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DIE MITSPIELER



Altbewährte Typen


Auf diesen Schauplätzen gibt May seinem Helden die Mitspieler bei, die es ihm ermöglichen, sich entsprechend in Szene zu setzen. Der Schriftsteller nimmt den Vorteil wahr, Typen zu benützen, die in der Volksliteratur schon gut eingeführt sind und die unter verschiedenen Umkleidungen immer wieder erscheinen1.

   Zunächst der "edle Wilde", der zurückgeht bis auf den Bischof Las Casas, und der namentlich bei Rousseau und Cooper, Chateaubriand und Gerstäcker sein typisches Gepräge bekommt. Bei Karl May findet er sich wieder als Bärenherz, Intschu tschuna und Winnetou: drei Verkörperungen eines immer mehr idealisierten, entpersönlichten Helden der indianischen Rasse. Dann Sterne zweiter Größe: die jungen Indianerhäuptlinge Pida, Schi-So und Apanatschka. Daneben zeigen sich die Wilden alten Schlages, grausam, oft von teuflischer Größe: To-kei-chun, Tangua, Tokvi-Kavao.

   Im Orient haben wir, abgesehen von Winnetou, der kein Gegenstück hat, analoge Gestalten, von den edlen Araber- und Kurdenscheiks, wie Mohammed Emin, angefangen, über Amad el Gandur, Malek hinüber zu hochgesinnten Räubern und abenteuerlustigen Kampfhähnen bis zu den abscheulichen Henkern der unglücklichen Sklaven im "Mahdi", den Pferdedieben aus dem Epilog zum "Schut", in "Am Jenseits" und "Im Reiche des silbernen Löwen".

   Weitere stehende Typen sind der faule Tyrann und

1Vgl. Forst-Battaglia, a. a. O., S. 42.


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der korrupte Beamte, gleichgültig, ob sie als türkische Pascha und Richter, Dorfvorsteher und Wali, als mexikanischer Alkalde und südamerikanischer General, als chinesischer Mandarin erscheinen.

   Dann der Typ einer auf freiem Gehorsam beruhenden Autorität, von ehrwürdigem Alter, geistiger Bedeutung, von fast übermenschlicher sittlicher Kraft: die Königin Marah Durimeh, der Oberste der Dschesidi, der Gebieter von Ardistan, der greise Malaie in "Und Friede auf Erden", der Pedehr "Im Reiche des silbernen Löwen", der uralte Indianer in "Winnetous Erben". Als Vorläufer dieses Typs sind die weißen Erzieher und Lehrer farbiger Völker anzusehen, etwa Kleki petra in "Winnetou" und der Desierto "In den Kordilleren".

   Der Kontrasttyp hierzu findet seine Verkörperung in fanatischen Missionaren, die mit Feuer und Schwert das Christentum verbreiten möchten: Waller in "Und Friede auf Erden"; in fanatischen Moslemin, deren Frömmigkeit sich mit den niedrigsten Instinkten paart: das Haupt der heiligen Kadirine "Im Lande des Mahdi", Mübarek in den "Schluchten des Balkan", die Sklavenjäger; in Amerika in den falschen Heiligen der jüngsten Tage: die beiden Meltons in "Satan und Ischariot".

   Daneben der Typ des richtigen Theaterbösewichts: Santer, Morgan, Melton, Hamd-el-Amasat, der Krumir, Pirat Landola, Gibson, Cortejo, El Sendador. Sie alle bezeichnenderweise nicht rohe Räuber, sondern Händler, Gesetzesverdreher, Betrüger von feige getarnter Hinterlist, ganz der Meinung des Volkes entsprechend, dessen Sympathien so lange auf Seiten des "edlen" Verbrechers waren, als die Richter an Stelle der kühlen, methodischen, gerechten Erforschung der Wahrheit nur die Folter zu setzen wußten. Zwar wandte sich mit der Ordnung, Systemisierung und Disziplinierung des gerichtli-


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chen [gerichtlichen] Verfahrens die Gunst des Lesepublikums der Polizei, dem Detektiv zu, doch hat es immer noch eine Schwäche für den tapferen Revolutionär gegen das Gesetz, der sein Leben in die Schanze schlägt2. Dieser Schwäche wurde May durch die Wahl seiner Verbrechertypen gerecht, er schuf Halbtaugliche, Entgleiste aus Haltlosigkeit, Judasse aus Gemeinheit und Gewinnsucht. Das Gold lockte sie abseits, und zumeist fallen sie in die Grube, die sie anderen bereiteten.

   Den Bedürfnissen des Volkes entsprechend, darf der Typ der komischen Personen nicht fehlen. Teils sind es fremdwörterverdrehende Westmänner deutscher Abkunft, welche schon durch ihr sonderbares Äußeres die Lachlust der Kindlichen reizen: Sam Hawkens mit seinem wehmütig herabhängenden Filzhut und seinem stereotypen Hi-hi-hi, die beiden Toasts, der Hobble-Frank mit seinem Sächsisch, Tante Droll mit der Fistelstimme. Zu ihnen gehörig Kapitän Turnerstick mit seiner überraschenden Begabung fürs Chinesische. Daneben der spleenige Engländer, phantastisch reich, mit seinem großkarierten Anzug, dem Plaid, dem Gucker, seinem einsilbigen Yes und No der ältesten Nummer der Fliegenden Blätter entstiegen: David Lindsay, John Raffley, Lord Castlepool, David Percy. Dann noch die Nigger Bob und Sam als komische Personen, dazu eine Legion von "niederen dienstbaren Geistern" (Forst-Battaglia).

   Dicht daneben steht der Typ des großtuenden Hasenfußes: Hassan, der Menschenwürger, Abu-el-Hadascht Scharin, Selim Hadschi Sawab, und der Typ des mutigen Maulhelden: schön, gut, tapfer, Quimbo mit der steifen Pantoffelfrisur, und vor allem Hadschi Halef

2Vgl. Viktor Böhm, "Zur Hintergründigkeit des Kriminalromans", in "Die Zeit im Buch", Wien-Salzburg, Heft 10/1954, S. 1 ff.


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Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawud al Gosarah. Von ihm sagt Forst-Battaglia: "Dieser Mythomane mit dem goldenen Herzen ist nicht mehr schablonenhafte Nachahmung wohlbekannter Muster, sondern seelische Wirklichkeit, eine der Emanationen von Karl Mays Ich3."

   Gestalten mit Bezug auf Karl Mays ureigenstes Leben sind auch Old Firehand, Old Surehand und Old Death. Auf sie lud der Autor seine Wünsche, aber auch die Schatten seiner eigenen trüben, schuldbeladenen Vergangenheit. Sie sind Figuren, "die entweder eine Charakterseite oder ein beherrschendes Erlebnis Karl Mays verkörpern. Ist Hadschi Halef der Trieb zur phantasievollen Ausschmückung eines sonst graugrämlichen Daseins und die Sehnsucht nach häuslichem Glück, sind Old Death, Old Firehand Erinnerungen an Erlittenes . . ., so haben wir in dem wahnsinnigen Dichter Ohlert, in dem gutmütig närrischen Kantor aus dem 'Ölprinz', noch mehr aber in den ihrer Heimat entflohenen Vagabunden, wie dem Barbier aus Jüterbogk, dem Staffelsteiner, in Albani Erinnerungen an vielleicht sehr reale Tatsachen aus Karl Mays bewegter Jugend4".

   Ebenfalls außer der überkommenen Schablone stehen die der Natur getreu porträtierten Nebenfiguren: der zerstreute Carpio in "Weihnacht", der urwüchsige Trapper Geierschnabel und der Herkules aus "Satan und Ischariot".

   Mays weibliche Figuren stellen sich durchwegs als Typen vor. Zunächst hehre Idealgestalten: Nscho-tschi, Dunkles Haar, Unica, Schakara, Rosita, das Herzle, Ingdschah, Ribanna, Marba - "alle unbezweifelte litera-

3Forst-Battaglia, a. a. O., S. 44.
4Ders., a. a. O., S. 45.


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rische [literarische] Nachkommen der Indianerinnen Chateaubriands und Coopers5". Dann verklärte Symbole, Hanneh, die Yin, Merhameh. Dann Teufelinnen: Adele Treskow, Josefa Cortejo, Gül-i-Schiraz, Judith Silberstein. Dann tapfere Mannweiber in reiferen Jahren, wie Hannehs Mutter in Bd. 1 und Kolma Puschi in "Old Surehand" und "Winnetous Erben". Dann schmierige Küchenfeen: Mersinah, Madana, Tschileka. Dann Gebieterinnen über hohlköpfig-stolze Pantoffelhelden: die Gattin des Wekil, die des mexikanischen Jurisconsulto in "Satan und Ischariot", Frau Ebersbach im "Ölprinz".

   Zusammenfassend schreibt Forst-Battaglia über die Frauengestalten Karl Mays:

   "Auf eine dieser vier Haupttypen, die jugendliche und meist verfolgte Unschuld, die erfolgreich verfolgende, ebenfalls jugendliche und dämonische Schuld, die spartanische Mutter oder die komische Alte, lassen sich alle weiblichen Insassen von Karl Mays Reich der Phantasie zurückführen6."

   Nach dieser übersichtlichen Vorstellung der Personen, die im engen Anschluß an Forst-Battaglia erfolgte, und die gezeigt hat, wie sehr sich May - von wenigen Ausnahmen abgesehen - an die dem Publikum schon vertrauten und lieben Typen hielt, mögen noch einige beispielhafte Hinweise auf seine literarischen Vorbilder folgen.

   Ein Mann wie Friedrich August Strubbergs Warden kann als Vorbild für Old Firehand gelten, wie auch einige von Strubbergs grotesken Gestalten zweifellos auf Karl May eingewirkt haben. Der erstmals von Cooper erfundene, nachdenkliche, im Schießen unübertreffliche

5Ders., a. a. O., S. 46. Vgl. auch Wolfgang Grothe, "Old Shatterhand und die Frauen", in "Die junge Dame", Berlin, v. 24.2.1942, X. Jg., Nr. 4; ferner Otto Eicke, "Die Frauengestalten Karl Mays", KMJb 1922, S. 55 ff.
6Forst-Battaglia, a. a. O., S. 46.


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Typ des Daniel Boone, der, auf seine lange Büchse gelehnt, den Gang der Ereignisse verfolgt, der fair gegen Freund und Feind ist, ein nie irrender Spurenleser, Jäger und Schwimmer, taucht bei May, phantastisch gesteigert, wieder auf. Der Kriegsname "Wildtöter" mag May bei der Taufe "Old Shatterhands" beeinflußt haben, in Wildtöters Freundschaft zum Mohikanerhäuptling liegt die Freundschaft Old Shatterhands mit Winnetou vorgebildet. Coopers Gestalten Wah-ta-Wah und Magua können als Urbilder Nscho-tschis bzw. Tanguas angesprochen werden.

   Am bedeutungsvollsten erscheint indessen, daß Karl May im Jahre 1879 den Waldläufer Gabriel Ferrys für den Verlag Neugebauer, Stuttgart, umgearbeitet hat7. Im Komantschen Rayon Brulant liegt der Urwinnetou vor, der Mestize Sang-Melé findet sich bei May als "Halbblut", Sir Frederic als Lord Castlepool, der Indianertöter Pedro Diaz als Sansear, der Verräter Cuchillo als Mörder Santer, der Schurke Baraja als Thomas Melton, der Waldläufer selbst als Old Firehand und - der junge Tiburcio ist nahe verwandt mit dem Greenhorn Old Shatterhand. So zeigt sich auch, was die Personen betrifft, einer der Erfolgsgründe Mays darin, daß er altbewährte Muster verwendet.

   Und doch fließen diese Muster aus der Feder Karl Mays als ganz eigentümliche Gestalten, weil sie für den Schriftsteller als Menschen und vorgeblichen Helden von tiefgehender Bedeutung waren.

7Vgl. Kandolf, "Karl May und Gabriel Ferry", KMJb 1933, S. 191 ff. Kandolf weist u. a. darauf hin, daß May dem Waldläufer sogar die "Silberbüchse" verliehen hat.


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Bedeutung der Mitspieler für den Haupthelden


   Diese Bedeutung liegt zunächst darin, "daß sie (die Gestalten) alle in Mays Träumen ihr besonderes Leben geführt und den Dichter beständig umlauert haben müssen, um sich wenigstens in Tintenschrift auf dem weißen Papier zu 'materialisieren'8."

   Mit welch innerer Wahrhaftigkeit und Lebendigkeit Karl May die Geschöpfe seiner Phantasie vor sich sah, geht aus einer Aussage von Frau Klara May hervor:

   "Solange Karl May an einem Kapitel schrieb, arbeitete er Tag und Nacht ohne Unterbrechung daran. Wir haben den ganzen Tag äußerste Stille bewahrt. Oft ist er zwischendurch im Zimmer auf und ab gegangen und hat laut mit seinen Gestalten gesprochen, so daß man glauben konnte, eine ganze Versammlung sei anwesend. Hunger und Durst schien er dabei nicht zu kennen . . . Er selbst stand so tief unter dem Einfluß seiner eigenen Erzählung, daß er beim Vorlesen mitgelacht und mitgeweint hat. Einmal, während er am dritten Band seines 'Silbernen Löwen' schrieb, klagte er mir händeringend: 'Ich bringe es nicht übers Herz, meinen Hadschi Halef sterben zu lassen, es geht über meine Kraft. Ich habe den kleinen Burschen zu lieb, ist er doch ein Teil meines eigenen Ichs9.'"

   So wie der Mensch Karl May seine Gestalten braucht und sie nicht sterben lassen kann, so braucht auch der Held seine Mitspieler: sie müssen seine Eigenschaften aus ihm herausholen, nur im Umgang mit ihnen kann er sich bewähren und heldisch entfalten.

   Die Überlegenheit des Helden über die Masse zeigt sich, indem er einerseits selbst ganze Stämme und Stammesbünde befehligt, andererseits eine Unzahl von Feinden bekämpft und sie, oft mit einem Fingerhut voll List, besiegt10. Er, dem Häuptlinge und Scheiks weichen

8Patsch, "Traumwelt", S. 38.
9Mitgeteilt von Willi Reich, "Karl-May-Wissenschaft", "Neue Freie Presse" v. 7.1.1936.
10Vgl. hierzu Nadler, a. a. O., S. 568: "Man glaubt, in all den vielen Schlachtenplänen seiner Bücher die verdrängten Feldherrngelüste eines jungen Mannes zu spüren, der tatenlos im Gefängnis saß, als sich 1866 und 1870 auf den böhmischen und den französischen Schlachtfeldern das Reich der Deutschen zu formen begann." Besonders eindrucksvoll agiert Kara Ben Nemsi als Feldherr in Bd. 1, S. 398 ff.


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und die Geschicke ihrer Untergebenen anvertrauen, steigt wie ein Deus ex machina hernieder, um die Kämpfe der Völker zum besten aller zu leiten und für eine gesicherte Zukunft zu sorgen, bevor er wieder von dannen reitet.

   Auch im kleineren Kreis beweist sich die Führungskunst des Helden. Lords und Westmänner, Indianer und Araber, Scheiks und gewöhnliche Sterbliche schließen sich wie von selbst unter seiner gruppenbildenden Kraft zu einer Zweckgesellschaft zusammen, um unter seiner Anleitung und Verantwortung alle Gefahren zu bestehen und endlich den Sieg über die Feinde zu erringen11.

   Grimmige und starke Gegner holen das Letzte an Mut und Können aus dem Helden heraus, ersetzen durch Hinterlist oder überlegende Zahl, was er ihnen voraus hat, so daß das Gleichgewicht der Kräfte hergestellt ist und er nur durch Hinauswachsen über sich selbst sie alle niederringen kann.

   Den Geldmännern, etwa Lord Lindsay mit der stehenden Äußerung: "Bezahle gut, yes!", zeigt er Stolz und seinen Glauben an höhere Werte als den Mammon. Er möchte nicht mit ihnen tauschen, und davon ist auch der Leser überzeugt.

   Dem Volksempfinden schmeichelt seine Überlegenheit über die Träger der Amtsgewalt. Wie selbstherrlich

11Oel-Willenborg deutet diese gruppenbildende Kraft als "Autori-tarismus", welcher der Autoritätsgläubigkeit der Untertanen entspricht. (A. a. O., S. 142.)


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springt Karl May, der in seinem Leben vor dem Stirnrunzeln jedes Aufsehers zittern mußte und noch im Alter vor jedem Wachmann stramm stand, in seinen Werken um mit Indianerhäuptlingen und Alkalden, mit Operettengeneralen und Paschas, mit Kurdenfürsten und chinesischen Mandarinen. Ergötzlich zu lesen, wenn ein Pascha zornentbrannt über Kara Ben Nemsis "Schandtaten" erzählt, ahnungslos, daß ihm dieser Mann als Zuhörer gegenübersitzt! Und dann gelingt es dem Unerkannten sogar, den widerstrebenden Pascha für seine Pläne zu gewinnen, indem er ihm mit ungeschminkter Beschreibung in seinen Büchern droht, einen Zahn zieht und Schaumwein braut11a. Eine Stelle, an der jugendliche Leser vor Freude in die Hände klatschen. Und hat nicht auch von Erwachsenen fast jeder einen mißliebigen Vorgesetzten, dem er ein gleiches Schicksal wünscht und auf den er im Innersten seiner Seele diese und ähnliche Szenen überträgt?

   Doch wieder zurück zur Bedeutung der Mitspieler für den Helden! Oft braucht er sie wie der Lehrer seine Schüler, um ihnen seine Schlüsse kundzutun und ihnen seine Aufmerksamkeit auch für das Kleinste und Unauffälligste in Natur und Menschenwelt zu beweisen. Manchmal tritt der Held zurück, um den Freunden und Gehilfen die Möglichkeit zu geben, ihre eigenen Kräfte zu erproben. "Er tut das nur ungern, weil er gewohnt ist, alle Gefahren auf sich zu nehmen, tut es nur aus erzieherischen Gründen, um den jungen Kräften eine Anerkennung, einen Ansporn und doch auch die Überzeugung ihrer Unzulänglichkeit zu geben12. In der Tat stellt sich dann auch heraus, daß der Zögling seine Kräfte

11aBd. 1, S. 510 ff.
12Gurlitt, a. a. O., S. 133.


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überschätzt, die Widerstände unterschätzt hat: der Held muß die Sache wieder in Ordnung bringen und erstrahlt nur in um so hellerem Licht. Selbst die schwierigsten Fragen weiß der Held zu beantworten. Dabei wirken seine Auskünfte oft, als wären sie von einem braven Schüler zu diesem Zwecke auswendig gelernt worden.

   In die ausgesprochenen Jugendschriften nahm Karl May "jugendliche Helden" auf, denn "solche dem Knabenalter kaum entwachsene Helden sind es vor allem, die der Jugend Hochachtung einflößen, und ihnen sucht sie nachzustreben13". So finden sich im Band "Unter Geiern" Bloody Fox, Martin Baumann, der Sohn des Bärenjägers und Wokadeh, der junge Mandane; im "Schatz im Silbersee" der "kleine Bär", im "Ölprinz" Schi-so, im "Vermächtnis des Inka" Haukaropora und Anton Engelhardt, im "Blauroten Methusalem" Richard Stein, in der "Sklavenkarawane" Abd es Sirr und Ben Wasa.

   Auch an Erwachsenen bewährt der Held seine erzieherischen Absichten. Er läßt sich von Murad-Nassyr, der in seine Hände gefallen ist, geloben, mit dem Sklavenhandel zu brechen, und Nassyr hält sein Wort. Oder der Held legt dem Wirt von Khoi, der sich durch den Trunk um Glück und Vermögen gebracht hat, eindringlich ans Herz, vom Branntwein zu lassen, und auch hier wird das Versprechen gehalten14.

   Im allgemeinen sind die Freunde und Anhänger des Helden zu bedauern. So lange alles gut geht, sind sie stille Personen, die den großen Eigenschaften des Helden zu Unterlagen dienen. Beim Kampf werden sie ge-

13Adolf Wagner (16 J.), "Wir Jungen und Karl May", KMJb 1919, S. 352.
14Vgl. Wulffen, "Der Läuterungsgedanke bei Karl May", KMJb 1923, S. 109 ff.


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fesselt, erwarten den Tod und müssen sich vom Helden retten lassen. Möchten sie selbst ihre Feinde umbringen, so hindert sie der Held daran.

   Eine andere Gruppe von Mitspielern hat die Aufgabe, Bewunderer des Helden zu sein und gleichzeitig die Gefühle der ehrfürchtigen Leser auszudrücken, z. B. Rost in "Weihnacht". Eine besondere Stellung unter ihnen nimmt Hadschi Halef Omar, der Ruhmesredner, ein. Nicht umsonst ist er der Liebling aller May-Leser, und jeder von ihnen hat wohl einmal den langen Bandwurmnamen des kleinen Hadschi auswendig gelernt. Daß sich auch sein geistiger Vater selbst nicht von ihm trennen konnte, wurde schon dargestellt.

   Hadschi Halef ist dem Schriftsteller in langer Entwicklungszeit ans Herz gewachsen. Das muß wenigstens in Kürze gezeigt werden, denn nur dadurch wird die Durchschlagskraft dieses lieben Aufschneiders ganz verständlich15. Als 1878 im Deutschen Hausschatz "Die Gum" erschien, trat in ihr ein arabischer Diener namens Hassan auf, feig, ein eingefleischter Moslem, dennoch Liebling des "Wassers der Vorsehung". Aus seiner Ruhmredigkeit und Prahlsucht heraus hängt er an seinen einfachen Namen den ganzen Stammbaum. 1879 erscheint in "Zepter und Hammer" der kleine, witzige, tapfere Sawab. Beider Eigenschaften wurden 1881 in Halef vereinigt. Von Hassan ist die Ruhmrederei, die Prahlsucht und der Fanatismus in Glaubenssachen auf ihn gekommen, von Sawab die Gestalt, die Schlauheit, Tapferkeit, Lebhaftigkeit und der Witz. Und dieser arme Bedawi, dessen Burnus bei seiner ersten Vorstellung in Bd. 1 "in allen möglichen Fett- und Schmutznuancen

15Vgl. Kandolf, "Von Hassan el Kebihr bis Hadschi Halef Omar", KMJb 1926, S. 357 ff.



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schimmerte", was ist unter der Führung Kara Ben Nemsis aus ihm geworden! "Der fanatische Muselmann, der es sich in den Kopf gesetzt hat, seinen Sihdi zu bekehren, er möge wollen oder nicht, und der rauhe Sohn der Wüste, in dessen Augen ein Tuareg-Hedjihn mehr gilt als ein ermordeter Franzose (Bd. 1, S. 14), macht den Weg zu einem überzeugten Christen. Rührend ist seine Anhänglichkeit zu seinem Sihdi, vorbildlich seine Treue gegen sein Weib, mustergültig seine Liebe zu seinem Sohn. Nur das Aufschneiden und sein hitziges Wesen kann er nicht lassen, sie sind zu seinem zweiten Selbst geworden16."

Hadschi Halef hat über das Aufschneiden ganz eigene Ansichten:

"Ich, der Besitzer eines einzigen Kindes, sage, daß ich zehn Knaben und zwanzig Mädchen habe; ich behaupte, 96 Zähne zu besitzen, und das ist keine Lüge, denn ich weiß ja, daß man mir wenigstens drei Viertel davon abziehen wird17."

Der Held selbst berichtet von Halef:

"Daß er am meisten beitrug, meinen Ruhm zu verbreiten, das versteht sich ganz von selbst; er war ganz und gar in das schmachvolle Laster des weiland Barons Münchhausen senior verfallen und versuchte nebenbei, durch eine Grobheit zu glänzen, welche klassisch zu werden drohte18."

Karl May war von dem kleinen Kerl so begeistert, daß er einmal unter der Arbeit zu seiner Frau in die Küche lief: "Höre, liebe Frau, was mein Halef wieder angestellt hat! Das muß ich dir vorlesen!"

In Hadschi Halef erleben Sancho Pansa und Till Eulenspiegel ihre Auferstehung. Für den Ablauf der Erzählung ist der lustige Hadschi sogar noch höher einzuschätzen als Winnetou, denn er gibt durch seine Vorei-

16Kandolf, a. a. O., S. 364.
17Bd. 26, S. 290.
18Bd. 1, S. 85.


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ligkeit [Voreiligkeit] und Unüberlegtheit den Ereignissen im kritischen Augenblick stets eine neue Wendung und setzt zwar seinen Herrn und Gebieter in Verlegenheit, gibt ihm aber damit auch die Gelegenheit zu immer neuen, verblüffenden Heldentaten.

Die alle anderen überragende Gestalt Karl Mays ist Winnetou, der einzige, der dem Helden wirklich ebenbürtig ist, mit dem ihn Freundschaft, ja Blutsbruderschaft verbindet. Der Häuptling der Apatschen ist die verkörperte Sehnsucht Karl Mays nach einem leiblichen Bruder19. Verfolgt man sein allmähliches Werden und Reifen im Werke Mays, so fühlt man förmlich, wie dem Verfasser diese Gestalt, unterstützt von der Liebe seiner Leser, allmählich ans Herz wächst, und wie also "der Dichter und das Volk gleicherweise an ihr mitgedichtet haben, der eine mit seiner Phantasie, das andere mit seinem sicheren Instinkt und mit seinem Herzen20".

   Jene weiß-rote Freundschaft zwischen Winnetou und Old Shatterhand ist in der Freundschaft des großen Pfadfinders und Pioniers Daniel Boone mit Chingachgook einer-, Unkas andererseits vorgebildet. Der "Urwinnetou" Karl Mays liegt in der Gestalt Innu-wohs, des Sioux-Häuptlings vor21. Er ist bester Schwimmer der Staaten, ein Mann von Edelmut und Indianerstolz. In "Old Firehand", jetzt Winnetou II, S. 393 ff., bezeichnet May Winnetou als "den berühmtesten und gefürchtetsten Indianer zwischen Sonora und Columbien", er ist ein tapferer Held, ein Freund der Bleichgesichter und der Mittelpunkt einer romantischen Liebesgeschichte,

19Vgl. Patsch, "Traumwelt", S. 33.
20Gerhard Haug, "Old Shatterhands und Winnetous Vorbilder", "Neue Augsburger Zeitung" v. 10.4.1942.
21Kandolf, "Der werdende Winnetou", KMJb 1921, S. 336 ff. Vgl. auch Werner Poppe: "'Winnetou'. Ein Name und seine Quellen." JbKMG 1972/73, S. 248 ff.


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und doch läßt er die Herzen der Leser kalt. Er tritt als Karl Mays Lehrer auf, wird als bejahrter Indianer geschildert, ist zu sehr Indianer: Wilder. Er raucht eine Zigarre und läßt den Stummel zwischen den Lippen verschwinden, verliert vor dem Feuerroß die berühmte indianische Selbstbeherrschung, rühmt sich der Skalpe an den Wänden seines Wigwams und an seinem Gürtel, taucht sein Messer mit Wonne in die Brust seiner Feinde. In der nächsten Erzählung "Deadly Dust", jetzt "Winnetou" III, Kap. 1-4, wird sein Gesamtbild schon bedeutend anziehender geschildert:

   "Er war der hervorragendste unter allen Indianern. Sein Name lebte in jedem Palaste, in jeder Blockhütte, an jedem Lagerfeuer. Gerecht, klug, ehrlich, treu, stolz, tapfer bis zur Verwegenheit, Meister im Gebrauche aller Waffen, ohne Falsch, ein Freund und Beschützer aller Hilfsbedürftigen, gleichviel, ob sie rot oder weiß von Farbe waren."

   Doch sind ihm auch noch abschreckende Züge eigen. Seine starke Brust ist von zahlreichen Narben bedeckt, sein Gewand mit Skalplocken geschmückt, das Gesicht mit Kriegsfarben bemalt, er taucht den Medizinbeutel in das Blut des getöteten Grizzlybären (Winnetou III, S. 188), will das Grab des Komantschenhäuptlings zerstören und dessen Gebeine in alle Winde zerstreuen (Winnetou III, S. 175), ganz im Gegensatz zu seinen späteren Worten im Band "Unter Geiern":

   "Halt! Laßt die Hand von dem Grabe . . .! Ein tapferer Krieger kämpft nicht mit den Knochen der Toten. Der große Geist will, daß die Toten ruhen, und Winnetou wird das Grab beschützen. Howgh!"

   Vorläufig übt Winnetou noch in eigener Person das Henkeramt aus (Winnetou III, S. 167), die Freundschaft mit Old Shatterhand ist lose, sie nehmen Abschied fürs ganze Leben.

   Doch ab 1887 ist der Indianer nicht mehr der "Wilde", sondern Rothaut, Indsman:



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   "Aus dem unbarmherzigen, kategorischen 'Entweder ich oder du' ist das feierliche, versöhnliche 'Weder ich noch du' geworden22."

   In der neuen Winnetou-Erzählung "Der Scout"; jetzt "Winnetou" II, Kap. 1-4, schließt der Apatschenhäuptling mit Old Shatterhand Freundschaft fürs ganze Leben, "Winnetou, der rote Gentleman", wie er genannt wird, spricht fließend Englisch, ist mit der Zivilisation vertraut, besitzt glänzendes Rednertalent23. Doch gehen seine Kämpfe immer noch blutig aus, er sucht noch nicht den unblutigen und trotzdem ehrenvollen Ausweg. Seine Freundschaft zu Old Shatterhand ist noch ziemlich kühl, er läßt ihn aus dem Sattel des indianischen Rassehengstes fliegen.

   Erst im "Winnetou" I und in "Weihnacht24" erscheint er als der Edelmensch, von dem Mahrholz schreiben konnte:

   "In 'Winnetou' hat Karl May einen geradezu idealen Vertreter der roten Rasse geschaffen und mit dieser Gestalt die Indianerromantik zum Abschluß gebracht25."

   Winnetou ist, noch einmal sei es gesagt, die Verkörperung der Sehnsucht Karl Mays und der Sehnsüchte seiner Leser, wie sie in tausend Briefen zum Ausdruck kam. Nur von daher wird die zwingende Macht begreiflich, die der edle Häuptling der Apatschen auch heute noch auf das Leserpublikum ausübt. Bei der Neubearbeitung der Bände wurde die Einheitlichkeit der Zeichnung Winnetous hergestellt: kein barbarischer Zug der Reifezeit trübt nunmehr sein erhabenes Bild26.

22Kandolf, "Der werdende Winnetou", KMJb 1921, S. 347.
23Vgl. Winnetou II, S. 348.
24Vgl. die Schilderung Winnetous in Bd. 24, S. 276 ff.
25Werner Mahrholz, KMJb 1927, S. 16.
26Zur Verehrung Winnetous durch die Leser ein Beispiel: Thea von Harbou gesteht, Winnetou sei ihre erste große Liebe gewesen und


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In dem Paar Winnetou-Old Shatterhand hat Karl May das Hohelied der Männerfreundschaft gestaltet, wie es das Volk ersehnt und die Jugend nachvollzieht, eine Freundschaft, die so tief im Herzen verankert ist, daß Worte zwischen den beiden überflüssig werden:

   "Die Seele lebt im Blute. Die Seelen dieser beiden jungen Krieger mögen ineinander übergehen, daß sie eine einzige Seele bilden. Was Old Shatterhand dann denkt, das sei auch Winnetous Gedanke, und was Winnetou will, das sei auch der Wille Old Shatterhands27."

   Im Zusammenhang mit den menschlichen Mitspielern sei auch der Bedeutung der Tiere gedacht. Jaguar, Grizzly, Löwe, Krokodil, Tiger, aber auch Pferde und Hunde: der Held braucht sie zur Bestätigung seines Mutes und seiner Energie. Dabei ist May ein Prediger der Tierliebe, sie ist ihm ein Zeichen guten Menschentums. 1872 erschien die Verordnung über das Yellowstone-Gebiet als Nationalpark, und 1883 wird diese Verordnung "Im wilden Westen Nordamerikas" von May zitiert, erscheint jetzt dem 5. Kapitel von "Winnetou" III vorangesetzt. Er ist empört über die Bisonschlächterei28 und versäumt es nie, verwundeten Tieren den Gnadenschuß zu geben.

   Wie sehr diese Tierliebe aus Karl May auf die Leser übergegangen ist, beweisen Tierbenennungen nach des Schriftstellers Menschen und Tieren. So gab es im Karl-May-Verlag einen Verlagshund namens Hadschi Halef, auch im "Wiener Kurier" v. 24.4.1950 wird von einem Hund dieses Namens berichtet. Die "Welt am

das große W der Kassiopeia sein Symbol. ("Meine erste Liebe", KMJb 1927, S. 496.)
27Worte Intschu tschunas während der Verbrüderungszeremonie, Winnetou I, S. 417.
28Vgl. "Old Surehand" II, S. 427.



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Montag" v. 30.5.1949, S. 10, nennt, um noch ein Beispiel von vielen zu erwähnen, ein Rennpferd "Winnetou".

   Auch die Freunde Mays selbst legen sich im Scherz untereinander Bezeichnungen aus Karl-May-Büchern zu und schreiben indianische Briefe29. Die Familie des Karl-May-Verlegers, die "Schmiddedihn", wohnten in "Maykka", der Bevollmächtigte des Karl-May-Verlages für Österreich wurde im Freundeskreis als der "A-Patsch-e" bezeichnet. Carl Zuckmayer ließ sein Töchterchen mit dem Namen "Winnetou" eintragen. Selbstverständlich ist es bei den Karl-May-Spielen der Knaben eine hohe Ehre, Old Shatterhand oder Winnetou sein zu dürfen. Walter von Molo berichtet in seinen "Kindheitserinnerungen" über den Geschmack von seinesgleichen:

   "Old Firehand war uns zu alt, der schoß immer nur tot, wir waren mehr dafür, mit der eisenharten Faust durch einen Kopfschlag zu töten30."

Charakteristik durch Polarisation


Wie läßt sich die Liebe der Leser zu den Figuren erklären? Bisher wurde dargestellt, daß sie von May nach altbewährtem Muster geschaffen wurden und daß sie dem Haupthelden zur Verherrlichung dienen. Vielleicht liebt der Junge die Gestalten Mays auch deshalb, weil sie der introvertierten Phase seiner Entwicklung entsprechen:

   "Sind nicht alle, die hervorragen in den 'Reiseerzählungen', Sonderlinge? Ausgesondert aus dem Kulturbereich, in heiliger Wildnis ihr Ziel suchend und findend31?"

   Die Gestalten Karl Mays zeigen weiterhin in ihrem

29Vgl. KMJb 1927, S. 404.
30Abdruck in "Berliner Illustrierte Zeitung" v. 23.12.1928.
31Joseph Hock, "Sonderlinge", KMJb 1931, S. 443.


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Verhalten große Ähnlichkeit mit dem von Jugendlichen, und ihre Kämpfe haben durchaus den Anstrich einer Rauferei von Kindern mit den Waffen Erwachsener. Ein starker Vereinfachungstrieb scheidet sie in zwei Lager, in Gute und Böse: "Diese Vereinfachung ist es, die dem Dichter das rasche Verständnis, die drangvolle Anteilnahme seiner Leser sichert32." Der naive Mensch liebt die Schematik der Figuren33, sie entspricht seiner Vorstellung von der Ordnung im Weltganzen, er scheidet primitiv den Guten und den Bösen, den Traurigen und den Lustigen. Karl May verfährt nach dem Stilgesetz des Gegensatzes, wie man es auch im Märchen findet. Die Charaktere erscheinen einfach und typisiert, als Extreme aufgefaßt und aufeinander in gegensätzlicher Beziehung gedacht.

   Diese Polarisation ergibt die einfachste Charakteristik, die denkbar ist. Wird nämlich eine Person in ihrem schroffsten Gegensatz zu einer anderen gekennzeichnet, so erscheint auf die wirksamste und verständlichste Weise die Eigenschaft hervorgehoben, auf die es ankommt. Diese Erfolgstechnik Mays wird von der Ent-

32Finke, "Karl Mays Schreibart", KMJb 1924, S. 268.
33Vgl. hierzu Müller-Freienfels, a. a. O., Bd. I, S. 215: "Der naive Leser liebt darum solche Werke, wo reinlich zwischen Engeln und Teufeln geschieden ist. Er weiß dann genau und bequem, mit wem er zu sympathisieren hat. Charaktere, die aus guten und schlechten Elementen zusammengesetzt sind, mag er nicht. Hier wird seine Sympathie oder seine Antipathie nicht stark genug angesprochen. Denn auch die Antipathie spielt im Kunstgenießen naiver Menschen eine große Rolle, und sie wird zum Genuß, wenn die 'antipathischen' Figuren nur am Schluß bestraft werden und die sympathischen triumphieren. Daher geht es in allen Hintertreppenromanen auch den Bösen am Schluß gewaltig übel, und der Leser hat auch schon vorher, so schlecht es den sympathischen Helden ergehen mag, doch stets im Hintergrund das beruhigende Gefühl: zuletzt siegt doch die Tugend!"


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wicklungspsychologie [Entwicklungspsychologie] her bestätigt: Charlotte Bühler weist darauf hin,

   "daß das Kind nur bei der schärfsten Betonung durch den Gegensatz zu genügender Beachtung einer Eigenschaft gezwungen wird, während es nicht fähig ist, dieselbe aus einer komplizierten Charakteristik herauszuabstrahieren34".

   Durch die Anwendung der Polarisationstechnik erscheint wie im Film eine Eigenschaft auf Kosten aller anderen übersteigert, "so daß dann Mensch und Tugend oder Laster, Schrulle oder Heldentat identisch werden35". Dadurch gewinnen die Gestalten den Reiz von Plakaten, die, ebenfalls im Dienste der Wirksamkeit, auf Nebensächliches verzichten und nur die eine Seite einer Person oder eines Dinges herausstellen, auf die es dem Zeichner ankommt.

   Man kann Karl May vorhalten, man vernehme überall das Rascheln der Schnüre, an denen die so unterhaltenden Gliederpuppen zappeln. Statt Entwicklung, innerem Ringen, seelischen Wehen gibt May fertige, flächige Schatten, allerdings unheimlich überlebensgroß und gespenstisch-unwirklich36. Dieser Vorwurf, verbunden mit der Forderung nach psychologischer Tiefe, aus der sich die Komplikation der Handlung ergeben soll, wurzelt in der psychologischen Einstellung einer schon überwundenen Epoche, ist an sich ungerechtfertigt und im Jugend- und Volksbuch fehl am Platz:

   "Derartige komplizierte und fein verschlungene Kombinationen erfreuen den Erwachsenen und bilden den wertvollsten

34"Das Märchen und die Phantasie des Kindes", S. 14.
35Forst-Battaglia, a. a. O., S. 75.
36Reizvoll wäre es, die Gestalten Mays mit den "Archetypen" C. G. Jungs in Beziehung zu bringen. Vgl. z.B. die entsprechenden Kapitel bei Dr. Jolan Jacobi, "Die Psychologie von C. G. Jung", 3. Aufl., 1949, Rascher-Verlag, Zürich. Soweit die Fußnote der 1. Auflage. Inzwischen wurde diese Anregung in der Dissertation von Ingrid Bröning verwirklicht.


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Bestand in dessen Literatur. Dem Kinde dagegen (und dem Volke, wäre sinngemäß zu ergänzen) sind sie unzugänglich. Es ermangelt sowohl der nötigen Kombinations- wie auch der Abstraktionsfähigkeit, um aus den Handlungen mannigfache Eigenschaften zu entnehmen. Ferner besitzt es noch gar nicht die Kenntnis dieser Eigenschaften. Und schließlich könnte es niemals dem dadurch komplizierten Verlauf der Handlung folgen, vielmehr vermag es nur der allereinfachsten, in der Konsequenz einer Eigenschaft liegenden Entwicklung nachzugehen37."

   Für die Kinder existiert ein seelisches Problem noch nicht. Der Charakter hat Bedeutung nicht um seiner selbst, sondern um der Handlung willen, die von ihm ausgeht. Dieser Tatsache wird Karl May gerecht. Seine Gestalten werden mittelbar vom Helden, unmittelbar von der Handlung her bestimmt. Sie sind Typen und bleiben als solche konstante Größen, damit durch ihre Veränderung keine Störung der Handlungskonstruktion eintritt. Versteht man Karl Mays Schaffen als Traumhandlung, dann wird dies klar: Viele seiner Gestalten gingen aus innerer Bedrängnis hervor, sind die Verkörperung drohender Gefühle, die sich dem gewöhnlichen Menschen als Schemen vorstellen, von May zu Typen verarbeitet wurden38.

   Aus diesem inneren Erlebnis heraus gewinnen die Gestalten trotz ihrer Typik eine gewisse Lebendigkeit. Ein Blick auf die seinerzeitige "Konkurrenz" Karl Mays zeigt: Jules Vernes Lords und Misters liegen dem Empfinden der Jungen viel ferner als Indianerhäuptlinge und Trapper, sie sind nur aufs Technische gerichtet, ohne Naturverbundenheit; auch Gerstäckers Gestalten bleiben im Buch stecken; bei May aber werden sie trotz ihrer Schematik zu Freunden, die oft mit der Person des Le-

37Bühler, "Märchen", S. 15.
38Vgl. hierzu auch Stolte, a. a. O., S. 118.


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sers [Lesers] verschmelzen. Die Wiedersehensfreude mit den gleichen oder ähnlichen Personen bildet eine der Hauptanregungen zum Weiterlesen durch die grünen Bände.

   Auch in der Art der Charakteristik der einzelnen Figuren kommt der Schriftsteller den Bedürfnissen des naiven Lesers entgegen. Ihn interessieren vor allem ein merkwürdiges Gehaben und ein merkwürdiges Äußeres der Personen39. Man vergleiche daraufhin Halefs Beschreibung in Bd. 1, S. 1. Durch Wiederholung einfacher Eigentümlichkeiten werden die Gestalten gekennzeichnet, etwa durch stehende Redewendungen, wie Davy und Jemmy, Methusalem, Aardappelenbosch oder Sam Hawkens. Im allgemeinen beginnt die Charakterisierung mit der Beschreibung des Äußeren der Figuren, dann wird durch ihre Rede der Geist gezeichnet. Oft wird lächerliches, natürliches Aussehen durch groteske Kleidung verstärkt. Darüber mehr bei Behandlung von Karl Mays Komik.

   Carl Zuckmayer faßt die Bedeutung der Mayschen Gestalten für den Leser in seinem "Palaver" trefflich zusammen, und so sei dieses Kapitel mit seinen Worten geschlossen. Der Dichter schreibt:

   "Karl Mays Gestalten begleiten uns wahrhaftig durchs Leben, als hätten wir mit ihnen gelebt; sie sind keine Schatten für uns, sondern Wirklichkeiten, wir werden sie nie vergessen, und sie werden uns immer treu bleiben.

   Ich denke nicht nur an die großen, heldischen Gestalten, wie Winnetou, Old Shatterhand, Mohammed Emin, Old Firehand, Behluwan Bey -, sondern auch an die ungeheure Fülle der lustigen, humorigen, sonderbaren, verkauzten, komischen, schicksalhaften, tragischen und lächerlichen Figuren, die eine ganze Welt bevölkern können: da ist das unzertrennliche Kleeblatt Sam Hawkens, Dick Stone und Will Parker, - dieser Sam Hawkens mit dem skalpierten Schädel und dem künstlichen

39Vgl. Bühler, "Märchen", S. 23.


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Fell, mit der verbogenen Büchse Liddie, aus der kein Schuß danebengeht, und dem unbeschreiblichen Jagdrock, der steif auf der Erde stehenbleibt, wenn man ihn draufstellt, mit seinem Maultier Mary, an der er mehr hängt als an seinem eigenen Leben, und mit seinen riesigen Mokassins unter den säbelkrummen Beinen - wer denkt nicht mit einem tiefen Schauer an die Stelle im zweiten Band Winnetou, nach dem Kampf um Old Firehands Versteck, wo der alte Hawkens, einsam geworden, berichtet: Dick Stone - ausgelöscht, Will Parker - ausgelöscht, Old Firehand - ausgelöscht, - und wer erinnert sich dann nicht wie einer Erlösung des Jubels, wenn dann Old Firehand, der alte Jäger, trotz Tomahawkhiebes und trotz der Kugel in seiner Brust noch lebt?! Oder der unheimlich komische, schicksalumwitterte Old Death, der alte Tod, - oder Murad Nassyr, der dicke Türke im Lande des Mahdi, oder Selim, der Schleuderer der Knochen, oder Krüger Bei mit seinem unmöglichen Deutsch, oder der Kantor emeritus Matthäus Aurelius Hampel aus Klotsche bei Dresden, oder der Doktor Morgenstern mit seinem Megaterium, - oder aber Haukaropora, der Urenkel der Inkas, schön, stolz und einsam, - oder Kolma Puschi, die geheimnisvolle Rächerin, oder Apanatschka, der Halbbruder Old Surehands vom Stamme der Comantschen, oder Abu Hamsah Miah, der Vater der Fünfhundert, der gleich jedem Fremdling als Begrüßung die Bastonnade geben läßt? Durchgehend aber durch alle diese Welten der Fährnisse und Abenteuer, der Kämpfe, Niederlagen und Siege, die eine große Gestalt, der Führer auf allen Pfaden, der Retter und Helfer aus jeder Not, der Effendi, der Westläufer Old Shatterhand, der Mann Karl May."




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