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10.6

Die erzgebirgischen Altersnovellen (1903): Zwei hochkomplexe Parabeln


Im Silberlöwen III/IV, in der Beichte des Ustad vor allem, hat May seine Gegner attackiert und zugleich seine eigene Fehlbarkeit und Erlösungsbedürftigkeit unterstrichen. Auch in den beiden, noch vor Abschluß des Silberlöwen IV entstandenen, Parabeln Sonnenscheinchen und Das Geldmännle setzt sich der Autor - indirekt und chiffriert - mit seinen Kontrahenten, aber auch sehr hintersinnig mit dem eigenen Ich auseinander.

   Nach dem Vergleich mit Adalbert Fischer1 - im Februar 1903 - sah May den Rechtsstreit mit dem jetzigen Besitzer des Münchmeyer-Verlags als erledigt an. Später erwies sich diese Annahme als Irrtum. Doch zunächst war die Beziehung May-Fischer so weitgehend entspannt, daß der Autor dem Kolportageverleger sogar die Publikation eines neu zusammengestellten Buches überließ: Erzgebirgische Dorfgeschichten. Karl Mays Erstlingswerke. Autorisierte Ausgabe. Band I. Im Mai 1903 erschien dieses Buch (dem ein Band II freilich nie folgte) im von Adalbert Fischer - eigens zum Zweck dieser Publikation - am 15.5.1903 neugegründeten 'Belletristischen Verlag Dresden - Niedersedlitz'. Mit der Münchmeyer-Firma konnte der Name May, in diesem Falle, also nicht unmittelbar in Verbindung gebracht werden.2

   Ein Verkaufsschlager wurden die Erzgebirgischen Dorfgeschichten allerdings nicht.3 Denn etwas anderes als bunte Exotik und spannende Abenteuer wollte man von May eben nicht lesen. Fehsenfeld, Mays wichtigster Verleger, war im Jahre 1903 nicht bereit, die Erstlingswerke seines Autors zu publizieren. Erst zu Weihnachten 1907 brachte er einen Neudruck des Fischer-Bandes, in einer Auflage von nur 2000 Exemplaren, heraus.

   Die Erzgebirgischen Dorfgeschichten enthalten insgesamt sechs Erzählungen, darunter vier frühe Texte (Des Kindes Ruf u.a.),4 die tatsächlich zu Mays Erstlingswerken gezählt werden können. Doch die erste und die letzte Geschichte in dieser Sammlung - Sonnenscheinchen und Das Geldmännle - hat May erst 1903 verfaßt. Beide Novellen, die "als Musterbeispiele für eine raffinierte Verschlüsselungstechnik gelten können"5 und die der Schriftsteller in seine Erstlingswerke hineingeschmuggelt hatte, galten lange Zeit als frühe Erzählungen Karl Mays.6 Der Dichter selbst hatte noch in seiner - Ende 1907/Anfang 1908 entstandenen, aber erst 1983 zum Druck gekommenen - Verteidigungsschrift Die Schundliteratur und der Früchtehunger7 behauptet: "Vor nun fast fünfzig [sic!] Jahren" habe er seine Dorfgeschichten mit dem Sonnenscheinchen begonnen, dem schon "bald" das "Karlinchen" - so heißt ein merkwürdiges Tier, eine denkende Ziege, in Das Geldmännle - gefolgt sei.8

   Welchen Zweck wollte May mit dieser, wörtlich verstanden, doch falschen Aussage erreichen? Die Antwort liegt nahe: Die Kontinuität seines literarischen Schaffens, die er im Einführungskapitel des Silberlöwen III zu dokumentieren versucht hatte,9 wollte der Autor auch jetzt besonders hervorheben.

   Nach 1900, nach dem Zusammenbruch der 'Shatterhand-Legende', hatte der Dichter immer wieder beteuert, alle seine Erzählungen, auch seine frühesten Werke, seien symbolisch gemeint. Auch im 1903 geschriebenen Vorwort zu den Erzgebirgischen Dorfgeschichten hat May diesen Anspruch sehr deutlich herausgestellt:


Komm, lieber Leser, komm! Ich führe Dich hinauf in das Gebirge [...] Der Weg ist mir seit langer Zeit bekannt. Ich baute ihn vor nun fast dreissig Jahren, und Viele, Viele kamen, die meine Berge


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kennen lernen wollten, doch leider nur, um sich zu unterhalten! [...] Ich führte sie dann einen anderen Weg, der von der flachen Wüste aufwärts stieg, durch fremdes Land und fremde Völker führte und oben enden wird bei Marah Durimeh. Auf diesem Weg begann man zu begreifen. Man sah nun endlich ein, was die Erzählung ist: nur das Gewand für geistig frohes Forschen. Man hat gelernt, zum Sinn hinabzusteigen [...] Heut kehr ich nun ins Vaterland zurück, um jenen alten Weg aufs Neue zu betreten. Er ist nicht weit und auch nicht unbequem. Er führt nur auf ein kleines "Musterbergle". Wir nehmen uns ein "Sonnenscheinchen" mit, so einen Seelenstrahl, der uns zu leuchten hat, bis wir an unser kleines "Häusle" kommen. Im "Bergle" giebt es Silber, wohl auch ein wenig Gold. Das wird bewacht vom Geist des Neubertbauers. Wer diesen Geist, den doppelten, begreift, der darf den Schatz und dann auch selbst sich heben!10


   Mays These, daß er schon früh, in den 1860er Jahren bereits,11 'symbolisch' geschrieben habe, muß im Prinzip nun keineswegs falsch sein. Im weitesten Sinne symbolisch sind seine sämtlichen Werke - als Geschichten mit einem tieferen Sinn, als mythologische Puppenspiele, als 'reißende Märchen', als archetypische Träume, als religiöse Appelle, als verkleidete Lebensreise-Erzählungen12 - ja durchaus verstehbar. Und mit dem 'Sonnenscheinchen' hat er insofern tatsächlich begonnen, als er "Sonnenschein" in die "Häuser und Herzen"13 seiner Leser doch wirklich sehr früh schon gebracht hat. Nur so hochliterarisch, so kompliziert, so artifiziell verschlüsselt und so absichtsvoll symbolisch wie im Silberlöwen III/IV oder in Geldmännle hat er früher noch nicht geschrieben. Insofern war es eine 'Mystifikation', ein Trick, wenn May nun auch Sonnenscheinchen und Das Geldmännle als 'Erstlingswerke' deklarierte.

   Andrerseits hatte er, im Vorwort von 1903, aber doch sehr richtig bemerkt: "vor nun fast dreissig Jahren", also Mitte oder Ende der 1870er Jahre, hat er den "Weg" (der erzgebirgischen Dorfgeschichten) gebaut; und "Heut", also 1903, wird er "jenen alten Weg" - mit verfeinerten technischen Mitteln - "aufs Neue [...] betreten": in Sonnenscheinchen und, weit kunstvoller noch, in Das Geldmännle.


10.6.1

Sonnenscheinchen


Spätestens Ende Februar/Anfang März 1903 hat May "in aller Heimlichkeit"14 das Sonnenscheinchen verfaßt. Adalbert Fischer betrachtete das Manuskript als Abschrift eines früheren Druckes, den er - so kommentierte Hans Wollschläger - "mit Recht für ein 'allerliebstes Geschichtchen' hielt."15

   Die nur 44 Buchseiten umfassende Novelle, die alle traditionellen Motive der Dorfgeschichte enthält, erscheint - auf der Oberfläche der Handlung - eher naiv. Die Anspielungen auf real existierende Personen sind so unauffällig verkleidet, daß der symbolisch-allegorische Charakter dieser Erzählung nur für den Kenner der Mayschen Vita durchschaubar wird. Auch Fischer konnte nicht ahnen,


daß sich die Symbolik auch auf seine eigene Person erstreckte. May hat solche kleinen, sehr humanen Vergeltungen geliebt [...] und die Wirkung war nur durch den Umstand beeinträchtigt, daß keiner der Betroffenen - und auch niemand in der allgemeinen Leserschaft - die verschlüsselte Botschaft zu dechiffrieren vermochte.16


   Zum Personal der Novelle gehören der Major (und Gutsbesitzer) mit seiner poetisch veranlagten Frau und dem elfjährigen Sohn, dem Majörle, ferner die - den Majorsleuten nahestehende - Familie des ehemaligen Hofknechts Fritz Felber mit seiner Ehefrau Paule, seiner Schwiegermutter und seiner achtjährigen Tochter (dem Sonnenscheinchen) sowie der - mit Felber, aufgrund einer alten Rivalität, zerstrittene - Pachtbauer des Majors.

   Die äußere Fabel kulminiert in einem Mordversuch. Der leichtsinnige, dem Trunk und dem Kartenspiel ergebene Pachtbauer, der das Gut seines Herrn heruntergewirtschaftet


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hat, will den treuen und fleißigen Felber erstechen. Doch der Anschlag wird vereitelt, und Sonnenscheinchen gelingt es, ihren Vater daran zu hindern, den überwältigten Pachtbauern zu töten. Dieser wird nicht bestraft. Der Major läßt ihn auswandern nach Amerika. Den Pachthof aber vertraut er Fritz Felber an.

   Bei genauem Hinsehen erweist sich diese Dorfgeschichte - wie Hartmut Vollmer in einer Detailuntersuchung geklärt hat17 - als feinsinnige und äußerst hintergründige Parabel. Mays Verhältnis zu seinen Verlegern (besonders Münchmeyer und Fischer), die Rezeption seiner Werke, die Ursachen für die literarische Neuorientierung, die kritische Auseinandersetzung des Schriftstellers mit sich selbst: seiner Gegenwart und seiner Vergangenheit - dies alles wird in der Erzählung Sonnenscheinchen gespiegelt. Und ähnlich wie im Silberlöwen III/IV (aber ohne gigantische Übersteigerung) werden die verschiedenen Entwicklungsstufen Karl Mays auf mehrere literarische Figuren projiziert: den vernünftigen, persönlich integren Ma(y)jor; das unreife, renommiersüchtige Ma(y)jörle; den hochstrebenden, aber noch ungefestigten Felber; und schließlich den Pachtbauern, das "Erscheinungsbild tiefer seelischer Krisen"18 im Leben des Autors.

   Bezeichnend für Mays Spätwerk - aber ansatzweise schon in früheren Erzählungen erkennbar - ist der endliche Sieg des 'weiblichen Prinzips' über männliche Härte und Rachsucht. "Heilbringende seelische Macht"19 offenbart sich im Wesen der Frauen und besonders des Sonnenscheinchens. Das Imponiergehabe des Majörle enttarnt dieses Mädchen, verständig und hilfreich, als Schwäche. Ihren Vater bewahrt sie vor Schuld und vor Schaden. Und im Pachtbauern weckt sie "am Schluß der Erzählung den noch nicht endgültig entschwundenen guten Kern".20

   Zärtliche, schützende und behütende Töne klingen in dieser Novelle an. Der Einfluß Frau Klaras, wie May ihn erlebte, setzt sich im Gleichnis vom Sonnenscheinchen nun durch!

   Die charismatische Erscheinung des kleinen Mädchens hat ihren Grund in der weiblichen Einfühlungsgabe, aber ebenso sehr in der reinen, begnadeten Kindlichkeit des Sonnenscheinchens. Auch das Majörle ist ein, im Grund seines Herzens, doch liebes Kind. So ist es, vor allem, "die Hochachtung vor der 'kostbaren Kinderseele', die es dem reifen Major verbietet, auf das großtuerische Wesen des 'Majörle' mit Gewalt und Strenge zu reagieren, vielmehr begegnet er den 'kindlichen Schwächen' mit Nachsicht und Güte."21

   Der Erzähler geht zurück auf die Stufe der noch unschuldigen Kindheit, um "von ihr aus Beziehungen zur Erwachsenenwelt, zum Reifeprozeß herzustellen."22 Die autobiographischen Hinweise auf die partiell noch immer kindlichen Züge im Charakterbild des Verfassers sind nicht zu übersehen!

   Auch noch tiefere, theologische, Sinnzusammenhänge weist die Parabel auf. Das Erzgebirge kann als "Symboltopographie des Weges zu Gott"23 interpretiert werden. Der Pachthof 'Zum Sonnenschein' steht - auf dieser Betrachtungsebene - "für die von Gott geschenkte [...] menschliche Existenz schlechthin."24 Und der Major, der hohe Herr, kann - wie die Gutsbesitzer in den Gleichnissen Jesu (vgl. z.B. Mt 21, 33ff.) - als Repräsentant der göttlichen Autorität verstanden werden.

   Nicht zu vergessen: viele der bisher genannten Merkmale der Erzählung Sonnenscheinchen finden sich, mehr oder weniger ausgeprägt, auch in früheren Dorfgeschichten und auch sonst im Gesamtwerk unseres Autors. Dennoch ist Sonnenscheinchen ein für Mays Spätwerk typischer Text: Mehrdimensional aufgebaut, zeigt er "eindrücklich die Verknüpfung, die KONGRUENZ der verschiedenen Leseebenen".25 Die literarische Wandlung des Verfassers wird in der Novelle - so Vollmer - "nicht nur BENANNT [...], sondern sie


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ENTWICKELT sich in der Geschichte, indem die Handlung mehrschichtige Bedeutungsebenen hervortreten läßt."26 Und anders als im Silberlöwen, in Friede und den künftigen Romanen wird "auf engstem epischen Raum die für Mays Alterswerk als konstitutiv geltende artifizielle Technik der Synchronisation verschiedener Gestaltungsebenen geradezu exemplarisch veranschaulicht."27

   Gewiß, der stilistische Schliff und die traumhafte Bildsymbolik etwa der Hauptpartien des Silberlöwen III/IV werden in dieser, vordergründig sehr schlichten, Parabel nicht erreicht. Aber das hat der Autor, in diesem Falle, ja gar nicht gewollt. Dem Stil nach sollte Sonnenscheinchen eben nur - eine Dorfgeschichte sein.


10.6.2

Das Geldmännle


Konnte Sonnenscheinchen, insgesamt, noch mit einer naiven Erzählung verwechselt werden, so ist eine derartige Verkennung im Falle der zweiten Altersnovelle Mays kaum denkbar. Während Sonnenscheinchen - nach Claus Roxin -


durch die Schlichtheit des Handlungsrahmens [...] weniger 'poetisch' als hausbacken geraten ist, vergeht dem Leser beim 'Geldmännle' mit seinen jähen Umschlägen vom Humoristischen zum Grausigen und vorn Idyllischen zum Melodramatischen sehr rasch die Gemütlichkeit. Die Erzählung gehört mit ihrem Ineinander von Mythologie, Märchen, Sozialkritik, Okkultismus und Psychiatrie zu Mays schwierigsten und geheimnisvollsten Texten und wirkt durch ihre gedrängte Geschlossenheit auch literarisch fesselnd.28


   Im Frühjahr 1903, im Anschluß an Sonnenscheinchen, hat May diese - über 200 Buchseiten umfassende - Novelle geschrieben. Vor dem Hintergrund des sächsischen Weberelends um die Mitte des 19. Jahrhunderts berichtet der Autor, mit zahlreichen motivischen Anklängen an den Kolportageroman Der verlorene Sohn,29 vom düsteren Treiben des Geldmännle.


10.6.2.1

Das Personal und die Fabel


Die wichtigsten, an manche Konventionen der Dorfgeschichte zunächst noch durchaus erinnernden Figuren30 sind:

-das bucklige Herzle, die "Seelenreinheit" (S. 458)31 in Person: eine überaus liebenswerte, ein wenig bresthafte, aber doch hübsche junge Frau; eine geschickte Näherin und Spitzenklöpplerin; eine Freundin der Tiere und Pflegerin auch der Blumen;
-die Mutter des Herzle, Marie: eine bescheidene, durch Leiden gereifte Frau;
-das Karlinchen, die Ziege Maries und des Herzle: eine fabelhafte Kreatur, die die menschliche Sprache versteht, über hohe Intelligenz verfügt, sich als Wächterin der Schwelle betätigt, heimliche nächtliche Ausflüge unternimmt und sehr nachhaltig ins Geschehen eingreift;
-der Musteranton, der früh verstorbene Gatte Maries und Vater des Herzle: ein tüchtiger Kupferstecher und passionierter Damespieler, der einen guten Charakter besitzt und der Spielleidenschaft, aufgrund des Einflusses Maries, entsagt;
-Hermann Bernstein, der Jugendfreund des Herzle: als armer Weberssohn "ein Kind des Hungers und der Not" (S. 534); als begabter junger Mann ein aufgeklärter und sozialkritischer Schriftsteller, der durch die finanzielle Unterstützung eines unbekannten Gönners seine Ausbildung zum Lehrer erfolgreich durchlaufen konnte;
-Rosalia Uhlig, eine taktlose und prunksüchtige, "sehr voll gebaute" (S. 463) Person, die am selben Tag geboren und getauft wurde wie Herzle (an deren Verkrüppelung sie


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schuld ist: in einem Wutanfall hatte sie die Freundin vom Berg hinuntergestürzt) und die den Lehrer Bernstein zum Mann begehrt, von diesem aber zurückgewiesen wird;
-Frommhold Uhlig, auch 'Herr Frömmelt' genannt, der Vater Rosalias: ein durchtriebener Heuchler, der "Sonntags zweimal in die Kirche geht" (S. 470) und - als Nachfolger des früheren 'Musterwirts' - der reichste Mann des ganzen Landstrichs ist; ein geschäftstüchtiger Unternehmer, der von der rücksichtslosen Ausbeutung der Allerärmsten profitiert; ein gerissener Falschmünzer und Schnapsverkäufer, der andere verführt, von sich abhängig macht und ins bitterste Unglück stürzt; ein "Vampyr" (S. 534), der obendrein noch identisch ist mit dem Geldmännle, einem mysteriösen Kapitalverbrecher;
-Anna Neubert, ein früher stolzes und hochmütiges Weib, das sich lossagt von seiner Vergangenheit, die Unterdrückerrolle des Frömmelt durchschaut und den Musterwirtsleuten die Wahrheit ins Gesicht schleudert: daß sie "das Blut der armen Weber saugen" (S. 469);
-der Neubertbauer, Annas Vater, den das Geldmännle in den Ruin treibt, zu Falschgeldgeschäften ermuntert und bei der Polizei denunziert;
-der Pastor, ein wortgewandter Theologe und rühriger Seelsorger, der den Neubertbauern (nach dessen Selbstmord) in Ehren bestatten läßt, sich auch sonst - zusammen mit dem Lehrer Bernstein - für die Armen engagiert, im Bündnis mit dem Lehrer zum Feind des Geldmännle wird und eine Predigt hält zum Thema "Wirket, so lange es Tag ist, denn es kommt die Nacht, da niemand wirken kann" (S. 637; vgl. Joh 9, 4).

Die Novelle beginnt mit einer 'Urgeschichte', einer scherzhaft mythologischen, dem Pfarrer zugeschriebenen Erzählung, die von der Erschaffung des Erzgebirges durch die Götterbrüder Pluto und Vulkan berichtet. Da den Göttern ihr Werk ein wenig mißlang, wuchsen die Berge mehr in die Breite als in die Höhe. In dieser, für Götter wenig komfortablen, Landschaft bildet das - in der Gegenwart - von Herzle, Marie und Karlinchen bewohnte "Bergle" eine idyllische, durch einen tiefen Bach abgeschlossene, nur über eine - zwischen "Gut und Bös" (S. 630) errichtete - Brücke erreichbare "Märcheninsel" (S. 494).32

   Zwanzig Jahre vor Beginn der eigentlichen Erzählung hatte Anton, der beste Musterzeichner in jener Gegend, dem Geldmännle - beim Damespiel - das noch wilde und unerschlossene 'Bergle' abgewonnen. Wenig später kommt es zu mehreren Sterbefällen. Frömmelt, der Kompagnon und Schwiegersohn des damaligen Geldmännle, läßt den Musteranton (der die Fälscherwerkstatt der beiden Geschäftspartner entdeckt hat) in einer Falle ums Leben kommen: Giftige Dämpfe ersticken, nach einem Todeskampf von mehreren Stunden, den Anton. Auch dem Schwiegervater und der Ehefrau des Herrn Frömmelt, die zufällig die Druckerei betreten, wird das Gift zum Verhängnis. Uhlig kann dies alles vertuschen und etabliert sich als Nachfolger des Geldmännle und Musterwirts.

   Nach dieser Rückblende schildert May, sehr dramatisch, das Begräbnis des Neubertbauern - eine Katastrophe auch für den Musterwirt: Um seinen Hof "geschnapst" (S. 536), hat sich der Bauer, vor den Augen Herrn Frömmelts, das Messer in die Brust gestoßen. Zuvor noch hat er dem Musterwirt bzw. dem Geldmännle, in Haß und Verzweiflung, dasselbe Ende vorausgesagt.

   Bei der Beerdigung des Selbstmörders zerbricht der Sarg in zwei Hälften: "ein deutlicher Hinweis auf die folgende Ich-Spaltung des Musterwirts".33 Uhlig fällt, durch einen Fehltritt, in den offenen Sarg!


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Er sah sich im oberen Teile des Sarges schief aufgerichtet lehnen. In dem anderen Teile stand der Neubertbauer, der ihm mit offenen, fürchterlich verglasten Augen grad in das Gesicht starrte. Die Erde schoß in [...] Klumpen auf sie beide herab. Das sah genau so aus, als ob der Bauer sich bewege, und auf ihn zukomme. (S. 541 f.)


   Der Musterwirt umklammert die Leiche und verliert die Besinnung. In "grauenhafter Symbiose vereinen sich Opfer und Täter, Leiche und bewußtlos Erstarrter."34 Da der Wirt vom toten Bauern nicht zu lösen ist, wird der Schrein in die Kirche gebracht. Dort erwacht nun Herr Frömmelt und steigt aus dem Sarg. Sein Blick fällt - auf das Altarbild, das er selbst gestiftet hat. Das Bild stellt die Auferstehung des - Geldmännle dar:


"Bist du das, frommer Musterwirt? So schön, so rein steigst du aus deinen Sünden? Die Menschen konntest du mit dem Bilde betrügen, mich aber nicht, und auch nicht Gott, den Herrn! Schau her, und sich dir eine andere Auferstehung an, keine gemalte, sondern eine echte! [...] Die Toten stehen auf und rächen sich." (S. 546)


   Der dies spricht, ist der Musterwirt selbst. Und doch ist's ein anderer. Herr Uhlig ist nicht mehr er selbst. Der 'Geist des Neubertbauern' hat Besitz ergriffen von ihm. Frömmelt ist, als 'Besessener', schizophren geworden. Er hält sich zeitweilig für den Bauern und zeitweilig für den Mörder: "Mein Haus, der Körper, hat zwei Herren." (S. 582)

   Das böse Gewissen, der 'Geist des Neubertbauern', peinigt das Geldmännle. In einem Kampf "Geist gegen Geist" (S. 546) gewinnt der tote Neubert zunehmend Gewalt über den Musterwirt und treibt ihn zur Aufdeckung und Wiedergutmachung seines Betrugs und seiner sämtlichen Verbrechen.

   Die Ziege Karlinchen stößt, gegen Ende der Erzählung, die Tochter des Wirts von der Brücke in den Bach. Rosalia ertrinkt in demselben Wasser, in das ihr Vater die Leiche des Anton (um einen Selbstmord vorzutäuschen) vor zwanzig Jahren geworfen hat. Der Anblick der toten Rosalia bricht den letzten Widerstand des Herrn Frömmelt. Der "Staatsanwalt", der Geist des Neubertbauern, vollendet sein Werk: Uhlig legt eine umfassende Beichte ab, um sich anschließend, genau wie von Neubert prophezeit, zu erstechen: als Sühne für seine Vergehen. Zuvor aber versprechen ihm - von der Reue des Musterwirtes erschüttert - die Angehörigen seiner Opfer, für seine Erlösung, für das Heil seiner Seele zu beten.

   Das Herzle und der Lehrer Bernstein (der das Geschäftsgebaren des Musterwirts durchschaut und angeprangert hatte) finden nun endlich zusammen. Auf dem Bergle wird ein Fest der sozialen Versöhnung gefeiert und unten im Tal erlebt das Dorf, wirtschaftlich und moralisch, seinen Aufschwung.35


10.6.2.2

Deutungs- und Bewertungsaspekte


Wie sich allein schon aus dem Figuren-Ensemble ergibt, kann Das Geldmännle - fast so ergiebig wie der Silberlöwe III/IV - auch autobiographisch verstanden werden. Die Handlung codiert, bis in kleinste Details hinein, das Gesamtbiogramm des Verfassers. Christoph F. Lorenz hat diesen Aspekt in einer gründlichen Analyse36 erörtert. Hier, im Rahmen unserer Zusammenfassung, sind nur wenige Hinweise möglich:

   In Rosalia liefert May, offensichtlich, ein Bild Emma Pollmers (und auch Pauline Münchmeyers), wie er sie 1903 gesehen hat. Daß der Autor beim Herzle an die jetzige Ehefrau Klara - deren Kosename ja 'Herzle' war - dachte, ist ebenfalls evident. Zugleich aber wird er im Herzle noch einer anderen Frau ein literarisches Denkmal gesetzt haben: Marie Hannes (1881-1953) aus Wernigerode, die schön und intelligent war, aber - wie das bucklige Herzle - an einer Verkrümmung litt.37 Vermutlich noch vor dessen Orient-


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reise hatte Marie den Schriftsteller persönlich kennengelernt; sie gehörte, auch künftig, zu den großen Verehrerinnen des Dichters.38

   Manche autobiographischen Spiegelungen in Geldmännle sind leicht zu erkennen, z.B. die Affinität der 'zu breit' geratenen Berge mit dem Werk Karl Mays (das ja auch 'in die Breite' ging) oder die Parallele der 'Musterwirtschaft' zur Kolportagefabrik H.G. Münchmeyers und Adalbert Fischers: Die 'Verfälschung' der Mayschen Romane, der 'Muster', durch die Verleger entspricht, grandios übersteigert, den Falschgeldgeschäften Herrn Frömmelts.

   Wie immer in seinen Erzählungen setzt sich May auch in Geldmännle mit sich selbst auseinander. Die Ich-Komponenten bzw. Lebensphasen des Verfassers werden, auch hier, auf verschiedene literarische Figuren übertragen: auf den Musteranton als schuldloses Opfer, den Neubertbauern als verführten, d.h. nur teilweise schuldigen Menschen, den Lehrer Bernstein39 als Verkörperung alles dessen, was May erstrebte, und - bis zu einem gewissen Grad - auch den Musterwirt, sofern er seine Schuld erkennt, dann schließlich Buße tut und sein Unrecht wiedergutzumachen versucht.

   Eine vergleichbare Weise der Schuldbewältigung ist uns bei May schon wesentlich früher, z.B. in El Sendador (1889-91),40 begegnet. Mehrfache Ich-Spiegelungen sind, wie nun oft schon gezeigt wurde, ein Kennzeichen des Mayschen Gesamtwerks. Aber in Geldmännle wird - für das Spätwerk bezeichnend - eine unerhörte Verdichtung erreicht.

   Doppel- und mehrbödig ist in der 'Musterparabel' nahezu alles, fast jeder Satz und fast jedes Wort: 'Damespiel' etwa und natürlich auch 'Muster'.41 Metaphorisch (auf der selbstbiographischen Ebene und weit darüber hinaus) ist hier jede Figur, jede topographische Andeutung, jeder Gegenstand und jedes Handlungsdetail zu verstehen.42

   Der artistische Rang der Erzählung ist damit schon angesprochen. Das Geldmännle gehört zu den vielschichtigsten Werken Karl Mays. Als Dorfgeschichte, als Schilderung des sächsischen Webermilieus, als Kriminal- und Schauernovelle (mit behaglichem und manchmal auch schwarzem Humor durchsetzt), als autobiographischer Schlüsseltext, als 'parapsychologische Studie', als metaphysisches Gleichnis und - natürlich - als Märchen ist Das Geldmännle konzipiert. Diese Erzählung kann - wie Christoph F. Lorenz treffend zusammenfaßt -


mit Recht als eine schwierige Geschichte gelten, in die May viel 'hineingepackt' hat: Humor, Liebe, Symbolik, Haß, Biographisches, Philosophie, Theologie, usw. In manchen Punkten fordert sie zum Vergleich mit anderen Spätwerken Mays, wie besonders dem 'Silberlöwen III und IV' oder 'Abdahn Effendi',43 heraus; ihre Sonderstellung im Mayschen Spätwerk aber verdankt sie der Tatsache, daß sie [...] fast ganz ohne Sprünge und Widersprüche auskommt. Es ist May hier nämlich gelungen, den Märchenton des Anfangs ganz durchzuhalten und auch das Komplizierteste einfach und behutsam zu erzählen [...] selten hat May die Wahrheit, wie er sie sah, so ungezwungen und selbstverständlich in ein Erzählgewand gehüllt wie hier.44


10.6.2.3

Der 'Geist des Neubertbauern'


Eine Überlegung ist noch erforderlich zur religiösen Symbolik, zum theologischen (bzw. psychologischen) Aspekt der Wandlung des Musterwirts. Im okkulten Sinne muß diese Bekehrung nicht verstanden werden. Daß die Seele, der 'Geist' des Neubertbauern tatsächlich 'umgezogen' sei in den Körper des Geldmännle, dies wird - so wörtlich - gewiß nicht gemeint sein. Denn May war ja keineswegs abergläubisch.45 Und der Text der Novelle läßt psychologisch vernünftige und theologisch sinnvolle Deutungsmöglichkeiten für die 'Besessenheit' des Musterwirtes ja zu und bietet sie (in Verbindung gebracht mit ähnlichen und beinahe gleichzeitig entstandenen May-Texten) zumindest indirekt an.


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   Gegen die wörtliche Deutung der 'Auferstehung' des Toten im Körper des Musterwirts spricht allein schon der Märchenton, der metaphorische Charakter der ganzen Erzählung. Wie aber soll die 'Doppelgänger'-Rolle des Neubertbauern dann interpretiert werden?

   Der 'Geist des Neubertbauern', der sich des Musterwirtes bemächtigt, ist zunächst - wie Lorenz richtig erkannt hat46 - das Gewissen, das höhere, das bessere Ich des Musterwirts selbst. Der Handlungsverlauf der Novelle und die "Chodem"-Theorie im Silberlöwen IV legen diese Auffassung nahe: Im Zusammenbruch des Geldmännle hat der 'Chodem' (nach May "das persische Wort für 'ich selbst'"47) Besitz ergriffen von ihm; Uhlig hat "seine wahre Identität gefunden und sich selbst erkannt"48 in seiner Verworfenheit.

   Ein psychischer Zusammenbruch kann - wie die Lebensgeschichte Mays selbst ja eindrucksvoll zeigt49 - zur existentiellen Erneuerung führen. Aus der Katastrophe heraus können heilende Kräfte geweckt werden. So auch im Falle des Geldmännle: Wie ein Verrückter, wie ein Mensch, der sich selber verloren hat, wirkt der verwandelte Musterwirt nur in den Augen des Unverstands. In Wirklichkeit aber sind "die Momente, in denen der Neubertbauer aus ihm spricht, die Augenblicke, in denen er 'er selber' ist."50 Denn als Verbrecher war er 'verkehrt' und 'ver-rückt'; als Mensch, der bereut und seine Taten wiedergutmacht, aber ist er 'in Ordnung'!

   Der Musterwirt stirbt entsühnt, von seiner Bosheit, seiner Selbst-Entfremdung befreit. Er ist nun 'gerichtet', d.h. wiederhergestellt und 'richtig' gemacht vor dem Schöpfer. "Ich wollte morgen vor den Herrgott treten und ihn fragen, wer schuld an allen meinen schlimmen Taten ist. Ich dachte mir, ich sei es nicht!" (S. 635) Jetzt aber, vom 'Chodem', vom besseren Ich gezwungen, erkennt er sich selbst und steht - in der endlichen Beichte - zu seiner eigenen Schuld. Er ist der "Nacht, da niemand wirken kann" zuvorgekommen; er hat - in der Sühne - gewirkt, "so lange es Tag ist" (S. 637): Er ist 'herausgestiegen' aus seinen Sünden, "wie es in der Kirche auf meinem Altarbild zu sehen ist" (S. 635).

   Der 'Geist des Neubertbauern', der eigene Schiedsspruch, treibt den Herrn Frömmelt zwar in den Tod, ins physische Aus; aber er führt ihn zugleich ins wirkliche Leben, auf den Weg der Gerechtigkeit und der Versöhnung - mit Gott und den Menschen. Der 'Geist des Neubertbauern' ist also tatsächlich, wie es im Vorwort zu den Erzgebirgischen Dorfgeschichten heißt, ein 'doppelter': ein Geist des irdischen Todes und des ewigen Lebens mit Gott. "Wer diesen Geist, den doppelten, begreift, der darf den Schatz und dann auch selbst sich heben!"51

   Als Gewissen des Musterwirts, als dessen höheres Ich kann der 'Geist des Neubertbauern' verstanden werden. Und doch ist zu fragen: Warum bringt May die Erlösung des Musterwirts mit dem Geist einer andern Person in so enge Verbindung? Warum mit dem Geist eines Toten? Und warum gerade des Neubertbauern? Hat dies alles keinen besonderen Grund?

   Der sterbende Bauer hat seinem Peiniger einen bösen Tod angesagt. Die magische Vorstellung, daß Flüche (oder Segensworte) buchstäblich - wie Zaubersprüche - in Erfüllung gehen, gehört ins Märchenreich. Aber ein wahrer Kern, ein tieferer Sinn - ist er den Märchen abzusprechen? Geheimnisvolle Kraftfelder zwischen den Menschen - gibt es die nicht? Ist es bedeutungslos, was Menschen voneinander denken und was sie sich wünschen? Sind es nur leere Worte, wenn Menschen, aus der Tiefe ihres Herzens heraus, sich Gutes oder Böses wünschen?

   Anders gefragt: Gibt es keinen Urgrund des Seins, der alle Geschöpfe miteinander verbindet? Keinen Wurzelgrund, in dem sie kommunizieren und sich wechselseitig - auf viel-


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fache Weise - beeinflussen? Und liegt der Gedanke dann wirklich so fern, daß die 'Toten' (die geborgen sind in der Tiefe des Seins, in der Ewigkeit Gottes) einen verstärkten und verdichteten Einfluß besitzen auf die noch Lebenden?

   Einen solchen (spiritistischen Praktiken freilich nie zugänglichen, vom Menschen her niemals verfügbaren, weil in der Unverfügbarkeit Gottes gründenden) Einfluß der 'Toten' auf die Lebenden setzen viele Menschen, auch namhafte Denker und bedeutende Theologen,52 voraus. Auch Karl May wird - 1903 und früher und später - so gedacht haben.53

   Warum aber wird in Geldmännle ausgerechnet dem 'Geist des Neubertbauern' ein so machtvoller Einfluß zugeschrieben? Und warum verwandelt sich dieser - zunächst doch nur böse, nur tödlich sein wollende - Einfluß zum Instrument der göttlichen Gnade?

   Nicht nur der Musterwirt, auch der Neubertbauer bedarf der Erlösung: von seinem (zwar verständlichen, zuletzt aber doch unchristlichen) Haß. Sein Fluch muß verwandelt werden in Segen. Denn anders kann es - wie May sehr betont und wie es der Traum des Ich-Erzählers im Silberlöwen IV so wunderbar suggeriert54 - Erlösung, als Gemeinschaft mit Gott, ja nicht geben.

   Mit seinen Haßgefühlen gegen den Musterwirt ist der Neubertbauer ein Ich-Derivat Karl Mays, der seine Feinde am liebsten verflucht hätte! Aber der 'Chodem', das bessere Ich des Dichters, wußte es wohl: Die bösen Gedanken, die negativen, zerstörerischen Phantasien - sie dürfen, von der Botschaft Jesu (in Geldmännle repräsentiert durch die Predigt des Pastors) her gesehen, das letzte Wort nicht behalten. Diese Einsicht wird der tiefere, dem Autor - vielleicht - nicht bewußte Grund gewesen sein, gerade dem 'Geist des Neubertbauern' eine segnende, eine rettende Macht zuzuschreiben.


10.6.2.4

Erlösung durch Suizid?


Es könnte nun weiter gefragt werden, warum Karl May die Erlösung des Musterwirts im Suizid kulminieren läßt. Wollte May, nebenher, eine Apotheose des Selbstmordes liefern? Hatte er mit dem Gedanken gespielt, die Flucht nach vorn anzutreten, d.h. seine Jugenddelikte (von denen Pauline Münchmeyer und Adalbert Fischer ja wußten und deren allgemeines Bekanntwerden der Schriftsteller fürchtete) öffentlich zu bekennen und sich anschließend das Leben zu nehmen? Spiegeln sich derartige Todesphantasien des Autors im Schluß-Verhalten des Musterwirts?

   Unmöglich ist eine solche Deutung wohl nicht. In früheren Zeiten und möglicherweise auch jetzt hatte May mit Suizidgedanken zu kämpfen.55 Aber er wollte doch leben; er wollte schreiben, sein 'eigentliches Werk' noch vollenden. Sein Gottvertrauen wies May den literarischen Weg des Lehrers Bernstein (der Bücher schrieb) und nicht den tragischen Weg des Musterwirts - dessen Selbstentleibung der Dichter freilich nicht als fehlendes Gottvertrauen, sondern als Sühne verstand.

   Eigentlich ist der Selbstmord ja nicht zu billigen. Aber May hat oft, und besonders in Geldmännle, zu zeigen versucht, daß Gott "gerade schreibt, auch auf krummen Zeilen" (Augustinus); er hat mit poetischen Mitteln bezeugt, daß Gottes Gnade sehr ungewöhnliche, sehr geheimnisvolle, vom Menschen nie wirklich durchschaubare Wege geht.



Anmerkungen


1Vgl. oben, S. 398.
2Vgl. Christian Heermann: Der Mann, der Old Shatterhand war. Eine Karl-May-Biographie. Berlin 1988, S. 284.


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3Vgl. Christoph F. Lorenz: Das Gewissen des Musterwirts. Karl Mays "Dorfgeschichte" 'Das Geldmännle'. In: JbKMG 1985, S. 182-217 (S. 185).
4Vgl. oben, S. 150f.
5Lorenz, wie Anm. 3, S. 185.
6Noch 1926 beantworteten die Herausgeber des Karl-May-Jahrbuches die Frage, ob Das Geldmännle tatsächlich zum Frühwerk gehöre, mit "Jawohl! Um 1876 erschienen"; zit. nach Hartmut Vollmer: Karl Mays 'Sonnenscheinchen'. Interpretation einer späten "Erzgebirgischen Dorfgeschichte". In: JbKMG 1985, S. 160-181 (S. 179, Anm. 9).
7Karl May: Die Schundliteratur und der Früchtehunger. In: JbKMG 1983, S. 50-55 - Dazu Walther Ilmer: (Werkartikel zu) Die Schundliteratur und der Früchtehunger. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 557-559.
8Vgl. May: Die Schundliteratur, wie Anm. 7, S. 53.
9Vgl. oben, S. 436.
10Karl May: Erzgebirgische Dorfgeschichten. Nachdruck der Ausgabe Dresden - Niedersedlitz o.J. (1903). Mit einem Vorwort von Ekkehard Bartsch. Hildesheim, New York 1977, S. 1 - In der Fehsenfeld-Ausgabe (1907) fehlt das Vorwort Mays.
11Vgl. oben, S. 85.
12Vgl. oben, S. 268ff. - Vgl. auch Heinz-Lothar Worm: Karl Mays Helden, ihre Substituten und Antagonisten. Tiefenpsychologisches, Biographisches, Psychopathologisches und Autotherapeutisches im Werk Karl Mays am Beispiel der ersten drei Bände des Orientromanzyklus. Paderborn 1992.
13Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg 1910. Hrsg. von Hainer Plaul. Hildesheim, New York 21982, S. 184.
14Hans Wollschläger: Erste Annäherung an den 'Silbernen Löwen'. Zur Symbolik und Entstehung. In: JbKMG 1979, S. 99-136 (S. 127).
15Ebd., S. 128.
16Ebd.
17Vgl. zum folgenden Vollmer: Sonnenscheinchen, wie Anm. 6, S. 160-181.
18Hartmut Vollmer: (Werkartikel zu) Sonnenscheinchen. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 7, S. 480-482 (S. 481).
19Ebd.
20Ebd., S. 482.
21Vollmer: Sonnenscheinchen, wie Anm. 6, S. 178.
22Ebd.
23Vollmer: Werkartikel, wie Anm. 18, S. 481.
24Ebd., S. 482.
25Vollmer: Sonnenscheinchen, wie Anm. 6, S. 177 (Hervorhebung von mir).
26Ebd., S. 178.
27Vollmer: Werkartikel, wie Anm. 18, S. 482.
28Claus Roxin: Das fünfzehnte Jahrbuch. In: JbKMG 1985, S. 9-14 (S. 12).
29Vgl. oben, S. 186f.
30Zur Personencharakteristik vgl. auch die einschlägigen Artikel in: Großes Karl-May-Figurenlexikon. Hrsg. von Bernhard Kosciuszko. Paderborn 1991.
31Seitenangaben in () beziehen sich auf May: Dorfgeschichten, wie Anm. 10.
32Zit. nach Reinhard Tschapke: (Werkartikel zu) Das Geldmännle. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 18, S. 482-486 (S. 483).
33Lorenz, wie Anm. 3, S. 202.
34Tschapke, wie Anm. 32, S. 484.
35Vgl. ebd.
36Vgl. Lorenz, wie Anm. 3, S. 188-198.
37Vgl. Amand von Ozoróczy: Das zweite Ave Maria. Beitrag zur "Spätlese in Deidesheim" (II). In: MKMG 26 (1975), S. 3-9 (S. 8, Anm. 23) - Hans-Dieter Steinmetz: Mariechen, Ferdinand und Onkel Karl. Zu einem unbekannten Kapitel im Leben des Ustad. In: MKMG 69 (1986), S. 6-24 (S. 14).
38Vgl. unten, S. 578f.


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39Die Namensgleichheit mit Bernstein, dem Anwalt Mays in den Münchmeyer-Prozessen (vgl. oben, S. 397), wird wohl kein Zufall sein. - Vgl. Lorenz, wie Anm. 3, S. 195.
40Vgl. oben, S. 220f.
41Vgl. Lorenz, wie Anm. 3, S. 188 u. 210f.
42Vgl. die Entschlüsselungsversuche ebd., S. 199-211.
43Dazu unten, S. 495f.
44Lorenz, wie Anm. 3, S. 214f.
45Vgl. oben, S. 343ff.
46Vgl. Lorenz, wie Anm. 3, S. 199-206.
47Karl May: Im Reiche des silbernen Löwen IV. Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XXIX. Freiburg 1903, S. 537 - Vgl. unten, S. 648.
48Lorenz, wie Anm. 3, S. 204.
49Vgl. z.B. oben, S. 380.
50Lorenz, wie Anm. 3, S. 204.
51May: Dorfgeschichten, wie Anm. 10, S. 1.
52Vgl. z.B. Karl Rahner: Zur Theologie des Todes. Quaestiones disputatae 2. Freiburg 1958.
53Vgl. oben, S. 344f.
54Vgl. unten, S. 641.
55Vgl. die Äußerungen Karl und Klara Mays, wiedergegeben in: MKMG 30 (1976), S. 2f. - Vgl. auch oben, S. 339.



10.7

Der 'Vernichtungskampf' gegen May: Die Eskalation eines Literaturstreits


Der Symboldichter May schrieb den Silberlöwen III/IV, die erzgebirgischen Altersnovellen und - erst recht - seine späteren Alterswerke unter äußeren Bedingungen, die alles andere als erfreulich waren. Nach der ‚Versöhnung' mit Adalbert Fischer (1903) ebbte die Kontroverse um unseren Autor nicht ab, sondern wurde noch härter und immer gehässiger. Der Streit begann "in eine prinzipielle und zugleich weithin unsachliche Auseinandersetzung einzumünden, die außerdem in zunehmendem Maße von den politischen und konfessionellen Tageskämpfen beeinflußt wurde."1

   Gewiß, es gab auch Lichtblicke in diesen für May so lichtfernen Zeiten. Das erste Halbjahr 1904 "war lieber, lichter Sonnenschein".2 Der Friede-Band, die Neufassung des Pax-Romans, "entstand in friedlicher Stille."3 Und am 24. Oktober 1904 wurde der Dichter "wie ein Fürst"4 im Cassianeum - zu Donauwörth im bayerischen Schwaben - empfangen. Ludwig Auer (1839-1914), der Leiter dieses Instituts 'zur Verbesserung des katholischen Unterrichtswesens'5 und zugleich der Gründer des renommierten Auer-Verlags, gehörte zu den großen Persönlichkeiten, die May unterstützten.6 Doch um so verständnisloser und aggresiver war das Verhalten der Gegner des Schriftstellers.

   Nicht nur als Trivialliterat wurde May abgestempelt. Noch übler: als Jugend- und Volksverderber wurde er an den Pranger gestellt. Verleumder und Intriganten, Justizbeamte und Advokaten, sensationslüsterne Redakteure, geschäftstüchtige Unternehmer, streitbare Kirchenmänner und engsichtige Moralisten schlossen sich gegen einen Autor zusammen, der zur Selbstgefällgikeit neigte und den Umgang mit Kritik noch immer zu lernen hatte, aber - menschlich wie künstlerisch - eine bedeutsame Entwicklung durchlief und alles andere als ein Schädling war.


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10.7.1

Die Pressekampagne in den Jahren 1904-08


Die Pressefehde, die 1899 begonnen hatte, mußte der Dichter, mehr und mehr, als Verschwörung empfinden. Die - ursprünglich literarischen - Attacken wurden politischer, die Strategie raffinierter, die persönlichen Anwürfe, nach neuen Enthüllungen über May, immer böswilliger. Aber auch May war kein einfacher Gegner. Sein kämpferisches Benehmen gewann an Format. Seine Polemik wurde geschliffener und seine Taktik gewandter. Und seine Kraft blieb lange Zeit ungebrochen.

   Mays Friede-Buch von 1904 löste eine neue Kontroverse aus, die May überraschte. Den visionären, die religiöse Versöhnung, die soziale Gerechtigkeit, die politische Verschwisterung der Menschheitsfamilie heraufbeschwörenden Roman wollte der Autor ja "sämtlichen deutschen Fürsten, [...] auch sogar dem Sultan, dem Schah und den Kaisern von China und Japan"7 überreichen. "Sie sehen", so schrieb er an Fehsenfeld, "wir beginnen uns jetzt zu regen und gehen in das Volle, denn unsere Zeit, auf die ich wartete, ist doch nun endlich da!"8 Angesichts des literarischen Ranges, der psychologischen Tiefe und nicht zuletzt auch der theologischen Relevanz des Romans ist diese Briefstelle keine Aufschneiderei. Was die Wirkung des Friede-Bandes betrifft, hat May, in euphorischer Stimmung, den Realitätsbezug aber verloren. Zunächst jedenfalls gab es harsche Kritik und nur wenig Zustimmung.

   Und Friede auf Erden! brachte May noch weitere - nicht ungefährliche - Feinde, die sich im Kampf gegen den Schriftsteller mit Hermann Cardauns und anderen May-Gegnern zu verbünden wußten. Die Exponenten sehr unterschiedlicher Stoßrichtungen - Moralismus und Prüderie, exklusives Kunst- und verengtes Wahrheitsverständnis, politische Reaktion und privater Haß - koalierten gegen den Autor der Reiseerzählungen, der Kolportageromane und, neuerdings, des Friede-Bands.

   Mit belanglosen Querelen hatte der neue Streit, Ende Oktober 1904, begonnen: Ein Fräulein Marie Silling rezensierte im 'Dresdner Anzeiger', einem einflußreichen deutschnationalen Journal, den Friede-Roman: auf sarkastische Art, ohne Sachkenntnis, mit albernen Argumenten und auf Nebensächlichkeiten fixiert.9 In einem offenen Brief An den Dresdner Anzeiger (Anfang November in mehreren Zeitungen abgedruckt) konterte May - in diesem Falle wohl angemessen - in spöttischer Weise.10

   Nach Replik und Gegenreplik meldete sich Prof. Dr. Paul Schumann (1855-1927), Hauptredakteur für Kunst und Wissenschaft beim 'Dresdner Anzeiger', zu Wort. "Gnadenlos und fanatisch" wie der Professor im Jahre 1923 bekannte,11 ging er vor gegen May. Alle bisher gegen den Schriftsteller erhobenen Pressevorwürfe trug er (gekonnt, mit ironischer Würze) zusammen. Er bekämpfte den Menschen und meinte die Sache:12 den Friede-Roman.

   In seinem, gegen Schumann gerichteten, dritten offenen Brief An den Dresdner Anzeiger (18.11.1904)13 verwahrte sich May gegen persönliche Schmähungen. An einigen, von Schumann getroffenen, Stellen - dem falschen Doktortitel zum Beispiel (über den wenig später, am 9.2.1905, der Kunsthistoriker Cornelius Gurlitt entlarvende Einzelheiten veröffentlichte14) - war May natürlich verwundbar. Er parierte die Angriffe dennoch; aber die Wahrheit, die für den ehemaligen 'Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand' doch zu peinlich war, deckte er nur teilweise auf.

   Im sprachlichen Ausdruck, in der dialektischen Kunst, in der treffsicheren Ironie war May dem Professor gewachsen. Und menschlich war er ihm weit überlegen. Er zeigte


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sich, im Kern, als aufrechter Mann und brillanter Polemiker, der "in der publizistischen Arena" beherzt und geschickt "zu fechten verstand".15

   Doch überzeugen und umstimmen ließ sich der Professor von dem Schriftsteller nicht. Das gesamte Maysche Erzählwerk, speziell aber Friede auf Erden!, sei "Gift für die Jugend" und "Gift für das Volk", meinte Paul Schumann in seiner Erwiderung vom 27.11.1904.16 Wer die Bücher Karl Mays empfiehlt, "begeht Verrat an der Gesundheit unseres Volkes [...] Darum fort mit ihnen aus jedem deutschen Hause!"17

   Im Kampf gegen May wußte Schumann sich - so hieß es im genannten Artikel -


eins mit den ernst denkenden Männern aller Richtungen, [...] mit den Demokraten der Frankfurter Zeitung, mit den Ultramontanen der katholischen Kölnischen Volkszeitung, mit den Männern des evangelischen Landesvereins für innere Mission, mit dem Kunstwart und mit allen Pädagogen Deutschlands, [...] gibt es doch Gott sei Dank auch noch Gebiete, wo das Deutschtum und die allgemeine Kultur sie zu gemeinsamem Vorgehen gegen einen gemeinsamen Gegner zusammenführt. Eine solche gemeinsame Sache ist die Verwerfung Karl Mays und seiner Schriften.18


Diese Sprache ist verräterisch. Sie deutet - so der May-Biograph Christian Heermann - schon an,

aus welcher Richtung nunmehr der Wind weht. Der Hinweis auf den 'Kunstwart' und damit auf Ferdinand Avenarius - den 'Praeceptor Germaniae' -, der in seiner Zeitschrift (ab 1887) und im 'Dürerbund' (ab 1903) für eine 'gute, bodenwüchsige Germanenkultur' agiert, paßt genau in das Bild.19


   Zu Recht verweist Heermann auf das präfaschistische Gedankengut,20 dem Schumann - ebenso wie Avenarius, mit dem der Professor befreundet war - doch irgendwie nahestand. Da Karl May, im Friede-Roman, zur Auffassung Schumanns und Avenarius' konträre Tendenzen vertrat, ist die Polemik des Professors (wohl nicht ausschließlich, aber doch auch) vor dem Hintergrund einer brisanten politischen Auseinandersetzung zu interpretieren.

   Anders scheint es sich, auf den ersten Blick, im Falle des rücksichtslosesten und - man muß es so sagen - gemeinsten May-Gegners, des Journalisten Rudolf Lebius (1868-1946), zu verhalten: Dessen, im Jahre 1904 beginnende, Feindschaft hatte zunächst jedenfalls nur private Gründe.

   Lebius, "die verhängnisvollste Erscheinung in der Biographie Karl Mays",21 war früher Sozialdemokrat und Mitarbeiter des 'Vorwärts'. Anfang 1904 hatte er der SPD den Rücken gekehrt und dann das Dresdner Sonntagsblatt 'Sachsenstimme' bzw. 'Pilatus' (die Zeitung erschien unter beiden Titeln) gegründet. Lebius wurde der Redakteur, Herausgeber und Verleger dieses Journals. Sein politischer Standpunkt änderte sich nun radikal. Er wurde zum erbitterten Gegner der SPD. Als Mitglied des 'Deutschen Flottenvereins' und der 'Deutschen Kolonialgesellschaft' wandte er sich der extremen politischen Rechten zu. 1906 schloß er sich, in Berlin, den unternehmerfreundlichen 'Gelben Werkvereinen' an, deren Presseorgan 'Der Bund' er herausgab. Vier Jahre später gründete er in Berlin den 'Spreeverlag', der antisemitische Schriften vertrieb.22

   Ein Zusammenhang zwischen der politischen Gesinnung des Journalisten und seiner wachsenden Feindschaft mit Karl May ist, in späteren Phasen dieses Konflikts,23 nicht von der Hand zu weisen. Fürs erste aber spielte die Politik - wie gesagt - in der Auseinandersetzung May-Lebius überhaupt keine Rolle.

   Der Streit begann so: Im Sommer 1904 versuchte Lebius, von May ein Darlehen - 10.000 Mark - zu erhalten.24 Als publizistische Gegenleistung bot er dem bedrängten Schriftsteller freundliche Artikel in der 'Sachsenstimme' an. May lehnte ab und verweigerte jede Zahlung. Daraufhin erhielt er am 7. September eine anonyme Drohkarte: Ein


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gewisser Lebius werde "einen Artikel gegen Sie" schreiben. "Es warnt Sie ein Freund vor dem Manne."25

   Tatsächlich brachte Lebius (der die Postkarte selbst verfaßt haben dürfte) nach vier Tagen schon einen Enthüllungsartikel Mehr Licht über Karl May. / 160. 000 Mark Schriftstellereinkommen. / Ein berühmter Dresdener Kolportageschriftsteller. In der Hauptsache ging es um Geldsummen, um Gerüchte über den 'Reichtum' des Erfolgsliteraten. May rechnete nach: "über 70 moralische Unsauberkeiten, Verdrehungen und direkte Unwahrheiten"26 enthielt das Pamphlet!

   In den folgenden Wochen und Monaten publizierte die 'Sachsenstimme' weitere Schmähartikel gegen May. Und am 18. Dezember griff Lebius zu noch härteren Mitteln: Die Leser erfuhren, daß Karl May schon zweimal bestraft worden sei. "Die zweite Strafe verbüsste er [...] von 1870-1874 in Waldheim. In der nächsten Nummer wird es schon möglich sein, zu sagen, weshalb"!27

   Am folgenden Tag stellte May einen Strafantrag wegen Erpressung - ohne Ergebnis. Die Ermittlungen wurden im März 1905 eingestellt. Zur Anklage gegen Lebius reichte das Material, nach der Auffassung des Gerichts, nicht aus. Die Begründung für die Einstellung des Verfahrens liest sich - so Claus Roxin -


etwas naiv, wenn man den Hintergrund kennt und die Postkarte zusammen mit der Darlehensforderung und den Artikeln der 'Sachsenstimme' würdigt. Freilich hatte May sich verständlicherweise auch gescheut, Genaueres darüber mitzuteilen, was er tatsächlich zu fürchten hatte.28


   Bisher standen die 'Shatterhand-Legende', die Kolportageromane und zuletzt - last not least - der provozierende Friede-Band im Mittelpunkt der Kampagne gegen den Autor. Daß auch die Jugendsünden Karl Mays zum gefundenen Fressen für seine Feinde würden, das war zu erwarten und lag in der Luft. Natürlich gab es, auch in Dresden, eine Reihe von Leuten, die über Mays Vergangenheit, mehr oder weniger präzise, Bescheid wußten: der Münchmeyer-Nachfolger Adalbert Fischer zum Beispiel. Außerdem war es, im November 1903, dem Münchmeyer-Anwalt Dr. Oskar Gerlach - mit Hilfe eines Tricks - gelungen, Mays Strafakte gerichtlich herbeiziehen zu lassen.29 Ein Dresdner Justizbeamter dürfte später, wenn auch vage, dem Pressemann Lebius gegenüber geplaudert haben.30

   Vergangene Zeiten, seine Haftjahre und seine Jugenddelikte, drohten den Dichter nun einzuholen. Ein Bekanntwerden dieser alten (zwar längst schon verbüßten und im Übermaß wiedergutgemachten, fürs breite Publikum aber natürlich sensationellen) Geschichten würde für May, das wußte er wohl, eine verheerende Wirkung haben.

   Schon Professor Paul Schumann hatte, am 13. November 1904, im 'Dresdner Anzeiger' eine Anspielung untergebracht: über "gewisse Jahre [...] die Karl May in Deutschland in größter Zurückgezogenheit verbracht hat".31 Konkreter als Schumann und skrupelloser als dieser ging Lebius vor: Ende 1904, "am Weihnachtsheiligenabend [...] hingen an den Fenstern der Dresdener Buchhandlungen Plakate aus, auf denen die 'Sachsenstimme' mit den großen roten Buchstaben 'DIE VORSTRAFEN KARL MAYS' angekündigt wurde."32

   Was Lebius ihm da angetan hatte, mußte May als psychischen Terror, als entsetzliche Folter empfinden. Und die Ehefrau Klara schloß für 1904 ihr Tagebuch mit den Sätzen: "Heute, am Schlusse des Jahres, kann ich nicht froh hoffend in die Zukunft schauen. Ich habe das Empfinden, daß die Hölle auf Erden doch mächtiger ist, als der Himmel [...] Tausend Fäuste sind zur Vernichtung bereit."33

   Zu einem Eingeständnis seiner Delikte in den 1860er Jahren hatte May jetzt noch nicht den Mut: "Es würde das" - so schrieb er am 29. September 1905 an seinen Rechtsanwalt


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Bernstein - "mein ganzes Lebenswerk vernichten, und ehe ich das zugebe, will ich lieber sterben!"34

   Doch das Verhängnis war nicht mehr aufzuhalten. Mehr und mehr sickerte über die Straftaten Mays in der Öffentlichkeit durch. Am 8. Juli 1905 hieß es in der 'Sachsenstimme': "Wir wissen, wer Karl May ist, aber wir sagen es noch nicht".35 Daß Mays Vergehen Eigentumsdelikte waren, dies war Rudolf Lebius bekannt. Aber Konkretes wußte er, noch bis zum Herbst 1905, keineswegs. Der weitere Verlauf der Ereignisse freilich spielte ihm die nötigen Informationen dann zu.

   Der "Einbruch in einen Uhrenladen", den der Journalist Karl May unterstellt hatte,36 veranlaßte diesen zu einer - in der Sache berechtigten, für den Schriftsteller aber gefährlichen - Beleidigungsklage gegen Lebius. Als es am 3. Oktober 1905 im Dresdner Landgericht zur Verhandlung kam, erreichte Lebius - nach einer unklugen Behauptung des May-Anwalts Klotz, der die Vorstrafen des Dichters generell in Abrede stellte37 - die Verlesung der Strafakten Mays. Der Journalist stenographierte mit. Der ebenfalls anwesende Rechtsanwalt Bernstein bemerkte dies. Er stürzte zum Richtertisch und klappte die Akten zu.38 Doch der Zeitungsmann Lebius hatte für seine Zwecke nun hinreichend Material.

   May zog seine Klage zurück und Lebius konnte sich als Sieger fühlen. Kurze Zeit später, am 18. November 1905, allerdings mußte Lebius eine Beschuldigung gegen den - auf der Seite Mays in den Rechtsstreit verwickelten - Schriftsteller Max Dittrich vor Gericht als Lüge bekennen und, mit der Bitte um Verzeihung, zurücknehmen.

   Schon zuvor, im Verlauf des Jahres 1905, war es May gelungen, die Position des Lebius in der Öffentlichkeit zu unterminieren. Die Schachzüge des Redakteurs: die erpresserische Drohkarte usw. hatte May in die allgemeine Presse gebracht. Und mit dieser Aktion hatte der Schriftsteller Erfolg: Lebius galt - so stellte er selbst die Angelegenheit dar - "in den Augen vieler Spießbürger als gerichtet [...] die großen Firmen entzogen der Sachsenstimme die Inserate",39 und im August 1905 ging das Revolverblättchen dann ein.40 Lebius mußte "Dresden unter Hinterlassung erheblicher Schulden verlassen. Karl May aber hatte sich einen Todfeind erworben."41

   Klara Mays Resümee für 1905: "Ein wenig Sonnenschein nach all dem bitteren Leid."42 Doch Lebius verfolgte den Schriftsteller, von Berlin aus, nun weiterhin. Seine Methoden wurden noch rücksichtsloser. In einem Artikel über Atavistische und Jugendliteratur - makabrerweise in der Zeitschrift 'Die Wahrheit' (30.6.1906) - unterstellte er dem Dichter verbrecherische Erbschäden und "eine schwere chronische Krankheit" im frühesten Lebensalter, "die offenbar kulturhemmend gewirkt hat."43 Der Journalist stützte sich auf das berühmte Werk L'uomo delinquente (Turin 1876) des italienischen Nervenarztes und Kriminalanthropologen Cesare Lombroso (1836-1909), dessen Thesen vom 'geborenen Verbrecher', ganz unabhängig von der Kontroverse um Karl May, schon damals umstritten waren und heute grundsätzlich widerlegt sind.44

   "Womit haben wir solche Folter verdient?" fragt Klara May - mit Bezug auf den Lebius-Artikel - im letzten Eintrag ihres Tagebuchs von 1906. Im Jahre 1907 allerdings konnte der Schriftsteller, so schien es zunächst, wieder durchatmen. Aufgrund des Erfolges im Münchmeyer-Prozeß - wir kommen darauf noch zurück - durften die Kolportageromane Karl Mays nur noch anonym verbreitet werden. Der Autor stand für weite Teile der Presse "als in den entscheidenden Fragen rehabilitiert da."45

   Die 'Kölnische Volkszeitung' (mit Hermann Cardauns) jedoch und eine Reihe von anderen Presseorganen setzten die Polemik gegen den 'Schundliteraten' mit unverminderter Heftigkeit fort.46 Und Rudolf Lebius lieferte weitere Munition.


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   Der Journalist führte, wie er selbst später schrieb, gegen May einen "Vernichtungsfeldzug",47 der zugleich einen parteipolitischen Hintergrund hatte. Im 'Vorwärts', dem Zentralorgan der SPD, wurde am 26. Juli 1907 behauptet, Lebius sei kein Ehrenmann.48 Folglich klagte der jetzige Antisozialist gegen den 'Vorwärts'-Redakteur Carl Wermuth. Dieser wiederum berief sich, "natürlich ohne erst viel zu fragen",49 auf den Zeugen Karl May.

   Der parteipolitisch nur schwer oder gar nicht einzuordnende Dichter hat es, wie er in der Selbstbiographie formulierte, "umgangen",50 als Zeuge der Sozialdemokratie gegen Lebius aufzutreten - wohl auch deshalb, weil er sich auf einen neuen Prozeß nicht einlassen wollte. Vermutlich war May, nach einigem Zögern, aber doch zur Aussage bereit. Jedenfalls verfaßte er, wahrscheinlich im April 1908, auf Drängen der 'Vorwärts'-Redaktion die (freilich erst 1983 veröffentlichte) Streitschrift Lebius, der "Ehrenmann".51

   Da Lebius den taktisch besonders gewandten sozialdemokratischen Rechtsanwalt Dr. Kurt Rosenfeld (den späteren Verteidiger Rosa Luxemburgs) zu fürchten hatte, zog er seine Klage gegen Wermuth zurück. Zum Auftritt Karl Mays an der Seite der roten 'Genossen' konnte es also - unabhängig von der Frage, ob May dies gewollt hätte - nicht mehr kommen.52

   Unterdessen hatte Lebius seine Rufmord-Kampagne gegen den Schriftsteller weitergeführt. Sein Ziel war es, die Glaubwürdigkeit des Zeugen Karl May zu erschüttern. Unter Einschaltung eines Strohmannes, des einundzwanzigjährigen Journalisten und ehemaligen Schlossers Friedrich Wilhelm Kahl, publizierte Lebius am 1. April 1908 die Broschüre Karl May, ein Verderber der deutschen Jugend. 53 In diesem - unter Kahls Namen - in Berlin erschienenen Pamphlet wurde u.a. der Schmäh-Artikel des Lebius aus dem Jahre 1906 (Atavistische und Jugendliteratur) wieder abgedruckt.

   Als zwanghafter Krimineller sollte May diffamiert werden! Zu Recht natürlich hat sich der Schriftsteller gegen das Machwerk verwahrt: "Mich atavistischer Schwachheiten zu zeihen, ist eine Böswilligkeit, die ich mir unbedingt verbitten muß."54 May durchschaute die Intrige als das, was sie (im weitesten Sinne) tatsächlich gewesen ist: "Die Kahlsche Broschüre ist MÜNCHMEYEREI"55

   Gewiß, die Kahl-Schrift ist zu verstehen vor dem Hintergrund der politischen Auseinandersetzung des Lebius mit der SPD - einer Kontroverse, mit der, unmittelbar, weder May noch die "Münchmeyerei" (d.h. die Prozeß-Gegner. des Autors bzw. die, mit diesen indirekt ja verbündeten, Antischundkämpfer wie Cardauns oder Avenarius) etwas zu tun hatten.56 Gleichwohl, und dies hatte May natürlich erkannt, hat der Pressebandit Rudolf Lebius den übrigen Gegnern des Schriftstellers in die Hände gespielt: Zum Bild des 'Schundliteraten' und 'Jugendverderbers' mußte der 'wissenschaftliche Beweis' seiner 'kriminellen Veranlagung' ja bestens passen.

   Was May zu leiden hatte, war kaum mehr erträglich. Seine Gesundheit war seit langem schon angegriffen. Und dennoch: seine Kraft, seine psychische Energie war noch längst nicht gebrochen. Immerhin schrieb May, ausgerechnet in diesen Jahren, sein wohl bedeutendstes Werk: Der 'Mir von Dschinnistan (1907-09). Und was die Kahl-Broschüre betraf - May erreichte deren Verbot.

   Kahl selbst, der später als Redakteur und Politiker bekannt wurde,57 distanzierte sich - sofort nach dem Erscheinen der Broschüre - von Lebius und stellte sich öffentlich auf die Seite Mays.


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10.7.2

Mays Pyrrhussieg im Münchmeyer-Prozeß


Die Auseinandersetzung mit Lebius ließ May aus den Klagen nicht mehr herauskommen. Und parallel zu diesen Konflikten und weitgehend mit diesen verquickt, kämpfte May seinen Kampf mit der 'Münchmeyerei'.

   Den - im März 1902 begonnenen und über Jahre hinweg verschleppten - Zivilprozeß gegen die Verlegerswitwe Pauline Münchmeyer hat der Schriftsteller in allen Instanzen gewonnen: am 26.9.1904 beim Landgericht Dresden, am 2.5.1906 beim Dresdner Oberlandesgericht (das Frau Münchmeyer zur Rechnungslegung über die verkauften May-Romane verpflichtete) und schließlich, am 9. Januar 1907, beim Reichsgericht in Leipzig, das den Revisionsantrag der Münchmeyer-Witwe zurückwies.

   Einen schriftlichen Vertrag mit der Firm Münchmeyer konnte der Kläger May, wie erwähnt,58 leider nicht vorweisen. Folglich mußte er, am 11. Februar 1907, vor dem Landgericht Dresden den ‚Parteieid' leisten: Er mußte beschwören, daß seine Darstellung (zu den mündlich vereinbarten Bedingungen, die zur Niederschrift der umstrittenen Romane geführt hatten) der Wahrheit entsprach. Der unberechtigte Verkauf der Mayschen Romane durch Münchmeyer stand für das Gericht, nach der Vereidigung des Klägers, nun fest. Für jedes über eine Auflage von 20.000 hinausgehende Exemplar mußte May durch die Verlegerswitwe entschädigt werden.

   Dieses Ergebnis ruhte - so Claus Roxin -


nicht allein auf Mays Eid; vielmehr durften die Gerichte ihre Entscheidung nur dann von der beschworenen Aussage Mays abhängig machen, wenn seine Aussage ohnehin nach dem Prozeßverlauf als wahrscheinlich und vertrauenswürdig erschien. Über die Höhe der von Frau Münchmeyer zu leistenden Entschädigung war in einem weiteren Prozeß zu entscheiden, dessen Ende Karl May nicht mehr erlebt hat; im erstinstanzlichen Urteil des Landgerichts Dresden vom 11.12.1911 wurden May 60.000 Mark zugesprochen.59


   Ging es May nur ums Geld? Daß andre Motive um vieles bedeutsamer waren, ist gar keine Frage. Der Schriftsteller fühlte sich zwar auch finanziell von Münchmeyer aufs schwerste betrogen. Aber dies war das wenigste. Was den Dichter bewegte, war seelische Not; und was ihn so kränkte, war die Zerstörung seines literarischen Ansehens und seines persönlichen Rufes.60 Seine Glaubwürdigkeit - als Mensch und als Christ, als Erzieher und Künstler - stand auf dem Spiel!

   Eine, immer brutaler werdende, Kampagne drohte Mays Leben und Streben zu desavouieren und in den Schmutz zu ziehen. Daß "Haß und Neid, Verachtung [...] und Spott"61 die Stimme gegen ihn führten, war - nicht ausschließlich, aber zum großen Teil - die Folge der Neupublizierung der Münchmeyerromane durch Adalbert Fischer. May prozessierte, gegen Fischer wie gegen Frau Münchmeyer, weil er - verständlicherweise - glaubte, sein Ansehen auf diese Weise retten zu können.

   Auch im Streit mit Fischer hatte May nun, juristisch gesehen, Erfolg. Den für ihn so unglücklichen Vergleich vom Februar 190362 hatte er schon Anfang 1905 gerichtlich angefochten.63 Nach dem plötzlichen Tode Fischers am 7. April 1907 - "Wie furchtbar hat die Hand Gottes im Lager unserer bittersten Feinde gewüthet! "64 - gaben die Fischer-Erben May endgültig recht: Vor dem Landgericht Dresden, am 8. Oktober 1907, erklärte Arthur Schubert, der Schwiegersohn und Nachfolger Fischers, daß die Münchmeyerromane Karl Mays "im Laufe der Zeit durch Einschiebungen und Abänderungen von dritter Hand eine derartige Veränderung erlitten haben, dass sie in ihrer jetzigen Form nicht mehr als von Herrn Karl May verfasst gelten können."65


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   Quantitativ wurden solche Veränderungen, bei einem zusätzlichen Gerichtstermin, auf 5% beziffert: eine willkürliche Festlegung, die überdies - so Christian Heermann - "für die an den Haaren herbeigezogene moralische Bewertung ohne Belang ist."66

   Wirklich bewiesen war, was die ursprünglichen Romantexte betrifft, nach wie vor überhaupt nichts. Beweiskraft hatten die gerichtlichen Erklärungen von 1907 ebenso wenig wie die Versicherung Fischers von 1903: Ob und in welchem Umfang die Originaltexte von Münchmeyer oder dessen Mitarbeitern verändert wurden, konnten die Fischer-Erben ja ebenso wenig wissen wie der Verstorbene selbst. In der öffentlichen Diskussion über die Kolportageromane war es für May aber doch ein Erfolg, daß diese Werke - seit Herbst 1907 - nur noch anonym verbreitet werden durften. Eine Wende brachte dieser Gerichtsentscheid (wie schon der Abschluß des Münchmeyer-Prozesses zu Beginn des Jahres 1907) insofern, als - wie schon oben vermerkt - nun große Teile der Presse zugunsten Mays kommentierten.

   Ein übriges - für unsern Autor im Grunde aber nicht förderlich - tat die spezielle 'May-Presse'. In den 'Sonntagsglocken' (14.7.1907) zum Beispiel, einer 'Katholischen Wochenschrift zur Erbauung, Belehrung und Unterhaltung', wurde Mays Sieg, sehr töricht, als "vollständig und bedingungslos" gefeiert:


Karl May hat gesiegt, glorreich gesiegt, er steht da herrlicher denn je, seine Feinde aber liegen im Staub, getreten und zerschmettert [...] Adalbert Fischer hat seine Niederlage nicht lange mehr überlebt, er ist tot, er, der Karl May literarisch tot machen wollte, steht nun bereits vor seinem ewigen Richter.67


   Doch seines Sieges sollte der Dichter nicht froh werden. Da ihm die Verfasserschaft von 'unsittlichen Stellen' der Kolportageromane nicht nachzuweisen war, setzten die Gegner aufs Ganze: Karl May, der einschlägig Vorbestrafte, ist ein Betrüger und überhaupt ein schlechter Mensch!

   Am 15. April 1907, als May, wie er glaubte, den Sieg schon errungen hatte, griff die Gegenpartei zum äußersten Mittel: Ohne Beweismaterial, aber in der Hoffnung, den verlorenen Prozeß wieder aufrollen zu können, erstattete der Münchmeyer-Anwalt Oskar Gerlach (1870-1939) gegen May "und Genossen" - vier Zeugen aus den vorangegangenen Prozessen, darunter der Schriftsteller und May-Freund Max Dittrich, aber auch die geschiedene Ehefrau Emma Pollmer - Anzeige bei der Staatsanwaltschaft in Dresden: "wegen Meineids bzw. Verleitung zum Meineid"!68

   Aus dem Bereich der Zivilklagen schien das Prozeßgeschehen nunmehr herauszutreten: Ein Strafprozeß winkte dem Dichter! Im Falle eines Schuldspruchs hätte Karl May, erneut, mit dem Zuchthause rechnen müssen!

   Gesundheitlich war May im Frühjahr 1907 sehr angeschlagen. Hans Wollschläger setzte einen Zusammenhang mit der Anzeige Gerlachs voraus: Karl May überkam - so Wollschläger in seiner Darstellung -


zum erstenmal [...] ein regelrechtes Grauen vor der Rechtsmaschinerie, die er selber in Gang gebracht hat. Ein Nervenzusammenbruch bringt ihn an den Rand des Todes, und erst Mitte Mai hat er sich so weit wieder erholt, daß er mit Klara zur Kur ins schlesische Bad Satzbrunn fahren kann, um erst einmal alles zu vergessen. Die Taktik einfacher 'Flucht' bewährt sich noch einmal; sorgfältig umgibt ihn die vielköpfige Familie Barchewitz mit Verehrung.69


   Wollschlägers Deutung ist aber kaum haltbar. Daß May in den Frühjahrsmonaten 1907 von der Anzeige Gerlachs überhaupt schon gewußt hatte, ist ja keineswegs anzunehmen. Denn die Staatsanwaltschaft hatte die Anzeige zunächst gar nicht aufgegriffen. Erst am 12. Juli 1907 wurde die gerichtliche Voruntersuchung gegen May eröffnet; und erst Mitte Juli wurde der Schriftsteller über die Ermittlungen amtlich in Kenntnis gesetzt.70


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   Eine Woche zuvor erst, am 8. Juli, war der fünfundsechzigjährige May vom Kuraufenthalt in Salzbrunn wieder heimgekehrt. Um "zu gesunden, zu gesunden an Leib und Seele"71 hatte er diese Reise angetreten. Seine Absicht, in Salzbrunn literarisch zu arbeiten, wurde jedoch vereitelt - durch körperliche Schwäche (die May aber nicht daran hinderte, mit Ehefrau Klara sämtliche Vorstellungen des Kurtheaters in Salzbrunn zu besuchen).72

   Nach Radebeul zurückgekehrt, wurde der Dichter - in Sachen 'Meineid' - zunächst noch in Ruhe gelassen. Man teilte ihm, wie gesagt, mit, daß die Ermittlungen begonnen hätten; doch zu Vernehmungen kam es erst später. Eine Wagenfahrt ins Riesengebirge und ein Briefwechsel mit Peter Rosegger - der den "Leidensweg" Karl Mays "mitleidend und mit höchster Spannung verfolgt"73 hatte - könnten dem Dichter Erleichterung und eine gewisse Beruhigung verschafft haben.

   Einer Anklage, so es überhaupt dazu kommen würde, konnte May insofern gelassen entgegensehen, als er sich einer Schuld im Sinne der Anzeige ja gewiß nicht bewußt war. Eine Verurteilung hatte May also nicht zu fürchten. Der Tatbestand des Meineides lag mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht vor. Aber schon die bloße Verdächtigung konnte Mays, soeben erst wieder gewonnenes, Prestige nun endgültig zerstören. Seine psychische Energie und damit seine literarische Schaffenskraft konnten, im Falle einer öffentlichen Auseinandersetzung über die ehrenrührige Anzeige des Rechtsanwalts Gerlach, ruiniert werden.

   Die Erfüllung seiner Lebensaufgabe könnte, so fürchtete May, nun doch scheitern. Überheblich klingend, aber doch nicht zu Unrecht schrieb May am 23. Juli 1907 an Rudolf Bernstein:


Es handelt sich nicht etwa nur um meine kleine, unbedeutende Person, sondern um das Gelingen eines Lebenswerkes, welches bestimmt ist, Millionen von Menschen zu beglücken. Wenn es nicht vollendet wird, so können Jahrhunderte vergehen, ehe eine Wiederholung möglich ist. Ja, vielleicht treffen sich die äußeren und inneren Umstände nie so wieder! Und das ist es, was mir die Pein verschärft und meine Angst fast zur Todesangst steigert!74


   Mays Angst (die einzugestehen den früheren 'Old Shatterhand' ja durchaus ehrt) war keineswegs unbegründet: Ein schwerer Schlag stand bevor! Dr. Gerlach hatte erreicht, daß die Untersuchung seinem - an sich nicht zuständigen - "ehemaligen Schul- und jetzigen Busenfreund",75 Staatsanwalt Seyfert, übertragen wurde. Und dieser wiederum übergab den Fall an den jungen Assessor und Untersuchungsrichter Dr. Larrass, "einem dritten Mann im Freundschaftsbunde, zu allertreuesten Händen."76

   Am frühen Morgen des 9. November 1907 - als May mit der Niederschrift seines großen Romans 'Der Mir von Dschinnistan' schon begonnen hatte - drangen Seyfert, Larrass und vier Polizisten überfallartig in die ‚Villa Shatterhand' ein: zu einer achtstündigen Hausdurchsuchung, die mit erregten Szenen verbunden war.77 Alle Räume wurden durchwühlt. Nicht einmal "vor der Asche im Ofen"78 wurde haltgemacht. Wichtige Papiere, darunter Briefe, Prozeßakten, Verträge mit Fehsenfeld und sogar literarische Manuskripte (Dramenentwürfe, Gedichte u.a.),79 wurden beschlagnahmt. Und auch eine Briefsperre wurde über den Schriftsteller verhängt.

   Belastendes Material oder gar Beweise für einen Meineid wurden zwar nicht gefunden; aber May war zutiefst erschrocken und sichtlich verstört - nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil Seyfert mit dem allgemeinen Bekanntwerden der früheren Straftaten Mays (bisher gab es ja 'nur' Gerüchte und vage Beschuldigungen von seiten des Lebius) gedroht hatte!80


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   Der Hausdurchsuchung folgten stundenlange Verhöre - auch Emma Pollmers - an mehreren Tagen. Der Dichter erlitt einen Nervenzusammenbruch oder stand einem solchen zumindest doch nahe. Die Folge waren heftige Angstzustände und - nach der, allerdings anfechtbaren, Deutung Heinz Stoltes - sogar eine vorübergehende "paranoide Verwirrung"81 des Schriftstellers.

   Im Dezember 1907, in einem Schriftsatz an den Untersuchungsrichter Larrass, meinte der Autor: "Ich habe diesen Hieb, der ein Sauhieb sondergleichen ist, vorausgesehen; aber ich hielt es nie für möglich, daß es Herrn Gerlach gelingen könne, es bis zur Haussuchung bei mir zu treiben."82 Später, nachdem er sich, wenigstens halbwegs, von diesem Schlage erholt hatte, schrieb er an Karl Pustet:


Die Behandlung war äußerst rigoros. Ich sah sofort, wie es stand. Die Zuchthausthore waren weit geöffnet. Und wenn mir auch direct nichts bewiesen werden konnte, so genügte doch eine einzige kleine Lüge, eine einzige Unwahrheit zum Aufbau eines Indizienbeweises [...] Doch Alles, was man that, war vergeblich!83


   Das Justiz-Komplott, das "Verbrechen im Amte",84 blieb May nicht lange verborgen. Es wurde ihm klar, mit wem er es hier zu tun hatte: "mit einer Camerilla [...], die auf eine gnadenlose Vernichtung seiner Ehre als Mensch und seiner Existenz als Schriftsteller aus war."85

   Er fühlte sich eingekreist: durch die Kolporteuse Frau Münchmeyer und ihre Verbündeten! Aufgrund dieser Annahme ergänzte er seinen selbstrenommistischen - aus prozeßtaktischen Überlegungen heraus entstandenen, nicht zur Veröffentlichung bestimmten (erst 1982 aus dem Nachlaß edierten) - Privatdruck Ein Schundverlag (1905) um eine weitere - ebenfalls erst 1982 edierte - Kampfschrift mit dem Titel Ein Schundverlag und seine Helfershelfer (1909)!86

   Juristen wie Gerlach unterstützten, zusammen mit Antischundkämpfern wie Cardauns oder Avenarius, den Schundverlag Münchmeyer-Fischer! So sah es May. Hat sich der Dichter hier etwa getäuscht? Natürlich hatte auch May, wie jeder andere Mensch, seine spezifischen Blickverengungen; und es mag ja auch sein, daß er nicht alle Details der Pressekampagne (und des Prozeßgeschehens) richtig gesehen und richtig bewertet hat. Im großen und ganzen erkannte er die Zusammenhänge aber sehr wohl und sehr treffend. Von einem 'Verfolgungswahn' kann also hier nicht die Rede sein.

   Tatsächlich gab es, um Pauline Münchmeyer, eine 'Münchmeyerei': eine seltsame Gruppe von 'Helfershelfern'. Mit den Publizisten Ferdinand Avenarius und Prof. Paul Schumann war der Rechtsanwalt Gerlach, durch Verwandtschaft bzw. Freundschaft, persönlich verbunden. Alles in allem - ein fein gesponnenes Netz,


geknüpft vorn Freundeskreis Avenarius/Schumann/Staatsanwalt/Untersuchungsrichter mit dem Münchmeyer-Anwalt Gerlach als Handlanger, welcher wiederum als Kontaktperson zum Hauptakteur Lebius fungiert, der weiterhin eifrig 'Material' sammelt, unter anderem von Cardauns, der sich im August 1907 ein weiteres Mal öffentlich über 'die fünf wüsten Romane' empört. Dabei kündigt er einen Ansgar Pöllmann an, der bereits einen Artikel gegen May geschrieben hat87 und 'auf dem richtigen Wege' sei. Jener Benediktinerpater, auch ein Bekannter von Lebius, wird bald einen gehässigen Kampf gegen May aufnehmen.88


   Klara May notierte, Anfang 1908, in ihr Tagebuch: "Wir sind am Ende unserer Kraft. Wir möchten einander unser Leiden verbergen. Ich sehe, wie der Kummer an meinem über Alles geliebten Manne zehrt. Er gab Liebe, nichts als Liebe im Leben und nun wird ihm dieser Lohn."89

   Im Verlauf des Jahres 1908 - nach Mays Erfolg gegen die Lebius/Kahl-Broschüre Ein Verderber der deutschen Jugend - mehrten sich nun freilich die Anzeichen, daß der


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'Schundverlag und seine Helfershelfer' den Schriftsteller nicht zu Fall bringen würden. Auch war es, bis zum Spätsommer 1908, sehr wahrscheinlich geworden, daß es zur Anklage (in der Meineidsuntersuchung) gar nicht erst kommen würde.90

   Ganz 'überwunden' hatte May seine Lebenskrise, 1908 und auch später, zwar immer noch nicht. Aber er hatte - wie seine literarischen Werke und zahlreichen Briefe bezeugen - auch in diesen Jahren viel Kraft aus dem Glauben an Gottes Führung und Liebe geschöpft. Auch seine frühere Zuversicht - was das Gelingen seines Lebenswerkes betraf - hatte May nun zurückgewonnen. Sogar sein Humor blieb weitgehend ungebrochen.91 Von souveräner Gelassenheit war er, andrerseits, aber doch noch ziemlich entfernt. Zwischen Bedrücktheit und Übermut schwankte die Stimmung: Er fühlte, noch im April 1908, die "Zentnerlast" eines Alpdrucks und hatte keine Luft mehr "zum Athmen"; zugleich aber meinte er, dem Sieg über die "Cardaunserei" nicht mehr ferne zu sein. "Ich hole schon aus" zum "entscheidenden Hieb", ja zum "Gnadenstoß"!92

   Schon Ende 1907, nach der Hausdurchsuchung, hätte May zum 'Gnadenstoß', zum Jagdhieb à la Shatterhand, gerne ausgeholt. Er hat es getan - literarisch: in seinem Pamphlet Frau Pollmer, eine psychologische Studie. Dieses gewiß nicht erbauliche Manuskript, ein Privatissimum, das May - wohl Ende 1907 - allein nur für sich und seinen künftigen "Biographen"93 verfaßt (dann aber doch einem Manne ganz anderer Art, dem Untersuchungsrichter Larrass, "privatim zur Lektüre überlassen"94) hat, ist zugleich - so Wollschläger - "ein Stück von beträchtlicher literarischer Qualität: manche Passagen erreichen Strindberg'schen Rang."95 Stolte freilich nannte dieses Werk, ebenfalls mit Recht, "ein schlimmes, ein böses Buch, einen Haßausbruch aus den brodelnden Tiefen einer gemarterten Seele":96 Ein Fluch "von geradezu alttestamentarischem Furor"97 ist diese Studie, die weniger über Emmas Charakter als über Mays eigene Grenzsituation - seine Angst, seine Verstörtheit, seine extreme Seelennot - einen Aufschluß vermittelt.

   Um so erstaunlicher ist die Tatsache, daß May etwa gleichzeitig mit dieser, von maßlosem Zorn verzerrten, polemischen Schrift so schöne Novellen wie Abdahn Effendi und Bei den Aussätzigen (ein Text, der die Haussuchung in der 'Villa Shatterhand' spiegeln dürfte)98 verfaßt hat! Und daß zur selben Zeit Der Mir von Dschinnistan, Mays schönste und - neben Winnetou IV (1909/10) - zugleich auch versöhnlichste Dichtung, fortgesetzt werden konnte!

   Daß so heterogene Schriften wie Ein Schundverlag und Frau Pollmer auf der einen und Babel und Bibel (1906) oder Der Mir von Dschinnistan (1907/09) auf der anderen Seite von ein und demselben Verfasser stammen, mag den Leser verwundern. Als Dokumente "tiefgreifender Spaltungserscheinungen"99 in der Psyche des Autors könnten wir diese Werke interpretieren. Andrerseits könnten wir, mit Stolte, aber auch sagen: Im Niederschreiben der Pollmer-Studie (und ähnlicher Texte) hatte May seine Aggressionen, seine chaotische Aufregung, gewissermaßen abreagiert; er hatte "jene Katharsis, die ihn durch Objektivierung ins Literarische seelisch entlastete",100 gefunden und damit die Kraft zu neuer - auch theologisch bedeutsamer - Poesie.



Anmerkungen


1Gerhard Klußmeier - Hainer Plaul (Hrsg.): Karl May. Biographie in Dokumenten und Bildern. Hildesheim, New York 1978, S. 229.
2Klara May in ihrem Tagebuch (Jahresende 1904).
3Ebd.
4Ebd. (24.10.1904).


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5Vgl. Klußmeier - Plaul, wie Anm. 1, S. 218.
6Vgl. unten, S. 541ff.
7Karl May im Brief vom 25.7.1904 an Fehsenfeld; zit. nach Hans Wollschläger: "Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt". Materialien zu einer Charakteranalyse Karl Mays. In: JbKMG 1972/73, S. 11-92 (S. 84).
8Ebd.
9Vgl. Christian Heermann: Der Mann, der Old Shatterhand war. Eine Karl-May-Biographie. Berlin 1988, S. 310.
10Karl May: An den Dresdner Anzeiger (5.11., 12.11. u. 18. 11. 1904). In: JbKMG 1972/73, S. 124-143.
11Paul Schumann in: Grimmaisches Ecce 1928. 49. Heft. Dresden 1928 (1923 entstanden), S. 8; zit. nach Hainer Plaul: Literatur und Politik. Karl May im Urteil der zeitgenössischen Publizistik. In: JbKMG 1978, S. 174-255 (S. 219).
12Vgl. Claus Roxin: Das dritte Jahrbuch. In: JbKMG 1972/73, S. 7-10 (S. 8) - Walther Ilmer: (Werkartikel zu) An den Dresdner Anzeiger. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 546f. (S. 547).
13May: An den Dresdner Anzeiger, wie Anm. 10, S. 134-143.
14Vgl. Klußmeier - Plaul, wie Anm. 1, S. 219.
15Roxin: Das dritte Jahrbuch, wie Anm. 12, S. 8.
16Im 'Dresdner Anzeiger'; zit. nach Bernhard Kosciuszko: Im Zentrum der May-Hetze. Die Kölnische Volkszeitung. Materialien zur Karl-May-Forschung, Bd. 10. Ubstadt 1985, S. 144.
17Ebd.
18Ebd., S. 138f.
19Heermann: Old Shatterhand, wie Anm. 9, S. 311 f.
20Ebd., S. 312f.
21Claus Roxin: Ein 'geborener Verbrecher'. Karl May vor dem Königlichen Landgericht in Moabit. In: JbKMG 1989, S. 9-36 (S. 22).
221918 wurde Lebius Mitbegründer und Vorsitzender der 'Nationaldemokratischen Partei', die aber keinen politischen Einfluß gewann. - Zu Lebius' Vita vgl. Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg 1910. Hrsg. von Hainer Plaul. Hildesheim, New York 21982, S. 455ff. (Anm. 293) - Jürgen Wehnert: Einführung. In: Rudolf Lebius: Die Zeugen Karl May und Klara May. Ein Beitrag zur Kriminalgeschichte unserer Zeit. Hrsg. von Michael Petzel und Jürgen Wehnert. Lütjenburg 1991 (Reprint der Ausgabe Berlin-Charlottenburg 1910), S. VII - XVI.
23Vgl. unten, S. 471 u. 535.
24Vgl. May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 22, S. 259ff. - Heermann: Old Shatterhand, wie Anm. 9, S. 314f.
25Zit. nach May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 22, S. 267f. - Merkwürdigerweise vertritt Walther Ilmer: Karl May - Mensch und Schriftsteller. Tragik und Triumph. Husum 1992, S. 187, die Meinung, Karl May hätte - um sich künftiges Leid zu ersparen - Lebius das Darlehen gewähren und den Journalisten auf diese Weise für sich gewinnen sollen. In diesem Punkt ist Ilmer aber doch zu widersprechen: Es ehrt Karl May, daß er Lebius von Anfang an durchschaute und sein Ansinnen zurückwies!
26May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 22, S. 268.
27Zit. nach Plaul: Karl May, wie Anm. 22, S. 454 (Anm. 291).
28Roxin: Verbrecher, wie Anm. 21, S. 23.
29Vgl. Plaul: Karl May, wie Anm. 22, S. 454 (Anm. 290). - Ein halbes Jahr später hätte May diese Akten, aufgrund der Verjährung, "skartieren lassen und damit dem Zugriff seiner Feinde für immer entziehen können" (Hans Wollschläger: Erste Annäherung an den 'Silbernen Löwen'. Zur Symbolik und Entstehung. In: JbKMG 1979, S. 99-136, hier S. 136, Anm. 113).
30Nach Heermann: Old Shatterhand, wie Anm. 9, S. 316.
31Zit. nach Kosciuszko, wie Anm. 16, S. 125.
32May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 22, S. 270.
33Klara May: Tagebuch, wie Anm. 2.
34Zit. nach Claus Roxin: "Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand". Zum Bild Karl Mays in der Epoche seiner späten Reiseerzählungen. In: JbKMG 1974, S. 15-73 (S. 68, Anm. 84).
35Zit. nach Plaul: Karl May, wie Anm. 22, S. 454f. (Anm. 29 1).


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36Vgl. Heermann: Old Shatterhand, wie Anm. 9, S. 316.
37Nach Lebius: Zeugen, wie Anm. 22, S. 330.
38Vgl. Heermann: Old Shatterhand, wie Anm. 9, S. 316.
39Lebius, wie Anm. 22, S. 269.
40Nach Plaul: Karl May, wie Anm. 22, S. 458 (Anm. 295).
41Roxin: Verbrecher, wie Anm. 21, S. 23.
42Klara May: Tagebuch, wie Anm. 2 (Jahresende 1905) - Vgl. Christian Heermann: Karl May, der Alte Dessauer und eine "alte Dessauerin ". Dessau 1990, S. 106.
43Zit. nach Claus Roxin: Vorläufige Bemerkungen über die Straftaten Karl Mays. In: JbKMG 1971, S. 74-109 (S. 78).
44Vgl. ebd., S. 78f. - Hartmut Wörner: Vom "geborenen Verbrecher". Karl May und die Verbrechenstheorien seiner Zeit. In: MKMG 78 (1988), S. 3-9.
45Claus Roxin: Mays Leben. In: wie Anm. 12, S. 62-123 (S. 117) - Vgl. unten, S. 473 u. 542f.
46May reagierte mit diversen Flugblättern, die er durch befreundete Redakteure oder Privatpersonen verbreiten ließ. - Vgl. Karl May: 'An die deutsche Presse' und andere Flugblätter. Mit Einleitung und Anmerkungen von Ekkehard Bartsch. In: JbKMG 1979, S. 276-321.
47Lebius, wie Anm. 22, S. 321.
48Näheres bei Plaul: Karl May, wie Anm. 22, S. 469f. (Anm. 317).
49May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 22, S. 275.
50Ebd., S. 274.
51Im Jahre 1983 wurde dieses Manuskript aus dem Nachlaß des Autors publiziert. Der Text findet sich im JbKMG 1983, S. 33-45.
52Vgl. Plaul: Karl May, wie Anm. 22, S. 469f. (Anm. 317) - Heermann: Old Shatterhand, wie Anm. 9, S. 325-328.
53Als Antwort auf dieses Pamphlet wird Mays Streitschrift Lebius, der "Ehrenmann" zu lesen sein. - Vgl. Hans Wollschläger: Das dreizehnte Jahrbuch. In: JbKMG 1983, S. 7-12 (S. 9f.).
54May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 22, S. 16.
55Karl May: Briefe an Karl Pustet und Otto Denk. Mit einer Einführung von Hans Wollschläger. In: JbKMG 1985, S. 15-62 (S. 23; Brief vom 17.5.1908 an Otto Denk).
56Vgl. Hainer Plaul: Die Kahl-Broschüre. Entstehung und Folgen eines Anti-May-Pamphlets. In: JbKMG 1974, S. 195-236.
57Näheres bei Plaul: Karl May,wie Anm. 22, S. 471 ff. (Anm. 319).
58Vgl. oben, S. 397.
59Roxin: Mays Leben, wie Anm. 45, S. 116.
60Vgl. May: An die deutsche Presse (entstanden im August 1907), wie Anm. 46, S. 290.
61Ebd.
62Vgl. oben, S. 398f.
63Vgl. Klußmeier - Plaul, wie Anm. 1, S. 222.
64Karl-May-Zitat nach Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 146 (leider bringt Wollschläger keinen Stellen-Beleg; möglicherweise hat Wollschläger aus einem, bisher nicht veröffentlichten, May-Brief an Rudolf Bernstein zitiert).
65Zit. nach Klußmeier - Plaul, wie Anm. 1, S. 222.
66Heermann: Old Shatterhand, wie Anm. 9, S. 325.
67Zit. nach Ulrich Schmid: Ein Vortrag zwischen den Fronten. Karl May im Augsburger Schießgrabensaal, 8. Dezember 1909. In: JbKMG 1990, S. 71-98 (S. 85f.) - Der Artikel stammt von Leopold Gheri; vgl. unten, S. 542.
68Zit. nach Plaul: Karl May, wie Anm. 22, S. 492 (Anm. 374).
69Wollschläger: Karl May, wie Anm. 64, S. 144.
70Nach Roxin: Mays Leben, wie Anm. 45, S. 117. - Zwar wäre es theoretisch denkbar, daß May schon früher - inoffiziell - von der Anzeige Gerlachs erfahren hatte. In diesem Falle hätte Klara May in ihrem Tagebuch aber doch höchstwahrscheinlich eine entsprechende Bemerkung gebracht. Aber erst im Oktober 1907 erwähnt sie, erstmals, die Gerlach-Anzeige. Mays schlechter Gesundheitszustand im Frühjahr 1907 wird also nichts mit dieser Anzeige zu tun haben, sondern "als Rückschlag nach den jahrelangen Strapazen des Münchmeyer-Prozesses zu deuten" sein (Claus Roxin in einem Brief vom 13.9.1992 an den Verfasser).


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71Karl May: Theater. In: JbKMG 1985, S. 364-366 (S. 365). - Es handelt sich um die Wiedergabe eines Leserbriefs Karl Mays vom 15.6.1907 an die 'Salzbrunner Zeitung'.
72Näheres bei Ekkehard Bartsch: "Die liebenswürdigste aller Musen". Karl May und das Theater. In: JbKMG 1985, S. 367-375 (S. 370ff.).
73Peter Rosegger in einem Brief vom 21.8.1907 an Karl May; zit. nach Wollschläger: Karl May, wie Anm. 64, S. 145.
74Zit. nach Wollschläger: Ebd, S. 148.
75Wollschläger- Ebd., S. 144.
76Ebd.
77Vgl. Roxin: Mays Leben, wie Anm. 45, S. 118.
78Heermann: Old Shatterhand, wie Anm. 9, S. 322.
79Nach Wollschläger: Karl May, wie Anm. 64, S. 148.
80Vgl. ebd., S. 147. - Auch Klara May berichtet, in ihrem Tagebuch (November 1907), von dieser Drohung.
81Heinz Stolte: "Frau Pollmer - eine psychologische Studie ". Dokument aus dem Leben eines Gemarterten. In-. JbKMG 1984, S. 11-27 (S. 14) - Vgl. dagegen Hans Wollschläger: (Werkartikel zu) Frau Pollmer. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 12, S. 552-557 (S. 556f.).
82Zit. nach Wollschläger: Karl May, wie Anm. 64, S. 147.
83May: Briefe, wie Anm. 55, S. 45 (Brief vom 11. 1. 1909 an Karl Pustet).
84Ebd., S. 21 (Brief vom 20.4.1908 an Otto Denk).
85Stolte: "Frau Pollmer", wie Anm. 81, S. 14.
86Karl May- Ein Schundverlag (1905). Ein Schundverlag und seine Helfershelfer (1909). Prozeßschriften, Bd. 2. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1982. - Vgl. Walther Ilmer - Reinhard Tschapke: (Werkartikel zu) Ein Schundverlag und Ein Schundverlag und seine Helfershelfer. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 12, S. 549ff. - Ilmer: Karl May, wie Anm. 25, S. 190.
87Vgl. unten, S. 527.
88Heermann: Old Shatterhand, wie Anm. 9, S. 322f. - Vgl. ders.: Neue Aspekte und offene Fragen der Karl-May-Biographie. In: JbKMG 1990, S. 132-146 (S. 136f.).
89Klara May: Tagebuch, wie Anm. 2 (Anfang 1908). - Vgl. Heermann: Dessauerin, wie Anm. 42,S.106.
90Vgl. Roxin: Mays Leben, wie Anm. 45, S. 118.
91Vgl. z.B. May: Briefe, wie Anm. 55, S. 22 (Brief vom 20.4.1908 an Denk).
92Ebd., S. 20.
93Karl May: Frau Pollmer - eine psychologische Studie. Prozeßschriften, Bd. 1. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1982, S. 939f.
94So die Formulierung des Landgerichts Dresden vom 12.6.1908; zit. nach Wollschläger: Werkartikel, wie Anm. 81, S. 553.
95Wollschliger: Karl May, wie Anm. 64, S. 150.
96Heinz Stolte: Zur Einführung. In: May: Frau Pollmer, wie Anm. 93, S. XI-XVI (S. XI).
97Stolte: "Frau Pollmer", wie Anm. 81, S. 15.
98Vgl. unten, S. 496f.
99Ilmer - Tschapke: Werkartikel, wie Anm. 86, S. 551.
100Stolte: Zur Einführung, wie Anm. 96, S. XV.



10.8

Babel und Bibel (1906): Mays einziges Bühnenwerk


Das letzte Lebensjahrzehnt Karl Mays war eine Zeit der äußeren Anfechtung und der schwersten inneren Krise des Schriftstellers.1 Dennoch oder gerade deswegen sind in diesen Jahren seine bedeutendsten Werke entstanden. Der Essayist Rudolf Kurtz (1884-1960) bewunderte die Festigkeit dieses Mannes, der "nach schrecklichen Martern lichte, von keinem bitteren Wort entstellte Bücher schreiben konnte."2


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   Mays seelische Kraftreserven "müssen [...] ungeheuer gewesen sein",3 schrieb Claus Roxin an Heinz Stolte. Welche Kraft hat den Dichter bewegt? Worin hat er seine Aufgabe gesehen? Als Christ und Humanist in der literarischen 'Predigt', in der religiös-politischen Verkündigung:


Alles, was ich geschrieben habe und noch schreiben werde, ist meinem Idealgedanken gewidmet, daß sich der GEWALTMENSCH in den EDELMENSCHEN zu verwandeln habe, und daß dies nur auf dem Wege der Gottes- und der Nächstenliebe, den Christus lehrte, geschehen könne.4


   Als Künstler aber wollte May, nach 1900, neue Wege beschreiten. Das bisherige Genre, die epische Erzählung, wollte er nur "nebenbei weitergehen"5 lassen, um sich einer 'höheren' literarischen Form, dem Drama, zuwenden zu können. Denn das Bühnenwerk sei, so meinte er, die "eindringlichste und darum auch erfolgreichste aller Lehr- und Predigtformen".6

   Schon im Jahre 1902 hatte sich May in der Kunstform des Dramas versucht; über Fragmente (Weib, Wüste, Schetana, Ahasver) war er freilich nicht hinausgekommen. Auch Kyros, ein späterer Entwurf (August 1906), blieb Fragment.7

   Ein einziges Drama - mit zwei Akten zu je tausend Blankversen - hat Karl May vollendet. Es trägt den Titel Babel und Bibel. Arabische Fantasia in zwei Akten.


10.8.1

Die Entstehung des Dramas, der religionsgeschichtliche Hintergrund der Thematik und die Intention Karl Mays


Seit Anfang 1903 hatte sich der Dichter mit der Babel-und-Bibel-Thematik befaßt. Im Hintergrund stand der 'Babel-und-Bibel-Streit', der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die Gemüter der Theologen und Religionswissenschaftler erhitzte. Der Assyriologe Friedrich Delitzsch (von dem Karl May Ende Januar 1903 einen bedeutsamen Vortrag hörte8) und andere Orientalisten vertraten die Auffassung, die babylonischen Schöpfungsmythen hätten das Alte Testament beeinflußt, und wichtige biblische Texte seien nur Kopien von diesen Quellen.

   Die heutige Bibelexegese wird von dieser - zwar nicht rundherum falschen, in wichtigen Punkten aber doch zu korrigierenden - These nicht mehr erschüttert.9 Aber damals waren die Thesen des Professors Delitzsch und anderer Vertreter des 'Panbabylonismus' brisant. Wie Mays (erhalten gebliebene) Konzepte beweisen, studierte er sehr interessiert die einschlägige - archäologische und historische - Literatur und griff dann zur Feder: um den Babel- und Bibel-Streit auf die Bühne zu bringen!

   Eine 1905 entstandene Erstfassung seines Dramas verwarf er,10 um dann, nach über zweijähriger Arbeit, die endgültige Version am 17. Juli 1906 fertigzustellen. Im September 1906 erschien dieser Text, auf das Drängen des Autors hin, bei Fehsenfeld - in einer Auflage von freilich nur 1200 Exemplaren.11

   Mays Anspruch war nicht gerade bescheiden. Denn nicht nur der Babel-und-Bibel-Streit bewegte den Autor: Als Erneuerer der Psychologie wollte er die "Wissenschaft vom Geiste und von der Seele"12 des Menschen revolutionieren und von den "schauderhafteste[n]" Irrtümern befreien! Und als Künstler, als Reformator des deutschen Theaters wollte er "vermitteln"13 zwischen der Religion und der Wissenschaft!

   Den Babel-und-Bibel-Streit erkannte May wohl als zweitrangig. Sein Anliegen war, grundsätzlich und allgemein, die Versöhnung der Religion mit der Wissenschaft. Das Drama habe die Wissenschaft und den Glauben "in harmonische Berührung zu bringen",14 verkündete er.


//481//

   Die hierarchische Position der Kunst liegt in dieser Sichtweise über der Wissenschaft und unter der Religion. Denn die Kunst habe - so der Dichter in seinen Briefen an Leopold Gheri, den damaligen Schriftleiter der Innsbrucker Rundschau 'Der Kunstfreund'15 - die Aufgabe, "unser irdisches Wissen zum himmlischen Glauben emporzuführen",16 und jede edle Kunst müsse "unbedingt empor zum Welterlöser"17 führen.

   Der Glaubens-Wissenschaft, der Theologie, fällt nach May am Ende die Führungsrolle zu. Dem "wahrhaft christlich gesinnten Theologen" will der Dramatiker "den Weg" bereiten; der Theologe habe dann "die weitere Führung zu übernehmen".18

   Mays bester Freund, der Maler Sascha Schneider, war entsetzt: "Das kathol. Blättchen kann sich ja nur freuen [...] und die Pfaffen werden eine helle Freude an Ihnen haben."19 Doch May dachte anders: Im wahren Sinne kirchentreu und dennoch (oder deshalb) kirchenkritisch, nicht restaurativ, sondern fortschrittlich wollte er sein - in 'katholischer' Weite und 'evangelischer' Freiheit.

   Dem Inhalt auch seiner früheren Schriften entsprechend wollte May in Babel und Bibel - wie er selbst erklärte -


die heilige Macht DER WAHREN RELIGIÖSITÄT, die Unwiderstehlichkeit DES WAHREN GOTTVERTRAUENS, die Forderungen der EDLEN MENSCHLICHKEIT und die Möglichkeit eines VERNUNFGEMÄSSEN VÖLKERFRIEDENS zur lebenden Gestaltung bringen.


   Und es sollte - so May in seiner Erläuterung -


veranschaulicht werden, auf welche Weise die FRIEDLICHE VERSÖHNUNG DES MORGENLANDES MIT DEM ABENDLANDE und damit die Lösung dieser brennendsten Frage unserer Zeit, zu ermöglichen ist. Das alles gehört auf die Bühne, wenn sie die Bezeichnung der "Bretter, die die Welt bedeuten", wirklich verdient.20


10.8.2

Geistesgeschichtliche Zusammenhänge, zeitgenössische Urteile und neuere Bewertungen des Dramas


Mit Babel und Bibel steht May in der Tradition des heilsgeschichtlichen Denkens des Alten und des Neuen Testaments, aber auch des christlichen Mittelalters und seiner sakralen Kunstauffassung. Und die Tradition der Aufklärung, des Dramas als 'moralischer Anstalt', setzt er ebenfalls fort.21

   Bernhard Kosciuszko grenzte - 1978 - Mays Babel und Bibel motivgeschichtlich gegen Sophokles' Antigone, Schillers Wilhelm Tell und mehrere Brecht-Stücke wie z.B. Der gute Mensch von Sezuan ab.22 Und der Germanist Martin Schenkel rückte - 1983 - Mays Kunstverständnis, insbesondere seine Angriffe gegen das Herabsinken der Kunst ins "Häßliche" und "Gemeine",23 in die Nähe des Bühnenreformers Johann Christoph Gottsched (1700-1766), der das 'Niedrige', 'Derbe' und 'Sinnliche' vom Theater verbannte.24

   Gottsched hatte Erfolg. May aber schien das Glück nun verlassen zu haben. Als Epiker wurde und wird Karl May von Millionen gelesen; aber sein Drama wurde trotz positiver Besprechungen, u.a. durch den Wiener Schauspieler und Schriftsteller Amand von Ozoróczy (1885-1977),25 nicht einmal aufgeführt. Manche Zeitgenossen, der Benediktiner Ansgar Pöllmann zum Beispiel,26 verhöhnten das Stück. "Da weicht man zurück und wartet auf seine Zeit. Und diese kommt gewiß."27

   Um die Premiere seines Werkes zu sichern, schreckte May auch vor Peinlichkeiten nicht zurück. In Briefen an die Prinzessinnen Marie Therese und Wiltrud von Bayern, auf deren Einfluß er hoffte, mochte May sein "Geheimniß" nicht länger für sich behalten: Babel und Bibel solle - so schrieb er an Wiltrud -


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zuerst in München gegeben werde[n]. Alle bisherigen Kritiken und Zuschriften stimmen darin überein, daß diese Erstaufführung eine sogenannte "dramatische That", also ein Erfolg sein werde, den ich meinem München am allerliebsten gönne [...] "Babel und Bibel" hat für sich selbst zu wirken. Taugt es nichts, so mag es verschwinden. Taugt es aber etwas, so wird es, ob früher oder später, gewiß gegeben werden, und [...] wenn mir das gelingt, so danke ich Gott [...] und freue mich unendlich darauf, daß Sie, verehrteste Prinzessin, die Sie mein ganz besonderer psychologischer Liebling sind, meine herrliche Marah Durimeh auf der Bühne sehen werden, die Menschheitsseele, im Strahlenpanzer von Krystall, d.h. im Schutze Gottes, der sie gegen alles feit [...]28


   In keines seiner Werke hat May so große Erwartungen gesetzt wie in Babel und Bibel. Er wurde bitter enttäuscht. Noch vor der Vollendung des Dramas ließ der Verleger seine Ablehnung erkennen. Fehsenfeld meinte, ihm sei "das Alles viel zu hoch [...] Er wolle 'Geschäfte' machen, DER Theaterdirektor aber, der dieses Stück aufführen werde, müsse erst noch geboren werden."29

   Er wurde, wahrscheinlich, bis heute nicht geboren. Auch Sascha Schneider, der Saft- und Kraftmensch, konnte mit Babel und Bibel nichts anfangen. Er vermißte den "Erdgeruch":30 "Ich stehe geradezu hilflos da. Die Menge Symbole verwirren mich [...] Und warum so viele Weiber? [...] Mein lieber Old Shatterhand, satteln Sie aufs neue und bleiben Sie der Alte! "31

   Mays Bühnenwerk war vorerst gescheitert. Es wurde noch Jahrzehnte nach dem Tode des Autors "als Kuriosität betrachtet".32 Im Anschluß an den May-Biographen Otto Forst-Battaglia setzte, 1936, auch Heinz Stolte das "spätromantische Epigonendrama" Karl Mays als klägliche "Verirrung", als "opernhafte Scheindichtung" und "rätselhaftes Gespensterspiel"33 drastisch herunter.

   Sind solche Urteile berechtigt? Der inhaltlichen Bedeutung des Dramas, seiner "Schlüsselfunktion"34 für die Gedankenwelt des Mayschen Alterswerks, werden solche Verdikte in keiner Weise gerecht. Eine gründliche Auseinandersetzung und eine ernsthafte Würdigung ist Babel und Bibel allemal wert.

   Hans Wollschläger nannte Mays Drama "ein wunderliches Stück", das der Autor "gewiß überschätzt hat, das jedoch so sehr das Schweigen auch wieder nicht verdient, das bis heute auf ihm liegt. Seiner inneren Gestik nach gehört es unter die 'Jedermann'-Mysterien und ist gewiß nicht weniger 'lesbar' als das Salzburger Touristen-Spiel".35

   Hat Babel und Bibel noch eine Zukunft? Hansotto Hatzig meinte (1967): Unter den Händen Max Reinhardts hätte das Drama einen "achtungsvollen Erfolg haben können. Heute wäre Fritz Kortner der geeignete Regisseur, um das Stück überzeugend auf die Bühne zu bringen."36

   Mays Lieblingswerk ist, so Martin Schenkel, "von der Bühne und von der literaturwissenschaftlichen Rezeption vernachlässigt worden."37 Lediglich eine szenische Lesung - anläßlich der Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Hannover (1979) - hat es gegeben. "Das Publikum dankte [...] mit lang anhaltendem, verdientem Beifall. Was Karl May sehnlichst, aber vergeblich erhofft hatte, 67 Jahre nach seinem Tode wurde es Wirklichkeit."38

   In seiner akribischen Untersuchung (1983) rügte Schenkel den "allegorisch überladenen Formelvorrat"39 des Dramas. Doch den Inhalt sah er als durchaus gelungen an: Mays Erlösungsdrama bedarf "der Erlösung aus seinem Schattendasein"!40

   Ist Babel und Bibel heute noch aktuell? Hat es dem modernen Menschen noch etwas zu sagen? Ist der Text - den Walther Ilmer (1992) Mays "disziplinierteste literarische Schöpfung"41 nannte - nur verwurzelt in der Tradition (des Mittelalters und der Aufklärung) oder nimmt er, wie Mays Erzählwerk, auch neuere theologische Denkansätze vorweg?


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Als 'konkrete Utopie', als prophetische, in die Zukunft weisende Dichtung, als christlicher Hoffnungsentwurf?

   Dem Inhalt nach ist Babel und Bibel, wie - aus theologischer Sicht - im 'Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1991' gezeigt wurde,42 nicht weniger interessant als das epische Werk des reif gewordenen Dichters. Mays Beschäftigung mit den Thesen des Professors Delitzsch könnte nun freilich eine unzutreffende Vorstellung wecken: als ginge es May um die (theoretische) Verhältnisbestimmung von Glaube und Wissen, von Mythos und Offenbarung, von historischer Wissenschaft und gläubigem Daseinsverständnis. Als Poet und theologischer "Laie"43 will May solche Probleme nicht lösen. Aufgrund seiner Glaubens-ERFAHRUNG setzt er die Verwiesenheit des Menschen auf Gott und die innere Wahrheit der biblischen Schriften, als "Axiom"44 einfach voraus.

   Daß Babel und Bibel, wie Euchar Albrecht Schmid meinte, "keinerlei religiöse Streitfragen"45 berühre, folgt daraus allerdings nicht. Nein, auch im Dramenstoff werden bedeutsame - und in den Kirchen keineswegs unumstrittene - Gedanken von modernen (evangelischen und katholischen) Theologen intuitiv vorweggenommen.

   Dieser Aspekt soll unten, im zweiten Teil ('Spuren der anderen Welt'), noch erörtert werden. Vorab, in der folgenden Darstellung, soll nur der Leitgedanke des Dramas skizziert und die autobiographische Relevanz des Textes herausgestellt werden.


10.8.3

Der Leitgedanke: Die List der göttlichen Gnade


Vom religiös interpretierten Entwicklungsgedanken, vom dynamischen Menschenbild und vom theologischen Weltverständnis her gesehen könnte Mays Drama verglichen werden mit der symbolistischen Schau in Paul Claudels Der seidene Schuh (1924),46 das ebenfalls ein kaum aufzuführendes Lesedrama ist.47

   Formal unterscheiden sich diese Werke natürlich sehr; aber in drei wichtigen Motiven stimmen sie überein. Erstens: Der 'Gewaltmensch' (Abu Kital bei May, Don Rodrigo bei Claudel) wird geläutert durch Schmerz, durch Verzicht und Ergebung. Zweitens: Die verlorene und wiedergefundene Frau, die 'große Mutter', das 'ewig Weibliche' (Bent'ullah und Marah Durimeh bei May, Doña Proëza und die Mutter Gottes bei Claudel) vermitteln die Erlösung. Drittens: Das Schicksal des Einzelmenschen ist, bei May wie bei Claudel, miteinbezogen in die Weltpolitik und den Triumph der göttlichen Gnade.

   Die epischen Werke Karl Mays sind in räumliche Bewegung verkleidete 'Lebensreisen ins Innere'. Während in Mays Erzählungen oft die größten Wegstrecken überwunden und auch in Claudels Drama die weitesten Räume durchschritten werden, wahrt Babel und Bibel - der klassischen Dramentheorie folgend - die Einheit der Zeit, des Orts und der Handlung.

   Die Fabel spielt in der Gegenwart (1906): bei den Trümmern von Babylon, vor dem Eingang zum Turm. Als Symbol der menschlichen Hybris, aber auch als Hort des Traditionalismus ist dieser Schauplatz gewählt. Das ganze Feld ist - laut Regie-Anweisung des Autors - verstellt mit "ausgegrabene[n] Merkwürdigkeiten, welche das Gefühl erwecken, daß man sich hier mehr von alten, längst überwundenen, als von neuen Gedanken leiten lasse."48 Und heidnische Götterbilder, des Kriegsgottes Nergal zum Beispiel, erinnern an blutige Zeiten.

   Die Protagonisten sind reine Allegorien, dem Mysterienspiele wohl angemessen. Wie immer bei May liegen zwei Parteien, eine dunkle und eine lichte, miteinander im Streit. Den absolut Bösen, der am Ende dann stürzt, gibt es in Babel und Bibel allerdings nicht.


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May schrieb sein Drama "nicht als Trauerspiel":49 Abu Kital, der Vater des Kampfes, der verblendete und von bösen Mächten verleitete Scheik der An'allah (zu deutsch: "Ich bin wie Gott"),50 soll nicht vernichtet, sondern erlöst und verwandelt werden.

   Der Scheik ist ein Herrenmensch. Er gehorcht, wie er meint, nur sich selbst; und die Peitsche schwingt er mit Lust. Seine Macht wird gestützt in dreifacher Weise:

-durch den Kadi, den Vertreter des Rechts, d.h. des strengen Gesetzes;
-durch den Imam, den Vertreter der vermeintlich wahren Religion, d.h. eines Glaubens, der nicht lieben, sondern herrschen will;
-durch Babel, den Vertreter der Wissenschaft, d.h. des Intellekts, der ehrlich forscht, aber den "Geist" und die "Seele" des Menschen verkennt.

Ein schwarzer Vorbeter, ein gutwilliger Untertan, unterstützt - durch seinen Gehorsam - den Scheik; zugleich aber steht er, als Vertreter des schlichten, in Treue ergebenen Gottesglaubens, im Dienst der Gegenpartei: des echten Christentums.

   Zur lichten und gleichsam göttlichen (weil in Wahrheit religiösen, d.h. an Gott, an seine Weisheit und Liebe gebundenen) Gruppe gehören drei Frauen und zwei Männer:

-Schefaka, die junge, allseits beliebte, auch von Abu Kital verwöhnte Tochter Babels, deren Name - 'Morgenröte' - die neue Zukunft verheißt;
-Der Hakawati, ein mehr als hundert Jahre alter Sagen- und Märchenerzähler; als "Schreibtafel für göttliche Offenbarungen",51 als Verkörperung der "menschheitskindlichen Imagination und Inspiration" ist er wohl eine Projektion des 'Propheten' und Mythendichters May selbst;52
-Marah Durimeh, die 'große Mutter',53 die von früheren Romanen Karl Mays her bekannte "Menschheitsseele"54 (im Spiel verkleidet als die 'Phantasie'); als "Erfahrungssumme des ganzen menschlichen Lebens"55 ist sie noch älter als der Hakawati; mit ihrem schneeweißen, in prachtvolle Zöpfe geflochtenen Haar und ihrem fast faltenlosen Gesicht bringt sie die höchste "Würde" und die reinste "Anmut" des Menschengeschlechts zur Anschauung;
-Bibel, auch Bent'ullah (die 'Tochter Gottes') genannt; sie ist die verstoßene Frau Abu Kitals und heißt nicht nur 'Bibel', sondern IST56 diese wirklich; zugleich könnte sie, ähnlich wie Marah Durimeh, das mütterliche Antlitz Gottes selbst verkörpern (eine These, die im zweiten Teil dieses Buches57 zu erläutern ist);
-Ben Tesalah (im Spiel als 'Scheik der Todeskarawane' ärmlichst verkleidet, in Wirklichkeit aber der mächtige Scheik der Kiram); als Sohn der Bibel und des Abu Kital, als 'Sohn des Friedens', ist er wahrer "Edelmensch".58

Die dramatische Handlung weist zurück in die Vergangenheit der An'allah. Auf eine Intrige des Imam und des Kadi - der "religiösen und profanen"59 Gewalt - hereinfallend hatte der Scheik sein Weib und sein Kind in die Wüste getrieben. Das "heilge RECHT" und der "heilge GLAUBE" hatten eingegriffen. "Es war die Pflicht", der sie "gehorchen mußten". Die Bibel "mußte fort!" (S. 52ff.)60 Sie war, wie ihr Sohn, zu gefährlich!

   Der Hakawati rezitiert diese Vor-Geschichte (S. 31):


Mit ihrem Geiste kam die Bibel einst
Zum "MENSCHEN DER GEWALT" im Lande Babel.
Der nahm sie nur für kurze Jahre auf,
Dann stieß er sie hinaus, doch ihren Geist
Behielt er heimlich hier im Turm zurück
Und ließ dafür den seinen mit ihr gehen.
Seit jenem Tage wird die heilge Schrift
Von diesem Geiste der Gewalt bemeistert;
Der wahre Geist der Bibel aber schmachtet


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Im tiefen Fundamente unsers Turmes,
Und Niemand hat den Mut, ihn zu befreien,
Weil über ihm Kital, der Drache, wohnt,
Vor dem sich selbst die größten Helden fürchten.


   Wie in Mays frühesten Schriften61 und dann wieder in sämtlichen Spätwerken ist die mißbrauchte, vom Geiste der Gewalt beherrschte Religion das zentrale Thema. Aus dem Silberlöwen IV kennen wir das "verzauberte" in der Tempelruine eingeschlossene Gebet, und aus dem Friede-Roman den "Wahn" eines krankhaft entstellten Christentums.62 Aus diesen Bildern wird, in Mays Drama, die 'babylonische Gefangenschaft' des Neuen Testaments: der in den Turm zu Babel gesperrte Geist des Evangeliums, der vom Kital-Geist beherrschte Buchstabe der heiligen Schrift.

   Babel und Bibel geht, sehr kirchenkritisch, von einer Verfälschung der biblischen Botschaft durch machthungrige Institutionen aus. Aber das Drama verkündet zugleich, sehr kirchentreu, eine große Vision. Diese Verheißung hat die Form eines Märchens, das zur "WIRKLICHKEIT" (S. 164) werden soll: In der Fülle der Zeit, am Abend vor dem "allergrößten" Tage, "Wird sich die Bibel wieder heimwärts finden, / Geleitet von der Hand der Menschheitsseele" (S. 31)! Der "längst ersehnte, erste EDELMENSCH" - Kital, den Drachen, wird er besiegen und den Geist der Bibel wird er befreien (S. 32)!

   Die Erfüllung dieser Verheißung wird durch die List einer Gnade63 bewirkt, die die Hinterlist des Bösen zuschanden macht. Gegen Gewalt und Zynismus scheinen Güte und Sanftmut oft chancenlos. Nicht so bei May in Babel und Bibel! In seinem Hoffnungsentwurf stellt er die jetzige Wirklichkeit auf den Kopf oder, richtiger, auf die Füße. Denn die 'verkehrte' Welt der Feindschaft, der Selbstsucht und Kriegstreiberei wird 'gerichtet', wird richtiggestellt.

   Von Anfang an ohne Chance - denn Marah Durimeh, die allgegenwärtige Menschheitsseele, belauscht alle Ränke - eröffnet Abu Kital der Ratsversammlung seinen geplanten Streich gegen die Kiram: friedfertige Leute, die in Afdala und Amana, den Ländern der 'Verzeihung' und der 'Güte', wohnen. Zum Schatrandsch, zum königlichen Schach, zum Entscheidungskampf, hat der Herrenmensch seine Widersacherin Marah Durimeh, die Verbündete der Kiram, herausgefordert. Der Kadi bestätigt: "Ihr alle wißt es, daß sie morgen kommt, / Um gegen uns ein großes Schach zu reiten, / Auf freiem Feld, mit lebenden Figuren" (S. 37).

   Der 'Vater des Kampfes' hat einen Hintergedanken: Die feindlichen Spieler will er zum Kampf mit den Waffen verleiten. Mit verbündeten Kriegsleuten soll die Führungsspitze der Kiram überwältigt und ihr Land, ja der ganze Erdkreis erobert werden: "Das Morgenland nur für das Morgenland" [...] "DAS MORGENLAND NUR FÜR DIE AN'ALLAH!" [...] "DIE GANZE ERDE FÜR DIE AN'ALLAH!" (S. 51)

   Als Stellvertreterin Gottes sozusagen durchkreuzt Marah Durimeh diese Pläne. Zum Schachspiel wird es gar nicht erst kommen. Auf dem Spielfeld der Ewigkeit, dem "Schachbrett Nummer Zwei" (S. 164) - jener anderen Welt, "auf deren Brettern Gott und Teufel ein Brettspiel inszenierten, dessen Sieger von Anfang an feststand"64 -, ist der Tyrann schon mattgesetzt. Er wird sich bald fügen. Der Drache in ihm wird besiegt, der Mensch in ihm wird hervorgeläutert werden.

   Der 'Scheik der Todeskarawane' berichtet von der Geisterschmiede, dem Ort der Läuterung (S. 78ff.). Dieser Report bereitet in Abu Kital die Wende schon vor. Das "Meisterstück" (S. 171) der Marah Durimeh, die "Heimkehr der erzieherischen Weiblichkeit zum 'Menschen der Gewalt'" (S. 89), die Wiederbegegnung des Scheiks der An'allah mit sei-


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ner (seiner) Frau und ihrem Sohn Ben Tesalah führen - endlich - zum Zusammenbruch aller Verstocktheit, zum Ende der Geltungssucht und der Machtgier. Der Scheik wie auch Babel müssen die eigene Selbstüberhebung erkennen und ihr für immer entsagen.

   Babel läßt seine eigenen Werke, die Produkte seiner irrigen, den Menschen vergötternden65 Wissenschaft, durch die Bibel verbrennen. Und Abu Kital geht hinein in die Turmruine, um - mit Hilfe des Sohnes - den Kopf des Drachen herunterzuschlagen, in dessen Schlund er die WAHRHEIT vergraben hatte. "Es war Betrug, nur Ton, kein echter Stein. / Schaut her! Da liegt Kital, das Ungeheuer. / Und sie ist frei, die er im Rachen hatte! / [... ] Die 'Biblia des NEUEN Testamentes'!" (S. 203)

   Die unverstellte Botschaft Christi, die Botschaft des Friedens und der Liebe, wird aus den Trümmern von Babylon endlich geborgen. Im Geist des Evangeliums ist der Scheik nun zur Sühne bereit - gemäß der "göttliche[n] Lehre von der Erlösung durch den Schmerz und durch das Absterben des äußerlichen Menschen, welche die Grundlage unseres christlichen Glaubens bildet".66

   Claudels religiöses Riesendrama schließt mit der inneren Befreiung des Herrenmenschen. Nach den schwersten Prüfungen, nach der tiefsten Erniedrigung beugt sich Rodrigo, der gefangene, an eine alte Nonne als Sklave verkaufte Kriegsheld, in entsagender Demut. Er beugt sich und findet - die Freiheit: Die Triumphfanfare kündet Erlösung, "Erlösung den gefangenen Seelen!"67

   Mays Drama endet mit der Menschwerdung des 'Drachen', des Vaters der Kriege. Vier 'Geisterschmiede' sind mit schweren Hämmern gekommen, den Scheik nun zu holen (S. 189). Er soll und er will zum Orte der Prüfung, ins Feuer der Läuterung. Doch zuletzt dröhnen nicht die Hämmer der Schmiede. Das letzte Wort hat, wie im Seidenen Schuh, die göttliche Gnade: "Und Gott gibt GEIST und SEGEN! (Die Harfen jubeln, der Vorhang fällt.)"


10.8.4

Die autobiographische Relevanz: Erlösung durch Schmerz


Daß Babel und Bibel auch autobiographisch zu lesen ist, liegt auf der Hand. Die innere Entwicklung im Leben und Streben des Autors wird dokumentiert.

   Verkörpert im Hakawati setzt das Drama ein Kunstverständnis68 voraus, das den Dichter zum Seher, zum Propheten, zum 'Munde Gottes'69 erhebt. Expressis verbis sind wir diesem Anspruch schon früher, im Friede-Roman, begegnet.70 In der christlichen und überhaupt in der religiösen Literatur ist dieses Selbstverständnis des Autors nicht selten zu finden. Als "Dichter und Verkünder, Apostel und Prediger zugleich"71 verstanden sich, mehr oder weniger, auch Dante und Calderón, Dostojewski und Tolstoi, Claudel und Bernanos, Gertrud von le Fort und Elisabeth Langgässer, Werner Bergengruen und viele andere Schriftsteller vor und nach Karl May.

   Die grundsätzliche Legitimität dieses Anspruchs wurde schon erörtert und gegen Mißverständnisse abgegrenzt.72 Wenn die Sekundärliteratur suggeriert, May habe sich selbst als "Erlöser"73 gesehen, so ist das verkehrt und in der Sache nicht richtig.74 "Ich bin nichts anderes und nichts Besseres als jeder andere gewöhnliche Mensch", unterstreicht der Verfasser in seinen Erläuterungen zu Babel und Bibel.75 Und mit dem Dramentext selbst wird bestätigt: Karl May verkündet - als Dramatiker - nicht sich selbst, nicht das eigene Renommee, sondern die Botschaft der Bibel, des Neuen Testaments.

   Mit dem Menschheitserlöser hat May sich nie auf eine Stufe gestellt. Er wollte, wie der Prophet in der Wüste, "Zeugnis geben vom Licht"; aber er selbst war "nicht das Licht"


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(vgl. Joh 1, 8) und nicht der Erlöser. Er wies, wie der Prophet, nur hin auf den "Stärkeren" (Mt 3, 11), der da "kommen soll" (Mt 11, 3) und gekommen ist.

   Als Mensch, als Sünder BEDURFTE Karl May der Erlösung. So ist es gewesen, und so hat es der Schriftsteller auch selbst gesehen. In Ben Tesalah und Abu Kital, die durch Leiden erlöst werden, spiegeln sich der Christ und der Sünder Karl May76 genauso verdeckt wie im Münedschi, in Waller, im Ustad und all den anderen 'gebrochenen' Charakteren seines späten Erzählwerks.

   Im Gegensatz zum Silberlöwen III/IV ist Babel und Bibel von persönlichen Ressentiments und privater Polemik ganz frei. May greift hier nicht seine Feinde an; er geht - das ist nicht neu, tritt aber zusehends in den Vordergrund - mit sich selbst ins Gericht!77

   In der Beziehung Ben Tesalahs zu Abu Kital spiegelt sich gewiß auch der Sohn-Vater-Konflikt Karl Mays, der in die Kindheitsjahre zurückreicht. Aber gewichtiger noch ist die Selbstdarstellung des zweifelnden und dennoch glaubenden, des gequälten und - gezwungenermaßen, aber nicht ohne Einsicht - allen Plunder abstreifenden May in der Gestalt Abu Kitals. Kital-May hat alles aufzugeben! "Herunter mit dem Reif von Eridu!" (S. 154) "Herunter mit dem Mantel von Elissa" (S. 150), der "von der Schulter floß in schweren Falten" (S. 62)! Alles hat er zu lassen, die königliche "Marakanda-Seide", die "scharfe Suri-Klinge", den "Gürtel von geweihter Schlangenhaut" (ebd.). Jawohl: "Dahinschmelzen sieht man das ganze Brimborium seiner Illusionen, die künstlichen Kulissen seiner Abenteuerwelt stürzen zusammen, das Maskenspiel ist zu Ende".78

   Wenn der falsche Schmuck (der Doktor-Titel z.B.79), der äußere Ornat, "das Kleid, die ganze Lüge" (S. 118) fallen, "muß sich die Wahrheit zeigen!" (S. 130) Dies ist die Wahrheit: Wer seine Schuld, seine Lebenslüge, seine narzißtische Ich-Bezogenheit erkennt und bereit ist zur Umkehr, der hat sich selber besiegt. Wer "den Ruhm, die Herrlichkeit der Erde" (S. 103) verschmäht und "das Glück, das Himmelreich" (ebd.) wählt, ist es wert, durch Schmerzen verwandelt zu werden. Diese Wahrheit tut weh. Aber dem Schmerz der Reue, dem Leid der Verwandlung ist Gottes Gnade verheißen: "In unsre Fehler tritt der Fuß des Herrn, / Und Segen träufelt, wo wir es nicht ahnen." (S. 110)

   Wir müssen bedenken: Die Entstehungszeit von Babel und Bibel fällt mit dem ersten Höhepunkt der Karl-May-Hetze zusammen. Seit Ende 1904 machte Lebius das 'Sündenregister' Mays bekannt.80 Während den Autor, bei der Arbeit an seinem Drama, die höchsten und edelsten Gedanken bewegten, fühlte er sich - zur selben Zeit - gezwungen, in die Niederungen hinunterzusteigen, sich auf endlose Abwehrkämpfe einzulassen und z.B. seine private Rechtfertigungsschrift Ein Schundverlag (1905) zu verfassen.

   Einerseits stritt May für sein Recht, für sein Ansehen in der Öffentlichkeit; andrerseits fand er - so Dieter Sudhoff - Befreiung in dem "Gedanken, sein Unverstandensein und spätes Leiden habe den Sinn, ihn [...] zu läutern und zur Erlösung zu leiten."81 Denn die "geistige Einsamkeit und das seelische Leid" erheben - so May - den Künstler, "bis er nur noch rein äußerlich mit der Erde zusammenhängt, innerlich aber sich frei von allen ihren Fesseln und Banden fühlt. "82

   Eine Fluchttendenz, eine Weltverachtung könnte man aus solchen Sätzen herauslesen. Mays Lebenseinstellung war jedoch positiv, und das Schicksal der Welt lag dem politischen Visionär sehr am Herzen. Nicht die 'Materie'83 und nicht die Welt als den Schauplatz der Menschheitsgeschichte lehnte er ab; aber von der Sünde, der Lüge, dem niederträchtigen Streben wollte der Dichter, durch Gottes Gnade, befreit werden.

   Wie sehr er zu leiden hatte und wie es ihm, wenigstens literarisch, gelang, sein Martyrium anzunehmen, beweisen die Angst- und Erlösungssymbole des Dramas. Daß er sein


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Leiden als sinnvoll und geradezu notwendig bejahte, zeigen die Hämmer der 'Geisterschmiede', die der Gnade die Wege bereiten. Mays Existenznot wird übersetzt in die Verse, die der Dichter dann später - in Mein Leben und Streben84 - ausdrücklich auf sich selbst bezieht:


Zu Märdistan, im Walde von Kulub,85
Liegt einsam, tief versteckt, die GEISTERschmiede.
Da schmieden Geister? Nein, man schmiedet SIE!/[...]/
Der Haß wirft sich in grimmer Lust auf sie./[...] /
Die Reue schwitzt und jammert am Gebläse.
Am Blocke steht der Schmerz, mit starrem Aug
Im rußigen Gesicht, die Hand am Hammer.
Da, jetzt, o Scheik, ergreifen dich die Zangen,
Man stößt dich in den Brand. Die Bälge knarren./[...]/
Und Alles, was du hast und was du bist,/[...]/
Wird dir verbrannt, gepeinigt und gemartert/[...]/
Schrei nicht, o Scheik! Ich sage dir, schrei nicht!
Denn wer da schreit, ist dieser Qual nicht wert,
Wird weggeworfen in den Brack und Plunder
Und muß dann wieder eingeschmolzen werden.
Du aber willst zum Stahl, zur Klinge werden,
Die in der Faust des Parakleten funkelt.
Sei also still! -------------
----- Man reißt dich aus dem Feuer ---
Man wirft dich auf den Ambos --- hält dich fest./[...]/
Der Schmerz beginnt sein Werk, der Schmied, der Meister.
Er spuckt sich in die Fäuste, greift dann zu,
Hebt beiderhändig hoch den Riesenhammer/[...]/
Die Schläge fallen. Jeder ist ein Mord,
Ein Mord an dir. Du meinst, zermalmt zu werden./[...]/
Dein Ich wird dünner, kleiner, immer kleiner,
Und dennoch mußt du wieder in das Feuer ---
Und wieder --- immer wieder, bis der Schmied
Den Geist erkennt, der aus der Höllenqual
Und aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag
Ihm ruhig, dankbar froh entgegenlächelt.
Den schraubt er in den Stock und greift zur Feile.
Die kreischt und knirscht und frißt von dir hinweg
Was noch --- Halt ein! Halt ein! Es ist genug!
Es geht noch weiter, denn der Bohrer kommt,
Der schraubt sich tief --- Sei still! Um Gottes willen! (S. 78ff.)


   Anders als z.B. die Reden Ben Nurs im Jenseits-Roman86 sind diese Verse in einem so hohen Maße autobiographisch gefärbt, daß eine allgemein-theologische Auslegung - als 'Lehre von den letzten Dingen' - hier kaum in Frage kommt. Übersteigert im Ausdruck bringen diese Zeilen die Seelenpein des Dichters, sein Fegefeuer auf Erden, sein "immer kleiner" werdendes "Ich", seinen Schmerz über das Unrecht, das er erlitten, und seine Reue über die Fehler, die er begangen hatte, ins schaurige Bild.87

   Auch seine Berufung deutet May an: Zur "Klinge [...] in der Faust des Parakleten" fühlt er sich bestimmt, zum Streiter Gottes also, zum Sprachrohr des göttlichen Geistes,88 zum Verkünder, dessen "unreine Lippen" (Jes 6,5) mit glühender Kohle zu reinigen sind!89

   Ein 'Edelmensch', ein wirklicher Christ, ein prophetischer Dichter will Karl May werden. Die Verwandlung muß aus dem "Innern, aus dem Herzen heraus"90 erfolgen. May ist willig, doch sein Herz ist noch schwach. "Der Leib, der Geist, die Seele" (S. 176) sind bedrängt; doch May will nicht resignieren. Er vertraut dem göttlichen Geist, dem "Parakleten", dem Beistand, dem Anwalt und Helfer (vgl. Job 14, 16).


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   Woher kommt die Hilfe? Ein "gütig-mildes Angesicht" (S. 119) - die 'Phantasie', das Antlitz der Mutter91 bzw. der Ehefrau Klara - bittet den Scheik der Todeskarawane (den Sohn bzw. den Gatten Karl May), nur "stark zu sein und mutig auszuharren". Denn wer "standhaft bleibt bis zum Ende, wird gerettet werden" (Mk 13, 13)!
   Trost und Stärkung fand May in der Nähe der Frau, in der eigenen Poesie, im religiösen Sendungsbewußtsein, im Glauben an Gott. Er schrie zu "Gott, dem Herrn, daß er mir helfen möge" (S. 119)! Seine Kraft schöpfte er aus jener Zuversicht, die der Apostel Paulus im 2. Korintherbrief bezeugt:

In allem werden wir bedrängt, aber nicht erdrückt; sind im Zweifel, aber verzweifeln nicht; leiden Verfolgung, aber sind nicht verlassen; werden niedergeworfen und gehen doch nicht zugrunde [...] Darum verlieren wir nicht den Mut. Mag auch unser äußerer Mensch aufgerieben werden, so wird doch der innere von Tag zu Tag neu. (2 Kor 4, 8f. 16)


Anmerkungen


1Die folgenden Ausführungen entsprechen, mit nur geringfügigen Änderungen, Hermann Wohlgschaft: 'Babel und Bibel'. Ansätze zur feministischen Theologie' im Erlösungsdrama Karl Mays. In: JbKMG 1991, S. 148-181 (S. 148-160).
2Rudolf Kurtz: Offener Brief an Karl May. In: JbKMG 1971, S. 230-233 (S. 231).
3Claus Roxin in einem Brief vom 13.2.1984 an Heinz Stolte; zit. nach Heinz Stolte: Hiob May. In: JbKMG 1985, S. 63-84 (S. 63).
4Karl May: Der Dichter über sein Werk. Skizze zu Babel und Bibel (1.10.1906). In: KMJB 1921. Radebeul 1920, S. 41-80 (S. 52). Das Zitat findet sich fast wörtlich auch in Mays Brief vom 26.9.1906 an Prinzessin Marie Therese von Bayern. In: JbKMG 1983, S. 84-91 (S. 84).
5Karl May in einem Brief an Friedrich Fehsenfeld, ohne Ort und Datum (wohl Mitte September 1905); zit. nach Ulrich Schmid: Ein Vortrag zwischen den Fronten. Karl May im Augsburger Schießgrabensaal, 8. Dezember 1909. In: JbKMG 1990, S. 71-98 (S. 79).
6May: Der Dichter über sein Werk, wie Anm. 4, S. 55.
7Vgl. Martin Schenkel: Das Drama 'Babel und Bibel'. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. Von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 589-594 (S. 589).
8Nach einer Tagebuch-Notiz Klara Mays vom 31.1.1903; wiedergegeben in: Hansotto Hatzig: Karl May und Sascha Schneider. Dokumente einer Freundschaft. Beiträge zur Karl-May-Forschung 2. Bamberg 1967, S. 234f. - Vgl. Friedrich Delitzsch: Babel und Bibel. Ein Vortrag. 21.-25. Tsd. Leipzig 1903 - Ders.: Babel und Bibel. Zweiter Vortrag. 1.-10. Tsd. Stuttgart 1903 (beide Vortragstexte besaß Karl May). - Zum möglichen Einfluß der Delitzsch-Vorträge auf Mays Werk vgl. Hermann Wohlgschaft: Der Einfluß des Assyriologen Friedrich Delitzsch auf Karl Mays 'Babel und Bibel' und sein Spätwerk überhaupt. In: MKMG 89 (1991), S. 4-12.
9Vgl. F. Gössmann: Panbahylonismus. In: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. VIII. Hrsg.von Josef Höfer und Karl Rahner. Freiburg 21963, Sp. 19 - Wohlgschaft: Delitzsch, wie Anm. 8, S. 8ff.
10Vgl. Mays Brief vom 13,1.1906 an Sascha Schneider. In: Hatzig, wie Anm. 8, S. 102f. - May hat "unablässig am Manuscript herumgeändert, was doch nie bei mir vorzukommen pflegt." (Aus Mays Brief vom 27.3.1906 an Fehsenfeld; zit. nach Schmid, wie Anm. 5, S. 82).
11Vgl. Christian Heermann: Der Mann, der Old Shatterhand war. Eine Karl-May-Biographie. Berlin 1988, S. 321.
12May: Der Dichter über sein Werk, wie Anm. 4, S. 53.
13Ebd., S. 56.
14Ebd.
15Karl May: Briefe über Kunst. In: Der Kunstfreund. Innsbruck XXII. Jg. 1906, H. 10-12; XXIII. Jg. 1907, H. 1, 2 u. 5. - Vgl. Dieter Sudhoff-. (Werkartikel zu) Briefe über Kunst. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 7, S. 582-584.
16May: Briefe über Kunst, wie Anm. 15, S. 197 (11. Brief vom 2.11.1906).
17Ebd., S. 154 (l. Brief vom 2.10.1906).
18May: Der Dichter über sein Werk, wie Anm. 4, S. 59.


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19Zitat aus Sascha Schneiders Brief vom 21.12.1906 an May (mit Bezug auf Mays Briefe über Kunst). In: Hatzig, wie Anm. 8, S. 132.
20May: Der Dichter über sein Werk, wie Anm. 4, S. 56f.; ähnlich im Brief Karl Mays an Prinzessin Marie Therese, wie Anm. 4, S. 87.
21Vgl. Martin Schenkel: "Babel und Bibel" Ein aufklärerisches Drama des Mittelalters. In: Karl May. Hrsg. von Helmut Schmiedt. Frankfurt/M. 1983, S. 278-309 (S. 281).
22Bernhard Kosciuszko: Karl Mays Drama 'Babel und Bibel'. SKMG Nr. 10 (1978).
23May: Der Dichter über sein Werk, wie Anm. 4, S. 57; auch in Mays Brief an Prinzessin Marie Therese, wie Anm. 4, S. 87.
24Vgl. Schenkel: "Babel und Bibel", wie Anm. 21, S. 281.
25Amand von Ozoróczy: Karl Mays Erstling. In: Augsburger Postzeitung vom 28.7.1907; Faksimile-Wiedergabe dieser Besprechung (die May als Flugblatt nachdrucken ließ) in: MKMG 21 (1974), S. 23-27. - Weitere Pressestimmen zu Babel und Bibel bei Thomas Ostwald: Karl May - Leben und Werk. Braunschweig 41977, S. 248f.
26Vgl. Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg 19 10. Hrsg. von Hainer Plaul. Hildesheim, New York 21982, S. 425 (Anm. 231).
27Ebd., S. 229.
28Aus Mays Brief vom 29.11.1906 an Prinzessin Wiltrud von Bayern. In: JbKMG 1983, S. 92-99 (S. 97f.).
29Aus Mays Brief vom 26.6.1906 an Sascha Schneider. In: Hatzig, wie Anm. 8, S. 116-119 (S.117). - Die Beziehung zwischen May und Fehsenfeld erreichte am 31.3.1907 - mit Fehsenfelds Kündigung des beiderseitigen Vertrages - einen Tiefpunkt; vgl. Schmid, wie Anm. 5, S. 74f.
30Aus Sascha Schneiders Brief vom 7.7.1906 an May. In: Hatzig, wie Anm. 8, S. 128.
31Aus Sascha Schneiders Brief vom 3.7.1906 an May. In: Ebd., S. 120f. - Schneiders Unverständnis (was Babel und Bibel betrifft) und die grundsätzlichen religiösen und politischen Differenzen mit dem Dichter bewirkten "eine allmähliche, doch spürbare Abkühlung im bislang so freundschaftlichen Verhältnis, sehr zur Bestürzung des jungen Malers." (Klaus Hoffmann: Karl May und Sascha Schneider - eine Künstlerfreundschaft. In: Sascha Schneider & Karl May. Eine Kanstlerfreundschaft. Hrsg. von der Karl-May-Stiftung Radebeul. Radebeul 1989, S. 28-57, hier S. 56) Nach der Darstellung Hoffmanns hat Schneider die Bildnisse des Abu Kital und der Marah Durimeh eigens angefertigt und May geschenkt, um ihn zu versöhnen.
32Schmid, wie Anm. 5, S. 80.
33Heinz Stolte: Der Volksschriftsteller Karl May. Beitrag zur literarischen Volkskunde (Reprint der Erstausgabe von 1936). Bamberg 1979, S. 149-154 - Auf weitere Randnotizen der Sekundärliteratur zu Babel und Bibel verweist Schenkel: "Babel und Bibel", wie Anm. 21, S. 307 (Anm. 22).
34Schenkel: Das Drama 'Babel und Bibel', wie Anm. 7, S. 594.
35Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 139f. - Schmid, wie Anm. 5, S. 82, verweist auf "eine Fülle heute weitgehend verschollener symbolistischer Dramen", die - ähnlich wie 'Jedermann' - mit dem Bühnenwerk Mays vergleichbar seien. Als Beispiele nennt Schmid die Dramen Richard von Kraliks und die im Umkreis der ‚Gral'-Bewegung entstandenen Bühnenwerke" (ebd., S. 94, Anm. 30).
36Hatzig, wie Anm. 8, S. 135.
37Schenkel: Das Drama 'Babel und Bibel', wie Anm. 7, S. 594.
38Erich Heinemann: Jubiläumstagung in Hannover. Zehn Jahre Karl-May-Gesellschaft 1969-1979. In: JbKMG 1980, S. 211-222 (S. 220).
39Schenkel: "Babel und Bibel", wie Anm. 21, S. 303.
40Ebd., S. 305.
41Walther Ilmer: Karl May - Mensch und Schriftsteller. Tragik und Triumph. Husum 1992, S. 192.
42Wohlgschaft: Babel und Bibel, wie Anm. 1, S. 160-175 - Vgl. unten, S. 660ff.
43May: Der Dichter über sein Werk, wie Anm. 4, S. 56.
44Karl May in einem Brief (1906) an Sascha Schneider. In: Hatzig, wie Anm. 8, S. 123.
45Euchar Albrecht Schmid: (Rezension zu) Karl May: Babel und Bibel. In: Literarische Beilage zur 'Augsburger Postzeitung' Nr. 48 (1906), S. 380f.; zit. nach U. Schmid, wie Anm. 5, S. 100.


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46Curt Hohoff: Was ist christliche Literatur? Freiburg 1966, S. 19, zählt Paul Claudel zur katholischen Erneuerungsbewegung, die "von den Ideen der Evolution inspiriert war."
47Vgl. Georg Ried: Weltliteratur unserer Zeit. München o.J. (1961), S. 202ff.; im Jahre 1943 hat Claudel allerdings (in Zusammenarbeit mit Jean-Louis Barrault) eine neue, kürzere Fassung geschaffen, in der das Stück in demselben Jahr uraufgeführt wurde (Hinweis von Martin Lowsky).
48Karl May: Babel und Bibel. Arabische Fantasia in zwei Akten. Freiburg 1906, S. 10.
49Aus Mays Motto zu Babel und Bibel; ebd., S. 3.
50May: Der Dichter über sein Werk, wie Anm. 4, S. 61.
51Ebd., S. 66 (dort auch das folgende Zitat).
52In seinen Briefen an Sascha Schneider (vgl. Hatzig, wie Anm. 8, S. 102ff.) identifiziert sich May mit dem Hakawati.
53Vgl. Hartmut Vollmer: Marah Durimeh oder Die Rückkehr zur 'großen Mutter'. In: Karl May. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. Sonderband Text + Kritik. München 1987, S. 158-190 (S. 180ff.). - Zur 'Magna Mater' vgl. die tiefenpsychologischen Ausführungen bei Wolf-Dieter Bach: Fluchtlandschaften. In: JbKMG 1971, S. 39-73.
54Die Bezeichnung Marah Durimehs als 'Menschheitsseele' findet sich zum ersten Mal bei Karl May: Und Friede auf Erden! Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XXX. Freiburg 1904, S. 552.
55May: Der Dichter über sein Werk, wie Anm. 4, S. 77.
56Vgl. ebd., S. 76 - Schenkel: "Babel und Bibel", wie Anm. 21, S. 293.
57Vgl. unten, S. 660ff.
58Den Begriff 'Edelmensch' hat May von Bertha von Suttner übernommen. - Vgl. Claus Roxin: Das zweite Jahrbuch. In: JbKMG 1971, S. 7-10 (S. 10) - Erich Heinemann: Fünfundsiebzig Jahre nach Karl Mays Tod. Karl-May-Gesellschaft und Karl-May-Forschung 1987 In: JbKMG 1988, S. 438-447 (S. 443). - Der Begriff hat seinen Ursprung in der Weltfriedensbewegung; daß er von May zugleich als Gegen-Begriff zu Nietzsches 'Übermenschen' gemeint sein könnte, ist damit natürlich nicht ausgeschlossen.
59May: Der Dichter über sein Werk, wie Anm. 4, S. 77.
60Seitenangaben in () beziehen sich auf die Original-Ausgabe von 1906 (wie Anm. 48).
61Vgl. z.B. Karl May: Das Buch der Liebe. Dresden 1875/76. Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Bd. 1 (Textband). Hrsg. von Gernot Kunze. Regensburg 1988/89, S. 25f.
62Vgl. unten, S. 617ff. u. 639ff.
63Wie bei Hegel die 'List der Idee' den Fortschritt bewirkt, so lenkt bei May eine Art 'List der Gnade' die Heilsgeschichte der Welt.
64Schenkel: "Babel und Bibel", wie Anm. 21, S. 302.
65"Die Wissenschaft vergöttert sich den Menschen, / Damit sie sagen kann, sie diene Gott." (May: Babel und Bibel, wie Anm. 48, S. 69).
66May: Briefe über Kunst, wie Anm. 15, S. 154 (l. Brief vom 2.10.1906) - Vgl. Schenkel: "Babel und Bibel", wie Anm. 21, S. 282.
67Paul Claudel: Der seidene Schuh oder Das Schlimmste trifft nicht immer ein. Ins Deutsche übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Hans Urs v. Balthasar. Salzburg 52.-60. Tsd., S. 368.
68Vgl. Sudhoff, wie Anm. 15, S. 583.
69Das hebräische Wort für 'Prophet' bedeutet 'Mund Gottes'. - Vgl. Bibel-Lexikon. Hrsg. von Herbert Haag. Einsiedeln, Zürich, Köln 21968, Sp. 1408ff.
70Vgl. oben, S. 410.
71Ried, wie Anm. 47, S. 200.
72Vgl. oben, S. 410.
73Sudhoff, wie Anm. 15, S. 583.
74Vgl. oben, S. 451.
75May: Der Dichter über sein Werk, wie Anm. 4, S. 53.
76Vgl. Vollmer, wie Anm. 53, S. 181: "Sowohl der Gewaltmensch Abu Kital [...] als auch [...] Ben Tesalah [...] sind Projektionen des Mayschen Ichs (wobei Abu Kital ebenso ein deutliches Porträt des Vaters Heinrich August May ist)." - Daß sich zugleich auch Sascha Schneider in Abu Kital spiegelt (vgl. Hatzig, wie Anm. 8, S. 149 - Kosciuszko, wie Anm. 22, S. 19), ist sehr wahrscheinlich.


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77In diesem Sinne kann man auch Mays Bemerkung verstehen: "Ich armes, altes kleines Kind möchte mir gern einmal die Freude gönnen, im Schachspiel gegen mich einen Zug zu thun, den Niemand vorher ahnt." (Aus Mays Brief vom 8.9.1905 an Fehsenfeld; zit. nach Schmid, wie Anm. 5, S. 79.)
78Heinz Stolte: Mein Name sei Wadenbach. Zum Identitätsproblem bei Karl May. In: JbKMG 1978, S. 37-59 (S. 56) - Vgl. oben, S. 369.
79Im Februar 1905 wurden peinliche Details über Mays falschen Doktor-Titel veröffentlicht! -Vgl. oben, S. 467.
80Vgl. oben, S. 469f.
81Sudhoff, wie Anm. 15, S. 583.
82May: Briefe über Kunst, wie Anm. 15, S. 154; zit. auch bei Sudhoff, wie Anm. 15, S. 583.
83Die ansonsten hervorragende Deutung des Dramas durch Schenkel ist in diesem Punkt ungenau: Daß Abu Kital in der 'Geisterschmiede' seinen Körper verliere (Schenkel: "Babel und Bibel", wie Anm. 21, S. 304), steht nicht im Text; es handelt sich in diesem Falle um eine, ziemlich willkürliche, Interpretation Schenkels. Denn eine prinzipielle Materie-Feindlichkeit ist May gewiß nicht anzulasten. - Vgl. z.B. Mays Erwiderung an Sascha Schneider (in: Hatzig, wie Anm. 8, S. 124 u. 129f.).
84May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 26, S. 4ff.
85May: Der Dichter über sein Werk, wie Anm. 4, S. 60, erklärt: Märdistan ist "das Land der ausgewachsenen, inneren Persönlichkeiten Kulub ist der Plural für 'Herz'."
86Vgl. unten, S. 607ff.
87Hatzig, wie Anm. 8, S. 135, zitiert ein Gedicht von Otto Julius Bierbaum (1865-1910), das in den Motiven und in der Aussage der 'Geisterschmiede' in Mays Babel und Bibel weitgehend entspricht. - Zu den Bildmotiven der 'Geisterschmiede' vgl. Rudi Schweikert: Tod, Auferstehung und Rückkehr zum Ursprung. Eine schamanistische Grundlage für Karl Mays "Geisterschmiede" nebst einigen Bemerkungen darüber hinaus. In: MKMG 86 (1990), S. 35-41.
88Als 'Paraklet' wird im Johannes-Evangelium, in den Abschiedsreden Jesu, der 'Geist' Gottes bezeichnet. - Vgl. Bibel-Lexikon, wie Anm. 69, Sp. 1300-1303 (Art. 'Paraklet').
89So heißt es in der Berufungsszene des Propheten Jesaia (Jes 6, 5ff.).
90May: Der Dichter über sein Werk, wie Anm. 4, S. 60.
91Vgl. Hans Wollschläger: "Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt ". Materialien zu einer Charakteranalyse Karl Mays. In: JbKMG 1972/73, S. 11-92 - Schenkel: Das Drama 'Babel und Bibel', wie Anm. 7, S. 593.




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