wollschläger: Arno Schmidt und Karl May. In: JbKMG 1990, S. 12-29. - Weitere Sekundärliteratur bei Lowsky: May, wie Anm. 1, S. 80.
16Arno Schmidt: Abu Kital. Vom neuen Großmystiker. In: Dya Na Sore. Gespräche in einer Bibliothek. Karlsruhe 1958, S. 150-193; hier zit. nach Schmiedt (Hrsg.): May, wie Anm. 13, S. 45-74 (S. 57).
17Otto Forst-Battaglia: Karl May. Traum eines Lebens - Leben eines Träumers. Beiträge zur Karl-May-Forschung 1. Bamberg 1966, S. 78 u. passim.
18Aus Mays Brief vom 15.4.1901 an die 'Wiener Reichspost'; abgedruckt bei Wilhelm Vinzenz: Karl Mays Reichspost-Briefe. Zur Beziehung Karl Mays zum 'Deutschen Hausschatz'. In: JbKMG 1982, S. 211-233 (S. 214).
19Klara Plöhn in einem undatierten (1902) Brief mit der Unterschrift 'Emma May' an Baronin Bertha von Wulffen (abgedruckt in: JbKMG 1983, S. 78ff., hier S. 79); der Brief wurde von Karl May sehr wahrscheinlich diktiert.
20Karl May: Im Reiche des silbernen Löwen IV. Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XXIX. Freiburg 1903, S. 70.
21Ebd., S. 71.
22Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg 1910. Hrsg. von Hainer Plaul. Hildesheim, New York 21982, S. 131.
23Ebd., S. 139.
24Ebd., S. 211.
25Ebd.
26Vgl. unten, S. 321ff.
27Engelbert Botschen: Die Banda Oriental - ein Umweg zur Erlösung. In: JbKMG 1979, S. 186-212 (S. 202).
28Walther Ilmer: Durch die sächsische Wüste zum erzgebirgischen Balkan. Karl Mays erster großer Streifzug durch seine Verfehlungen. In: JbKMG 1982, S. 97-130 (S. 108).
29May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 22, S. 15 1.
30Heinz Stolte: Der Fiedler auf dem Dach. Gehalt und Gestalt des Romans '"Weihnacht!"'. In: JbKMG 1986, S. 9-32 (S. 22, mit Bezug auch auf frühere Reiseerzählungen Mays).
31Vgl. oben, S. 173ff., 218ff. u. 243ff.
32Vgl. Lowsky: May, wie Anm. 1, S. 62ff. (mit ausführlichen Literaturangaben).
33May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 22, S. 15 1.
34Vgl. Ilmer: Durch die sächsische Wüste, wie Anm. 28, S. 105.
35Karl May: Ein Schundverlag. Ein Schundverlag und seine Helfershelfer (1905 bzw. 1909). Prozeßschriften, Bd. 2. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1982, S. 374.
36Walther Ilmer: Karl Mays Weihnachten in Karl Mays '"Weihnacht!"' In: JbKMG 1987, S. 101-137 (S. 109).
37Karl May: Freuden und Leiden eines Vielgelesenen. In: Deutscher Hausschatz. 23. Jg. 1897 (erschienen September/Oktober 1896); hier zit. nach der Original-Wiedergabe in: 'Der Rabe', wie Anm. 3, S. 175-211 (S. 202).
38Vgl. oben, S. 244f.
39Heinz Stolte: Die Reise ins Innere. Dichtung und Wahrheit in den Reiseerzählungen Karl Mays. In: JbKMG 1975, S. 11-33 (S. 32).
40Vgl. z.B. Walther Ilmer: Mit Kara Ben Nemsi 'im Schatten des Großherrn'. Beginn einer beispiellosen Retter-Karriere. In: JbKMG 1990, S. 287-312 (S. 292).
41Walther Ilmer: Das Märchen als Wahrheit - die Wahrheit als Märchen. Aus Karl Mays 'ReiseErinnerungen' an den erzgebirgischen Balkan. In: JbKMG 1984, S. 92-138 (S. 110).
42Vgl. ebd.
43Vgl. z.B. Wolf-Dieter Bach: Fluchtlandschaften, wie Anm. 8, passim - Ders.: Sich einen Namen machen. In: JbKMG 1975, S. 34-72.
44Ilmer: Mit Kara Ben Nemsi, wie Anm. 40, S. 300.


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45Roxin: Bemerkungen, wie Anm. 2, S. 80 - Vgl. Heinz Stolte: Der Volksschriftsteller Karl May. Beitrag zur literarischen Volkskunde (Reprint der Erstausgabe von 1936). Bamberg 1979, S. 118ff.
46Claus Roxin: Einführung. In: Karl May: EI Sendador. 'Deutscher Hausschatz'. 16./17. Jg. (1889-91) Reprint der KMG. Hamburg, Regensburg 1979, S. 2-8 (S. 5).
47May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 22, S. 116 u. passim.
48Nach Hans Wollschläger: Der "Besitzer von vielen Beuteln". Lese-Notizen zu Karl Mays 'Am Jenseits' (Materialien zu einer Charakteranalyse II). In: JbKMG 1974, S. 153-171 (S. 158).
49Dazu Gert Ueding: Die Rückkehr des Fremden. Spuren der anderen Welt in Karl Mays Werk. In: JbKMG 1982, S. 15-39 (S. 20ff.)
50Dazu Ilmer: Durch die sächsische Wüste, wie Anm. 28, S. 125: "So straft Karl May im Geiste alle, die ihm Übles taten: er schickt sie in die Finsternis, die ihn als Kind umgab."
51Karl May: Im Lande des Mahdi I. Gesammelte Reiseromane, Bd. XVI. Freiburg 1896, S. 211 f. - Dazu Heinz Stolte: Narren, Clowns und Harlekine. Komik und Humor bei Karl May. In: JbKMG 1982, S. 40-59 (S. 52).
52May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 22, S. 228.
53Vgl. Stolte: Reise ins Innere, wie Anm. 39, passim.
54Nach Hanswilhelm Haefs: Der verlorene Sohn oder Der Fürst des Elends. Versuch einer Bilanz. In: MKMG 73 (1987), S. 45-49 (S. 48).
55Daß alle, gelegentlich sehr waghalsigen, Kombinationen (etwa Ilmers) in allen Details immer richtig sein müssen, soll damit freilich nicht behauptet werden.
56Vgl. oben, S. 118ff.
57Vgl. Claus Roxin: "Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand". Zum Bild Karl Mays in der Epoche seiner späten Reiseerzählungen. In: JbKMG 1974, S. 15-73 (S. 49f.).
58Zum letzteren Gesichtspunkt vgl. Ingmar Winter: Gottesurteil - Gottesgericht. Die Wiederbelebung des Ordals durch Karl May. In: MKMG 81 (1989), S. 19-26.
59Ilmer: Karl Mays Weihnachten, wie Anm. 36, S. 109.
60Ilmer: Das Märchen als Wahrheit, wie Anm. 41, S. 94.
61Roxin: Einführung, wie Anm. 46, S. 3.
62Carl Gustav Jung: Gestaltungen des Unbewußten. Zürich 1950, S. 29 - Dazu Ingrid Bröning: Die Reiseerzählungen Karl Mays als literaturpädagogisches Problem. Ratingen, Kastellaun, Düsseldorf 1973, S. 109-166 (zu Karl May und C.G. Jung).
63Die "Menschheitsseele" gehört zu den wichtigsten Schlüsselbegriffen des Mayschen Alterswerks.
64Aus Mays Brief vom 6.10.1905 an Hans Möller; zit. nach Claus Roxin: Das dritte Jahrbuch. In: JbKMG 1972/73, S. 7-10 (S. 7) - Doch schon 1886-88 bezeichnete May sein Spiegelbild Ma(y)x Walther als "Lehrer" und "Psycholog" (Karl May: Der Weg zum Glück. Roman aus dem Leben Ludwig des Zweiten. Hildesheim, New York 1971 (Reprint der Dresdner Erstausgabe von 1886-88, S. 638)!
65Ausführlich dargestellt bei Udo Kittler: Karl May auf der Couch? Die Suche nach der Seele des Menschen. Materialien zur Karl-May-Forschung, Bd. 9. Ubstadt 1985, S. 17-65 - Vgl. May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 22, S. 81; der dortige Hinweis auf Schubert klingt nach Ernst Seybold (Brief vom 10.4.1991 an den Verfasser) freilich eher nach Distanz.
66Aus Mays Brief vom 29.11.1906 an Prinzessin Wiltrud von Bayern; abgedruckt in: JbKMG 1983, S. 92ff. (S. 92).
67Zu diesem Aspekt vgl. Stolte: Volksschriftsteller, wie Anm. 45, passim - Lowsky: May, wie Anm. 1, S. 71 ff.
68Vgl. Bröning, wie Anm. 62, S. 169f. - Nach Dieter Ohlmeier: Karl May: Psychoanalytische Bemerkungen über kollektive Phantasietätigkeit. In: Materialien zur Psychoanalyse und analytisch orientierten Psychotherapie 4 (1978), S. 337-360 (S. 339), hingegen werden (in Winnetou I) Adoleszenzkonflikte nicht gelöst, sondern nur "arretiert"; zit. nach Lowsky: May, wie Anm. 1, S. 73.
69Franz Langer (= Karl May): Die Schund- und Giftliteratur und Karl May, ihr unerbittlicher Gegner (1909). In: Schriften zu Karl May. Materialien zur Karl-May-Forschung, Bd. 2. Ubstadt 1975, S. 199-236 (S. 203f.).
70Claus Roxin: Einführung. In: Karl May: "Giölgeda padishanün" - Reise-Abenteuer in Kurdistan. 'Deutscher Hausschatz' 7./8. Jg. 1880-82. Reprint der KMG. Hamburg, Regensburg 1977, S. 2-6 (S. 3).


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71Vgl. May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 22, S. 314 u. 317.
72Bach: Fluchtlandschaften, wie Anm. 8, S. 41.
73Ebd., S. 62.
74Ebd. - Vgl. auch Erwin Koppen: Christliche Mythen bei Alexandre Dumas und Karl May. In: Mythos und Mythologie in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Hrsg. von Helmut Koopmann. Frankfurt/M. 1979, S. 199-211.
75Interessant sind in diesem Zusammenhang die tiefenpsychologischen Deutungen diverser Grimm-Märchen, des Kleinen Prinzen (von A. de Saint-Exupéry) und der Kindheitsgeschichte Jesu (nach Lukas) durch Eugen Drewermann.
76Bach: Fluchtlandschaften, wie Anm. 8, S. 63.
77May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 22, S. 141.
78Mays öffentliche Auftritte als Old Shatterhand (vgl. unten, S. 325ff.) sind freilich kein zwingendes Argument gegen die Möglichkeit, daß May den Märchen-Charakter seiner Erzählungen schon früh erkannt haben könnte.
79Ernst Bloch: Traumbasar. In: KMJB 1930. Radebeul 1930, S. 59-64 (S. 61).
80May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 22, S. 141.
81Lowsky: May, wie Anm. 1, S. 72 (mit Bezug auf Böhm, wie Anm. 12, S. 167ff.).
82Vgl. auch Franz Cornaro: Der Märchenerzähler. In: KMJB 1924. Radebeul 1924, S. 173-198 - Klaus R. Meichsner: Der Hakawati. Die Märchen von Karl May. Heidelberg 1978 - Wiltrud Ohlig: Das Vermächtnis des Hakawati. In: MKMG 46 (1980), S. 31-37 - Weitere Literatur bei Lowsky: May, wie Anm. 1, S. 74ff.
83Dazu Ralf Harder: Kara Ben Nemsi und der Wolf. In: MKMG 60 (1984), S. 21 ff.
84Vgl. oben, S. 145. - Weitere Beispiele für Märchen-Motive bei May nennt Ilmer: Das Märchen als Wahrheit, wie Anm. 41, S. 92 u. 131f. (Anm. 5).
85Vgl. z.B. Stolte: Die Reise ins Innere, wie Anm. 39, S. 12.
86Vgl. Bernd Steinbrink: Vom Weg nach Dschinnistan. Initiationsmotive im Werk Karl Mays. In: JbKMG 1984, S. 231-248.
87Roxin: Bemerkungen, wie Anm. 2, S. 108 (Anm. 95).
88Rainer Stephan: Karl May oder Brauchen wir eine erwachsene Literatur? Bemerkungen zur seltsamen Rehabilitation des Großschriftstellers. In: Süddeutsche Zeitung (7.10.1987), S. XV.
89Vgl. oben, S. 189ff.
90So Britta Berg: Religiöses Gedankengut bei Karl May. SKMG Nr. 47 (1984), S. 11.
91Volker Klotz: Durch die Wüste und so weiter. In: Schmiedt (Hrsg.): May, wie Anm. 13, S. 75-100 (S. 92).
92Ebd., S. 99.
93Vgl. Ueding: Die Rückkehr des Fremden, wie Anm. 49, passim.
94Vgl. oben, S. 246.
95Karl May: "... daß ja diese Ewigkeit auch unsere Zeit umschließt" (Brief aus dem Jahre 1902). In: MKMG 56 (1983), S. 19ff.
96Ilmer: Durch die sächsische Wüste, wie Anm. 28, S. 124.
97Ueding: Die Rückkehr des Fremden, wie Anm. 49, S. 32.
98Ebd., S. 15 u. passim.
99Vgl. Hans Wollschläger: "Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt". Materialien zu einer Charakteranalyse Karl Mays. In: JbKMG 1972/73, S. 11-92.
100Ueding: Die Rückkehr des Fremden, wie Anm. 49, S. 38.
101Vgl. Harald Fricke: Karl May und die literarische Romantik. In: JbKMG 1981, S. 11-35. - Vgl. oben, S. 261.
102Vgl. Ueding: Die Rückkehr des Fremden, wie Anm. 49, S. 19, 21f, 32f.
103Ebd., S. 34.
104Ebd., S. 35.
105Vgl. Steinbrink, wie Anm. 86.
106Vgl. Berg, wie Anm. 90, S. 3.
107Zum Begriff der "Mystagogie" vgl. Karl Rahner: Atheismus und implizites Christentum. In: Ders.: Schriften zur Theologie VIII. Einsiedeln, Zürich, Köln 1967, S. 187-212 (S. 205).


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108Karl May: Old Surehand I. Gesammelte Reiseromane, Bd. XIV. Freiburg 1894, S. 408f. - Vgl. Ueding: Die Rückkehr des Fremden, wie Anm. 49, S. 37.
109Vgl. May: Old Surehand I, wie Anm. 108, S. 410f.
110Ebd., S. 408.
111Heinz Stolte: Hiob May. In: JbKMG 1985, S. 63-84 (S. 77).
112Ansätze bei Walter Schönthal: Christliche Religion und Weltreligionen in Karl Mays Leben und Werk. SKMG Nr. 5 (1976). - Vgl. Ernst Seybold: Aspekte christlichen Glaubens bei Karl May. SKMG Nr. 55 (1985) - Ders.: Karl-May-Gratulationen. Geistliche und andere Texte zu und von Karl May 1 - V. Ergersheim 1987 u. 1989ff.
113Dazu Heinz Stolte: Auf den Spuren Nathans des Weisen. Zur Rezeption der Toleranzidee Lessings bei Karl May. In: JbKMG 1977, S. 17-57 - Ekkehard Koch: "Jedes irdische Geschöpf hat eine Berechtigung zu sein und zu leben". Zum Verhältnis von Karl May und Johann Gottfried Herder. In: JbKMG 1981, S. 166-206.
114Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt/M. 1959 u.ö., S. 5,
115Vgl. die Zusammenfassung bei Lowsky: May, wie Anm. 1, S. 86-96.
116Helmut Schmiedt: Karl May. Studien zu Leben, Werk und Wirkung eines Erfolgsschriftstellers. Frankfurt/M. 21987, S. 182.
117Vgl. auch Peter Krauskopf. Die Heldenrevision in Karl Mays Reiseerzählung 'Und Friede auf Erden' als Kritik am wilhelminischen Imperialismus. In: MKMG 71 (1987), S. 3-10; Fortsetzung in MKMG 72 (1987), S. 3-11.
118Schmiedt: Karl May, wie Anm. 116, S. 261.
119Günter Scholdt: Hitler, Karl May und die Emigranten. In: JbKMG 1984, S. 60-91 (S. 78).
120Vgl. Jochen Schulte-Sasse: Karl Mays Amerika-Exotik und deutsche Wirklichkeit. Zur sozialpsychologischen Funktion von Trivialliteratur im wilhelminischen Deutschland. In: Schmiedt (Hrsg.): May, wie Anm. 13, S. 101-129 (S. 113ff.). - Schulte-Sasse will in Mays Wildwest-Geschichten nun allerdings eine spezifisch deutsche Imperialismus-Gesinnung erkennen, die zwar den fremden Kolonialismus attackiert, das Deutschtum aber glorifiziert. - Dagegen zu Recht Lowsky: May, wie Anm. 1, S. 88.
121Vgl. Lowsky: Ebd., S. 87.
122Zu Mays eigener - ambivalenter - Einstellung zum Geld vgl. Martin Lowsky: Problematik des Geldes in Karl Mays Reiseerzählungen. In: JbKMG 1978, S. 111-141.
123Vgl. Karl May: Old Surehand III. Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XIX. Freiburg 1896, S. 2f.
124Vgl. May: Im Lande des Mahdi I, wie Anm. 51, S. 41 ff. (die Szene mit den beiden Negerkindern).
125Zum letzteren Aspekt vgl. Hartmut Schmidt: Karl May und die Neger. In: MKMG 24 (1975), S. 11-14; Fortsetzung in MKMG 25 (1975), S. 12-15.
126Vgl. Erwin Koppen: Karl May und China. In: JbKMG 1986, S. 69-88 - Rainer Jeglin: Karl May und die Armenier. In: MKMG 6 (1970), S. 20-24; Fortsetzung in MKMG 7 (1971), S. 22-25.
127May: Old Surehand I, wie Anm. 108, S. 241.
128Vgl. bes. Edwin Hoernle: Unorganisierte Formen der Kindermassenbeeinflussung, In: Ders.: Grundfragen proletarischer Erziehung. Darmstadt 1969 (Erstveröffentlichung in: Grundfragen der proletarischen Erziehung. Berlin 1929) - Hartmut Lutz: "Indianer" und "Native Americans". Zur sozial- und literarhistorischen Vermittlung eines Stereotyps. Hildesheim, Zürich, New York 1985, S. 318-410 - Dazu kritisch: Lowsky: May, wie Anm. 1, S. 88.
129Die in Deutschland spielenden Erzählungen Mays weisen freilich nicht weniger (und hier natürlich deutsche) Schufte auf als die exotischen Erzählungen.
130Lowsky: May, wie Anm. 1, S. 88.
131Ulrich Schmid: Das Werk Karl Mays 1895-1905. Erzählstrukturen und editorischer Befund. Materialien zur Karl-May-Forschung, Bd. 12. Ubstadt 1989, S. 157.
132Vgl. unten, S. 626ff.
133Vgl. oben, S. 142.
134Nach Schmiedt: Karl May, wie Anm. 116, S. 243, könnte May hier vor allem die Franzosen meinen.
135May: Old Surehand III, wie Anm. 123, S. 127f.
136Bloch: Das Prinzip Hoffnung, wie Anm. 114, S. 427.


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137Gert Ueding: Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch und Kolportage. Frankfurt/M. 1973, S. 137.
138Vgl. die differenzierenden Ausführungen bei Schulte-Sasse, wie Anm. 120, S. 124f.
139Vgl. Roxin: "Dr. Karl May", wie Anm. 57, S. 53.
140Vgl. Martin Lowsky: "Aus dem Phantasie-Brunnen". Die Flucht nach Amerika in Theodor Fontanes 'Quitt' und Karl Mays 'Scout'. In: JbKMG 1982, S. 77-96 (S. 88f).
141Bach: Fluchtlandschaften, wie Anm. 8, S. 41 (zu Ferdinand Freiligrath sieht Bach hier Parallelen).
142Vgl. Lowsky: May, wie Anm. 1, S. 88.
143Gegen Lowsky: "Aus dem Phantasie-Brunnen", wie Anm. 140, S. 91 - Vgl. Schulte-Sasse, wie Anm. 120, S. 121.
144Vgl. z.B. Karl May: Winnetou I (1983). Karl Mays Werke IV. 12. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Zürich 1990, S. 9ff.
145Karl May in Berlin. SKMG Nr. 33 (1981), S. 42.
146Parteipolitisch ist Karl May nicht zu vereinnahmen; dafür ist seine Denkweise zu facettenreich.
147Wir sind ein Teil der Erde. Die Rede des Häuptlings Seattle vor dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika im Jahre 1855. Olten, Freiburg 1982, S. 10ff.
148Vgl. auch Ekkehard Bartsch: "Mensch und Tier! und Gedanken Karl Mays zum Natur- und Landschaftsschutz. In: JbKMG 1975, S. 90-98.
149Daß die hier besprochenen Aspekte 'kleine Schuljungen' irgendwie mitlesen, wenn sie Karl May lesen, ist aber natürlich positiv zu bewerten.
150Claus Roxin: Das zwölfte Jahrbuch. In: JbKMG 1982, S. 7-14 (S. 8).



8.5

Die späten Reiseerzählungen (1896-98): Hohe Erzählkunst mit forcierter 'Predigt'-Tendenz


Claus Roxin hat Mays "späte" Reiseerzählungen von den "klassischen" (bis ca. 1896) unterschieden.1 Tatsächlich weisen die Romane Old Surehand III, Im Reiche des silbernen Löwen I/II und "Weihnacht!" so viele und so gewichtige Besonderheiten auf, daß die Behandlung als eigene Werksgruppe gerechtfertigt ist.

   Am 6. Oktober 1896 schrieb der Autor an Fehsenfeld: Nach Old Surehand III, dem 'Wildwest'-Roman, an dem May gerade arbeitete,


sollte "Marah Durimeh" kommen, 3 Bände, MEIN HAUPTWERK, welches meine ganze Lebens- und Sterbensphilosophie enthalten wird. Ich habe aber eingesehen, daß es ein großer Fehler wäre [...], dies schon jetzt zu bringen, denn es würde möglicher Weise die folgenden Bände in Schatten stellen, und ein Autor soll doch nicht zurückgehen, sondern sich steigern.2


   Mays Neigung, sich endgültig vom Abenteuer-Genre zu lösen, deutet sich in diesem Brief bereits an - VOR den, etwa gleichzeitig mit der Orientreise (1899/1900) beginnenden, Presse-Angriffen, die oft als der Anlaß oder gar als der Grund für die literarische 'Wende' des Schriftstellers betrachtet werden.3

   Der genaue Zeitpunkt, da Mays Karriere als 'Trivialliterat' zu Ende ging,4 ist kaum zu bestimmen; denn 'platt' und völlig 'anspruchslos' hat er eigentlich nie geschrieben; und 'triviale' Passagen enthält, hier und da, das im ganzen 'hochliterarische' Spätwerk noch immer. Mays Steigerung zieht keine geradlinige Bahn; über Umwege und (vielleicht) Verwirrungen führt ihn sein Weg nach oben.

   Schon in den frühesten Dorfgeschichten zeigte May beachtliches Können. Doch sein besonderes Metier wurden nicht die Novellen, sondern die epischen Werke. Auf diesem Gebiet wird seine schriftstellerische Entwicklung am deutlichsten sichtbar: Von der ästhetischen Form her gesehen sind die Jugendromane bei Spemann (1887-96) den Münch-


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meyerromanen (1882-87) deutlich überlegen;5 aus dem Naturtalent wurde ein planender Architekt, ein routinierter Artist.

   Innerhalb der 'Reiseerzählungen', der exotischen Ich-Romane seit "Giölgeda padishanün" (1881), scheint eine wirkliche, nun freilich bewundernswerte Überbietung des ursprünglichen - keineswegs niedrigen - Niveaus erst im Alterswerk, im Jenseits-Roman (1898/99) und den folgenden Büchern, zu gelingen: mit der bewußten Hinwendung zur 'Symbolik'. Nach dem heutigen Forschungsstand ist eine weitere Differenzierung allerdings angebracht: Der Ich-Erzähler hat seine Stilmittel verfeinert,6 noch vor der Jahrhundertwende und noch vor der krisenhaften Zuspitzung der Lebensentwicklung des Autors um 1898. Als letzte, und wohl beste, Erzählung innerhalb seiner 'echten' - im weiteren Sinne aber doch schon 'symbolischen' - Reiseromane kann "Weihnacht!" (1897) betrachtet werden. Bezüglich der Form stellt dieser Band "den Gipfel" der Mayschen "Erzählkunst in der Reihe seiner speziellen Abenteuerbücher"7 dar.

   In "klarer Schreibstrategie" bereitet Karl May "den Übergang von der Abenteuer- zur Hochliteratur vor."8 Was im Rahmen der folgenden Darstellung besonders interessiert, sind spezielle Aspekte dieses Übergangs: die psychographische Relevanz und die theologische Aussagekraft der späten Reiseerzählungen.

   Man muß es sich immer vor Augen halten: Mays Leben, seine Gegenwart und seine Vergangenheit, ist versammelt in seinen Büchern. Alles ist da: der äußere Erfolg des gefeierten Schriftstellers, die innere Unruhe, die verdrängte Angst, die schwierige Ehe mit Emma, die Flucht in die Tagträume, die Spannung mit dem Pustet- und der Bruch mit dem Münchmeyerverlag,9 die Jahre der Haft, die psychische Störung, die 'Spaltung des Innern', die kriminellen Vergehen, die frühere Liebe zu verschiedenen Frauen, das Scheitern im Lehrberuf, das 'Uhrendelikt', der Seminardirektor in Waldenburg, die frommen Traktate der Jugend- und Kinderzeit, die Peitsche des Vaters, die Heilung des blinden Karle, die narzißtische Prägung, die (1885 verstorbene) Mutter, die "Recherche nach der verlorenen Liebe",10 die - Suche nach Gott. Dies alles ist da. Es drängt nach immer neuer Gestaltung. Es schreit nach Verwandlung und nach Erlösung.

   Mays Bücher sind verschlüsselte Konfessionen, sehr persönlich gefärbt. Und aktuell sind sie nach wie vor: weil sie 'archetypisches' Material, weil sie eine bleibende religiöse Botschaft enthalten; und weil sie einen zeitgenössischen Trend, den wilhelminischen Heldenkult, zögernd - aber mehr und mehr - überwinden.

   Mays Heldenideal war bisher von männlichen, von martialischen Zügen beherrscht. Das 'Vaterbild' dominierte: Der Schriftsteller suchte wohl unbewußt, den Vater zu imitieren und diesen, als 'Schmetterfaust', an Männlichkeit womöglich zu übertreffen! Dieses Bestreben wird literarisch nun in den Hintergrund treten und zunehmend verblassen.

   Im Unterschied zu den Kolportageromanen (und den frühen Novellen) kommt in den 'klassischen' Reiseerzählungen, erst recht in den Jugendromanen, Frauen nur selten eine handlungstragende Rolle zu. Jetzt aber, in vielen 'Marienkalender'-Geschichten11 und in den späten Reiseerzählungen, gewinnt das Weiblich-Sanfte, das erlösende 'Mutterbild', an Bedeutung. Die kriegerisch-männlichen Eigenschaften des Häuptlings Winnetou zum Beispiel werden durch weibliche Züge ergänzt:12 Der Apatsche hat jetzt "küßliche Lippen";13 seine Stimme besitzt einen - so heißt es in "Weihnacht!" -


gutturalen Timbre, [...] welcher nur mit dem liebevollen, leisen, vor Zärtlichkeit vergehenden Glucksen einer Henne, die ihre Küchlein unter sich versammelt hat,14 verglichen werden kann [...] Wenn er von Gott sprach, seinem großen, guten Manitou, waren seine Augen fromme Madonnen-, wenn er freundlich zusprach, liebevolle Frauen-, wenn er aber zürnte, drohende Odins-Augen.15


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   Die Sehnsucht nach Liebe, die Suche nach der Frau und der Mutter,16 tritt der heldischen Attitüde zur Seite, ja verdrängt sie beinahe. Erste Anzeichen für diese Entwicklung hat es längst schon gegeben.17 Der Handlungs-Schwerpunkt verlagert sich, immer mehr nun, nach innen:18 Das in den Ich-Romanen "bisher gemiedene Sujet Familie"19 dringt ein in die Reiseerzählungen; und "der Auflösungsprozeß der Abenteuerthematik"20 ist nicht mehr aufzuhalten.

   Im Jahre 1895 hat May, nach dem ebenfalls nicht besonders produktiven Jahr 1894, lediglich fünf kleine 'Marienkalender'-Geschichten (im Gesamtumfang von weniger als 300 Seiten) und den mittleren Teil der relativ kurzen Jugenderzählung Der schwarze Mustang verfaßt21 - für Karl Mays bisherige Verhältnisse auffallend wenig! Der Hauptgrund für dieses quantitative Nachlassen seiner Schaffenskraft dürfte eine innere Ermüdung, eine literarische Erschöpfung des Autors gewesen sein: Er hatte sich, wie schon früher erwähnt,22 gleichsam 'leergeschrieben'; als Abenteuerschriftsteller hatte er sich verbraucht; wesentlich Neues konnte er auf diesem Gebiet nicht mehr bringen.

   In Old Surehand III (1896) meint der Ich-Erzähler zu Winnetou: "Diese Geschichte muß ein Ende nehmen. Ich habe das ewige Anschleichen satt!"23 Im Klartext: diesen Roman will er, möglichst rasch, nun zu Ende bringen. Und überhaupt: der Abenteuer, der bisherigen Merkmale seines Schreibens, ist er längst überdrüssig; es wird Zeit, in anderer Weise und mit anderen Schwerpunkten zu schreiben!

   Um 1898/99, mit der Entstehung des Jenseits-Romans, wird sich der Autor tatsächlich 'verwandeln'. Doch schon jetzt, seit 1896 spätestens, hat May die Akzente verschoben. Die Metamorphose wird eingeübt.

   Die Suche nach der Frau und der Mutter verbindet sich bei May, in den späten Reiseerzählungen, in drängender Weise mit der - immer schon mächtigen - Suche nach Gott. "Das schriftstellerische Werk zeigt die folgerichtige, weil von zunehmender Unruhe der Seele diktierte, Hinwendung [...] zu Gott und zu dessen Walten der Gnade oder der Ungnade über das Geschöpf Karl May."24 Da ist es kein Wunder: das äußere Geschehen, die spannende Handlung, die - sieht man genauer hin - schon in den 'klassischen' Reiseerzählungen gar nicht die Hauptsache war, verliert an Gewicht. Im Nachwort (1904) zu Winnetou III wird May dann erklären: "Ich bitte um Geduld; wir haben ja Zeit; wir sind erst im Beginn [...] Wer Mut hat, gehe mit; [...] der Weg [...] ist nicht leicht und führt über jene Stelle, jenseits der nur noch innere Ereignisse Geltung haben."25


8.5.1

Old Surehand III. Die Suche nach Gott oder Die Rückkehr der Mutter


Im Herbst 1896 verfaßte May, nach zweijähriger - durch die Schreibkrise um 1894/95 bedingter - Unterbrechung seiner Arbeit am Surehand-Stoff,26 den Schlußband der Trilogie. Noch vor der Entstehung von Surehand III (Band XIX der Freiburger Reihe) brachte Fehsenfeld Im Lande des Mahdi I-III (Bd. XVI-XVIII) heraus. Dieser Roman wurde aus dem 'Deutschen Hausschatz' fast unverändert übernommen; allerdings fügte May im Frühjahr 1896 zwei neue Kapitel - mit insgesamt über 400 Seiten - hinzu: 'Thut wohl Denen, die Euch hassen!' und 'Die letzte Sklavenjagd'.27

   Ähnlich wie in den Schluß-Kapiteln der Mahdi-Erzählung bricht in der Surehand-Fortsetzung der innere Zwiespalt, die psychische Last, der virulent gebliebene Konflikt des Autors viel gewaltiger durch als in den 'klassischen' Reiseerzählungen. Den Schrei nach Erlösung, nach Versöhnung mit Gott, hört der Leser sehr deutlich heraus.


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   Die vordergründige Story, die landschaftliche Kulisse und das psychische Innenmaterial hatten sich in den früheren Romanen, vor allem im Orientzyklus, "zu einer bruchlosen Einheit zusammengefügt".28 Diese Harmonie beginnt sich nun aufzulösen: Unterbewußte seelische Vorgänge (Angstträume und Schreckgesichte, das Verlangen nach Gott und die Sehnsucht nach Liebe) stören den Fluß der oberschichtigen Handlung. War die 'Binnenhandlung' in den klassischen Reiseerzählungen noch kunstvoll versteckt, so kann der Leser den psychodramatischen Kern, das 'Seelenprotokoll' des Autors, in Surehand III relativ leicht erkennen: Der 'Panzer', die abenteuerliche Fabel, hat größere Sprünge bekommen. Die Enthüllung beginnt.

   'Symbolisch' ist, wie in vielen - auch früheren - Erzählungen Mays,29 schon der topographische Rahmen zu deuten: Die Handlung führt aus der Wüste, dem Llano estacado (in Surehand I), zu den Höhen des Gebirges, der Rocky Mountains (im Schlußband), empor.30 Die Aufwärts-Bewegung markiert auch das ethisch-religiöse Programm.31 Das Surehand-Personal strebt tastend und zweifelnd, forschend und suchend seinem Ziele entgegen. Die 'Höhe', der Ort des Göttlichen, des Gerichts und der Gnade, wird am Ende des Geschehens erreicht.

   Das eigentliche Thema in Old Surehand III ist die Suche nach Gott, nach dem 'mütterlichen' Antlitz der Barmherzigkeit Gottes.32 Mays existentielle Not, seine heimlichen Schuldgefühle, seine Recherche nach der Liebe der Mutter und der Zuwendung Gottes offenbaren sich in dieser Erzählung: im Schicksal der wichtigsten Romanfiguren.

   Old Surehand, der Titelheld, hat seit langer Zeit das "Beten" verlernt (S. 468).33 Er führt das Leben Ahasvers. Er verschweigt mit verbissenem Eigensinn (S. 457f.) seinen Gram, sein Geheimnis: daß sein Vater - wie der junge May - ein 'Verbrecher', ein "Zuchthäusler" (S. 504) war. Old Surehand alias Leo Bender verschließt sich im Schweigen: weil er - wie der Autor - Angst hat vor dem Bekanntwerden seiner Vergangenheit, vor dem Verlust seines Ansehens.34 Er schweigt. Und er sucht seine "Mutter" (S. 562). Gegen Ende der Trilogie findet Surehand - zu Gott (S. 498). Der 'Stumme' kann wieder reden, seine Angst ist geheilt, und - die Mutter ist nahe.

   Das Leid, die Sehnsucht nach der Liebe der Mutter bedrängen auch Apanatschka, den Unterhäuptling der Naini-Komantschen. Der tapfere Held denkt zärtlichst an Tibo-wete, die er für seine Mutter hält, und die dem Wahnsinn verfallen ist. Auch dieser Mann ist ein Rätsel. Eigentlich heißt er Fred Bender und ist, ohne es zu wissen, der jüngere Bruder Old Surehands. Als er seine Mutter, seine richtige Mutter, erkennt, fällt er "mit ihr in die Knie", hält sie "fest umschlungen" und drückt "seinen Kopf an ihre Wange" (S. 521). Das 'mütterliche Prinzip' hat, auch hier, den männlichen Stolz, die Heldenpose des Kriegers überwunden.

   Der innere Friede kehrt für Surehand und Apanatschka, die halbindianischen Brüder, zurück in der Gestalt Kolma Puschis. Dieser ruhelose, immer hilfsbereite, jede menschliche Bindung - zunächst - aber zurückweisende (S. 182) Indianer hat im Aussehen die größte "Aehnlichkeit mit Winnetou" (S. 181). Doch selbst den Apatschen scheint Kolma Puschi ('Schwarzes Auge'), der geheimnisvolle, zu keinem Volk und keinem Stamm gehörende Fremde, zu übertreffen: an magischer Ausstrahlung, vollendeter Männlichkeit und kriegerischem Genie. Zuletzt freilich entpuppt sich der Indianer als - eine Frau namens Tehua ('Sonne') alias Emily35 Bender!

   Kolma Puschi ist die Schwester von Tokbela (Tibo-wete-elen alias Ellen Bender), der vermeintlichen Mutter des Naini-Häuptlings. Leo und Fred, ihre verlorenen Söhne, hat sie gesucht - so viele Jahre vergeblich. Sowie sie in Apanatschka den jüngeren Sohn wie-


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dererkennt, fällt die Maske, die Männlichkeit, ab. Wie der Bowie-Pater (Miß Ella) in Die Juweleninsel36 - aber erzählerisch viel besser motiviert als in der Parallel-Szene des Frühwerks - sinkt die Indianerin auf die Knie (S. 521). Sie muß ihre Tränen jetzt nicht mehr verbergen. Sie darf nun sein, was sie ist: die Sonne, die Mutter, die liebende Frau.

   Das erzählende 'Ich' hat alle Zusammenhänge vorausgeahnt. Old Shatterhand kann und weiß wieder fast alles. Doch "erst in fünfter, sechster Stelle ist er Westmann, in erster aber Christ." (S. 81) Das Wunsch-Ich des Autors versucht, nach besten Kräften, den Grundsätzen des "wahren Christentums" (S. 469) - der dienenden Liebe, die nicht auf Verdienste pocht, die nicht den eigenen Glanz und die eigene Ehre sucht (S. 469f.) - zu entsprechen. Old Shatterhand ist überlegen, aber er spielt sich nicht auf; er lenkt, im Rahmen seiner Möglichkeiten, das Geschehen und vertraut vor allem auf Gottes Führung. Nur: die empirische, die vorläufige Wirklichkeit Karl Mays zeigt sich weniger in Old Shatterhand, um so mehr aber in Surehand und anderen Protagonisten.

   Die, autobiographisch gesehen, wohl interessanteste Figur des Romans ist Fred Cutter, genannt Old Wabble, der (über neunzig Jahre alte) 'König der Cowboys'. Zum ersten Mal tritt er auf in der 1889/90 verfaßten May-Erzählung Der erste Elk.37 Spiegelt er dort - nach Hartmut Vollmer - den Charakter des Vaters, die bezwingende Macht, aber auch die Härte des Heinrich May, so kann er jetzt, in der Surehand-Trilogie, zum einen als partielle Selbstdarstellung des Autors und zum andern als Symbol des "fin de siècle" (S. 151), des gottfernen Materialismus, verstanden werden.38

   In der Figur des Old Wabble ist May vom "Typenschilderer zum Menschengestalter"39 gereift. Gebrochen und widersprüchlich ist dieser Charakter: Zunächst, in Surehand I, als eher sympathisch beschrieben,40 verkörpert Old Wabble, im folgenden, die düstersten Möglichkeiten des früheren, des kriminell gewordenen Karl May. Eine lange, silbrige Haarmähne schmückt das gottlose Haupt; doch dies ist die einzige Zierde des Cowboys. Old Wabble sieht aus wie der Tod: ein Misanthrop, ein 'Schnitter' (Cutter), ein 'Sensenmann'! Zu den destruktivsten - natürlich übersteigerten, ins Dämonische verzerrten, zur eigenen Abschreckung bestimmten - Spiegelungen des 'anderen', des 'finsteren' May gehört dieser Cutter. Er lästert Gott und die Ewigkeit mit hämischer Bosheit (z.B. S. 44); und er scheut keine Untat und keinen Verrat an Old Shatterhand, dem früheren Gefährten, den er als "Heulmaier", als bigottischen Missionar und albernen "Schäfleinshirten" (S. 294) verhöhnt.

   Cutters Leben wird, konsequent, als Sein zum Tode geschildert. Das Sterben kündigt sich an in Etappen: Der Alte versengt sich die langen Haare (S. 207) - ein "Signum des Macht- und gleichzeitig des Lebensverlustes";41 und kurze Zeit später erleidet Old Wabble, in seinem Alter kaum heilbar, einen doppelten Armbruch (S. 263) - was autobiographisch als Chiffre für die Krise des Autors: die "Zerstörung des Abenteuerschreibens"42 interpretiert werden könnte.

   Die letzten Stunden Old Wabbles offenbaren, wie Claus Roxin gezeigt hat,43 die Ängste, die Schrecken des armen May, des nach Erlösung hungernden Schriftstellers. Fred Cutter stirbt eines gräßlichen Todes: Eine gespaltene Fichte, die wir "als weibliches Sexualsymbol"44 verstehen könnten, preßt den Unterleib (den Sitz der Begierde und der männlichen Kraft) Old Wabbles zusammen. Cutters "kein Ende" nehmender Schrei brüllt die seelische Not Karl Mays und "die Schmerzen einer ganzen Welt" (S. 490) heraus!

   Daß es in Surehand III und in weiteren, etwa gleichzeitig entstandenen, Erzählungen Mays45 gehäuft solche Szenen gibt (Atheisten, in ihrer Kälte, ihrer Liebesleere erstarrte Verbrecher werden durch 'Gottesgerichte' geblendet, zerschmettert, von Tieren gefressen


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usw.), wirft natürlich die Frage auf: WARUM erfindet May solche Szenen? Welche Gemütsverfassung treibt ihn dazu? Das Zerbröckeln der - bisherigen - 'Charakterpanzerung'46 und des Heldenideals Karl Mays, aber auch die Eheprobleme und die bevorstehende, von May vielleicht vorausgeahnte Vernichtung seines Rufes haben "ersichtlich schon in den Jahren 1896/97 zu schweren Angstzuständen, zu jenem alptraumartigen Gefühl, zermalmt, erdrückt, zerquetscht zu werden, geführt, das in den Werken dieser Jahre schockierend und zwanghaft immer wiederkehrt."47

   Über psychographische, ans persönliche Schicksal des Autors geknüpfte Gesichtspunkte hinaus ist die - theologische - Frage allerdings nicht zu umgeben: Welche Gottesvorstellung wird von May hier vermittelt? Ein beleidigter, ein grausam sich rächender, die Lästerung (Old Wabbles u.a.) entsetzlich vergeltender Gott? Ein 'gerechter', ein strafender Gott, der Blut sehen will? Ist dieses Gottesbild zu vereinbaren mit der Liebe, der ewigen Liebe, an die Karl May doch geglaubt und die er verkündet hat?

   Ein reines Phantasieprodukt, eine bloße Angstprojektion unseres Schriftstellers ist Old Wabbles Tod keineswegs. So wie Fred Cutter - gefoltert, erdrückt und zerstampft - sind schon viele, auch Unschuldige, tatsächlich ums Leben gekommen. Wie kann Gott, der barmherzige Vater, das zulassen?48 Kein Mensch, kein Theologe, kein Papst und kein Heiliger, kann diese Frage erschöpfend beantworten. Denn es gibt - wie Karl Rahner, einer der bedeutendsten Ausleger des menschlichen Seins und des christlichen Glaubens, bemerkt hat - kein Licht, das die "Abgründigkeit des Leides erhellt, als Gott selbst. Und ihn findet man nur, wenn man liebend Ja sagt zur Unbegreiflichkeit Gottes selbst, ohne die er nicht Gott wäre."49

   Was will Gott von den Geschundenen? Was will er von Karl May? Und was will dieser - von Gott?50 Der Schriftsteller sucht den Frieden der Seele, die Versöhnung mit der dunklen Vergangenheit. Er schafft sich in Cutter ein Alter ego, das die (abgründigen) Möglichkeiten Karl Mays in exzessiver Weise verwirklicht. Und in der Schilderung des Todes, der Sterbestunde Old Wabbles, die auf dreizehn Buchseiten seziert wird, faßt er seine tiefste und letzte Hoffnung, sein - in der Anfechtung durchgehaltenes - Ja zu Gott, seine (in späteren Werken verfeinerte) "Lebens- und Sterbensphilosophie"51 ins stammelnde Wort.

   Das Wunderbare geschieht: Der 'verlorene Sohn' kehrt doch noch zurück. Der sterbende 'King of the cowboys' fleht, in seiner äußersten Angst, um Gnade, um die Vergebung des Himmels.52 Ein einziger Augenblick der wirklichen Reue - subjektiv wie eine "Ewigkeit" (S. 497) empfunden - verändert sein Leben. Old Wabbles Haß, seine Kälte, sein Spott sind gebrochen.

   Old Shatterhand betet für Cutter. Und dieser berichtet:


1ch schlief jetzt einen langen, tiefen Schlaf und sah im Traum mein Vaterhaus und meine Mutter drin, die ich beide hier nie gesehen habe. Ich war bös, sehr bös gewesen und hatte sie betrübt, so träumte mir; ich bat sie um Verzeihung. Da zog sie mich an sich und küßte mich. Old Wabble ist nie im Leben geküßt worden, nur jetzt in seiner Todesstunde. War das vielleicht der Geist von meiner Mutter, Mr. Shatterhand?" - "Ich möchte es Euch gönnen, Ihr werdet's bald erfahren [...]" (S.499)


   Erstmals im Leben betet Old Wabble:


"Herrgott [...] Es giebt keine Zahl für die Menge meiner Sünden, doch ist mir bitter leid um sie, und meine Reue wächst höher auf als diese Berge hier. Sei gnädig und barmherzig mit mir, wie meine Mutter es im Traume mit mir war, und nimm mich, wie sie es that, in Deine Arme auf. Amen!" (S. 499f.)


   Fred Cutter findet den Frieden:


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Das Lächeln war in seinem Angesichte geblieben; es war so mild, als ob er wieder von seiner Mutter träume. Doch war's kein Traum mehr, der ihm die Erbarmung zeigte; er sah sie jetzt in Wirklichkeit, in jener Wirklichkeit, die über allem Irdischen erhaben ist; - - er war tot! - (S. 501)


   Old Wabbles Mutter ist, psychographisch gedeutet, die Mutter Karl Mays. Der vom 'Tode', von der inneren Krise gezeichnete Schriftsteller sucht den Schutz seiner Mutter. Der "Regressionsschock", der May - um die Jahrhundertwende - "auf die Stufe des kleinen Kindes zurückwarf" und die Mutterbindung vertiefte, ist in der Sterbeszene Old Wabbles "mit beklemmender Genauigkeit vorweggenommen".53 Zugleich aber verweist Old Wabbles Traum auf jene Wirklichkeit, die alles Irdische übersteigt. Fred Cutter - Karl May - wendet sich, vertrauend, an jene Barmherzigkeit, die den Gequälten verheißt: "Wie eine Mutter ihren Sohn tröstet, so tröste ich euch" (Jes 66, 13)!

   Old Wabbles Verwandlung muß, angesichts der Verstocktheit des Cowboys, als reines Wunder erscheinen. Es geht dem Erzähler, theologisch - mit Martin Luther - gesprochen, um die Rechtfertigung des Sünders 'aufgrund von Gnade allein' (vgl. Röm 3, 21ff.). Zu Mays liebsten, ihm wichtigsten Bibelstellen gehörte Hiob 19, 25: "Ich weiß, daß mein Erlöser lebt"!54 Der Dichter wußte sehr wohl: Nicht das eigene 'Werk', nicht das "Verdienst" (S. 468) des Menschen - Old Wabble hat keine Verdienste -, sondern die Liebe, die Gnade, die Barmherzigkeit Gottes bringt Heil.

   Wird JEDER, auch der größte Sünder, 'gerechtfertigt' durch Gottes Erbarmen? Oder kann sich der Mensch, in letzter Verstocktheit, der Gnade verweigern? Wer geht, für immer, verloren? Der absolut Böse, der seine Schuld nicht bereut? Diese Möglichkeit schildert May in Dan Etters, dem 'General', dem Hauptschurken der Trilogie. Auch der 'General', der das Glück der Familie Bender zerstört und den indianischen Prediger Derrick (Padre Diterico, den Bruder Kolma Puschis) ermordet hat, wird erdrückt - von einem riesigen Felsen. Er stirbt, so hat es den Anschein, ohne jegliche Reue. Er flucht noch im Sterben - mit Worten, die May nicht zitieren will. "Old Wabble war ein Engel gegen ihn [...] Kann Gott seiner armen Seele gnädig sein? Vielleicht doch - doch - - doch - - - doch!" (S. 565)

   Werden zuletzt doch ALLE gerettet? Karl May läßt diese Frage in Surehand III offen.55 "Es ist ein feiner Zug, daß er sich nicht zur Verdammung der Kontrastfigur, des reuelosen 'Generals' hinreißen, sondern sein Schicksal in Frage und Hoffnung ausklingen läßt".56

   Die Unergründlichkeit Gottes zu durchschauen und zu ergründen, maßt sich der Schriftsteller nicht an. Aber er glaubt an die Gnade, die unendliche Liebe. Er vertraut dem Schutz der himmlischen Kräfte. Er fühlt sich - unter diesem Schutz - berufen, gegen die Hoffnungslosigkeit und die Sinnleere des Atheismus zu protestieren. Er sieht sich, im Schutze der Engel, gedrängt, gegen den positivistischen Rationalismus der Zeitgenossen57 anzuschreiben: Wenn, so reflektiert der Autor,


ein Leser, der in der Irre ging, durch eines meiner Bücher auf den richtigen Weg gewiesen wird, so kommt sein Schutzengel zu dem meinigen, und beide freuen sich über die glücklichen Erfolge ihres Einflusses, unter welchem ich schrieb und der andere las. Das sage ich nicht etwa in selbstgefälliger Ueberhebung, o nein! Wer da weiß, daß er sein Werk nur zum geringsten Teile sich selbst verdankt, der kann nicht anders als demütig und bescheiden sein, und ich trete mit dieser meiner Anschauung nur deshalb vor die Oeffentlichkeit, weil in unserer materiellen Zeit, in unserer ideals- und glaubenslosen fin de siècle nur selten jemand wagt, zu sagen, daß er mit diesem Leugnen und Verneinen nichts zu schaffen habe. (S. 151f.)


   Zur forcierten Predigttendenz, zur Berufung auf himmlische Mächte,58 zur Betonung des mütterlichen Prinzips, der Gnade und Barmherzigkeit Gottes, kommt ein weiteres


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Merkmal der späten Reiseerzählungen hinzu: Die Distanz zum Leser sucht May zu überwinden. Es ist sein "höchster Wunsch", den Leserinnen und Lesern ein Freund, "ein lieber Anverwandter zu werden"!59 Jeder Leser hat "das Recht, seinem Autor in das Herz zu blicken, und dieser ist verpflichtet, es ihm stets offen zu halten. So gebe ich dir das meine. Ist es dir recht, so soll mich's freuen; magst du es nicht, so wird es dir dennoch stets geöffnet bleiben." (S. 342)


8.5.2

Im Reiche des silbernen Löwen I/II: Die Suche nach Gott oder Die Hoffnung auf Emma


Einen, im Vergleich zu Surehand III, vielleicht noch tieferen Blick ins Herz des Verfassers gewährt - freilich auch hier nicht ausschließlich und nicht primär im erzählenden 'Ich' - der Orient-Roman Im Reiche des silbernen Löwen. Über den Menschen Karl May, seine Höhen und Tiefen, seine inneren Kämpfe, seine Glaubensnot und die Kompliziertheit seiner Beziehung zur Ehefrau Emma erfahren wir (indirekt und verschlüsselt) in dieser Erzählung sehr Wesentliches.

   Die Entstehungsgeschichte des Silberlöwen ist ziemlich diffus. Die im Wilden Westen spielende 'Einleitung' mit dem orientalischen Titel Die Rose von Schiras wurde schon im Herbst 1893, im zeitlichen und thematischen Anschluß an Winnetou III, verfaßt60 und an die Hausschatz-Redaktion gesandt. Nach fast vierjähriger Pause, wohl im Frühjahr 1897, setzte May den Silberlöwen fort: mit dem großen, zwischen Euphrat und Tigris handelnden Abschnitt Am Turm zu Babel. Auch die Arbeit an diesem wahrscheinlich Ende 1897, spätestens aber im Frühsommer 1898 abgeschlossenen61 Text wurde unterbrochen: durch eine turbulente Reise des Ehepaars May (Mitte 1897)62 und die Niederschrift des Romans "Weihnacht!" im Herbst 1897.

   Die Rose von Schiras erschien im Frühjahr 1897 im 23. Jahrgang des 'Deutschen Hausschatzes', die Fortsetzung Am Turm zu Babel von November 1897 bis September 1898 im 24. Jahrgang desselben Journals. Im Reiche des silbernen Löwen war der Obertitel für beide Erzählungen.63

   Im August 1898 übernahm Karl May die Hausschatz-Texte für die Fehsenfeld-Bände XXVI und XXVII Im Reiche des silbernen Löwen I/II. Den Wortlaut des Textes ließ er fast unverändert. Doch zum Schaden des Gesamtkonzepts (wie die Mehrzahl der Kenner es sieht) verknüpfte May die ursprüngliche Fabel mit zwei weiteren Kapiteln: 'Der "Löwe der Blutrache"' (I 267-357)64 und 'Ein Rätsel' (II 453-628).65 Diese - 1895 bzw. 1898 entstandenen66 - Ergänzungstexte sind im Rahmen der Gesamtkonzeption Fremdkörper. Mit der Handlung des Silberlöwen haben sie wenig zu tun. "Die schlechte Komposition des Ganzen erklärt sich aus Umfangszwängen der Fehsenfeld-Bände,67 und der Karl-May-Verlag hat die Erzählungen mit Recht für seine Lese-Ausgabe wieder getrennt".68

   Der Silberlöwe I/II blieb, wie manche noch folgende Schöpfung Karl Mays, eine "unvollendete Rhapsodie".69 Die meisten Fäden werden in den 'Fortsetzungs'-Bänden III/IV nicht wieder aufgegriffen. Wie May sich die Lösung so mancher Rätsel - etwa um Dschafar, den märchenhaften persischen Prinzen, dem Old Shatterhand in Amerika erstmals begegnet und den Kara Ben Nemsi im Orient wiedersieht - gedacht hat,70 werden wir nie erfahren. Denn die, zum mystischen Spätwerk gehörenden, Schlußbände III/IV (1902/03) setzen die Abenteuerhandlung, abgesehen von wenigen Einzelmotiven, nicht fort.


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   Der Silberlöwe I/II wurde meist sehr negativ bewertet:71 als müde und langweilig, als "literarisch bedeutungslos",72 als "eine der schwächsten Leistungen Mays",73 die hinter das Niveau der früheren Reiseerzählungen "durchgängig"74 zurückfalle. Doch Walther Ilmer kommt, nach gründlicher Lektüre und eingehender Textanalyse, zum entgegengesetzten Ergebnis: Am Turm zu Babel, der handlungstragende Hauptteil des späteren Silberlöwen I/II (I 267-291 u. 358-624; II 1-452), sei "eine rundum befriedigende und Karl May in Hochform zeigende"75 Erzählung; der Autor habe "diese Geschichte, literarisch gesehen, untadelig aufgebaut und das Spannungselement virtuos wie eh und je gehandhabt."76

   Zwar hat der Schriftsteller viele Figuren, alle Schauplätze und fast sämtliche Handlungselemente des Silberlöwen aus früheren Werken, vorzugsweise dem Orientzyklus (Bd. I-VI), übernommen.77 Diesem Mangel an neuen Ideen stehen andrerseits aber literarische Vorzüge gegenüber. Die Unlust des Autors an der Erfindung von weiteren Abenteuer-Sujets wird ausgeglichen durch erzählerische Feinheiten, die die Wertschätzung des Romans durch Walther Ilmer ins Recht setzen. Mays Sprachvermögen, seine Ausdrucksmittel, seine gestalterischen Fähigkeiten (bei der Beschreibung der Todeskarawane78 zum Beispiel) sind gewachsen. Und wichtige Romanfiguren wie Hanneh oder der Pole Dozorca werden theologisch erhellt und erfahren - im Vergleich zum Orientzyklus - eine psychologische Vertiefung, eine differenziertere Charakter-Zeichnung.79

   Das Erzählinteresse Mays hat sich, wie schon im dritten Surehand-Band, "auf psychische Dimensionen verlagert".80 Die oberschichtige Story mag den Leser erfreuen oder, trotz des Ilmerschen Lobes, noch immer verärgern81 - in jedem Fall gilt: Zumindest autobiographisch gesehen ist Im Reiche des silbernen Löwen I/II eine Kostbarkeit.

   In der 'Einleitung' (I 1-266) trifft Old Shatterhand, nach dem Tode Winnetous, auf zwei Westmänner: die beiden Snuffles. Diese "wollten partout nicht glauben",


daß ich Old Shatterhand sei [...] Sie hielten mich entweder für einen Spaßvogel oder für einen Menschen, in dessen Kopfe etwas nicht in Ordnung war, und nun stand ich gar in dem leisen Verdachte, ein Pferdedieb zu sein! (I 19)


   Den Erzähler "amüsierte" dieser Verdacht "im stillen" (ebd.). Es gab ja in Wirklichkeit - 1893! - noch keine 'Snuffles': keine Spürnasen, keine 'Schnüffler', die die 'Shatterhand-Legende'82 durchschauten oder gar eine Verbindung zwischen May und dem Pferdedieb in Bräunsdorf83 herzustellen vermochten. Die Snuffles in Mays Erzählung freilich sind, im Bewußtsein (oder Unterbewußtsein) des Autors, "klüger als so viele damalige Leser"!84 Mag Old Shatterhand sich vordergründig 'amüsieren' - sein Schöpfer Karl May wird an die früheren Streiche mit Unbehagen gedacht haben. Er beschwört die Vergangenheit und spielt mit dem Feuer!

   Der Schriftsteller bringt, 1893, seinen Ich-Helden Old Shatterhand in "Legitimationszwang".85 Sechs Jahre später, 1899, wird 'Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand' tatsächlich entlarvt.86 Hat May die Blamage vorausgeahnt? Sind die Snuffles "so etwas wie ein Gewissen"87 des Autors?

   In der Babel-Erzählung (1897/98) 'beichtet' der Verfasser! Die heimliche Selbstkritik ist, trotz der heiteren Töne, sehr ernst. So mahnt zum Beispiel Halef den Sihdi: "Nun denke dir die vielen, vielen Menschen, welche durch das Lesen dieser [Mays] Bücher hinter das Geheimnis kommen, daß es in deinem Verstande einige Stellen giebt, welche zugeklebt und ausgebessert werden müssen!" (II 356)

   Nach Persien, ins Reich des 'silbernen Löwen', soll die Reise gehen. Am Turm zu Babel allerdings spielt noch in Mesopotamien, im 'Zweistromland'. Der metaphorische


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Charakter der Landschaft ist "unverkennbar":88 Zwei Ströme, Licht und Schatten, fließen in die Seele des Dichters; die Verstrickung in Schuld und die Suche nach Gott, nach Vergebung und Liebe, bedrängen das Herz Karl Mays; 'Babylon' ist seine (und unsere) Welt mit ihrer Verwirrung und ihrem Verlangen nach Ehre und Ruhm; die Trümmer von Babylon, der gefallene 'Turm', könnten das Bild einer zerrissenen Seele sein, das Symbol eines Irrsinns, einer verblendeten Renommiersucht, die - in sich selber zusammenbricht.

   Vor diesem Hintergrund inszeniert May, in bekannter Manier, wieder fesselnde Abenteuer. Darüber hinaus entwickelt er längere - 'philosophische' - Dialoge, die viele, aufs Abenteuer erpichte, Leser wohl überblättern werden. Doch die unverkürzte, genaue Lektüre ist lohnend und ratsam. Gerade die Dialoge, die Nachtgespräche (des Ich-Erzählers mit Hanneh, Dozorca und Amuhd Mahuli) über Gott und die Welt, über den Tod und die Liebe, zählen zu den schönsten und menschlichsten Partien des Silberlöwen und des Mayschen Gesamtwerks. Sie beweisen, daß der Schriftsteller "gedanklicher Tiefe und adäquater sprachlicher Ausdrucksmittel keineswegs entbehrte, BEVOR sein Alterswerk entstand".89 Und sie zeigen, daß Karl May - schon damals - die eigene Existenz, zumindest unterbewußt, sehr kritisch hinterfragt hat.

   Das Nachtgespräch mit Hanneh scheint, auf den ersten Blick, mit der 'Beichte' des Autors überhaupt nichts zu tun zu haben. Hanneh, die Gattin des kleinen Hadschi, besitzt alles, was sie braucht - nur eines nicht: die Gewißheit des Seins, des Lebens in Fülle. Als Mohammedanerin leidet sie unter der Vorstellung, keine 'Seele' zu haben,90 kein Leben, das bleibt - auch wenn der Körper zerfällt:


"In meinem Innern lebt eine Stimme heißer Angst, die nie zur Ruhe kommt; ich höre sie bei Tag und Nacht, im Wachen und im Traume. Sie schreit nach der Erlösung von dem fürchterlichen Gedanken, daß das Weib nur Fleisch vom Fleische, Staub vom Staube, eine wandelnde Gestalt ohne Geist und ohne Seele sei." (I 371)


   Eine "seelische Eruption" (ebd.) ohnegleichen! Halefs Gattin wird, durch Kara Ben Nemsi, von ihrer Last dann befreit: "Wie Maria, die seligste der Frauen, im Himmel thront, so steht auch dir und allen Frauen, welche ihr nachfolgen, das Thor zu allen Seligkeiten offen. So lehrt das Christentum." (I 373)

   Der Effendi verweist auf Christus, der in die Welt gekommen sei, "damit alle, die an ihn glauben, [...] nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben." (Ebd.) Hanneh hat lange gewartet auf dieses Wort. Sie jubelt in hymnischer Freude:


"Oh Allah, ich habe eine Seele, eine Seele! [...] Ich habe gezweifelt und gekämpft so viele Jahre hindurch, und nun kommt dieses Glück so plötzlich und so strahlend über mich! Ich bin kein hohles Gefäß [...] Ich wurde nicht bloß für den Mann geboren, um dann wieder nichts zu sein." (Ebd.)


   Eine, auch sprachlich, sehr schöne Partie im Werk Karl Mays! Aber - was hat sie mit der Selbstreflexion des Verfassers zu tun? Zum theologischen Sinn, zur allgemeinen - anthropologischen - Bedeutsamkeit dieses Dialogs (Trauer über ein materialistisches Menschenbild ohne Ewigkeit, ohne wirkliche Liebe; Überwindung dieses Menschenbilds durch Glaube und Vertrauen) kommt ein psychologischer Hintersinn, eine spezielle - autobiographische - Relevanz noch hinzu: Hannehs "Angst", keine "Seele" zu haben, spiegelt, nach Ilmer, des Schriftstellers Angst, keine Frau, keine Partnerin, kein geistiges Du, sondern - ein gurrendes Weibchen, eine geschwätzige Köchin zu haben. Eine Frau mit 'Seele', eine Frau wie Hanneh - ist der Wunsch Karl Mays! "So fraulich, so nachdenklich, so dem Höheren zugewandt und - bei aller Selbstbescheidung - so selbstsicher wie diese Hanneh sollte Emma sein!"91


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   Hanneh ist eine kluge Frau. Sie schützt ihren Mann, Hadschi Halef, vor dessen eigener Torheit (I 284f.). Gerade jetzt, auf der Höhe seiner Berühmtheit, hätte auch May eine verständige, vor der Exzentrik - dem Shatterhand-Kult - ihn schützende Frau so nötig gehabt: "Es ist jeder heiß- oder schnellblütig angelegte Mann nur glücklich zu preisen, wenn er eine bedachtsame Frau besitzt, welche es versteht, ihn in freundlicher, aber ja nicht herrischer Weise vor Unbedachtsamkeiten zu bewahren." (1 285)

   Die eigenen Fehler sieht May, in der Tiefe seines Herzens, wohl ein. Seine Hoffnung setzt er - auf Emma. In Hanneh entwirft der Dichter das Idealbild der 'besseren Hälfte' des Mannes. Aber auch in Emmeh,92 mit der Kara Ben Nemsi seit "fast zwei Jahren" (I 397) verheiratet ist, zeichnet May ein äußerst sympathisches, durch und durch idealisiertes Bild seiner Ehefrau Emma.93 Seine (widersprüchlichen) Gefühle unter Kontrolle zu bringen und die Realität literarisch zu korrigieren, hat May, auch als Ehemann, wohl einigen Grund.

   "Gestehe, daß du wegen dieser Frau ein böses Gewissen gehabt hast!" (I 393), meint Halef, halb scherzhaft, zum Sihdi. Denn dieser hatte - bisher - die Existenz seiner Emmeh dem Hadschi verschwiegen! Warum? "Karl May hatte in der Tat 'ein böses Gewissen' wegen Emma; er wollte ihr gerecht werden, sah aber täglich ihre [...] Mängel"94 und versagte wahrscheinlich auch selbst: durch ängstliche Nachsicht und dann wieder übertriebene und unbeherrschte Kritik.95

   Die eigentliche 'Beichte', die Selbstanklage des Schriftstellers enthält das Nachtgespräch mit Dozorca. Mays Alter ego ist in der Babel-Erzählung, neben Halef und Kara Ben Nemsi, in erster Linie der Pole Dozorca, ein schwacher, durch Lebenserfahrung verbitterter Mensch. Um Karriere zu machen, hat er die islamische Religion angenommen. Er wurde Bimbaschi, Ma(y)jor in türkischen Diensten. Schon früher, in der polnischen Heimat, hatte er Dunkles erlebt. Und dann, im Orient, nach glücklicher Zwischenzeit, kam die Katastrophe: Seine Stellung, sein Geld, seine Frau, seine Tochter hat er verloren. Seine Verzweiflung macht ihn zum Trottel, der vom Diener, dem fetten Kepek ('Kleie'), sich alles gefallen läßt. Wie - Karl von Emma?

   Die Schuld an der ganzen Misere trägt, selbstverständlich, nicht er. Schuld ist vor allem Gott, der ihm - dem 'Gerechten' und 'Braven' - alles genommen hat. Er haßt, er verachtet diesen Gott. An Gottes Liebe kann er nicht glauben.

   Unter nächtlichem Himmel, auf dem Dach seines Hauses in Bagdad, fragt Dozorca den Gastfreund Kara Ben Nemsi: "Effendi, glaubst du an Gott?" (I 539) Der Effendi - Mays besseres Ich -


erschrak fast, als diese seine Frage so plötzlich und unvorbereitet durch die tiefe Stille klang. "Ja", antwortete ich nur mit diesem einen Worte. - "Ich nicht!" - Welch schweren Druck dieses "Ich nicht" hatte! [...] "Warum nicht?" fragte ich ihn nach einer kleinen Weile. "Weil ich nicht an einen Gott glauben kann, welcher mir nichts als Ungerechtigkeiten erwiesen hat." (Ebd.)


   Mit Gott und der Welt ist Dozorca zerfallen. Wie oft mag auch May wie Dozorca empfunden haben! Als Schüler im Seminar, als enttäuschter Liebhaber, als unschuldig-schuldiger Dieb, als entlassener Lehrer, als Sträfling im Zuchthaus, als glückloser Ehemann, als - in sich selbst gefangener, sich selbst bemitleidender - Narzißt!

   Der Ich-Erzähler, im Nachtgespräch mit Dozorca das Gewissen des Autors, hält dem Ma(y)jor einen Spiegel vor:


"Bist du der Mann dazu, eine solche Anklage gegen den, welcher die Allgerechtigkeit selbst ist, zu erheben?" - "Wäre er die Allgerechtigkeit, so säße ich nicht hier, sondern daheim im Schlosse meiner Väter! [...] Hätte er mein Leben gesehen, so konnte er ihm, als der Allmächtige, einen andern Verlauf, einen andern Inhalt geben!" - "Sind wir Kinder Gottes oder seine Sklaven? Wenn er jeden


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Augenblick deines Lebens [...] zu bestimmen hätte, wer und was wärest du dann? Ein totes, willenloses Spielzeug seiner Hand. Aber wahrlich, Gott spielt nicht! Das Leben ist kein Spiel und der Mensch kein hölzerner Kegel" (I 539f.).


   Seinen Widerstand gibt Dozorca noch lange nicht auf:


"Aber was will Gott, wenn es einen giebt, mit uns? Warum fallen wir, ohne zu wissen, warum, ohne schuld zu sein? Warum bleiben tausend andere stehen, ohne es zu verdienen? Warum nimmt er dem Braven alles, alles, selbst das allerletzte, was ihm geblieben ist [...]?" (I 540)


   Der Dialog zwischen Kara Ben Nemsi und dem einstigen Offizier ist der alttestamentlichen Weisheitsliteratur, dem Buche 'Hiob', teilweise nachgebildet. Zugleich aber kann die Erwiderung des Ich-Erzählers an den Ma(y)jor als Selbstbesinnung des Autors, als Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit - den kindischen Versuchen, die 'Omnipotenz' zu genießen, 'Namen' und 'Rang' zu erhaschen, die Spießbürger zu blamieren und die Obrigkeit zu verhöhnen96 - interpretiert werden:


"Welch ein Hochmut! Du setzest dich also zu alleroberst, schaust selbstgerecht und selbstgefällig von dieser stolzen Höhe herab, richtest deine Mitmenschen mit einem einzigen kalten, vernichtenden Worte und duldest den, als dessen Spielzeug du dich soeben noch bekanntest, weder neben und noch viel weniger über dir! Weiß der Mensch, wenn er gefallen ist, wirklich nicht, warum? Bist du an deinem Schicksale wirklich ohne Schuld? Warst du in Wirklichkeit der immerwährend Brave ? Was verstehst du unter Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit? Was dir gefällt und was dir nicht gefällt! Denke dir, du seist ein Kind und sähest in der Hand deines Vaters eine für dich noch unverdauliche oder gar giftige Frucht! Du bittest ihn, sie dir zu geben. Bekommst du sie, so hältst du ihn für gerecht; verweigert er sie dir, so nennst du ihn ungerecht. Er aber hat, wie du später einsehen wirst, als liebevoller, weiser Vater gehandelt." (I 540f.)


   Dozorca-May trotzt: "Ich bin kein Kind, sondern so alt geworden, daß ich um die Einsicht, von welcher du redest, nun endlich einmal bitten möchte!" (I 541)

   Kara Ben Nemsi, des Schriftstellers Alter ego 'nach oben', entgegnet mit Schärfe:


"Grad weil sie dir fehlt, bist du [...] noch ein Kind [...] Wenn du das jetzt in deinem Alter noch bist, so bist du es in deiner Jugend noch viel mehr gewesen [...] Du hast falsch gewählt, vielleicht gar die giftige Frucht aus der [...] Hand des Vaters gerissen, und nun du dir durch ihren Genuß das ganze Leben vergiftet hast, klagst du über seine Ungerechtigkeit oder magst überhaupt nichts von ihm wissen. Es ist freilich nicht schwer, Gott zu leugnen, wenn man [...] sich nur nach dem eigenen Willen gerichtet hat. Da kommen unausbleiblich Stunden stiller, heimlicher Selbstanklage" (I 541).


   May hält hier nicht, wie die 'Freunde' des Hiob,97 von oben herab - für andere - eine Predigt! Denn er meint ja sich selbst: in DIESER Härte wohl ohne Parallele im gesamten - bisherigen - Erzählwerk.

   Jedes Wort des Effendi trifft den Ma(y)jor. Mit Steinen wirft Kara Ben Nemsi nun allerdings nicht. Er weist zurecht und er richtet auf - mit Rat und Tat, mit Verständnis und helfender Güte.

   Dozorca denkt nach. Er weint wie ein Kind.98 Er wendet sich, wenn auch zögernd, dem Christentum wieder zu, und seine Verhältnisse bessern sich rasch. Er wird befördert zum Oberst, zum Mir Alai - dem Prestigegewinn Karl Mays, des Bestsellerautors, entsprechend. Doch die Frau, die Tochter, die 'Liebe' sind noch immer verloren. Wird der 'frühere Bimbaschi und jetzige Mir Alai' sie wiederfinden?


//295//

8.5.3

"Weihnacht!": Die Suche nach Gott oder Die Selbstübersteigerung des erzählenden 'Ich'


Old Surehand, Old Wabble, Dozorca - schwierige Charaktere sind diese 'Helden': Selbstspiegelungen eines komplizierten, mit sich ringenden Menschen, eines Schriftstellers, der 'stürzen' und sein Hauptwerk, in den späten Lebensjahren, dann schaffen wird.

   Als letzte literarische Steigerung vor der 'Wende' Karl Mays zur eigentlichen Symbol-Dichtung und wirklichen Hochliteratur ist "Weihnacht!", der Band XXIV in der Freiburger Reihe, zu bewerten. Der größte Teil dieser Reiseerzählung entstand sehr wahrscheinlich in Birnai an der Elbe (Nordböhmen): in einem Gartenrestaurant, wo Karl May, in völliger Abgeschiedenheit, sich konzentrieren konnte auf seine Arbeit. Innerhalb kürzester Zeit, nach einer Planungsphase von mehreren Monaten allerdings,99 wurde "Weihnacht!" zwischen Mitte Oktober und Anfang Dezember 1897, noch vor Abschluß der Babel-Erzählung, unmittelbar für Fehsenfeld verfaßt.100

   Als Titelbild wählte May 'Die heilige Nacht', ein Altargemälde des Renaissance-Künstlers Antonio Coffeggio. Das Bild zeigt Maria mit dem Kind, die Anbetung der Hirten und im Hintergrund Josef mit einem Esel.101 Zwar spielt der Hauptteil von "Weihnacht!" im Wilden Westen (einem Schauplatz, den der Autor, für die nächsten zwölf Jahre, aus seinem Oeuvre verbannen wird102); aber allein schon der Titel und die äußere Aufmachung sollten den Weihnachts-Roman der Abenteuersphäre entrücken und die religiöse Intention des Buches hervorheben.103

   Der Name 'May' durfte auf dem Einbanddeckel freilich nicht fehlen. Am 12.10.1897 schrieb der Autor an Fehsenfeld:


Die Hauptsache ist der Name May, der muß besonders in die Augen fallen, denn er ist es allein, welcher zieht. Steht er blos auf dem Rücken, so ist es nichts. Die Käufer wollen zu Weihnachten weniger einen Weihnachts- als vielmehr einen May-Band haben; daß dieser Band ein Weihnachtsthema behandelt, kommt in zweiter Linie.104


   In "zweiter Linie" interessiert die religiöse Thematik, so kann man (zugunsten Mays) diesen Brief-Passus interpretieren, die KÄUFER des Buches. May selbst sah die Priorität - in zahlreichen Äußerungen, etwa im Brief vom 7.11.1898 an Fehsenfeld - durchaus anders: "Mein Zweck ist, meine Leser zu Gott zu führen und sie für alles Gute [...] zu begeistern."105

   Worum geht es in diesem Roman? Um die Geburt des Erlösers aus der Jungfrau Maria? Um die göttliche Gnade schlechthin? Um das mütterliche Prinzip? Um die Selbstdarstellung des Autors? Um Public Relations? Echte Frömmigkeit und hoher Idealismus, aber auch Geschäftstüchtigkeit und befremdliche Ich-Überhöhung verschränken sich bei May, in den neunziger Jahren, auf seltsame Weise. Der Dichter sucht den Erfolg. Und er sucht - nicht weniger - Gott. Er sucht zugleich die Liebe der Mutter und der Ehefrau Emma. UND er sucht, nun mit letzter Konsequenz, die neue Identität: in Old Shatterhand, im "erschriebenen Ich",106 in der Ich-Camouflage, in der Maske der Eitelkeit und der Scham (über die dunkle Vergangenheit, die das Edel-Ich zu verdecken hat).107

   Den Gipfel seines literarischen Könnens UND das Ziel seines religiösen Verlangens hat May, so scheint es, nun endlich erreicht: "Weihnacht!" ist geschlossener in der Form und - von manchen Marienkalender-Geschichten abgesehen - noch frömmer, noch christlicher im Gehalt als alle bisherigen Werke. Aber leider: In der Gleichsetzung des Superhelden Old Shatterhand mit dem Autor Karl May wirkt der Meister-Roman, in vielen Passagen, doch allzu gewagt und ziemlich hybrid.


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   Die 'giftige Fracht', die Dozorca, der alte Ma(y)jor, der Hand des himmlischen Vaters - am Turm zu Babel - entrissen hat: sollte sie gar - das Gewand des Old Shatterhand sein?

   Gerhard Neumann sieht die Einzigartigkeit Karl Mays in der "Erschreibung" seiner Wunsch-Identität:


Es ist das Modell der Geburt des Helden aus der Autorschaft, der sozialen Selbstzeugung durch einen Akt des Schreibens, der als ein Akt der Bewahrheitung von Leben verstanden wird. Ein Ziel von solcher Vermessenheit und Anfechtbarkeit zugleich hat sich kein anderer Autor des 19. Jahrhunderts zu stecken gewagt. Hier werden Gelingen, tragisches oder lächerliches Scheitern ununterscheidbar. Der Abstand, der Karl May von anderen Autoren trennt, ist nur von daher zu begreifen.108


   Mays Konstruktion einer totalen Identität von Autor und Edelheld bezeichnet Neumann als zerstörerisch:


Es ist der Zug tragischer Ironie im Schicksal dieses außerordentlichen Mannes, daß der wachsende Erfolg seiner Strategie der Ich-Erschreibung ihm letztlich die bürgerliche Identität, die er schon gewonnen glaubte, wieder raubte. Denn gerade seine soziale Anerkennung als Held und Autor ruft die Journalisten auf den Plan, die 'Dr. Karl May' als Hochstapler und ehemaligen Delinquenten entlarven und seine soziale Identität wieder zerstören.109


   Aufs erste verblüffend, auf den zweiten Blick aber einleuchtend hat Heinz Stolte den Weihnachtsroman Karl Mays zu einem Werk Marc Chagalls in Beziehung gesetzt - zum Bild 'Der Tod' mit dem Motiv des Fiedlers auf dem Dach:110 In schwindelnder Einsamkeit, hoch auf dem First, spielt der Künstler seine Traummelodie. Er hat sich hinaufgeträumt ins Absurde. Dieser Platz ist nicht haltbar. Von dort wird er stürzen. Denn die Erde, die Vergangenheit, die Herkunft wird ihn zurückholen.

   Noch immer (und gerade jetzt, 1897, forciert) herrscht in der Selbstdarstellung Karl Mays der pseudologische Trieb. Er feiert 'Orgien' mit steigender Lust, die die Angst überspielt.111 Was May in früheren Ich-Erzählungen insinuiert, was die Hausschatz-Redaktion seit 1880 bestätigt,112 was May im Satan-Roman bekräftigt, was er seit Jahren - in Briefen - behauptet, was er auf Werbe-Photos verbreitet und im Sommer 1897 in aller Öffentlichkeit erklärt hatte: Karl May ist Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi,113 das wird im Weihnachtsroman - penetrant - unterstrichen und 'legitimiert'.

   "Jetzt, da er als Old Shatterhand öffentlich aufgetreten ist [...], MUSS er in der Erzählung seinen Namen nennen."114 Hunderttausende werden es lesen: Karl May ist wirklich Old Shatterhand. Alle Großtaten, die unwahrscheinlichsten, die völlig unglaublichen, er hat sie vollbracht. Eindringlicher als je zuvor wird es in "Weihnacht!" allen verkündet: Der ehemalige "Gymnasiast" (S. 13),115 der bürgerliche May, der Schriftsteller aus Radebeul ist Old Shatterhand, der edle, der christliche Held.

   Vergessen wir nicht: Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi hieß das 'Ich' nicht in allen Erzählungen; und nicht in allen Geschichten war es der strahlende Held. In Der Scout (1888/89) erweist sich das 'Ich' als ungeschickt im Reiten auf fremden Pferden; das Anschleichen auf den Fingerspitzen fällt ihm recht schwer; und die "Mangelhaftigkeit" seines "Werthes" beginnt er zu ahnen.116 In der Kurzgeschichte Der erste Elk (1889/90 entstanden) verhält es sich ähnlich: Der Ich-Erzähler, Samuel Parker, ist Old Wabble weit unterlegen - als echtes 'Greenhorn' und wirklicher Anfänger!117

   Die Greenhorn-Passagen in Der Scout und Der erste Elk hat May für die Buchfassung in Winnetou II bzw. Old Surehand I korrigiert: Das 'Ich' durfte keine Fehler mehr haben! Aber daß es mit bürgerlichem Namen Karl May heiße, wird im Erzählwerk, expressis verbis, nur in Krüger Bei (an einer einzigen Stelle im, von Keiter gestrichenen, Kapitel 'In der Heimath'118) und jetzt - an zahlreichen Stellen119 - in "Weihnacht!" erklärt.


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   Jawohl, der Schriftsteller Karl May "hatte ganz offensichtlich allen Sinn für die Realität verloren, als er seinen Weihnachtsroman schrieb, und auch jegliche Ahnung davon, in welchen Abgrund der Lächerlichkeit er sich damit stürzte."120

   Aber ausgerechnet DIESE Erzählung muß, ästhetisch gesehen, zu den gelungensten Werken unseres Poeten gezählt werden! Auffällig ist "die straffe Bindung an ein strukturelles Gerüst."121 Erzähltechnisch wirkt alles perfekt: Der Aufbau des Romans ist streng verfügt, die Logik der Handlung besticht, und das Kunstmittel des 'Motivreims' wird, in den Strophen des (aus der Zwickauer Haftzeit stammenden) Weihnachtsgedichtes,122 voll zur Wirkung gebracht.

   Das Weihnachtsgedicht "dominirt", so May an Fehsenfeld, "den ganzen Inhalt, zieht sich wie ein goldener Faden durch das ganze Buch und beherrscht in ergreifender Weise den Schluß desselben."123 Mays Selbstlob ist - wie Stolte und andere Interpreten, in akribischen Textanalysen, erläutern - in diesem Falle ohne Einschränkung berechtigt: Aus dem Erlösungsmotiv 'Weihnacht' hat der Autor mit imponierender "Kunstfertigkeit den ganzen großen Komplex seiner Episoden herausgesponnen und vom ersten bis zum letzten Wort das Ganze zu einer in sich abgeschlossenen Einheit zusammengeklammert".124

   May bezieht sein Weihnachtsgedicht auf verschiedene Grundsituationen des Lebens und arbeitet, im Rezitieren der Verse, mehrfache Sinnperspektiven heraus: die Ankunft des Erlösers inmitten der Not und der Armut der menschlichen Existenz (S. 49ff.); die Heimkehr des 'verlorenen', um Erbarmen flehenden Sohnes (dessen Schuld die Vergebung und dessen Angst die Verwandlung in Freude erfährt: S. 51f); die Überwindung - schließlich - des leiblichen Todes durch die Liebe des Himmels (S. 100f. u. 517ff.).

   Das Gedicht wird zum "Generalregler"125 aller Handlungsstränge:


Der allmählichen Erweiterung des Gedichttexts entspricht im Verlauf der Geschichte die fortschreitende Enthüllung des Schicksals der einzelnen Figuren, [...] bis mit dem letzten Vortrag des Gedichts alle Teilhandlungen zum Abschluß oder zur Aufklärung gelangt sind.126


   Die ganze Fabel wird durch das Weihnachtsgedicht determiniert; keine einzige Szene "ist zufällig, belanglos, rein additiv hinzugefügt".127 Mit seinen fünf Kapiteln, von der 'Einleitung' bis zur Lösung 'Im Schnee', erinnert der Roman an die Technik des klassischen Dramas. Wie die Surehand-Trilogie und der Silberlöwe (schon die Bände I/II) ist auch "Weihnacht!" - wie Hartmut Vollmer gezeigt hat128 - als 'Erlösungsdrama' zu deuten.

   Das gesamte Geschehen in diesem Roman entspricht dem Grundgesetz der biblischen Hermeneutik: der "Struktur von Verheißung und Erfüllung".129 Die 'Realprophetie' des göttlichen Heilsplans erfüllt sich in der Erzählung; die 'Wirklichkeit' schreibt nach, was die Vor-schrift des Autors, das Weihnachtsgedicht, verkündet.130 So gesehen nimmt der Weihnachtsband schon vorweg, was Karl May - in faszinierender Bildsymbolik - im Spätwerk vollenden wird.

   Wesentlich konsequenter als in Satan und Ischariot strukturieren die biblischen Parallelen durchgängig den Roman. Die Wanderung der Familie Wagner zum Beispiel (S. 42f.) ist "bis in die sprachlichen Details"131 der Herbergssuche von Maria und Josef nachgebildet; das Motiv der Herbergssuche setzt sich fort (S. 97ff.), und der 'Krippenszene' im ersten Kapitel gleicht, in Form und Gehalt, die Weihnachtsszene im Schlußteil.132

   Die abenteuerliche Handlung steht zwar - im Unterschied zu den späteren Werken Karl Mays - noch immer im Vordergrund; aber das Interesse des Autors an den Kampfszenen des Western-Genres läßt spürbar nach. Ganz andere, die kriegerischen Elemente verdrängende Themen bestimmen den Duktus des Weihnachtsromans.


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   Das Hauptinteresse Mays gilt - der Versöhnung des Menschen mit Gott. Gewiß, auch profane Bereiche werden mit angesprochen. Auf dieser Ebene geht es in "Weihnacht!", wie Ulrich Schmid unterstreicht, vor allem um "die Existenzregeln des freien Schriftstellers und des literarischen Markts",133 etwa um Fragen des Honorars und des Urheberrechts am eigenen Werk.134 Doch diese Dinge sind, aufs Ganze gesehen, nicht das eigentliche Thema der Weihnachtserzählung.

   Auf der menschlich-religiösen Ebene des Romans steht, wie ebenfalls Schmid hervorhebt, die Kommunikation, das Gespräch, die personale Begegnung,135 im Mittelpunkt des Geschehens:


Zum entscheidenden Kriterium für die Beurteilung der Figuren durch den Ich-Erzähler wird ihre Fähigkeit bzw. Bereitschaft zur Verständigung [...] Die negativen Gestalten sind vor allem durch ihre Verweigerung der Kommunikation gekennzeichnet [...] Die 'gebrochenen' Figuren Reiter, Welley und Hiller haben [...] Schuld auf sich geladen. Erlösung wird ihnen durch das Aussprechen der Schuld, durch das Geständnis.136


   Durch die Begegnung mit Shatterhand, durchs offene Bekenntnis des eigenen Versagens werden der Pelzjäger Hiller und der (vermeintliche) Mörder Emil Reiter aus ihrer Verstrickung befreit. Und erlöst wird, durchs Eingeständnis seiner Verlorenheit, der Wirrkopf Old Jumble: der kindische, ganz und gar weltfremde Jugendgefährte Old Shatterhands - der unkluge, kontaktarme, zerstreute, alles 'verwechselnde' Carpio.137

   Die religiöse Botschaft ist, wie so oft bei May, sehr kunstvoll verwoben mit der autobiographischen Leseebene. In "Weihnacht!" schildert der Autor - erstmals in einem ausführlichen Bericht (S. 9-104) - seine erzgebirgischen Jugendjahre. Er macht sich bewußt:


Der Mensch ist eine gehende Pflanze, deren Wurzeln doch nirgends anders als in der Jugendzeit ruhen. Aus ihr holt er sich noch im spätesten Alter, vielleicht ohne es zuzugeben oder es auch nur zu wissen, eine Menge geistiger Nahrungsstoffe, ohne welche sein Gemüt verdorren müßte! (S. 304)


   Der Schriftsteller besinnt sich auf seine Vergangenheit und - 'kuriert' sie zugleich. In raffinierten Verkleidungen holt sich May, so Walther Ilmer, im Figurenpaar Sappho und Carpio "die Gespenster der Jugendzeit heran - und erschlägt sie":138 Carpio, der stumme "Karpfen" (S. 23), der verträumte, lebensuntüchtige, durch väterliche Fremdbestimmung gescheiterte (S. 325f.) Hermann Lachner, wird - im fernen Westen - den Tod finden. Aus Sappho aber, dem femininen,139 'unreifen' (menschlich und künstlerisch, durch seine Weihnachtsverse, freilich schon vielversprechenden) Schüler, wird - Old Shatterhand, der allmächtige Weltläufer, der große Dichter und Verkünder des Evangeliums.

   Auch und gerade in "Weihnacht!" wäre es verkehrt, die Selbstdarstellung Mays nur im Ich-Helden Old Shatterhand zu sehen. Nein, ALLE Romangestalten, auch Nebenfiguren wie der Mediziner Dr. Rost, der Kantorssohn Reiter oder der Gastwirt Franzl, besonders aber der kranke und liebeshungrige Carpio "sind Ich-Varianten des Autors bzw. verkörpern Phasen seiner Biographie. Dabei reichen die Parallelen bis in die Feinstrukturen des Textes"!140

   Ein Alter ego ganz eigener Art ist der 'Westmann' Watter. Der Kontrast zwischen Shatterhand, dem wirklichen Helden, und Watter, dem überheblichen Pseudo-Helden, soll die 'Echtheit' Old Shatterhands - in den Augen der Leser - bestätigen. Inkognito, mit betonter Bescheidenheit (als 'Mr. Meier'), tritt Shatterhand auf. Watter, der Möchtegern-Westmann, gibt vor, den berühmten Old Shatterhand persönlich zu kennen. Er verhöhnt 'Mr. Meier': "Denkt Euch [...] grad das Gegenteil von dem, was Ihr seid [...], so habt Ihr Old Shatterhand grad vor Euern Augen!" (S. 166) Eine "gnadenlose Demaskierung"141 des Ich-Helden nimmt May, durch Watter, hier vor! Als versteckte - für den damaligen Leser


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kaum erkennbare - Distanzierung des Autors von der Shatterhand-Legende, als feine (ungewollte?) Selbstironie Karl Mays muß dieser Passus verstanden werden!

   Subtiler noch als in der Begegnung des Pseudo-Westmanns mit dem Superhelden Old Shatterhand schildert May sich selbst, die schwachen Elemente seiner Persönlichkeit, in Carpio: dem Anti-Helden und Anti-Old Shatterhand. Denn Carpio ist das Spiegelbild des gespaltenen, schon in den Jugendjahren verstörten, im Erzählwerk so manches 'verwechselnden', die eigene Vergangenheit (im 'Ich' Old Shatterhands und Kara Ben Nemsis) verschleiernden Karl May.142

   In Carpio, dem 'zerrissenen',143 teilnahmslosen, zur Selbst-Zerstörung tendierenden Depressiven, hat der Schriftsteller das Erbärmliche, das Kranke und absolut Hilfsbedürftige - bejaht und gerechtfertigt. Wenn May dazu neigte, das Starke und Siegreiche literarisch zu verherrlichen, so wird hier - mit Carpio - ein Gegengewicht geschaffen, das die Sympathie des Lesers und die Anerkennung durch den Interpreten wahrlich verdient. Liest man die ganze Erzählung von Carpio, dem 'Kinde', her und durchschaut man, in welcher Figur sich der Autor - einen wesentlichen Teil seines multiplen, vielgesichtigen Ich - wirklich darstellt, dann eröffnet der scheinbare Heldenroman ganz andere Perspektiven.

   Die Lösung, die 'Katastrophe', auf die alles Geschehen von Anfang an zusteuert, ist der Weihnachtsabend im Wilden Westen. Winnetou sieht Carpios Tod schon voraus: Der Schnee des Felsengebirges "wird auf die Stelle fallen, wo das Erbarmen der Erde ihn willkommen heißt." (S. 326)

   Old Shatterhand, der ehemalige Sappho, hält den Kameraden und Wandergefährten in seinen Armen - wie die Mutter des Herrn den Gekreuzigten.144 Der Sterbende betet, im Schoße des Freundes. Er beginnt mit den Versen des wiedergefundenen Sappho: "Ich verkünde große Freude, / Die Euch widerfahren ist, / Denn geboren wurde heute / Euer Heiland Jesus Christ!" (S. 5 17)

   Die Weihnachts-, Karfreitags- und Ostermysterien werden, in der Sterbeszene, zusammengeschaut. Carpio "hatte laut angefangen; aber seine Stimme verlor von Strophe zu Strophe mehr von ihrer Stärke [...] Es klang so fremd, so sonderbar, wie aus einer andern, uns unbekannten Sphäre herüber. Ich war tief erschüttert und weinte wie ein Kind" (S. 518). Mit den Worten "Selig, wer bis an das Ende / An die ew'ge Liebe glaubt!" (ebd.) ist Carpios Kraft erschöpft. Der arme Freund ist erlöst, befreit von den Fesseln der Erde. Er sieht das Land, wo - so Winnetou - "ewige Bäume der Erlösung brennen" (S. 519). Hermann Lachner - "war tot. Der Himmel hatte nicht nur seinen letzten Blick, sondern ihn selbst emporgezogen." (S. 518)

   Mit der Botschaft des Engels und der Verheißung des Propheten hatte der Roman begonnen: "Mache dich auf, und werde Licht, denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des Herrn geht über dir auf!" (S. 9f.; vgl. Jes 60, 1) Alles begann mit dem Schriftwort "Siehe, ich verkündige Euch große Freude - - - denn Euch ist heute der Heiland geboren - - -" (S. 10; vgl. Lk 2, 10f.).

   Diese Motive werden durchgehalten, durch alle Verwicklungen, alle Leiden und Zweifel hindurch. Auch Hiller, ein weiteres Ich-Derivat Karl Mays, ist am Ende "wieder alles, was er vor seiner Flucht nach Amerika war, alles und noch mehr, denn er hat seinen Gott wiedergefunden und mit ihm das einzig wahre Glück im Erdenleben." (S. 522f.)

   Und Hillers Frau, die der Verzweiflung so nahe war? Ein "Engel der Bedürftigen, eine Retterin der Elenden, ein Trost für alle, die sich um Schutz und Hilfe an sie wenden", ist sie geworden. "Die köstlichste der Gaben aber, welche sie verteilt, ist die gnadenbringen-


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de Weihnachtsverkündigung, daß für alle, welche sich nach Erlösung aus der Not der Seele sehnen, der rettende Erlöser gekommen sei." (S. 523)

   "Weihnacht!" ist, der Intention, dem religiösen Gehalt nach, frohe Botschaft. Und der Stil des Romans? Ist die Sprache, die Form der Vermittlung, geglückt und der Aussage angemessen? Nach Rainer Jeglin wirkt die Erzählung in manchen Passagen zu sentimental und naiv; gerade die Schlußszene (Carpios Tod) am Pa-ware, am 'heißen Wasser', sei "für das heutige Publikum besonders kitschig".145

   Was die sprachliche Form des Weihnachts-Bandes betrifft, meint Helmut Schmiedt: "Die Analyse könnte eine Sprache durchleuchten, die im ersten Kapitel ein für May ungewohntes Niveau erreicht, später aber immer dann mißglückt [...], wenn der Autor die persönliche Betroffenheit nicht durch Bilder, Assoziationen und Aktionen auflöst".146 Ulrich Schmid würdigt, ohne größere Einschränkung, den sprachlichen Radius in "Weihnacht!", den erweiterten Wortschatz, die gelungenen Sprachspiele, die "Treffsicherheit und Plastizität der Metaphorik" (zum Beispiel bei Landschaftsbeschreibungen).147 Zur religiösen Diktion bemerkt allerdings Schmid: Der Bibelton wird "in verschiedenen sprachlichen Variationen" vorgetragen; neben "die echte Ergriffenheit und das Pathos im ursprünglichen Sinn des Mitleidens tritt die [...] schwülstige Übertreibung."148

   Die Ausdrucksmittel in "Weihnacht!" sind, dies müssen wir zugeben, der Größe des Themas nicht immer ganz angemessen. Gleichwohl - daß der Roman als frohe Botschaft und christliche Dichtung mißraten sei, das kann man nicht sagen. Wer die Grundeinstellung des Schriftstellers teilt: den Glauben an Gottes Verheißung, die Hoffnung auf die "Erlösung aller Kreatur" (S. 9), mag einige Formulierungen, besonders im Weihnachtsgedicht, als schülerhaft oder rührselig kritisieren; der Schönheit, der Würde, der Hoffnungskraft des gesamten Romans (auch und gerade der Schlußszene) wird er sich aber nicht verschließen.

   Mit "Weihnacht!" ist dem jugendlichen Konsumenten ein erfrischendes Buch und dem reiferen, anspruchsvolleren Leser ein Kunstwerk geschenkt, dessen Botschaft die göttliche Liebe ist. Aber - das 'Ich'! Der omnipotente Old Shatterhand! Die Behauptung des Autors, mit diesem identisch zu sein! Wird dadurch nicht alles entwertet: die Person Karl Mays und der Rang seines Werkes?

   Ist des Dichters Vergangenheit, die Verwirrung, die Spaltung des Inneren, nun wirklich erlöst? Oder wird das Schwache, jetzt erst recht, wieder kompensiert (in Old Shatterhand)? Und das Dunkle, ein weiteres Mal, nur verdrängt, nur abgespalten (in Carpio)? So daß es, weil nicht angenommen, nicht integriert, um so machtvoller weiterwirkt?

   Haben die Gegner, die den 'Helden' bald stürzen werden - von den Höhen des Ruhmes in die Abgründe der Lächerlichkeit -, nicht recht? Dazu wird später noch vieles zu sagen sein.



Anmerkungen


1Claus Roxin: "Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand". Zum Bild Karl Mays in der Epoche seiner späten Reiseerzählungen. In: JbKMG 1974, S. 15-73 (S. 48ff.).
2Zit. nach Wilhelm Vinzenz: Karl Mays Reichspost-Briefe. Zur Beziehung Karl Mays zum 'Deutschen Hausschatz'. In: JbKMG 1982, S. 211-233 (S. 230).
3Vgl. unten, S. 390ff.
4Auch die 'klassischen' Reiseerzählungen sind, wie gezeigt wurde, mehrdimensional; diese Eigenschaft läßt es kaum zu, ohne weiteres von 'Trivialliteratur' zu sprechen.
5Vgl. oben, S. 209ff.


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6Vgl. Ulrich Schmid: Das Werk Karl Mays 1895-1905. Erzählstrukturen und editorischer Befund. Materialien zur Karl-May-Forschung, Bd. 12. Ubstadt 1989, S. 151ff.
7Heinz Stolte: Der Fiedler auf dem Dach. Gehalt und Gestalt des Romans '"Weihnacht!"'. In: JbKMG 1986, S. 9-32 (S. 9).
8Schmid, wie Anm. 6, S. 158.
9Vgl. oben, S. 129ff. u. unten, S. 321ff.
10Hans Wollschläger: "Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt". Materialien zu einer Charakteranalyse Karl Mays. In: JbKMG 1972/73, S. 11-92 (S. 84).
11Vgl. unten, S. 305ff.
12Vgl. Wolfram Ellwanger - Bernhard Kosciuszko: Winnetou - eine Mutterimago. In: Karl Mays 'Winnetou'. Studien zu einem Mythos. Hrsg. von Dieter Sudhoff und Hartmut Vollmer. Frankfurt/M. 1989, S. 366-379.
13Karl May: "Weihnacht!". Karl Mays Werke IV. 21. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1987, S. 238.
14Vgl. Mt 23, 37: Dasselbe Bild wird von Jesus, auf sich selbst bezogen, verwendet!
15May: "Weihnacht!", wie Anm. 13, S. 238f.
16Vgl. Hartmut Vollmer: Die Schrecken des 'Alten': Old Wabble. Betrachtung einer literarischen Figur Karl Mays. In: JbKMG 1986, S. 155-184 (S. 157).
17Vgl. oben, S. 142 u. 181.
18Dazu Roxin: "Dr. Karl May", wie Anm. 1, S. 56.
19Martin Lowsky: Karl May. Stuttgart 1987, S. 97.
20Ebd.
21Nach Roland Schmid: Anhang. In: Karl May: Freiburger Erstausgaben, Bd. XXIII. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1984, A 40f.
22Vgl. oben, S. 261.
23Karl May: Old Surehand III. Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XIX. Freiburg 1896, S. 555.
24Walther Ilmer: Karl Mays Weihnachten in Karl Mays '"Weihnacht!'" In: JbKMG 1987, S. 101-137 (S. 110).
25Karl May: Nachwort zu 'Winnetou III'. Freiburg ab 41. Tsd. (1904); dieses neue Nachwort ist nicht paginiert.
26Vgl. oben, S. 261 f.
27Karl May: Im Lande des Mahdi III. Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XVIII. Freiburg 1896, S. 153-567.
28Roxin: "Dr. Karl May", wie Anm. 1, S. 55.
29Vgl. die Textbeispiele bei Volker Klotz: Durch die Wüste und so weiter. In: Helmut Schmiedt (Hrsg.): Karl May. Frankfurt/M. 1983, S. 75-100 (S. 78). - Vgl. auch oben, S. 243.
30In Mays Spätroman Ardistan und Dschinnistan werden wir dem geographischen Aufstiegsmotiv erneut (in viel großartigerer Gestaltung) begegnen. - Vgl. unten, S. 687ff.
31Vgl. Harald Fricke: Karl May und die literarische Romantik. In: JbKMG 1981, S. 11-35 (S. 24). - Nach U. Schmid, wie Anm. 6, S. 256 (Anm. 166), ist die topographische Aufwärtsbewegung in den Surehand-Bänden "unzureichend motiviert" - eine doch wohl unzutreffende Kritik.
32Vgl. unten, S. 660ff.
33Seitenangaben in () beziehen sich auf May: Old Surehand III, wie Anm. 23.
34Vgl. Claus Roxin: (Werkartikel zu) Old Surehand I-III. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 238-252 (S. 250).
35Die Ähnlichkeit dieses Namens mit 'Emma' ist sicher kein Zufall. - Vgl. die - freilich sehr hypothetischen - Ausführungen bei Walther Ilmer: Karl May - Mensch und Schriftsteller. Tragik und Triumph. Husum 1992, S. 128ff.
36Vgl. oben, S. 169f.
37Erstmals erschienen in: Ueber Land und Meer. 9. Jg. (1892/93) Heft 11. Stuttgart, Leipzig, Berlin, Wien 1893; neu abgedruckt in: Karl May: Der Krumir. Seltene Originaltexte, Bd. 1. Reprint der KMG. Hamburg, Gelsenkirchen 1985, S. 133-137. - Vgl. oben, S. 207.
38Vgl. Vollmer: Old Wabble, wie Anm. 16, S. 158ff. - Vollmers Thesen mögen, was autobiographische Spiegelungen betrifft, in Einzelheiten spekulativ sein; im grundsätzlichen sind sie aber plausibel. - Zur Charakteristik Old Wabbles vgl. auch Ingmar Winter - Günter Henkel:


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Gesicht und Maske. Beiträge zu Physiognomie und Rollenspiel bei Karl May. SKMG Nr. 59 (1985), S. 26ff.
39Walther Ilmer: Sichere Hand auf wackligen Füßen: Old Surehand. In: MKMG 29 (1976), S. 4-20 (S. 14).
40Vgl. Karl May: Old Surehand I. Gesammelte Reiseromane, Bd. XIV. Freiburg 1894, S. 13ff. u. 53 ff.
41Vollmer: Old Wabble, wie Anm. 16, S. 176 - Auch Simson (im Alten Testament) wird, durch
Delilah, seiner langen Haare beraubt und verliert seine Kraft; vgl. Buch der Richter 16, 4ff.
42Vollmer, Old Wabble, wie Anm. 16, S. 177.
43Roxin: "Dr. Karl May ", wie Anm. 1, S. 57ff.
44Vollmer: Old Wabble, wie Anm. 16, S. 179 - Vollmer vermutet in dieser Symbolik - ziemlich gewagt - einen versteckten Hinweis des Autors auf seine Furcht vor der Ehefrau Emma (ebd., s. 180).
45Roxin: "Dr. Karl May ", wie Anm. 1, S. 59, verweist auf die Erzählungen Gott läßt sich nicht spotten, Ein Blizzard (beide in Bd. XXIII Auf fremden Pfaden), Im Lande des Mahdi III (Schlußteil) und "Weihnacht!".
46Vgl. Wollschläger: Spaltung, wie Anm. 10, S. 15ff. u. passim.
47Roxin: "Dr. Karl May ", wie Anm. 1, S. 59.
48Vgl. unten, S. 640.
49Karl Rahner: Warum laßt Gott uns leiden? In: Ders.: Schriften zur Theologie XIV. Zürich, Einsiedeln, Köln 1980, S. 450-466 (S. 466).
50Vgl. Walther Ilmer: Nachwort. In: Karl May: Im Reiche des silbernen Löwen. 'Deutscher Hausschatz' 23./24. Jg. (1896-98). Reprint der KMG. Hamburg, Regensburg 1981, S. 265-276 (S. 265).
51Aus Mays Brief vom 6.10.1896 an Fehsenfeld.
52Wie der Sünder in Mays Weihnachtsgedicht von 1867! - Vgl. oben, S. 101f.
53Roxin: "Dr. Karl May ", wie Anm. 1, S. 58.
54May: "Weihnacht!", wie Anm. 13, S. 10.
55Vgl. unten, S. 608f., 645 u. 665f.
56Roxin: Old Surehand, wie Anm. 34, S. 250.
57Vgl. Jochen Schulte-Sasse: Karl Mays Amerika-Exotik und deutsche Wirklichkeit. Zur sozialpsychologischen Funktion von Trivialliteratur im wilhelminischen Deutschland. In: Schmiedt (Hrsg.), wie Anm. 29, S. 101-129 (S. 115).
58Vgl. unten, S. 344f.
59Karl May: Freuden und Leiden eines Vielgelesenen. In: Deutscher Hausschatz. 23. Jg. (1896/97); hier zit. nach der Original-Wiedergabe in: 'Der Rabe'. Magazin für jede Art von Literatur Nr. 27. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Zürich 1989, S. 175-211 (S, 203).
60Vgl. Roland Schmid: Nachwort (zu Im Reiche des silbernen Löwen I/II). In: Karl May: Freiburger Erstausgaben, Bd. XXV. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1984, N 24-54 (33ff.). - Der erste Teil dieses Textes war ursprünglich vermutlich für Fehsenfeld bestimmt; vgl. U. Schmid, wie Anm. 6, S. 124f.
61R. Schmid: Anhang, wie Anm. 21, A 40, nimmt das Jahresende 1897 an; U. Schmid, wie Anm. 6, S. 169 (Anm. 19), den Jahresbeginn oder spätestens den Frühsommer 1898.
62Vgl. unten, S. 325ff.
63Der Romantitel spielt auf das persische Wappentier an; vgl. R. Schmid: Nachwort, wie Anm. 60, N 45f.
64Seitenangaben in (I) bzw. (II) beziehen sich auf Karl May: Im Reiche des silbernen Löwen I/II. Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XXVI/XXVII. Freiburg 1898.
65Zur autobiographischen Bedeutung dieses Textes vgl. Wollschläger: Spaltung, wie Anm. 10, S. 30 u. 87 (Anm. 53-56) - U. Schmid, wie Anm. 6, S. 144ff.
66'Der "Löwe der Blutrache"' entspricht Scheba et Thar, einer 1895 entstandenen und im 'Regensburger Marienkalender 1898' publizierten May-Erzählung (vgl. U. Schmid, wie Anm. 6, S. 142f.); die Marah-Durimeh-Geschichte 'Ein Rätsel' weist "enge thematische und strukturelle Zusammenhänge" (U. Schmid, wie Anm. 6, S. 123) auf mit Die "Umm ed Dschamahl", einer 1898 entstandenen und im 'Regensburger Marienkalender 1899' veröffentlichten May-Erzählung.


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67Diese sollten im Durchschnitt je 600 Seiten umfassen; wie immer stand May unter Zeitdruck; den erforderlichen Umfang erreichte er durch den Einschub bzw. das Anhängen der beiden neuen Kapitel. - Vgl. U. Schmid, wie Anm. 6, S. 121 ff.
68Hans Wollschläger: Erste Annäherung an den 'Silbernen Löwen'. Zur Symbolik und Entstehung. In: JbKMG 1979, S. 99-136 (S. 133, Anm. 67).
69Walther Ilmer: Einführung. In: May: Im Reiche des silbernen Löwen, wie Anm. 50, S. 2-12 (S. 2) - Es gibt allerdings nur wenige Handlungselemente, die über das Turm-zu-Babel-Geschehen hinausweisen; vgl. die Analyse bei U. Schmid, wie Anm. 6, S. 149f.
70"Die Frage, ob May um diese Zeit eine bestimmte Vorstellung vom künftigen Fortgang der Haupterzählung gehabt habe, ist [...] insgesamt wohl zu verneinen" (Wollschläger: Annäherung, wie Anm. 68, S. 120); ähnlich U. Schmid, wie Anm. 6, S. 147ff.
71Belege bei Ilmer: Einführung, wie Anm. 69, S. 2.
72Lowsky: Karl May, wie Anm. 19, S. 98.
73Joachim Kalka: (Werkartikel zu) Im Reiche des silbernen Löwen I/II. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 34, S. 282-288 (S. 288).
74Ebd., S. 287.
75Ilmer: Einführung, wie Anm. 69, S. 7.
76Ebd., S. 6. - Vgl. Walther Ilmer: Mißglückte Reise nach Persien. Gedanken zum 'großen Umbruch' im Werk Karl Mays. In: Karl Mays "Im Reiche des silbernen Löwen". Hrsg. von Dieter Sudhoff und Hartmut Vollmer. Paderborn 1993, S. 118-151.
77Ausführlich dargestellt und kommentiert bei U. Schmid, wie Anm. 6, S. 130ff.
78Vgl. ebd., S. 151 f.
79Vgl. ebd., S. 131ff.
80Ebd., S. 132.
81Vgl. die kritischen Bemerkungen ebd., S. 128.
82Vgl. unten, S. 321ff.
83Vgl. oben, S. 110.
84Volker Griese: Old Shatterhand - May. Eine Betrachtung. In: MKMG 85 (1990), S. 40-43 (S. 41).
85Ebd., S. 42.
86Vgl. unten, S. 377ff.
87Griese, wie Anm. 84, S. 41.
88Hansotto Hatzig: Vorschatten aus Babylon. Ungedr. Manuskript (1958); zit. nach Ilmer: Einführung, wie Anm. 69, S. 8.
89Ilmer: Ebd., S. 6.
90Daß der Islam der Frau keine Seele zubilligt, könnte eine Erfindung Karl Mays sein; woher er diese 'Falschmeldung' hat, ist unklar.
91Ilmer: Nachwort, wie Anm. 50, S. 267.
92Nach der Scheidung von Emma hat May den Namen 'Emmeh' aus dem Silberlöwen eliminiert und daraus (in der 4. Auflage 1905) 'Dschanneh' gemacht. - Vgl. Hansotto Hatzig: Dschanneh, ein Name ohne Gestalt. In: MKMG 25 (1975), S. 18-23 - Ders.: Die Frauen im Reiche des silbernen Löwen. Lesenotizen und Impressionen. In: Karl Mays "Im Reiche des silbernen Löwen", wie Anm. 76, S. 343-357 - Roland Schmid: Anhang. In: Karl May: Freiburger Erstausgaben, Bd. XXVII. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1984, A 1-12.
93Im Silberlöwen bzw. Am Turm zu Babel erwähnt der Erzähler seine Ehefrau Emma zum ersten Mal (innerhalb der Reiseerzählungen).
94Ilmer: Nachwort, wie Anm. 50, S. 267.
95Vgl. unten, S. 419ff.
96Vgl. oben, S. 93f. u. 109ff.
97Vgl. Hiob, Kap. 4-37.
98Die christliche Tradition kennt die 'Gabe der Tränen'!
99Vgl. U. Schmid, wie Anm. 6, S. 117 - Hermann Wiedenroth - Hans Wollschläger: Editorischer Bericht. In: May: "Weihnacht!", wie Anm. 13, S. 525-532 (S. 525f.).
100 Zur Entstehung vgl. Roland Schmid: Nachwort (zu "Weihnacht!"). In: May: Freiburger Erstausgaben, Bd. XXV, wie Anm. 60, N 2-13 - Wiedenroth - Wollschläger, wie Anm. 99, S. 525ff. - U. Schmid, wie Anm. 6, S. 80-88.


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101Später wurde dieses Titelbild durch ein anderes - der sterbende Carpio unter dem Christbaum - ersetzt.
102Martin Lowsky: Alterswerk und "Wilder Westen". Überlegungen zum Bruch in Mays Werk. In: MKMG 36 (1978), S. 3-16 (S. 4), vermutet eine bewußte Absage Mays an den Wilden Westen.
103Vgl. U. Schmid, wie Anm. 6, S. 81.
104Zit. nach ebd., S. 82.
105Zit. nach ebd., S. 259 (Anm. 18).
106So Gerhard Neumann: Das erschriebene Ich. Erwägungen zum Helden im Roman Karl Mays. In: JbKMG 1987, S. 69-100.
107So schon Karl-Hans Strobl: Scham und Maske. Zur Psychologie des Karl-May-Problems. In: KMJB 1921. Radebeul 1920, S. 279-303.
108Neumann, wie Anm. 106, S. 86.
109Ebd., S. 87f. - Vgl. unten, S. 391ff.
110Zum folgenden vgl. Stolte, wie Anm. 7, S. 10f.
111Vgl. Kurt Langer: Die Bedeutung der Angstlust in Karl Mays Leben und Werk. In: JbKMG 1986, S. 268-276.
112Vgl. oben, S. 175f.
113Vgl. unten, S. 321ff.
114Ilmer: Weihnachten, wie Anm. 24, S. 113.
115Seitenangaben in () beziehen sich auf May: "Weihnacht!", wie Anm. 13 (historisch-kritische Ausgabe).
116Karl May: Der Scout. In: Deutscher Hausschatz. 15. Jg. (1888/89), S. 187 - Vgl. U. Schmid, wie Anm. 6, S. 47; vgl. oben, S. 219.
117Vgl. Vollmer: Old Wabble, wie Anm. 16, S. 158ff.
118Vgl. oben, S. 244f. - Bei Karl May: Satan und Ischariot III. Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XXII. Freiburg 1897, S. 35, heißt Old Shatterhand "wie einer von den zwölf Monaten [...] 'März', sagte ich."
119Die Stellen, an denen "Karl May" ("Weihnacht!", wie Anm. 13, S. 23) als Mr. "Meier" (ebd., S. 134 u.ö.) auftritt, können getrost mitgezählt werden.
120Stolte, wie Anm. 7, S. 29.
121Lowsky: Karl May, wie Anm. 19, S. 99.
122Vgl. oben, S. 100ff. - Das Weihnachtsgedicht wird in Mays Erzählwerk mehrmals zitiert; Nachweise bei Hedwig Pauler: Deutscher Herzen Liederkranz. SKMG 41 (1983), S. 29ff.
123Aus Mays Brief vom 13.8.1897 an Fehsenfeld; zit. nach R. Schmid: Nachwort, wie Anm. 100, N 5f.
124Stolte, wie Anm 7, S. 16.
125Neumann, wie Anm. 106, S. 78.
126U. Schmid, wie Anm. 6, S. 107.
127Helmut Schmiedt: Karl May. Studien zu Leben, Werk und Wirkung eines Erfolgsschriftstellers. Frankfurt/M. 21987, S. 179.
128Vgl. Hartmut Vollmer: "Weihnacht!" - ein "Erlösungswerk Karl Mays". In: MKMG 46 (1980), S. 3-13.
129Neumann, wie Anm. 106, S. 79.
130Vgl. ebd., S. 79f.
131U. Schmid, wie Anm. 6, S. 96.
132Vgl. ebd., S. 97.
133Ebd., S. 91f. - Vgl. z.B. May: "Weihnacht!", wie Anm. 13, S. 11lf.
134Vgl. U. Schmid, wie Anm. 6, S. 98.
135Vgl. auch Roxin: "Dr. Karl May ", wie Anm. 1, S . 55ff.
136U. Schmid, wie Anm. 6, S. 101ff.
137Zur Charakterisierung Carpios vgl. Schmiedt, wie Anm. 127, S. 176-179.
138Ilmer: Weihnachten, wie Anm. 24, S. 113.
139Zur Deutung des Namens 'Sappho' vgl. Walther Ilmer: Karl Mays Weihnachten in Karl Mays '"Weihnacht!"' II. Eine Spurenlese auf der Suche nach Fährten. In: JbKMG 1988, S. 209-247 (S. 215ff.). - Vgl. oben, S. 48.


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140U. Schmid, wie Anm. 6, S. 94f.
141Ebd., S. 94.
142Daß für Carpio ein lebendes Vorbild - Mays Schulkamerad Garbe (nach R. Schmid: Nachwort, wie Anm. 100, N 3) - Pate gestanden habe, bestreitet Ilmer: Weihnachten II, wie Anm. 139, S. 210 u. 241 (Anm. 62).
143Ilmer: Ebd., S. 214f., leitet den Namen 'Carpio' u.a. aus dem lateinischen 'carpere' (u.a. 'zerstückeln') ab; solche Kombinationen sind natürlich nicht zwingend.
144Vgl. Schmiedt, wie Anm. 127, S. 178. - Vgl. oben, S. 181.
145Rainer Jeglin: (Werkartikel zu) "Weihnacht!". In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 34, S. 272-277 (S. 276).
146Schmiedt, wie Anm. 127, S. 178.
147U. Schmid, wie Anm. 6, S. 104 u. 108 (dort das Zitat).
148Ebd., S. 109.



8.6

'Vom Haß zur Liebe': Die Marienkalender-Geschichten


Dem 'Ich' des Erzählers soll speziell das nächste Kapitel gewidmet werden. Doch zuvor, im Anschluß an die Besprechung der Predigttendenz in den späten Reiseerzählungen, müssen wir unser Augenmerk auf eine besondere Werksgruppe richten, die viele Interpreten - auch Freunde des Dichters - zu massiver Kritik provozierte.

   Parallel zu seinen Romanen publizierte May, seit 1890, in katholischen 'Marienkalendern' eine Serie von (insgesamt achtzehn) Kurzgeschichten.1 Aus ökonomischen Gründen, um seine - damals noch traurige - Finanzlage zu verbessern,2 schrieb May im Februar 1890 die Novelle Christus oder Muhammed; im Herbst 1890 erschien dieses 'Reise-'Erlebnis' bei Friedrich Pustet im Regensburger bzw. Tiroler 'Marien-Kalender für das Jahr 1891'. Im selben Kalender (für die Jahre 1892ff.) folgten aus der Feder Karl Mays die Erzählungen Mater dolorosa (1891),3 Der Verfluchte (1892), Blutrache (1894), Er Raml el Helahk (1895), Old Cursing-Dry (1896), Scheba et Thar (1897) und Die "Umm ed Dschamahl" (1898).

   May kam, wie gewohnt, beim Publikum an: Christus oder Muhammed und Mater dolorosa waren derart erfolgreich, daß sich bald auch "andere Verlage, die Marienkalender herausbrachten, [...] um die Mitarbeit des Schriftstellers bemühten."4

   In 'Benziger's Marien-Kalender', Benziger-Verlag Einsiedeln, veröffentlichte May die Novellen Nûr es Semâ. - Himmelslicht (1892), Christ ist erstanden! (1893), Der Kutb, (1894) und Der Kys-Kaptschiji (1895/96). Der 'Einsiedler Marien-Kalender' - Verlag Eberle & Rickenbach, Einsiedeln - brachte Mays Wildwest-Geschichten Ein amerikanisches Doppelduell (1896) und Mutterliebe (1897/98). Im 'Eichsfelder Marien-Kalender' - Verlag F.W. Cordier, Heiligenstadt - erschienen von May die Erzählungen Eine Ghasuah (1892) und Maria oder Fatima (1893) sowie - nach Inhalt und Entstehungszeit zum Spätwerk gehörend - Bei den Aussätzigen (1908)5 und Merhameh (1909).6

   Schauplatz ist fast immer der Orient, nur dreimal der Wilde Westen und einmal (Christ ist erstanden!) Südamerika. Kara Ben Nemsi/Old Shatterhand bewährt sich, wie immer, als großer Held, vor allem aber als Bekenner des christlichen Glaubens und Werkzeug der göttlichen Führung.

   Wohl keine Werksgruppe Mays wurde von - an sich kundigen - Interpreten so verschmäht wie diese Novellen. Hans Wollschläger, Volker Klotz und andere Kritiker ließen kein gutes Haar an ihnen: Es handle sich um "Predigtmärlein von überaus penetranter Moral";7 das "allzu mechanisch knarrende" Hauptmotiv sei die - vom Ich-Erzähler vor-


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ausgesagte - "Strafe Gottes" für sämtliche Frevler; es sei "dann Ehrensache der Vorsehung, daß sie die Prophezeiungen pünktlich verwirklicht".8 Die Marienkalender-Geschichten seien, so heißt es in Wo1lschlägers May-Biographie, "falsch und schrecklich bis in die Untertöne";9 "nach dauernd gleichem Schema" habe May diese Erzählungen strukturiert:


dauernd muß sich erweisen, daß Gott sich nicht spotten läßt: die Guten [...] werden am Ende sorgfältig abgelohnt, - die Bösen hingegen [...] verfallen irgendeinem ausgeklügelt gräßlichen Geschick: sie werden zerschmettert, geblendet oder von gottgesandten wilden Bären gefressen-: dem Frommen gehört die Welt.10


   Herbert Meier schrieb, schon vergleichsweise gemäßigt, daß "die aufgepfropfte Moral und drastische Schwarz-Weiß-Malerei verschiedener dieser Erzählungen [...] an die Geduld des Lesers einige Anforderungen"11 stelle. Eine genauere Analyse der literarischen Qualität und der Aussage-Intention dieser Werke müßte noch weiter differenzieren. Denn Mays Kalendergeschichten sind, wie Christoph F. Lorenz erhellt,12 nach Form und Gehalt sehr verschieden und eben NICHT "nach dauernd gleichem Schema" (Wollschläger) verfaßt.

   Einige dieser Novellen sollen, exemplarisch, im folgenden dargestellt und kommentiert werden.


8.6.1

Christus oder Muhammed


Christus oder Muhammed, die erste Erzählung in dieser Reihe von Missions- und Bekehrungsgeschichten, wurde von Klaus Eggers detailliert untersucht und mit diversen Handlungsmotiven des Mayschen Gesamtwerks verglichen.13 Das Ergebnis ist keineswegs negativ: Eggers hebt - zum einen - die straffe Gliederung, die Konsequenz im Aufbau, die spannende, in ihrer Dynamik sich steigernde Erzählweise14 und - zum anderen - die biographische Anamnese, die verblüffende, psychologisch brisante (hinter der kunstvollen Verschleierungstechnik der Mayschen Reiseerzählungen nicht zurückstehende) Verklärung der realen Vita des Autors15 hervor. Den äußeren "Zweck" der Geschichte, "Propaganda zu machen für den Katholizismus", unterscheidet Eggers von der - vorwiegend - günstigen "Wirkung" der Fabel auf den unbefangenen Leser: der "Bezauberung durch May selbst dann, wenn man den Zweck ablehnt und die künstlerischen Mittel, die zu seiner Erreichung eingesetzt werden, wenig überzeugend findet."16

   Eggers hat, am Beispiel Christus oder Muhammed, die pauschale Kritik an den Marienkalender-Geschichten schon weitgehend entschärft und relativiert. Sein Tadel ist milde. Überdies nimmt er in einem wichtigen Punkt die - anfangs geäußerte - Kritik wieder zurück. Ist die Reklame für den "Katholizismus" wirklich der "Zweck" der Novelle? Stellt May sich tatsächlich in den Dienst der konfessionellen Abgrenzung? Eggers räumt ein: Keine "spezifisch katholische",17 sondern eine allgemein-christliche, mit 'bürgerlichen' Idealen (wie der Selbstverwirklichung des Individuums) verknüpfte Tendenz liege der Erzählung zugrunde; und die Antinomie des Titels Christus oder Muhammed werde vom Autor - ohne totale Verwerfung der islamischen Religion - "konkretisiert als: Vergebung oder Rache".18

   Daß May im exklusiven Sinne katholische Positionen vertrete, hat Ernst Seybold generell - fürs Gesamtwerk des Schriftstellers unter Einschluß von allen Kalendergeschichten - bestritten.19 Punkt für Punkt weist Seybold, als evangelischer Theologe, nach: Mays 'Lehren' von der Kraft des Gebetes, von Gottes Fügung und Führung, von Christus als


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dem Sohn Gottes, von himmlischen Mächten, von der Gottesmutter Maria usw. gehören zum Glaubensgut auch der nicht-römischen, z.B. der orthodoxen, orientalischen und protestantischen Kirchen; katholische 'Sonderdogmen' werden, so Seybold mit Recht, in KEINER, Erzählung Karl Mays propagiert.20

   Einer - denkbaren - konfessionalistischen Vorgabe von seiten der Auftraggeber hat May sich nicht unterworfen. Aber die "aufgepfropfte" (Meier) Vermittlung von christlichen Glaubenserfahrungen! Die "penetrante Moral" (Klotz) der Kalendergeschichten! Sind Vorwürfe, die in diese Richtung verweisen, berechtigt? Man muß, wie gesagt, jede Novelle gesondert betrachten.

   May hat, so Claus Roxin, "teilweise vortreffliche Kalendergeschichten geschrieben"!21 Auch die Gestaltung der religiösen Thematik ist in mehreren Fällen geglückt. In Der Kutb und Blutrache zum Beispiel wird das Religiöse "unaufdringlich"22 behandelt und, vom neutestamentlichen Versöhnungsgedanken her, glaubwürdig dargestellt. Und nicht alle Tendenzen des empirischen Christentums werden in Mays Kalendergeschichten bejaht. Der Kys-Kaptschiji etwa kann als "Kritik an imperialistischen Strömungen und aufgesetztem Christentum gelesen werden."23

   Christus oder Muhammed freilich ist, als Abenteuergeschichte, zwar spannend erzählt; als christliche 'Predigt', als Schilderung des 'Wettkampfs' zwischen Christentum und Islam, ist die Novelle aber verunglückt. Sie wirkt in manchen Partien einfach zu selbstgerecht, zu platt und zu 'handgreiflich'!24


8.6.2

Maria oder Fatima


Erst recht in Maria oder Fatima, Old Cursing-Dry und Ein amerikanisches Doppelduell muß - nach Ekkehard Koch und vielen anderen - die religiöse Belehrung als dogmatisch verengt und "übertrieben moralisch"25 empfunden werden. Trifft auf DIESE Erzählungen der Ideologie-Verdacht also unumschränkt zu?

   In Maria oder Fatima, 1892 oder 1893 entstanden, finden sich in der Tat recht befremdliche, für May nicht gerade typische Formulierungen. Das Gebet einer schiitischen Beduinengruppe zu Fatima, der jüngsten Tochter des Propheten Mohammed, bezeichnet Kara Ben Nemsi, der Christ, als "vergeblich" (S. 468);26 als "totes Weib" (S. 475) könne Fatima "nicht helfen" (S. 468); die Fürsprache Mariens, der "Mutter Gottes", die "im Himmel" thront (S. 469), aber wird sich - nach der Vorhersage des Ich-Erzählers - als wirksam erweisen.27

   Maria oder Fatima liest sich streckenweise wie ein anti-häretisches Traktat. Schir Saffi und seine Getreuen setzen, wie der Erzähler mit Empörung vermerkt, ihre Fatima "an die Stelle Allahs" (S 472)"28 Und selbst die orientalischen Katholiken haben, zum Verdruß des Erzählers,


das Wort Gottes [...] nicht rein und unverfälscht vernommen [...] Die dortigen Christen haben, ohne daß sie es ahnen, von den früheren Sektierern und dem Islam so viel in sich aufgenommen, daß es einer langjährigen [...] Missionsthätigkeit bedarf, dieses verunstaltende und fressende Moos vom Baume des wahren, reinen Glaubens zu entfernen. (S. 470)


   Katholische Beduinen bitten den Ich-Helden, obwohl er kein Priester ist (S. 462), zum Rosenkranzfest eine Predigt zu halten.29 Um "der Lehrer dieser Leute zu sein" (S. 470), ihren "Hunger nach geistlicher Speise" (S. 462) zu stillen und "die Irrtümer des Islam zu beleuchten" (S. 482), kommt Kara Ben Nemsi der Bitte entgegen.


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   Bei seiner Predigt muß er "oft innehalten", wenn ein "allgemeines Schluchzen" ihn unterbricht oder er "selbst so gerührt" ist, daß es ihm "aus den Augen perlt" (S. 483). Ein herrlicher Passus, eine köstliche Mischung von Selbstironie und unfreiwilliger Komik! (Auch an echtem Humor, an freiwilliger Komik, fehlt es in den Kalendergeschichten durchaus nicht!) Und der Inhalt der Predigt? Zu erwarten wäre, nach den Auslassungen des Erzählers über islamische - und sonstige - Ketzereien, eine Doktrin über 'richtige' Glaubenssätze. Doch Kara Ben Nemsi redet ganz anders. Er spricht 'von Seele zu Seele', zum Gemüt und nicht zum Verstand; er erzählt, er bringt nur "selbsterlebte Beispiele von der Macht des Gebetes" (S. 483).

   Der Disput über die 'reine Lehre', der Streit über Theorien bleibt aus. Gewiß - das Gebet der Moslems wird, im Verlauf der Erzählung, dem Gebet der Christen gegenübergestellt. Nur - das Anliegen ist nicht die richtige Lehre, sondern das richtige Tun: Beide Gruppen, Schiiten und Katholiken, erflehen die Befreiung ihrer Angehörigen (ihrer Väter, Mütter und Kinder) aus der Hand der feindlichen Akrakurden; doch während die Moslems, nach dem Gebet, zur Gewaltanwendung bereit und zum Blutvergießen gewillt sind, setzen die Christen auf List und, vor allem, die Kraft des Gebetes.

   "Vom Haß zur Liebe" hat Christoph F. Lorenz seinen Aufsatz über die Mayschen Kalendergeschichten betitelt.30 Die Intention dieser Novellen, gerade auch der Bekehrungsgeschichte Maria oder Fatima, ist damit exakt beschrieben. Als Symbol der Intoleranz, des pseudo-religiös begründeten Hasses, ist der 'Islam' - in Maria oder Fatima wie manchen anderen Erzählungen Karl Mays - zu verstehen.31 Den Fanatismus schlechthin hat der Schriftsteller im Visier - ganz gleich, in welcher Religion (oder Weltanschauung) er sich, konkret, nun austoben mag. Die Antinomie Maria oder Fatima läuft, genau wie Christus oder Muhammed, auf die Alternative 'Versöhnung oder Vergeltung' hinaus.

   Schir Saffi und seine Moslems sollen, nach dem Plan des Erzählers, vom Haß zur Liebe bekehrt werden. Während der Schiit nur seine Glaubensgenossen befreien will, führt der christliche Held die katholischen UND die islamischen Gefangenen in die Freiheit zurück. Schir Saffi muß, trotz seines "verknöcherten Schiitismus" (S. 500), dieses Liebeswerk anerkennen. Er muß am Ende gestehen: "Emir, du hattest recht. Deine Gottesmutter ist mächtiger als unsere Prophetentochter. Also: nicht Fatima, sondern Marryam!" (Ebd.)

   Kaum zu glauben: eine "klerikalfaschistische Tendenz"32 wurde Maria oder Fatima unterstellt! Falsch und unsinnig ist dieses Verdikt. Mays Novelle ist nicht klerikal und schon gar nicht faschistisch. Doch daß die Erzählung, theologisch gesehen, besonders geglückt sei, kann man nicht sagen. Die Story ist insgesamt zu naiv (obgleich, dies müssen wir einräumen, kritische Untertöne nicht gänzlich fehlen). Das katechetische Anliegen - 'vom Haß zur Liebe' - ehrt den Verfasser; aber als marianische Erbauungsgeschichte kann Mays Novelle nicht überzeugen. Der plakative Kontrast, Maria oder Fatima, ist gewiß übertrieben. Und die Verbindung von Helden- und Mariengeschichte wirkt allzu gekünstelt. Dem Mut, der Tatkraft, der List Kara Ben Nemsis und Halefs ist die Befreiung der Gefangenen zu verdanken. Was die Gottesmutter Maria mit dieser Befreiung zu tun hat, wird nicht so recht deutlich. Natürlich könnte man sagen: das Gebet der Bedrängten wird erhört; denn sie finden, in Kara Ben Nemsi und Halef, die richtigen Helfer. Aber die helfende Macht speziell der Mutter des Herrn wirkt in der Erzählung eben doch - 'aufgepfropft'!

   Daß das marianische Motiv, lediglich, ein Zugeständnis des Schriftstellers an die Wünsche des Auftraggebers sei, folgt daraus allerdings nicht. "Da klang aus der Tiefe ein Ton [...] Es war die [...] Silberstimme eines Glöckchens, und kaum ließ sie sich vernehmen,


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so hörten wir [...] eine [...] Stimme: [...] 'Gegrüßt seist du, Maria, voll der Gnade! - (S. 458) Der Glockenton und die Stimme des 'Ave Maria' sind dem May-Leser, aus andren Erzählungen, durchaus vertraut.33 Die persönliche Frömmigkeit des Autors steht außer Frage; und daß die marianische Dimension ein wichtiges Element seiner Gottesbeziehung war, ist keineswegs unwahrscheinlich. Zudem hat 'Maria' - in der tiefenpsychologischen Betrachtungsweise34 - eine archetypische Bedeutung: 'Maria' steht für das mütterliche Prinzip, für eine bestimmte (idealistische) Sicht des Weiblichen überhaupt. Wir wissen: der Schutz der Mutter gewinnt für Mays Denken und Fühlen immer mehr an Gewicht.35 In dieser Hinsicht sind manche, schon lange vor 1896 verfaßte, Kalendergeschichten mit den späten Reiseerzählungen (ab 1896) verwandt.

   Wie ist Maria oder Fatima zu bewerten? Als "Übertrieben moralisch" (Koch) wohl nicht; denn die Moral der Geschichte, die verzeihende Liebe, kann ja kein Grund zur Kritik sein. Aber theologisch - und religionspädagogisch - gesehen ist die Fabel zu plump und zu hausbacken. Böse sein können wir May wegen Maria oder Fatima freilich nicht. Denn auch diese, literarisch schwache, Novelle hat ihre Vorzüge: Die Milde, die Güte, die Barmherzigkeit setzen sich durch. Und es gibt, bei May eine Seltenheit, keinen einzigen Toten. Es wird auch niemand bestraft - weder von Gott noch von menschlichen Gerichtsvollstreckern.


8.6.3

Gott läßt sich nicht spotten / Ein amerikanisches Doppelduell


Anders verhält es sich in den beiden, 1895 entstandenen, Wildwestgeschichten Old Cursing-Dry (unter dem Titel Gott läßt sich nicht spotten36 in Band XXIII Auf fremden Pfaden) und Ein amerikanisches Doppelduell (identisch mit Ein Blizzard, ebenfalls in Band XXIII).

   Zwei Diebe und Mörder, Grinder und Slack, beschwören - in Doppelduell - durch Flüche und Lästerungen den göttlichen Zorn herauf: Ausgelöst durch eine Naturkatastrophe, einen Blizzard, verliert Grinder sein Augenlicht, während Slack in den Wahnsinn verfällt. Auch der Indianertöter Fletcher - in Old Cursing-Dry - ist ein verstockter Verbrecher, der jeden Satz mit entsetzlichen Flüchen beginnt. Er leugnet seine Untaten und schreit wiederholt: "Ich will erblinden oder zerschmettert werden, wenn ich der Mörder bin!"37 Winnetou sagt es voraus, und es kommt auch wirklich zum 'Gottesgericht': Fletchers Worte erfüllen sich in tödlicher Konsequenz. Allerdings bereut Fletcher (genannt Old Cursing-Dry) am Ende seine Vergehen. Er wird, wie Old Wabble,38 in einem sich "buchstäblich in Zeitlupe"39 vollziehenden Sterben einen gnädigen Richter finden: "Gottes Barmherzigkeit" ist, wie Old Shatterhand dem Mörder versichert, "ohne Ende"; mit der Hoffnung auf Gottes Erbarmen darf der Verbrecher - so Shatterhand - eingehen "ins ewige Leben!"40

   Im Mittelpunkt dieser beiden Geschichten steht nicht der Gegensatz zwischen dem Christentum und einer anderen Religion, sondern - prinzipiell - zwischen Glaube und Unglaube.41 Die Leugnung Gottes und das Verbrechen werden im engsten Zusammenhang gesehen. Der Straf- und Sühnegedanke (bzw. die Rettung der Seele) stehen im Vordergrund.

   Schon Adolf Droop, ein Anhänger Mays, kritisierte: "Der vorurteilslose Leser wird über solche Erzählungen den Kopf schütteln"; denn die "Erhabenheit des göttlichen Wesens" werde durch die Darstellung Mays "unter das Niveau menschlich-kleinlicher Rachsucht"42 herabgedrückt. Zu Recht betont Droop das Geheimnis, die Größe, die Un-


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begreiflichkeit Gottes. Und doch müßte - gerade deshalb - gefragt und bedacht werden: Ist Gott nur barmherzig und nicht (in einer, für menschliche Maßstäbe, freilich nicht 'faßbaren' Weise) zugleich auch gerecht?43 Natürlich ist nicht jeder Atheist ein Verbrecher; und natürlich kann nicht jedes Leid nach dem "Schema Schuld-Strafe verrechnet werden";44 aber ist die Idee Karl Mays, daß jeder den Tod findet, der zu ihm paßt und den er im Leben schon vorbereitet hat, wirklich so abwegig? Ist der Gedanke, daß zuletzt jeder erntet, was er im Leben gesät hat, ganz und gar falsch?45

   Mays Schurken sind immerhin Kapitalverbrecher. Gottes Geduld mit ihnen ist dennoch sehr groß. Und selbst noch im Tod besteht die Möglichkeit der Reue und der Vergebung. Kann man da, wie Droop, von "kleinlicher Rachsucht" sprechen?

   Eine ganz andere Frage ist der literarische Wert der beiden Wildwestgeschichten Old Cursing-Dry und Doppelduell. Die diesbezügliche Kritik ist berechtigt: Die erzählerische Gestaltung durch May wirkt tatsächlich sehr grob und schulmeisterlich-penetrant. Die Wirklichkeit Gottes, die manchmal "handgreiflich"46 erfahrbare Nähe Gottes, bewegt Karl May in seltsamer Weise. Seine Grundüberzeugung: nicht der Zufall, sondern die göttliche Führung durchwaltet das Sein, verdient zwar nur Anerkennung. Daß May diese Glaubenserfahrung in manchen Geschichten zu primitiv - an überstrapazierten, sehr willkürlich konstruierten, extrem unwahrscheinlichen Parabeln - 'erläutert', ist aber doch sehr bedauerlich. Andrerseits hat der Schriftsteller in den neunziger Jahren (und vorher und nachher) aber auch literarisch Wertvolles, innerlich Wahres und theologisch Subtiles geschrieben!

   Bestrafungsszenen und 'Gottesgerichte' (Abstürze, Erblindungen usw.) gibt es in vielen, ja nahezu allen Werken Karl Mays.47 Wenn solche Partien um 1895/96, als 'Zermalmungsszenen', sich häufen, so muß - wie an anderer Stelle schon dargelegt48 - der biographische Hintergrund mitbedacht werden: Mays Projektionen entspringen, nach Roxin,49 den 'Schreckgesichten', den Angstbildern seines Innersten. Was den Dichter - gerade jetzt, auf dem Höhepunkt seines Erfolges - zunehmend erschreckt, ist der (unterbewußte?) Gedanke des 'Erdrücktwerdens' durch die Vergangenheit; und was er sucht, ist die Liebe, die Gnade, die Barmherzigkeit Gottes.

   Schuldgefühle bedrängten den Autor, erkennbar, in diesen Jahren verstärkt. Aber ein "simpel 'alles verstehender und alles verzeihender' Gott, dessen 'Geschäft eben das Vergeben' ist, hätte May damals [...] nicht geholfen."50 Der Schriftsteller wußte: Gott läßt sich nicht spotten. Doch er wußte auch dies: Gott zürnt nicht auf ewig (vgl. Jes 57, 16)!

   Die Strenge UND die Barmherzigkeit Gottes wollte May, in Doppelduell bzw. Old Cursing-Dry, zur Anschauung bringen. Um dieses, doch wichtigen, Anliegens willen dürfen die Novellen nicht einfach verworfen werden.


8.6.4

Mutterliebe


Auf Gottes Gnade hat May sein Vertrauen gesetzt. Dies zeigt, in ganz anderer Weise als die Cursing Dry- und Blizzard-Geschichten, auch Mutterliebe, eine Reiseerinnerung von Dr. Karl May.

   Vermutlich im April 1897, in der Zeit der späten Reiseerzählungen, hat May diese Kurzgeschichte verfaßt. Die Fabel ist schlicht: Die Upsaroka-Häuptlingsfrau Uinorintscha ota und ihre beiden Söhne fallen in die Hände von feindlichen Sioux. Der weiße Betrüger, der "berüchtigte Indianeragent"51 Folder hat die Sioux gegen die Upsarokas aufgehetzt.


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Auf Folders Betreiben hin werden die Mutter und ihre Söhne, zusammen mit giftigen Schlangen, in eine Grube geworfen. Um ihre Söhne zu retten, erwürgt die Indianerin die Klapperschlangen und wird dabei wiederholt gebissen. Da die "zornigen Schlangen [...] sich unter einander selbst gebissen"52 hatten, war ihr Giftvorrat aber ziemlich erschöpft, und die Frau könnte gerettet werden. Die Indianerin betet, in ihrer Todesnot, das Vaterunser und wird - bei der Bitte, daß Gottes Wille geschehe - zusammen mit ihren Kindern durch Winnetou und Old Shatterhand aus der Grube befreit.53

   Literarisch ist diese Erzählung gewiß nicht bedeutend. Aber autobiographisch und theologisch ist sie doch interessant. Nach Dieter Sudhoff, der zu dieser Geschichte einen ausführlichen Kommentar verfaßte,54 konfrontiert May "in seiner Erzählung zwei Daseinsformen des Christlichen miteinander: das Christentum der Tat, wie es von der ungetauften Upsaroka-Squaw Uinorintscha ota gelebt wird, und das pure Namenschristentum, für das der getaufte Bösewicht Folder steht."55

   Außerdem geht es May, nach Sudhoff, um "den inneren Konflikt zwischen väterlichem und mütterlichem Ideal",56 um "die Überwindung des väterlichen durch das mütterliche Prinzip".57 Einseitig und überspitzt ist diese Deutung zwar schon; sie ist insofern nicht treffend, als ja gerade dem Vaterunser, dem Gebet der Indianerin zum himmlischen VATER, nach der Intention Mays eine entscheidende Bedeutung zukommt. Andrerseits sieht Sudhoff aber sehr richtig: Mutterliebe ist, in verschlüsselter Form, eine 'marianische' Geschichte, die das väterliche durch das mütterliche Prinzip ergänzt.

   Mays Erzählung deutet, allerdings nur vage und unterschwellig, auf das 'Proto-Evangelium': das alttestamentliche Motiv von der Feindschaft zwischen der "Frau" und der "Schlange" (Gen 3, 15); zugleich erinnert Mays Schlußszene - die Indianerin hat die Schlangenhäute "als Schmuck in ihre lang herabfallenden Zöpfe eingeflochten"58 - indirekt an "Mariendarstellungen, in denen die Madonna als Überwinderin der Schlange bildhaft verherrlicht wird."59

   Gewiß verweist die Erzählung Mutterliebe AUCH auf die Sehnsucht des Autors nach dem Schutz, der himmlischen Fürsprache (Uinorintscha ota ist eine milde, barmherzige Fürsprecherin60) seiner eigenen, verstorbenen, Mutter. "Keine Liebe giebt wie Deine / Meinem Herzen selge Ruh. / Sei gegrüßt, Du voller Gnaden, / Du mein Heil zu jeder Zeit, / Komm ich zu Dir schmerzbeladen, / Nimmst auf Dich Du all mein Leid." Diese - von Sudhoff zu Recht mit der Erzählung Mutterliebe in Verbindung gebrachten - Verse aus Mays "zweitem Ave Maria" (1898)61 sprechen, bewußt oder unbewußt, die leibliche Mutter des Autors ebenso an wie die Mutter des Erlösers und - das mütterliche Antlitz Gottes selbst.62

   Wie die späten Reiseerzählungen nimmt auch Mutterliebe bedeutsame Motive der Mayschen Alterswerke vorweg - nicht zuletzt auch insofern, als die heldische Pose des erzählenden 'Ich' zurücktritt hinter das mütterliche Prinzip: "Obwohl Old Shatterhand die Dominanz der männlichen Rolle angestrengt verteidigt, wird wider seinen Willen die liebende Mutter zur eigentlichen Heldin der Geschichte."63

   Und Folder, der Anti-Shatterhand, der - wie Sudhoff belegt hat - Züge des Vaters Heinrich May, aber auch des Autors Karl May trägt?64 Er stirbt eines schrecklichen Todes "am Marterpfahle".65 Wieder spaltet May sein reales Ich in fiktive Personen: Den bösen May läßt er sterben und den guten May läßt er - als Old Shatterhand, als Prediger und Missionar (der in Mutterliebe freilich schon nicht mehr die Hauptrolle spielt) - durch die Lande ziehen.


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   Die Problematik des literarischen Ichs, der "Menschheitsfrage" (wie May später sagte), wird uns weiterhin, besonders im nächsten Kapitel, beschäftigen und vor schwierige Fragen stellen.



Anmerkungen


1Zwölf Kalendergeschichten wurden, teilweise unter verändertem Titel, in die Fehsenfeld Bände X Orangen und Datteln (1893) und XXIII Auf fremden Pfaden (1897) übernommen. - Die Karl-May-Gesellschaft hat die Marienkalender-Geschichten in einer Reprint-Ausgabe gesammelt: Christus oder Muhammed. Marienkalender-Geschichten. Hamburg 1979.
2Vgl. Herbert Meier: Einleitung zum Reprintdruck, wie Anm. 1, S. 15.
3Die Jahreszahlen in () beziehen sich auf die tatsächlichen Erscheinungsjahre der Novellen (die Kalender erschienen jeweils im Herbst des Vorjahres, also z.B. der Kalender 1891 im Herbst 1890).
4Meier, wie Anm. 2, S. 16.
5Diese Erzählung ist erstmals im 'Grazer Volksblatt' (Weihnachten 1907) erschienen.
6Vgl. unten, S. 496ff.
7Volker Klotz: Durch die Wüste und so weiter. In: Helmut Schmiedt (Hrsg.): Karl May. Frankfurt/M. 1983, S. 75-100 (S. 92).
8Ebd.
9Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 77.
10Ebd., S. 87 - Wollschläger bezieht sich hier auch auf "Weihnacht!" (1897) und den Mahdi-Schluß (1896).
11Meier, wie Anm. 2, S. 7.
12Christoph F. Lorenz: Vom Haß zur Liebe. Karl 'Mays Marienkalender-Geschichten' als Dokumente der inneren Entwicklung ihres Verfassers. In: JbKMG 1980, S. 97-124.
13Vgl. Klaus Eggers: Anmerkungen zu Karl Mays Erzählung 'Christus oder Muhammed'. In: MKMG 52 (1982), S. 3-16.
14Ebd., S. 4.
15Ebd., S. 5f. u. passim.
16Ebd., S. 3.
17Ebd., S. 6.
18Ebd., S. 8.
19Vgl. oben, S. 225ff.
20Vgl. Ernst Seybold: Wie katholisch ist May in seinen Marienkalendergeschichten? In: MKMG 44 (1980), S. 26-30; Fortsetzung in MKMG 45 (1980), S. 38-42, und MKMG 46 (1980), S. 40-46; der Aufsatz ist auch enthalten in: Ders.: Karl-May-Gratulationen. Geistliche und andere Texte zu und von Karl May III. Ergersheim 1990, S. 45-61. - Vgl. unten Anm. 27.
21Claus Roxin: "Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand". Zum Bild Karl Mays in der Epoche seiner späten Reiseerzählungen. In: JbKMG 1974, S. 15-73 (S. 60).
22Ekkehard Koch: (Werkartikel zu) Auf fremden Pfaden. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 266-271 (S. 270).
23Ebd.
24Der christliche Ich-Erzähler schlägt seinen muslimischen Gegner mit einem Fausthieb nieder! - Vgl. Lorenz, wie Anm. 12, S. 100-104.
25Koch, wie Anm. 22, S. 270.
26Seitenangaben in () beziehen sich auf die Wiedergabe von Maria oder Fatima in: Karl May: Auf fremden Pfaden. Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XXIII. Freiburg 1897, S. 455-500.
27In diesem einen Punkt - Fürsprache Mariens bzw. Aufforderung zu ihrer Fürsprache durch irdische Beter - könnte man noch am ehesten eine 'katholisierende Neigung' Karl Mays erblicken. Zwar hat auch der Reformator Melanchthon - in der Apologie, der Verteidigungsschrift für die Confessio Augustana - "deutlich gemacht, daß ihm das Beten Marias im Himmel für die Kirche selbstverständlich ist" (Seybold: Gratulationen III, wie Anm. 20, S. 54, Anm. 59); umstritten ist aber, "ob wir zu Maria im Himmel unsrerseits sagen können, sie solle für uns beten" (Seybold im Brief vom 1.10.1991 an den Verfasser); doch immerhin ist dieses "Anrufen Marias auch orthodox oder altkatholisch möglich" und muß auch "keinem massiven evangelischen Nein begegnen" (ebd.).


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28"Das schreibt ein Protestant [...] einem marianischen Vulgärkatholizismus ins Stammbuch! In der protestantischen Polemik heißt es ja immer, daß 'die Katholiken die Maria anrufen wie Gott selber'." (Seybold: Gratulationen III, wie Anm. 20, S. 52) - Vgl. unten, S. 662ff.
29Interessant ist die Begründung Kara Ben Nemsis: "Jeder Mensch soll eigentlich für den Kreis, in welchem er wirken kann, nach Wort und Wandel ein Priester sein." (May: Auf fremden Pfaden, wie Anm. 26, S. 462) Für die katholische Kirche des 19. Jahrhunderts war diese Auffassung vom 'allgemeinen Priestertum' ja nun wirklich keine Selbstverständlichkeit! - Vgl. Seybold: Gratulationen III, wie Anm. 20, S. 56.
30Lorenz, wie Anm. 12.
31Vgl. Walther Ilmer: Einführung. In: Karl May: Der Mahdi - Im Sudan. 'Deutscher Hausschatz' 18./19. Jg. (1891-93) Reprint der KMG. Hamburg, Regensburg 1979, S. 3-9 (S. 6).
32Peter Krauskopf. Die Heldenrevision in Karl Mays Reiseerzählung 'Und Friede auf Erden' als Kritik am wilhelminischen Imperialismus II. In: MKMG 72 (1987), S. 3-11 (S. 9).
33Vgl. oben, S. 180f. u. 256f. - Auch Marah Durimeh verehrt die Gottesmutter Maria (vgl. Karl May: Durchs wilde Kurdistan. Gesammelte Reiseromane, Bd. II. Freiburg 1892, S. 569)!
34Vgl. z.B. Marie-Louise v. Franz: Der Individuationsprozeß. In: Carl Gustav Jung u.a. (Hrsg.): Der Mensch und seine Symbole. Olten 1968, S. 160-229 (S. 185ff.) - Leonardo Boff: Das mütterliche Antlitz Gottes. Ein interdisziplinärer Versuch über das Weibliche und seine religiöse Bedeutung. Düsseldorf 1985, S. 222ff. - Vgl. unten, S. 660ff.
35Vgl. oben, S. 284ff.
36Vgl. Gal 6, 7: "Täuscht euch nicht: Gott läßt sich nicht spotten; was der Mensch sät, wird er ernten."
37May: Auf fremden Pfaden, wie Anm. 26, S. 519 u. 534.
38Vgl. oben, S. 287ff.
39Lorenz, wie Anm. 12, S. 114.
40May: Auf fremden Pfaden, wie Anm. 26, S. 565.
41Vgl. Lorenz, wie Anm. 12, S. 113.
42Adolf Droop: Karl May. Eine Analyse seiner Reiseerzählungen. Cöln-Weiden 1909, S. 131 f.; zit. nach Roxin: "Dr. Karl May", wie Anm. 21, S. 60.
43Vgl. Seybold: Gratulationen III, wie Anm. 20, S. 46f.
44Ebd., S. 57f.
45Vgl. unten, S. 602ff.
46Seybold: Gratulationen III, wie Anm. 20, S. 57.
47Vgl. ebd., S. 47.
48Vgl. oben, S. 288.
49Vgl. Roxin: "Dr. Karl May", wie Anm. 21, S. 60.
50Seybold: Gratulationen III, wie Anm. 20, S. 47 (mit Bezug auf Goethe und Voltaire).
51Karl May: Mutterliebe. In: Ders.: Christus... (Reprint), wie Anm. 1, S. 230-242 (S. 234).
52Ebd., S. 239.
53Ebd.
54Vgl. Dieter Sudhoff. Auf dem Weg - Karl Mays 'Mutterliebe'. Eine Werkanalyse. In: JbKMG 1985, S. 218-262.
55Ebd., S. 250.
56Ebd., S. 249.
57Ebd., S. 253.
58May: Mutterliebe, wie Anm. 51, S. 242.
59Sudhoff, wie Anm. 54, S. 252.
60Vgl. May: Mutterliebe, wie Anm. 51, S. 234 (Uinorintscha ota bittet für Folder).
61Wiedergegeben bei Amand von Ozoróczy: Das zweite Ave Maria. Beitrag zur "Spätlese in Deidesheim" II. In: MKMG 26 (1975), S. 3-9 (S. 6). - Karl May hat dieses 'Ave Maria' für die Erstkommunikantin Magdalena Seyler (in Deidesheim) im April 1898 verfaßt. - Vgl. Sudhoff, wie Anm. 54, S. 253.
62Vgl. unten, S. 660ff.
63Claus Roxin: Das fünfzehnte Jahrbuch. In: JbKMG 1985, S. 9-14 (S. 12).
64Vgl. Sudhoff, wie Anm. 54, S. 238ff.
65May: Mutterliebe, wie Anm. 51, S. 242.




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