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DIE HANDLUNG



Die Motive


Mit Schauplatz und Mitspielern hat der Autor seinem Helden die Voraussetzungen geschaffen, die er zur Entfaltung seiner Tüchtigkeit im Handeln braucht: damit hat er die Möglichkeit, recht viel und Bemerkenswertes zu erleben und am Schluß mit Ruhm und Glück gekrönt zu werden.

   Karl May schreibt über seine Vorlagen:

   "Ich brauchte nicht mühsam nach Sujets zu suchen, ich hatte mir ja reichhaltige Verzeichnisse von ihnen angelegt, in die ich nur zu greifen brauchte, um sofort zu finden, was ich suchte1."

   Trotz dieser Reichhaltigkeit konnte Forst-Battaglia darauf hinweisen2, daß sich die Situationen von Buch zu Buch wiederholen: Belauschen, was die Gegner planen (sie sprechen stets vom Weg, von ihrer Stärke, von Anschlägen, ängstlich behüteten Geheimnissen); Beschleichen, Überfallen, Zubodenschlagen, Fesseln; Sprengen der Fesseln; Faustschlag, Reiten, Wunderschüsse aus Henrystutzen und Bärentöter, Verblüffung; kreuzbrave Westmänner und Muselmanen werden als Deutsche erkannt, ein deutsches Lied erklingt in der Ferne; der Held kämpft ums Leben; Pferde und Waffen werden gestohlen und wieder zur Seite gebracht; der Held, Inbegriff aller ritterlichen Tugenden und Listen, wird für ein Greenhorn gehalten, für einen Schwächling, bis er zum Schrecken der Bösewichte und zur Freude der Guten sein Inkognito lüftet; Wilde oder Halbwilde äffen die



1Bd. 34, S. 465.
2Forst-Battaglia, a. a. O., S. 37 ff.



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Strammheit preußischer Wachtparaden nach; Duodeztyrannen wüten gegen ihre nachlässigen Untergebenen, gutmütige Hausdrachen wühlen im Schmutz; der auch in allen metaphorischen Sätteln gerechte Held wird durch eine Femme savante geprüft, die zugleich Précieuse ridicule ist; Aufschneider fliehen im Moment der Gefahr, mehr oder weniger gutmütige Wilde stellen ihre Freßgier zur Schau; verlorene Kinder werden wiedergefunden3, Geheimbünde werden entdeckt, deren Mitglieder einander am Paßwort und an einem unscheinbaren Abzeichen erkennen4; der Held oder sonstige sympathische Gestalten werden in eine Höhle, ein unterirdisches Verlies, ein Bergwerk eingesperrt, aus dem sie dann auf eine schier wunderbare Art entfliehen5; Eisenbahnüberfälle; Entlarvung von gaunerischen Advokaten, Agenten und Handlungsgehilfen; die Macht der Musik über einfache Gemüter; der böse Stiefvater und die engelsgute Stieftochter.

   Dann die als Wunschmotiv gepredigte und gewünschte Lehre der Wiedervergeltung schon hier auf Erden: furchtbarer Tod der Sünder, Gotteslästerer und Gottesleugner; Hilfe in höchster Not, wenn sich ein Un-



3"Zepter und Hammer", "Waldröschen", "Unter Geiern", "Old Surehand", "Liebe des Ulanen", "Weg zum Glück", "Deutsche Herzen und Helden"; Bleichsteiner wies gesprächsweise daraufhin, daß dieses Motiv seinerzeit in der Kolportage immer wiederkehrte.
4Die Bande Abrahim Mamurs und des Schut, die chinesischen Geheimgesellschaften im "Blauroten Methusalem" und in Bd. 30, die Stakemen und die Ku-Klux-Men in "Winnetou", die Sahararäuber samt ihrer "Anaia", die Sillan "Im Reiche des silbernen Löwen". Geheimbünde - Einfluß der Freimaurerei - spielten im Trivialroman des 18. Jahrhunderts eine große Rolle. Vgl. die Einleitung bei Thalmann, "Der Trivialroman des 18. Jahrhunderts und der romantische Roman", Berlin, 1923.
5Bd. 3; 5; 6; 20/22; "Waldröschen", "Der Waldschwarze", "Im Reiche des silbernen Löwen", "Im Lande des Mahdi", "Der verlorene Sohn", "Die Liebe des Ulanen", "Die Juweleninsel".



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gläubiger [Ungläubiger] oder Irrgläubiger zum Christentum bekehrt; Überwindung der rohen Gewalt durch die edlen Zwecken gehorsame Klugheit - speziell, wenn ein grausamer Feind das friedliche Fest von Edelmenschen stören will6; schließlich die in einer Ehe versinnbildlichte Verbindung der europäischen mit exotischer Kultur.

   Stolte hat aus Bd. 7 eine lange Reihe von Motiven zusammengestellt7, die May durch Abwandlung, Umkehrung, Verdoppelung und Motivhäufung immer neu belebt:

   "So können auf derselben Tonleiter immer neue Folgen gespielt werden, die Melodie ist unendlich, sie setzt sich durch 64 und mehr umfangreiche Bände hindurch fort8."

   Stolte weist darüber hinaus auf die Tatsache hin, "daß es auch bei May Motive gibt, die man nur als Sprachgebärde erklären kann, aus denen also in einer neuen Weise hervorgeht, wie dieser Dichter in seinem Schaffen eigentlich nur die unbewußten, sich gleichsam von selbst vollziehenden Vorgänge der Volksdichtung auf der Ebene des Schriftstellerischen wiederholt9."

   Für die Umsetzung der Sprachgebärde in Handlung ein Beispiel: Wie oft hat man von einem jugendlichen Renommierhelden gehört, der etwa seinen Kameraden gegenüber prahlte: "Dich hau' ich mit einer Hand um die Erde!" Dieser aufschneiderische Spruch erscheint bei Karl May handlungsmäßig verwirklicht im Motiv des Jagdhiebes.

   Darin liegt eines der entscheidenden Erfolgsgeheimnisse Karl Mays: er war aus seiner menschlichen Not heraus andauernd auf der Suche nach Beweisen der Le-



6Bde. 2; 24; 28/29; 30.
7Stolte, a. a. O., S. 113. Die hier angeführten Motive konnten von Kainz, a. a. O., S. 160 ff., noch ergänzt werden. Vgl. auch Adolf von Grolman, "Karl May?" in "Die schöne Literatur", 12/1930, und Gurlitt, a. a. O., S. 132.
8Stolte, a. a. O., S. 115.
9Stolte, a. a. O., S. 110.



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bensmeisterung [Lebensmeisterung], und zwar in Gedanken, im Wunsch, im Traum, und seine Phantasie lieferte ihm diese Beweise sehr effektvoll, so daß er sie zu wirksamen eagiert. Der Schreibprozeß wird Ersatz für tatsächliche Lebensmeisterung, zur Flucht in die Phantasie. Damit schafft er den Lesern, die zwar den gleichen Hang, aber zu wenig Phantasie haben, Modelle zur Kompensierung ihrer gefühlten Minderwertigkeit. Hier mag Gefahr für manche Leser bestehen, die sich damit begnügen, daß der Held Karl Mays ohnedies und im Übermaß bewältigt hat, was der Leser in seinem Pflichtenkreis bewältigen sollte.



Stillung von Erlebnishunger, Wissensdurst und Sehnsucht nach der Jugend


Für die Jugendlichen ist ein wichtiges Lesemotiv die Sättigung des Erlebnishungers, ein anderes die Erweiterung der Merkwelt durch die Phantasie.

   Über den Erlebnishunger schreibt Walter Hofmann:

   "Im Jugendlichen tritt dieser Drang mit elementarer Gewalt auf, und zwar in einer Richtung, die sicher wieder mit dem Tätigkeitsdrang unverdorbener Jugend im Zusammenhang steht. Weil das moderne Leben diesem Tätigkeitsdrang in Wirklichkeit so wenig Spielraum läßt, da der Lebens- und Bewegungsraum der Jugendlichen so eingeengt ist, so flüchtet er in der Phantasie in die Fernen des Raumes und der Zeit, um hier mit tapferen und kühnen Gesellen das freiere und weitere Leben zu führen, das in Wirklichkeit zu führen ihm versagt ist. Jeder Jugendfreund kennt diese Strebungen als den Stoffhunger des Jugendlichen und als die Abenteuerlust des Jugendlichen - die unverwüstlichen seelischen Voraussetzungen der Indianer-Literatur10."



10Walter Hofmann, "Buch und Volk", Löwe, Köln, 1951, S. 250. Vgl. ferner Rose v. Aichberger, "Kind und Buch", KMJb 1923, S. 87, die von einer "Sehnsucht nach 'Ferien vom Ich' spricht, und M. Brethfeld, "Zur Theorie und Praxis der Jugendschriftenbewegung", in "Neue Bahnen", Okt. 1930, S. 435 ff., der die Befriedigung des Abenteuertriebes durch sekundäres (Buch-)Leben betont..



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   Der Verfasser dieser Untersuchung befragte im Schuljahr 1953/54 hundert Jugendliche im Alter von 10 bis 12 Jahren, Schüler des Wiener Wasa-Gymnasiums und der Hauptschule Wien-Stammersdorf, nach den Gründen ihres Gefallens an Karl May11. Das Ergebnis kann unter 10 Lesemotivationen zusammengefaßt werden12:

   1. Reiz des Schauplatzes: Fremdartigkeit, Romantik, Beschreibung von Naturkatastrophen, Beschreibung der Ausländer, ihrer Sitten und Kleider.

   2. Sensation: Lebendig skalpiert, Hetzjagd auf Menschen, Taifun, Flucht, Sprung über die "Verräterspalte", Kanoe in Stromschnellen, Wassernot, Marterpfahl, Durchsuchung der Satteltaschen, Gefahr, Nachtangriff, Zweikampf auf Felsvorsprung, Durchgehen Rihs, Entführung, am Teich der Krokodile, Pestausbruch, Mißhandlung der Sklaven, Diebstahl, nächtlicher Ritt, verbrannte Dörfer, Herdenraub, Bastonnade, Kara Ben Nemsi wird angespien, Messerstich, zwei wissen nicht, daß sie Brüder sind.

   3. Kampf: Auf Leben und Tod, Zweikämpfe, Kampf gegen Tiere, Nachtangriff, Beschießung, Tomahawk-Wurf, Jagdhieb, Überfall auf Eisenbahnen, Vernichtung der "Geier", Schiffskampf.

   4. Heroisch-ethische Haltung. Wenige gegen Übermacht, Indianermut und Selbstbeherrschung, Vernichtung der Indianerstämme, Arme werden beschenkt, wie Hadschi Halef Omar und Kara Ben Nemsi die Pest überstehen, Versöhnung zwischen Old Shatterhand und Winnetou, Feinde werden Freunde, Gerechtigkeit, der Held läßt Banditen frei, sein Christentum und seine Feindesliebe, will alle zu Christen machen, Begraben der toten Feinde.

   5. Überraschung: Überfall, Hinterhalt, Aufhellung von Old Surehands Familienverhältnissen, Unvorsichtigkeit Hadschi Halefs.



11Die Befragung fand in ungezwungener Aussprache statt. Über Exploration, Methode und Fehlerquellen vgl. die Ausführungen auf S. 13.
12In der folgenden Zusammenstellung wurden gleichartige Motive subsummiert. Dabei waren, wollten wir dem Ergebnis keinen Zwang antun, begriffliche Überschneidungen unvermeidlich.



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   6. Spannung: Anschleichen, Befreiung, Verfolgung, Flucht, Hinterhalt, dem Schut heimlich nachgeschwommen, Späher, eingeschlossen, Entführung, ob die Banditen in die Falle gehen.

   7. Wunscherfüllung: Old Shatterhand und Winnetou werden Freunde, Old Shatterhand wird wieder gesund, Kara Ben Nemsi ist "kugelfest", Ausgang der Zweikämpfe Old Shatterhands.

   8. Komik: Halef trinkt Lebertran statt Raki, Aufschneiden Halefs, Kleidung der Westmänner, stehende Redewendungen, Turnersticks Chinesisch, Anspielung auf "schöne Bäume mit dicken Ästen" (zum Henken), "ich pumpe dir den Leib voll Blei", "gefällt dir diese Klinge?"

   9. Intellektuelles: Anschleichen, Befreien, Hinterhalt, Beratung, was man in Gefangenschaft sieht und hört, Spurenlesen, Selbstbefreiung, Späher, Verstellung und Verkleidung, Regenmachen, Ausfindigmachen einer Bande, Vergiftung der Speise zeigt sich am toten Spatzen.

   10. Sprachliches: Blumige Ausdrucksweise der Orientalen, Knappheit der Indianer, Sam Hawkens "wenn ich mich nicht irre", Halefs langer Name, sein Briefdeutsch, Winnetous "dieser See ist wie mein Herz", howgh.

   Selbstverständlich ist dieses Ergebnis beschränkt durch die Auswahl der Befragten und durch die Bände, die sie zufällig gelesen haben. Trotzdem bietet es einen schönen Einblick in die jugendlichen Leseinteressen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Aussagen der Gymnasiasten der inneren Stadt und der Hauptschüler des mehr ländlichen Stammersdorf ergab sich nicht. Wohl aber verdient festgehalten zu werden, daß Kinder mit asozialem Verhalten mit Vorliebe Grausamkeiten nannten, Kinder gefestigter Haltung eher am Heldischen und Intellektuellen Gefallen äußerten13.

   Auf jeden Fall ergibt sich dies: Karl May hat den Hang der Jugend nach Abenteuern, nach stählendem Erleben,



13Vgl. dazu Gertrud Laudahn, "Die weibliche Jugend und Karl May", KMJb 1921, S. 153 ff.



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nach Steigerung des Alltags angesprochen - das Geheimnis aller Jugendbücher, die sich über den Tag hinaus halten. Ein Leser erzählt von seiner May-Lektüre:

   "Ja, dann versank alles um uns. Wir aber folgten den Spuren Old Shatterhands und des großen Häuptlings Winnetou: wir jagten mit dem Mustang durch die Prärie, saßen an den Lagerfeuern, müde vom anstrengenden Ritt und doch voll gespannter Aufmerksamkeit, denn wer konnte wissen, ob der Feind nicht schon wieder dort in den Gebüschen lauerte?! Wir waren mit dabei, wenn es hart auf hart ging, und das junge Herz schlug höher. Denn da wurde alles das lebendig, was uns interessant, schön und groß erschien. Da lebte die Weite der Prärie auf und die Wucht der Felsengebirge, der Kampf und die Kameradschaft im Überwinden der größten Schwierigkeiten und Gefahren."

   Manch jugendlicher Held gab zu, seinen May verbotenerweise im Schein einer Taschenlampe unter der Bettdecke weitergelesen zu haben14. Karl May ergreift die Jugendlichen so sehr, daß er bis in die Gestaltung ihres Lebens einwirkt, sie zu ritterlicher Haltung und Gesinnung, nicht zuletzt zum Indianerspiel, zum Anschleichen und Spurenlesen anregt. Dafür zwei Beispiele unter vielen.

   Eichacker schreibt: "Ich erinnere mich noch deutlich der Spiele mit meinen Kameraden. Wir lernten Spuren suchen und verbergen, wir bauten Höhlen und unterirdische Gänge, wir lagen als Kundschafter hinter Sträuchern . . . oder saßen hoch auf den Bäumen . . . Kraft in den Fingern, daß unsere Kusinen beim Händedruck quietschten, und eine Zähigkeit in den Füßen, daß wir Ballett tanzen konnten. Die Standhaftigkeit der Rothäute und unserer weißen Helden am Marterpfahl lernten uns alle Schlappheit und Wehleidigkeit verachten. Tränen galten uns auch bei heftigem Schmerz als unmännlich, und um unsere Beherrschung zu stählen, übten wir uns in Schmerz- und Geduldproben wie die spartanischen Jünglinge. Unsere



14Wie ein vernünftiger Vater den Überschwang seines Jungen geschickt mäßigen kann, schildert Dr. Reinhold Eichacker in seinem Aufsatz "Was Karl May mir war", KMJb 1919, S. 110 ff.



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Erlebnisse und Gespräche erfanden wir uns selbst nach Karl Mayschen Vorbildern. Sie waren mannigfach und wunderbar, wie die Gedanken der Jugend sind, . . . und sie stellten unsere Geistesanpassungsart vor immer neue Prüfungen und Aufgaben und gaben uns Entschlossenheit und Überlegenheit im Denken und Handeln. Und immer wieder lenkte uns Karl Mays Vorbild auf praktische Wege. Wir lernten uns selbst helfen, lernten zugreifen und mit Hammer und Säge umgehen. Wir bauten uns selbst Stelzen, Schleudern und Bogen und hunderterlei kleine praktische Geräte und Maschinen. Und in allem war Karl May unser Lehrer und unser bewußtes, anfeuerndes Vorbild15."

   Und Karl Hans Strobl: "Es ist selbstverständlich, daß ich es lernte, durch den ganzen Garten zu schleichen, auf den Zehen und Fingerspitzen, damit keine Spuren entstünden, daß ich feindliche Indianerstämme auf dem benachbarten Zimmerplatz des Herrn Neubauer nach allen Regeln der Kunst belauerte, daß ich unsere Magd Bozena Kratschwif mit dem Lasso einfing wie einen Mustang und daß ich nicht nur alle Tierstimmen der Urwälder auf dem Stürzerhügel nachahmen konnte, um mich mit meinen Genossen zu verständigen, sondern daß ich auch das Indianergeheul beim Angriff erschallen ließ, indem ich Jiiiiiih brüllte und dazu mit der Hand auf den Mund trillerte. Die plötzliche Anwendung des letzteren in allzu großer Nähe der Ohren meines Vaters, sowie meine Wurfübungen mit dem Tomahawk gegen Baumstämme, die mir in Ermangelung von Sioux im Kampfe gegenübertraten, ließen im Schoß der Familie die Erwägung aufsteigen, ob man nicht den Bezug des 'Guten Kameraden16' einstellen sollte. Schließlich blieb er mir doch erhalten; ich folgte dem blauroten Methusalem auf seiner Fahrt nach dem fernen Osten, verfertigte Stinktöpfe und Papierlaternen, versuchte bei Tisch anstatt Messer und Gabel die Eßstäbchen einzuführen und sprach mit den Zeitgenossen nur mehr im Turnerstickischen Chinesisch: 'Ich habong einen Sechserung auf der Lateining Schularbeitung17.'"



15Eichacker, "Was Karl May mir war", KMJb 1919, S. 115 f.
16Anm. d. Verf.: Knabenzeitschrift, in der May erstmalig seine ausgesprochenen Jugendschriften veröffentlichte.
17Strobl, "Das Tragische im Karl-May-Problem", KMJb 1919, S. 224 f.



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   Trotz dieses "Sechserung auf der Lateining Schularbeitung", bei dem sich der Argwohn aufdrängt, er sei auf zu intensive May-Lektüre zurückzuführen, hat der Schriftsteller die Gunst vieler Erzieher gewonnen. Wie er es versteht, Abenteuerlust durch das Leseerlebnis in Arbeitslust umzubiegen, zeigt sich am deutlichsten in den ausgesprochenen Jugendschriften, allen voran im "Blauroten Methusalem". Hier wird aus dem verbummelten Studenten ein strebsamer, arbeitsamer Mann. Charakteransätze dazu sind von Anfang an vorhanden, wie die Sorge zu seiner Wirtin beweist. Plötzlich tritt eine entscheidende Aufgabe vor ihn, er muß nach China reisen, um seinen Erbonkel zu besuchen, eine Familie und vergrabene Schätze aufzufinden. Im ersten Kapitel wird das Ziel gestellt, im 18. Kapitel das Ziel erreicht, in den dazwischenliegenden die Hindernisse auf dem Wege beschrieben.

   Der jugendliche Leser fühlt sich persönlich verantwortlich für die Erreichung des Zieles. Er muß sich mit den die Handlung beeinflussenden Gegebenheiten vertraut machen. Dadurch kommt, trotz Vermittlung vielen Wissens, keine Langeweile auf: der Wissensstoff wird in Handlung aufgelöst. Ein Beispiel:

   Turnerstick wird beim Geldwechseln betrogen, und unauffällig wird der Leser dabei mit dem chinesischen Münzwesen vertraut. Auf ähnliche Weise lernt er den Brauch der Vergrabung von Götzen kennen, ferner das Innere eines Tempels, Sprache und Schrift, Ahnenverehrung, Kastenwesen, Straßenleben, Bettlerwesen, Räuberunwesen, Soldatenwesen, Religion, Körperkultur, Essen und Trinken, Zeiteinteilung, Opium, Kunstwerke, Kunstfertigkeit und Jugenderziehung.

   Vielleicht spielt heute, wo es viele gute Sachbücher und einige spannend geschriebene realistische Reisebücher gibt, die Wissensvermittlung durch Karl May nicht mehr die große Rolle wie früher.



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   Schopen18 richtete während des ersten Weltkrieges an 55 Knaben katholischen Bekenntnisses im rheinisch-westfälischen Industriegebiet folgende Fragen:

   "Wenn Karl May oder Sherlock Holmes oder der Kapitän eines Ostindienfahrers heute zu mir käme und mir den Vorschlag machte, mit ihm seine Fahrten und Abenteuer zu bestehen, a) wie würde ich mich entscheiden, b) warum möchte ich mit ihm gehen oder nicht mit ihm gehen, c) welche Vorbereitungen würde ich treffen?"

   Das Ergebnis: Von 55 möchten 21 Knaben Fahrten und Abenteuer bestehen, ihre Gründe sind Ziele, Wünsche, Sehnsüchte. Sechs möchten Karl May begleiten mit der Begründung, Kenntnisse sammeln zu wollen, die fremde Gegend, das Land, die Sprachen, die Sitten und Gebräuche, die Religion kennenzulernen; nur einer möchte in erster Linie Abenteuer bestehen.

   Daß die Tatsache der Wissensstillung durch Karl May nicht vereinzelt dasteht, soll noch an drei anderen Beispielen gezeigt werden.

   Kooperator Franz Ernst schreibt: "Während meiner Universitätsjahre fand ich wenig Zeit zur May-Lektüre, aber dafür ging eine Saat auf, die nicht zum letzten Teile auf das 'Haben' Mays zu buchen ist - die Liebe zu den orientalischen Sprachen19."

   Univ.-Prof. Hofrat Dr. Dr. Hans Demel, leitender Direktor des Kunsthistorischen Museums zu Wien, schreibt mit Beziehung auf sich selbst: "Ja, es gibt so manchen Forscher, dem erst die Lektüre von Karl Mays Orientbänden die Liebe zum Orient entflammte und ihn bewog, die Forscherlaufbahn einzuschlagen und ihn dankbar zurückdenken läßt an die Zeit seiner ersten Orientstudien in seinem geliebten Karl May20."



18Fritz Prüfer, "Schopens Feststellungen", KMJb 1923, S. 76 ff.
19"Karl Mays Einfluß auf unser Leben", KMJb 1920, S. 300: Vgl. dazu die ausführliche Untersuchung von Heinz Stolte; "Ein Literaturpädagoge. Untersuchungen zur didaktischen Struktur in Karl Mays Jugendbuch 'Die Sklavenkarawane'". In JbKMG 1972/73, 74, 75, 76 (4 Teile).
20"Karl May und der Orient". In "Karl-May-Ausstellung des Museums für Völkerkunde in Wien", Wien, 1949, S. 15.



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   Zum Abschluß Univ.-Prof. Dr. Robert Bleichsteiner, Direktor des Museums für Völkerkunde in Wien: "Was den Schreiber dieser Zeilen betrifft, so hat er in seiner Jugend, gleich vielen anderen, die May-Bücher mit großem Eifer gelesen, ohne davon seelisch oder moralisch geschädigt zu werden, hat sich an der bunten Welt, die sie schilderten, erfreut, und da ihn mehr als die Indianerbücher die Orientbücher anzogen, zeitlich, noch auf der Schulbank mit dem Studium des Arabischen und anderer orientalischer Sprachen begonnen. Und er kennt eine Anzahl lieber Kollegen, die in der gleichen Lage waren und heute einen ansehnlichen Ruf als Forscher auf dem Gebiet der Orientwissenschaften und der Völkerkunde besitzen. Weder ihnen, noch mir hat Karl May geschadet, sondern uns höchstens bewogen, eine Laufbahn einzuschlagen, die unseren Anlagen angemessen war und in der wir, wie wir hoffen, nützliche Arbeit geleistet haben21."

   Patsch verwies als erster darauf, daß die bei May üblichen historischen Verwechslungen und possierlichen Verdrehungen, etwa lateinischer Sprachbrocken in den Jugendschriften, wie sie vor allem Hobble-Frank auf sein Gewissen lädt (z. B. "Gaudeamus Igelkur"), von pädagogischer Bedeutung sind:

   "Diese Scherze wurden bei der Aufnahme in die Gesammelten Werke sehr stark gekürzt. Als ich die betreffenden Bände der Ges. Werke nach Erscheinen erstand und diese überflog, fielen mir diese Kürzungen auf und ich erinnerte mich an vieles Fortgelassene. Diese Bücher wurden als Jugendschriften verfaßt, sie haben mir vor dreißig Jahren sehr gut gefallen, so daß mein Gedächtnis sie behielt und ich sie beim Lesen der gereinigten Werke, was für mich ja auch ein Zurücksinken in glückliche Jugendtage bedeutete, vermißte. Als Lausbub war ich kein zimperlicher Ästhet, sondern hatte meinen Spaß daran, gescheiter zu sein als der Hobble22."

   Wobei Patsch, wie er dem Verfasser dieser Arbeit ge-



21"Karl-May-Ausstellung des Museums für Völkerkunde in Wien", Wien, 1949, S. 4 f.
22Randbemerkung in Patschs Exemplar von Forst-Battaglias "Karl May", S. 71.



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stand [gestand], öfter die sonst weniger beliebten Schulbücher heranziehen mußte, um seine stoffliche Unsicherheit zu beseitigen23.

   Trotz der unbestreitbaren pädagogischen Verdienste Karl Mays wurde ihm zum Vorwurf gemacht, er sei ein Phantast, errege die Leser zu stark und lenke sie von ernster Arbeit ab24. Doch auch die Phantasie gerade junger Leser braucht Nahrung gegenüber der trockenen Verstandesarbeit. Freilich: Allzuviel ist ungesund! Übertreibungen und Unwahrscheinlichkeiten sind bei May nicht selten. Jugendliche Leser, die zum Träumen und Phantasieren neigen, sollten seine Werke nur nach Auswahl unter erzieherischer Leitung genießen, um vor dem Lesefieber bewahrt zu bleiben.

   Karl May kommt noch in anderer, mehr formaler Hinsicht dem intellektuellen Entwicklungsdrang seiner Leser entgegen. Es ist der neben dem Sensationsbedürfnis fast in jedem Menschen ruhende, uralte Trieb, Rätsel zu lösen oder doch ihre Lösung zu begleiten. Die Geschichte von Baal, von Susanne, die Geschichte von Herkules und Cacus in der Äneis, 8. Buch, das Schatzhaus des Rhampsinit bei Herodot, sie alle bringen die Lösung von Rätseln und werden damit zu Vorläufern des Kriminalromans. Die Fülle der Aufregungen füllt nicht die Summe der Erwartungen aus, die der Leser an den Detektivroman stellt. Er will in jenen Augenblicken



23Vgl. auch Kainz, a. a. O., S. 168: "Der methodische Weg des Erziehers May"; Gurlitt, "Was bedeutet Karl May für die Erziehung der deutschen Jugend", KMJb 1927, S. 105; Bernhard Diebold, "Karl May. Vom Schwindel zum Mythos", "Frankfurter Zeitung" v. 3.4.1931; May selbst über die Aufgaben des Jugendschriftstellers in Bd. 34, S. 301 f.
24Das Bekenntnis von Patsch, daß er trotz Karl May Vorzugsschüler blieb, bis - das andere Geschlecht in seinen Blickkreis trat, ist auch für viele andere gültig.



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dabei sein, wo die Logik dem Kulturmenschen zum spielerischen Genuß wird, wo er Ordnung in das Gewirr von Unbekanntem und Bekanntem hineinbringt und nach Ausprobieren aller Möglichkeiten der kombinatorischen Phantasie die versteckte Ursache entdeckt25.

   Für den Jugendlichen ist die Aufhellung des Rätsels noch von einer erweiterten, entwicklungsgesetzlichen Bedeutung. Nicht nur die realistische Forderung, die den Märchenglauben zersetzt und bei feineren Köpfen schließlich auch zur Kritik Karl Mays führt, beweist das Mitfunktionieren des Intellekts, sondern auch eine eigenartige didaktische Einstellung, die die Jugend ihrem May gegenüber einnimmt. Diese Einstellung legt Zeugnis ab für die Mitwirkung starker intellektueller Lustfaktoren, selbst wenn der Jugendliche in der Lektüre nur lernen will, was er für sein Leben, seine Spiele oder selbst nur für sein Phantasieleben braucht oder zu brauchen glaubt. Da fallen dann über Karl May Äußerungen wie: "Man kann Listen daraus lernen. Ich weiß ja, daß das nicht wahr ist. Aber wenn ich fortgehe, dann kommt mir keiner bei." - "Man kann daraus lernen, wie sie Feuer gemacht haben und wie man sich in jeder Lage zu helfen weiß." - "Es ist auch fein, wie er weiß, wo die Pflanzen wachsen; der muß Naturgeschichte können26."

   Über die Wissensbereicherung hinaus schafft Karl May den Jugendlichen geradezu Modelle für den allgemeinen Gebrauch ihres Intellekts. In seinen Büchern zeigt sich, wie die bedrohende Gefährlichkeit der Umwelt gebannt werden kann am Modell der Bewältigung der Gefahrenquellen: durch Überfall, noch mehr durch Anschleichen und Belauschen. Die Handlungen Karl



25Mit Patsch kann man die meisten Erzählungen Mays als Kriminalgeschichten bezeichnen, die in der Wildnis spielen.
26Mitgeteilt von Busse, a. a. O., S. 90.



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Mays sind ein einziger Vorgang der Habhaftwerdung der Personen samt ihrer Umwelt, der Entlarvung der Gefahr, ein Frage- und Antwortspiel, das die Funktion des Intellekts im Dienste menschlicher Bedürfnisse versinnbildlicht. Da wird dargestellt die Entschleierung von Unbekannten, ob es sich um den Mörder Santer, um Winnetous Testament, das Versteck Gefangener, die Entlarvung des Oberhauptes einer Bande durch Verfolgen untergeordneter Mitglieder handelt; oder die Erweiterung eigener Kenntnis, dargestellt durch Spurenlesen oder die Enträtselung indianischer Briefe; hier lernt man Tarnen durch Verwischen der Fährte, durch irreführendes Stecken der Wegmarkierungen, durch Bogenreiten; man lernt, unheimlich zu wirken durch Vermummung wie Bloody Fox, oder durch Ausnutzung unbekannter Waffen und abendländischer Bildung; man findet Bahnungen der Entschleierung des Rätselhaften an sich, von Ruinen, Wasserengeln, Geheimgängen und Türen und von Aufhellung akustischer und optischer Phänomene. Und dabei fühlt man sich noch etwas dem Ernst intellektueller Betätigung entrückt; die Handlung spielt in Weiten, in die der kritische Blick der Jugendlichen noch nicht zu dringen vermag, sie bilden ein unerschöpfliches Phantasiereservoir27. So artikuliert May in seinem Werk die entscheidende Phase der Ausbildung und Entwicklung menschlichen Intellekts.

   Nicht nur die Jugend, auch viele Erwachsene werden von der Handlung Karl Mays in ihren Bann gezogen. Der Schriftsteller bleibt für viele zeit ihres Lebens ein "Zau-



27Vgl. Spranger, a. a. O., S. 67, wo er schreibt, daß von den Jugendlichen "überwiegend diejenigen Künste gewählt werden, die durch ihr Material (Ausdrucksmittel) und das Sachgesetz der ausdrucktragenden Phantasiegegenstände dem freien Bilden der inneren Erlebniswelt den geringsten Widerstand entgegensetzen."



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berer [Zauberer], der sie zurückführt in das Phantasiereich ihrer Jugend28".

   Der Schriftsteller selbst meint hierzu:

   "Der Mensch ist eine Art Pflanze, deren Wurzeln in der Jugendzeit ruhen. Daraus holt er sich noch im spätesten Alter eine Menge geistiger Nahrungsstoffe, ohne die sein Gemüt verdorren mußte.29."

   Dr. Eik schreibt in einer literarisch-psychologischen Studie über Karl May:

   "Unzählige junge Seelen stehen unter dem Bann seiner Werke . . ., und auch die spröden Ohren vieler Erwachsener sind gefangen von diesem Zauberer und sie gestehen mit scheinbar überlegenem Lächeln ihre Vorliebe ein für diesen Aufschneider, der nach vernünftiger Tagesarbeit doch ihr Nachtlicht bis Mitternacht wach erhält und sie zu den labyrinthischen Pfaden vergangener Jugendlektüre zurücklocken möchte30."

   Ein treffliches Stimmungsbild dieser Lockung gibt W. Richter:

   "Wir saßen in meinem ländlichen Pfarrhaus: ich, der evangelische Pfarrer, mit mehreren katholischen Konfratres, ehemaligen Mitschülern und jetzigen Nachbarn. Der Kaffee hatte gemundet. Nun dampften die Zigarren, und mit ihnen kam die Erinnerung an die frohe gemeinsame Schülerzeit auf dem Gymnasium in Wartburg. Die Gestalten der Lehrer, der früheren Klassengefährten tauchten auf. Und dann - wie kam's nur gleich? - fielen die Namen Old Shatterhand, Winnetou und Hadschi Halef Omar. Und nun wollte des Erzählens kein Ende werden: Karl May schlug uns alle wieder in seinen alten Zauberbann, uns, die wir doch mittlerweile die Dreißig überschritten hatten. Die Augen leuchteten, Rede und Gegenrede ging lauter und schneller. Waren's doch gerade die schönsten Erinnerungen, die er mit seinen ewig jungen Gestalten und Abenteuern uns in die begeisterten Herzen geworfen hatte31."



28Geheimrat Univ.-Prof. Dr. jur. theol. Emil Sehling, "Eine Plauderei über Karl May", KMJb 1919, S. 107.
29Bd. 24, S. 357.
30"Allgemeine Münchner Zeitung", Beilage 130, v. 11.7.1907.
31"Karl May - ein Jungborn", KMJb 1923, S. 99.



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   Den gleichen Befund umschreibt W. Fronemann etwas feindseliger und weist gleichzeitig auf ein neues Erfolgsmoment hin, das Verbot:

   "Daß heute ein Teil der Erwachsenen Karl May mit Schmunzeln in den Händen der Jugend sieht, hat seinen Grund in sentimentalen Jugenderinnerungen. Es war doch zu schön, als man, meist verbotenerweise, diese dicken Bände, voll von rasender Spannung, in sich hineinfressen konnte. Die Übertretung des Verbotes wirkte selbst wie eine Heldentat32."

   Karl May wird von den Erwachsenen nicht nur gelesen aus Pietät gegenüber der eigenen Jugend, gegenüber der Entscheidungszeit, wo sich Charakter und Beruf unwiederbringlich in eine Richtung festlegen. Auch der Erwachsene hat das Bedürfnis nach Sättigung der Einbildungskraft mit wechselnden Vorstellungen und Formen, nach Unterhaltung und Zerstreuung. Besonders geistig angeregte und angestrengte Personen greifen häufig neben der Literatur ihres Berufes und neben den Klassikern zu Abenteuerwerken. Es zeigt sich,

   "daß komplizierte Seelenprozesse, psychologische Zergliederungen, wie sie die moderne Romanliteratur liebt, weniger von ihnen bevorzugt werden als fesselnde und spannende Handlungen. Sie wollen mehr die Phantasie als ihren Geist beschäftigen33."

   Diese Tatsache wird verständlich, wenn man bedenkt, daß die lebhaften Eindrücke des May-Buches die Sorgeneindrücke des Alltags verwischen und dadurch



32"Karl May". "Jugendschriftenwarte", 36. Jg., S. 53; vgl. auch Fronemann, "Die Knabenromantik unserer Großväter". "Königsberger Tageblatt" v. 12.5.1929.
33Sehling, a. a. O., S. 104 f. Dazu ein Beispiel: Max Slevogt legte beim Büchereinkauf vor allem Wert auf Abenteuerbücher in alten Ausgaben von Cooper, Simms, Marryat und Karl May, die für ihn, wie er selbst sagte, die beste Entspannung und gleichzeitig Anregung waren. ("Dichter, die bei mir kauften. Aus den Erinnerungen des siebzigjährigen Hugo Streisand", in "Der Abend", Berlin, 31.5.1948.



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die seelische Situation des Lesers verbessern. Man gewinnt als Reisebegleiter Mays - ähnlich wie durch eine wirkliche Reise - Distanz zu den Alltagssorgen, und da Niedergeschlagenheit innervationstechnisch mit einer verstärkten Vaguswirkung im vegetativen Nervensystem zusammenhängt, Erregung hingegen den Sympathikus stimuliert, wirkt die erregende Abenteuerlektüre an sich antidepressiv34.

   Bezeichnenderweise stieg die Nachfrage nach Karl May im Ersten, noch mehr im Zweiten Weltkrieg. Sie wurde sowohl vom Karl-May-Verlag selbst, als auch durch die Herausgabe von Lizenzausgaben in Feldpostformat befriedigt35. Dabei sind Auflagen von 50 000 keine Seltenheit. Die Gründe für dieses gesteigerte Bedürfnis liegen auf der Hand: die heimgesuchten Menschen suchten bei Karl May Ablenkung, Trost und Zuflucht. Insbesondere die Soldaten, von denen Kainz schreibt:

   "In seinen Büchern konnten sie ihren Geist auf 'fremde Pfade' führen, sich von den Nöten des Krieges, von den Schmerzen und dem Einerlei der Spitalspflege weitgehend ablenken und sich entspannen36."

   Sicher ermöglicht die May-Lektüre auch ein Abreagieren nie restlos sublimierbarer Primitivinstinkte, wie Aggressionstendenzen. Dr. Albert Hellwig stellte die Frage: "Wie wirken Mays Schriften in kriminalpsychologischer Hinsicht auf seine Leser?" und weiter: "Sind sie etwa als



34Vgl. Dr. H. M. Sutermeister, "Film und Jugend". In "Der Psychologe", GBS-Verlag Schwarzenburg, Heft 9/54, S. 370.
35Vgl. Kainz, a. a. O., S. 60 ff., wo die durch die Kriege bedingten Auflagen, nach Möglichkeit mit Angabe der Auflageziffern, zusammengestellt sind.
36Kainz, a. a. O., S. 55; vgl. ferner Thea Kaiser-Query, "Gesundung", KMJb 1926, S. 376 ff., wo die Bedeutung Karl Mays für die Genesenden geschildert wird, und Max Jungnickel, "Trost und Freude im Lazarett", KMJb 1931, S. 437 ff.



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phantastische oder gar kriminelle Schundliteratur zu bewerten, die unmittelbar oder doch mittelbar Verbrechensanreize schafft? Oder aber ist der Jugend und den Erwachsenen ihre Lektüre zu empfehlen, da ihre Grundtendenz gerade geeignet ist, die Verbrechenshemmungen zu stärken37?"

   Hellwig gibt an anderer Stelle38 selbst Antwort:

   "Man kann geradezu sagen: wenn eine solche Literatur nicht bestände, so müßte sie geschaffen werden, denn wenn die Phantasie nicht abgelenkt wird und nicht wenigstens in erdichteten Gefahren schwelgen kann, so wird sie leichter dazu neigen, den prickelnden Reiz des Abenteuerlichen im Leben zu suchen. Es wirkt bei gar manchem wie ein Sicherheitsventil, wenn er kriminelle Sensationen in einer Dichtung miterleben kann."

   Ergänzend hierzu schreibt Geheimrat Dr. Erich Wulffen:

   "Wir leiden alle an einer mehr oder minder deutlichen latenten Kriminalität, an einer heimlichen, oft nur durch die Gesetze gehemmten Bereitschaft zum Verbrechen, die unter glücklichen Umständen die Schwelle der Tat nicht überschreitet. Unsere offenbaren oder verborgenen kriminellen Instinkte werden durch die Tragödie in eine geheimnisvolle, teilweise unbewußte Mitschwingung versetzt; sie können sich, zuschauend, zuhörend, an der dichterischen Darstellung des Verbrechens ausleben, ohne sich vielleicht real im Leben betätigen zu müssen39."

   Im Rahmen dieser Untersuchung kann der Frage, ob May zum Verbrechen reizt, nicht weiter nachgegangen werden40. Uns genügt die Feststellung, daß Mays krimi-



37Hellwig, "Die kriminalpsychologische Seite des Karl-May-Problems", KMJb 1920, S. 191.
38Hellwig, "Kriminelle Anlagen bei Karl May?" in "Natur und Gesellschaft", Januar 1920, S. 53.
39Wulffen, "Das Kriminelle in der Weltliteratur", KMJb 1927, S. 289.
40Näheres bei Heinrich Glatzel, Strafanstaltslehrer, "Weshalb gehört Karl May in die Gefangenenbüchereien?", KMJb 1924, S. 50 ff.; ferner Dr. Josef Halper, "Jugend am Abgrund", Graz, 1952; schließlich May selbst in Bd. 34, S. 474 f. Man vergleiche dazu auch die ausgewogenen Formulierungen H. Jürgen Kagelmanns über "Wirkungen aggressiver und kooperativer Modelle in den Aussagen der Massenmedien auf die jugendlichen Rezipienten". (In: Kagelmann, "Comics", Bad Heilbrunn 1976, S. 17 f.).



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nalistische [kriminalistische] Fabeln unzweifelhaft einen Grund mehr bieten, nach dieser Lektüre zu greifen41.

   May bietet allen, Jugendlichen, Entspannungssuchenden, Leidenden, Bedrängten und dem kindlichen Volk, was ihnen die Literaturpoesie der Zeit nicht bietet, und was sie alle wollten und immer wollen: Spannung und große Gefühle, Nahrung für Phantasie und Seele42.

   Patsch erzählte dem Verfasser von einer Greisin, die ihr Leben lang Karl May verachtete, ihn nach 70 zu lesen begann und versicherte, sie könne daraus lernen; Dr. Fedor Mamroth, 1899 wütender May-Gegner, las auf seinem Sterbebett Karl May. Patsch stellt drei Karl-May-Lesealter fest: die Leseperiode der Jugend, die zumeist endet, wenn der Zauber des anderen Geschlechts zu wirken beginnt; die Periode des reifen Menschen, der, nachdem ihm die Festsetzung in Beruf und Ehe geglückt ist, Karl May als Befreier aus der Monotonie des Alltags begrüßt; die dritte May-Periode fällt in den Spätnachmittag des Lebens und bedeutet dem Leser vergoldete Kindheit, Rückkehr zum Freund der Jugend.



41Vgl. die auf May anwendbaren Gedanken bei Friedrich Salzmann, "Psychologie des Kriminalromans". In: "Der Psychologe", GBS-Verlag Schwarzenburg; Heft 2/1955, S. 69 f.
42Vgl. hierzu die Worte von Mahrholz, a. a. O.: "Für die Dichtung unserer Tage bedeutet der Erfolg Karl Mays eine Mahnung: die Literatur der Privatschmerzen, die ach so kultivierte, hat ihre Wirkung nur auf enge Zirkel; große Stoffe, bedeutende Handlungen, erhebende Gefühle, tiefe Gedanken allein vermögen das Volk zu ergreifen; nur in großen Bildern kann man ihm seine Nöte und Leiden, Freuden und Seligkeiten deuten und gestalten." Vgl. ferner Ch. Bühler, "Zur Psychologie der Volksliteratur", KMJb 1919, und Dr. Max Fischer, "Karl Mays Kunst der Erzählung", KMJb 1921, S. 219 ff.



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Wunderbares Geschehen


Doch wieder zurück zur Handlung! Karl May ist ein Meister des Arrangements. Man lese daraufhin, wie er sich in Bd. 24 die Gaststube in Weston zur Bühne einrichtet, die Mitspieler so ansetzt, daß der Held am wirkungsvollsten agieren kann. Immer weiß May schon die Ausgangssituation so zu stellen, daß der Leser innerlich vorausjubelt: "Wär' das fein, wenn es gelänge!" Und ob es gelingt! Und wie es gelingt! Das sei an einer Stelle des Bandes 26 gezeigt.

   Seite 75 befreit Old Shatterhand mitten aus einer Schar von 70 wachen Indianern einen gefesselten Perser und schreibt dazu:

   "Die Indsmen hätten es sehen sollen, ja sehen müssen; aber in ihrer Aufregung sah es keiner von ihnen. Es war wie ein Wunder, daß mir dieser Streich gelang" (S. 75/76), und etwas später nachdenklich: "Das scheinbar Schwere ist oft leichter als das, was leicht erscheint und auch leicht ist!" (S. 97)

   Daraufhin will der Held den Häuptling gefangennehmen. Glücklicherweise untersucht er vorher sein Versteck: zwei Klapperschlangen suchen das Weite. "Würden die Erwarteten nach der Stelle kommen, an der ich mich befand? Ja, sie kamen im Trab gerade auf dieselbe zu" (S. 151). Der Häuptling, der 40 Seiten vorher als erster ritt, nunmehr als letzter: " . . . in diesem Falle bekam ich Gelegenheit, ihn in meine Gewalt zu bringen." (S. 103) Ja, der Häuptling setzt sich nachsinnenderweise just vor das Versteck, während seine Mannen weiterreiten! Der Held fängt den Häuptling - es war zu leicht -, er läßt ihn absichtlich entschlüpfen, um ihm seine Überlegenheit zu zeigen, fängt ihn mit dem Lasso wieder ein. Mittel, um die Masse der Feinde in Schach zu halten: man bedrohe ihren Häuptling mit dem Messer!

   Karl May präpariert die Landschaft: S. 66 fügt er ihr



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mit seiner Feder einen "kahlen Abrutsch" bei, S. 74 kommt so ein Unglücksmensch schon "herabgefahren". Braucht Old Shatterhand eine Spur, so ist sie am nächsten Tag noch zu lesen (S. 52/53), hinterläßt er eine Spur, so wird sie rasch unsichtbar (S. 178). Sein Geruchs- und Gehörsinn (S. 66 bzw. S. 470) grenzt ans Wunderbare, ebenso sein Gedächtnis:

   "Einige kleine Gruppen von kommaähnlichen Strichen hielt ich für bedeutungslos, weil sie aussahen, als ob sie nur gemacht worden seien, um die Feder zu probieren oder ein Haar aus ihr zu entfernen. Dennoch blieben sie meinem Gedächtnis eingeprägt", er weiß "nicht nur ihre Zahl, sondern sogar ihre verschiedene Größe und gegenwärtige Lage". (S. 592) Selbstverständlich übersetzt er diese babylonische Keilschrift sofort.

   Die Erzählung türmt oft Ereignisse in solch kurzen Zeitspannen und in solcher Zahl aufeinander, daß sie an der eigenen Unwahrscheinlichkeit in sich zusammenstürzen. Auf ganz erstaunliche Weise führt er die attraktiven Gestalten seiner Phantasie immer wieder zueinander, schlimmstenfalls mit Hilfe der "göttlichen Vorsehung". Ahnungsvoll, mit dem sechsten Sinn des Westmannes ausgestattet, wirft er etwa schon einen Tag vorher ein Messer in die Spalte, aus der er sich am nächsten Tag befreien muß43.

   Die Krone des Erstaunlichen bilden die Schießleistungen des Helden44. Allein das Gewicht der Waffen kommt dem eines schwerstbepackten Infanteristen nahe (z. B. Bd. 3, S. 106); dabei bewältigt er schwierigstes Ge-



43Zu all diesen Fragen vgl. Barfaut, "Karl May und die heutige Jugend", "Hamburger Lehrerzeitung" Nr. 39 v. 27.9.1930; Max Casella, "Dem Freund meiner Jugend", KMJb 1921, S. 319; Max Unold, "Aus der Jugendzeit", "Frankfurter Zeitung" v. 13.9.1936; Ernst Weber, a. a. O., S. 22 ff.; L. Köster, "Geschichte der deutschen Jugendliteratur", Westermann, 4. Aufl. 1927, S. 314.
44Vgl. Major a. D. Regierungsrat Max Casella, "Kunstschützentum bei Karl May", KMJb 1930, S. 193 ff.



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lände [Gelände] und erzielt nach ermüdendem Ritt fabelhafte Trefferresultate. Die Streuung, die auf hundert Schritt mindestens Faustgröße betragen müßte, besteht für ihn nicht. Er gibt auf eine kaum noch sichtbare Lanze 15 Schuß ab, Ergebnis: 15 Löcher (Bd. 23, S. 224 ff.). In Bd. 21, S. 351 ff., trifft Emery eine Lanze auf 300 Schritt an ihrer schmalsten Stelle: "Es war ein Meisterschuß." Dennoch wird Emery von Old Shatterhand gleich darauf noch beträchtlich übertroffen. Weitere magische Schießleistungen des Helden finden sich in Bd. 2, S. 459 ff., und Bd. 10, S. 572 auf Galläpfel, Bd. 10, S. 605 ein Schuß mit der linken Hand, in Bd. 24, S. 243 ff., vergibt der Held selbstsicher seinen Probeschuß und schießt anschließend lauter Zwölfen. Weitere Lanzenschüsse werden beschrieben in Bd. 10, S. 334 ff. und Bd. 21, S. 170 ff. Die angeführten Beispiele ließen sich beträchtlich vermehren45.

   Solche Meisterleistungen lassen die Herzen vor allem der jugendlichen Leser höher schlagen! Darin liegt ein weiterer Grund des Erfolges: Karl May kultiviert die Grenze zwischen Möglichem und Unmöglichem, die Grenze zwischen dem Märchen und dem eigentlichen Abenteuerbuch.

   Den größten Raum im Märchen nehmen Wundertaten und Verwandlungen ein:

   "Für den Wundergläubigen, das Kind wie das Volk, birgt es eine Quelle heimlich genährter Wünsche und Hoffnungen, großer Erwartungen auf die Verwirklichung eines außergewöhnlichen Ereignisses, das ihnen zu ungeahnter Herrlichkeit verhelfen könnte. Irgend etwas soll geschehen, etwas Besonderes, nicht Alltägliches, etwas Aufregendes und Spannendes, das den Rahmen des Alltags sprengt, das einem Traume gleicht und die nach Stoff suchende, umherschweifende Phantasie wie das unbeschäftigte Denkvermögen anzuregen und zu fes-



45Siehe S. 65, Anm. 54



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seln [fesseln] geeignet ist. Hier haben wir wohl den Kern erfaßt. Wir begegnen beim Volk wie beim Kinde einer unkonzentrierten, unbeschäftigten und ungeschulten geistigen Anlage, einem Keim geistigen Lebens, der Entfaltung in irgendeiner ihm unbekannten Richtung sucht. Es fehlt ihm die Zielstrebigkeit des gebildeten Geistes, und irgendeine unklare Expansion verdichtet sich ihm zu Hoffnungen, Wünschen, Erwartungen eines Geschehens, das die Befriedigung des unverstandenen Bedürfnisses bringen soll. Erst der bei sich selbst ruhende, denkende und konzentrierte Geist weiß, daß er vom äußeren Geschehen nicht viel für sich zu erwarten hat. Der ungebildete Geist ist nach außen gerichtet. Es ist sehr verständlich, daß für ihn nur die Sensation zur Anregung zu werden vermag. Um auch dem Einfachen, Alltäglichen geistige Anregung entnehmen zu können, fehlen ihm Gesichtspunkte und Kenntnisse46.

   Karl May bezeichnet sich selbst als Märchenerzähler,

   "aber kein Mensch darf ahnen, daß das, was ich erzähle, nur Gleichnisse und nur Märchen sind, denn wüßte man das, so würde ich nie erreichen, was ich zu erreichen gedenke. Ich muß selbst zum Märchen werden, ich selbst, mein eigenes Ich47."

   Und wirklich, er hat dem durch die Aufklärung vom Märchenglauben abgedrängten Volk sein neues Märchen geschaffen, indem er die alte Märchenwelt mit einem Zusatz erfahrener Wirklichkeit und Logik plausibel macht, damit der Leser zum erwünschten Glauben gelangen könne. Diese Tatsache ist für den Erfolg dieses Schriftstellers so wichtig, daß gezeigt werden muß, wie seine Motive den wichtigsten Märchenmotiven entsprechen.

   Eine große Gruppe der Märchenmotive bilden die Verwandlungen und Bezauberungen. Menschen werden in Tiere oder leblose Gegenstände verwandelt, bei May gefesselt, gefangengenommen; Menschen ver-



46Ch. Bühler, "Märchen", S. 47 f.
47Bd. 34, S. 406. Vgl. auch Dr. Franz Cornaro, "Der Märchenerzähler", KMJb 1924, S. 173 ff.



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wandeln [verwandeln] sich selbst, um sich vor Verfolgern zu schützen, bei May werden Maskierungen vorgenommen, Hufe mit Tüchern umwickelt, Spuren verwischt, der Held verstellt sich; verzauberte Personen werden erlöst, bei May Gefangene befreit.

   Eine zweite Motivgruppe im Märchen bilden wunderbare Zufälle und Ereignisse, bei May u. a. wiederzufinden beim Zusammentreffen ganz entfernt geglaubter Personen, bei der Aufdeckung von Verbrechen, bei der Bestrafung von Verbrechern, die oft wunderbarerweise in die eigene Schlinge stolpern: das Ganze zumeist getarnt als göttliche Vorsehung. Auch wundersame Geschenke und Funde werden bei May motivisch verwendet.

   Eine dritte Gruppe im Märchen stellen die wunderbaren Begabungen dar. Zunächst der Menschen, bei May des Helden, z. B. seine Sprachbegabung und Heilkundigkeit; von Gegenständen, bei May Totem, Medizin und Talisman; wunderbare Hilfe durch dankbare Tiere, bei May etwa Rettung auf dem Rücken der Pferde und durch den Hund Dojan; Eingreifen von Fabelwesen oder plötzlich erscheinenden Menschen, bei May der Held selbst; wunderbare Werkzeuge, bei May die Bewaffnung und Ausrüstung des Helden; Prophezeiungen, bei May Ahnungen, der sechste Sinn des Westmannes.

   Zauberformeln, etwa "Das Maul auf und die rechte Hand in die Höhe48!" heißen bei May einfach "Hands up!", Old Shatterhand besitzt zwar keine Tarnkappe, ist dafür Meister in Anschleichen und maskiert sich mit Schilf ("Old Surehand"). Jeder May-Leser weiß, daß auch die Kraft- und Scharfsinnsproben der Märchen bei May ihre Entsprechung haben.



48Brüder Grimm, "Der Stiefel von Büffelleder".



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   Zum Abschluß dieser Gegenüberstellung sei noch des fliegenden Wunderpferdes gedacht, bei May kann man lesen:

   "Das Pferd läuft nicht, sondern es fliegt . . . Jetzt, in diesem Augenblick, wendet der Reiter sein Geheimnis an und wenige Sekunden später sind Roß und Mann als kleiner Punkt dem Auge des Zuschauers in weiter Ferne entschwunden49."

   Kara Ben Nemsi sitzt, wenn er seinen Rih das "Geheimnis" vernehmen läßt, "ohne eine Bewegung zu verspüren, wie auf einem Pfeil, der durch die freien Lüfte saust50".

   Und gar in Bd. 29, S. 472: Syrr "lief nicht mehr, er galoppierte nicht mehr und rannte nicht mehr, und - er flog nicht mehr! Nein! Sondern wir standen still. Aber die Ebene, die ganze Erde um uns war in rasender Bewegung."

   So konnte Bloch mit Recht schreiben:

   "Karl May ist aus dem Geschlecht von Wilhelm Hauff; nur mit mehr Handlung, er schreibt keine blumigen Träume, sondern Wildträume, gleichsam reißende Märchen51."

   Was dem Menschen der früheren Jahrhunderte die Märchen waren, ist den heutigen das Abenteuer. Karl May füllt mit seinen Werken eigentlich das Niemandsland, das zwischen Märchen und Abenteuer liegt, er nährt die Traumwelt, die sich der Jugendliche aufbaut, nachdem er die Paradiese des Märchenlandes hinter sich läßt, die Traumwelt, an deren Wirklichkeit er festhält:

   ". . . wir glaubten (Anm.: mit 13 Jahren) an Mokassins und Kalumets, an Federn und doppelläufige Silberbüchsen, an Leggins und Medizinbeutel; und wir glaubten am allermeisten an das bronzefarbene, edle, heroisch schweigsame Profil Winnetous52."

   Dazu muß man bedenken, daß die Märchen in alter Zeit keineswegs den Kreis des Möglichen überschritten, weil eben das märchenhafte Geschehen, die Märchen-



49Bd. 5, S. 375.
50Bd. 10, S. 325.
51KMJb 1930, S. 61.
52Helmut Tosenthal, "Winnetou". "Unterhaltungsblatt der Vossischen Zeitung" v. 4.12.1929.



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gestalten, wie Hexe, Teufel, Zauberer, für handfeste Wirklichkeiten gehalten wurden. Zwar ungewöhnlich, doch nicht unmöglich war für die Anschauung vergangener Zeit die Reise ins Märchenland. Für die ungläubigeren Menschen der jüngeren Zeit schrieb May, er gab den märchenhaften Ereignissen eine gewisse innere Notwendigkeit, da sie irgendwie aus der Person des Helden hervorgehen und mit dieser einen zusammengehörenden, in sich geschlossenen Komplex bilden. Wenn eben ein Mensch von solcher Kühnheit, Kraft und Klugheit sich in so gefährlichen Gebieten bewegt, wird ihm schon allerlei Abenteuerliches zustoßen können.

   Jugend und Volk hungern nach dem Außergewöhnlichen, gerade noch Glaubhaften. In der Karl-May-Welt finden sie ihre Wünsche und Träume wieder, die unbewußt oder so schüchtern durch ihre aufgeklärte Seele ziehen, daß sie keiner dem anderen, auch dem besten Freund nicht, mitteilen würde. Aus dieser Spannung zwischen Wunsch, Traum und Wirklichkeit leben die Bücher, leben die Gestalten Mayscher Phantasie und werden so lange leben, bis andere Zeiten mit anderen Menschen kommen, deren Sinn dieser Phantasiewelt entfremdet ist.

   Karl May wußte um die Sehnsucht des naiven Lesers nach diesem Zwischenbereich der Phantasie, in dem der Mensch, was seine Behauptungsmöglichkeiten anlangt, nicht auf einstellungsmäßige Haltungen verwiesen wird, wie aufs Ästhetische, Ironische, Ethische, Humorvolle und Religiöse, sondern in dem hier auf dieser festen Erde mit übermenschlichen physischen und geistigen Kräften das Unmögliche gemeistert wird. Er schrieb unter dem Pseudonym "Langer53":



53Zit. nach Weigl, a. a. O., S. 24 f.



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   "Wenn man doch endlich einmal einsehen wollte, daß die Schundschriftsteller und Schundverleger nur darum so riesige Erfolge erzielen, weil sie sich nicht an den Kopf, sondern an das Herz, nicht an den Geist, sondern an die Seele des Lesers wenden! Das Volk, besonders aber die Jugend, hungert nach Idealen. Die auf die Seite Geschobenen, die Kinder der Armut, die Söhne und Töchter der Arbeit und Sorge, denen versagt ist, was andere, scheinbar Glücklichere in vollen Zügen genießen, sie wollen wenigstens lesen, daß das Glück, nach dem sie sich vergeblich sehnen, wirklich vorhanden ist. Das Leben bietet ihnen nur Arbeit, Mühe und Plage, weiter nichts. Die höheren Güter, die sie früher besaßen, die hat man ihnen genommen. Der Glaube ist weg. Das Gottvertrauen verschwand. Der Herzensfriede ging verloren. Es gibt keine Ewigkeit, keinen Himmel, keine Seligkeit mehr. Alle diese Dinge wurden ihnen so gründlich als möglich verleidet. Es gibt überhaupt kein Glück, weder oben im Himmel noch unten auf Erden. Oder dennoch? Wäre es möglich? Die Seele hält noch einen Rest von Hoffnung fest. Da kommt der Kolporteur. Er sagt: 'Ja, es gibt noch ein Glück, noch viel Glück. Ich bringe es dir. Hier, lies!'"

   Das muß man auch wissen, wenn man die begeisterte Aufnahme Karl Mays von Seiten der Geistlichkeit, der Lehrerschaft, der Jugend, des Volkes verstehen will: 1909 gab es in Deutschland und Österreich allein 43000 Kolporteure, die im Dienste einer schlechten Kolportage standen; alljährlich bezogen 20 Millionen deutscher Leser ihre geistige Nahrung von ihnen54. Anschließend an die letzte Rundreise von Buffalo Bills Wild-West-Schau entschloß sich der Verlag A. Eichler, Dresden, eine Heftserie herauszugeben, die anfangs echte Erlebnisse Buffalo Bills verwertete, dann aber immer wüstere Phantasieabenteuer in schließlich über 300 Bändchen herausbrachte. Im gleichen Format und Verlag folgten dann die Nick-Carter-Hefte. Der riesige Erfolg, der damit erzielt wurde, ließ andere Verleger nicht ruhen, bis sie Kapitän Stürmer, Lord Lister, Jesse James u. a. m. im gleichen



54Zahlen nach Wagner, a. a. O., S. 29.



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Quartformat zu 32 Seiten und zum selben Preis auf den Markt warfen55. Von welcher Art die meisten dieser Hefte waren, zeigt der Brief eines Kolportage-Verlegers an seinen Soldschreiber:

   "Wir haben jetzt schon das vierte Heft fertig und noch keine schauerliche Handlung. Wann wird endlich mal ein Mord oder eine sonstige pikante Handlung die Erzählung spannend machen! - Können Sie nicht den alten Landpfarrer zu einem Intriganten stempeln? Überhaupt ist es nötig, die schlechten Charaktere zu häufen . . . 56."

   Hier liegt eines der größten Verdienste Karl Mays: Daß er mit dem Schwung des Kolportageschreibers seine auf viel höherer Ebene spielenden Reiseabenteuer verfaßte, die die Phantasie der Leser ansprechen, in Wärme und Bewegung versetzen und dadurch in weitem Maße Schmutz und Schund aus dem Felde schlagen. Mays Reiseerzählungen "haben Leser gefunden, die darin wie in einer Zimmerflucht zuhause sind bis in ihre heimlichsten Winkel57."

   Die Wurzeln des Mayschen Erfolges reichen aber noch tiefer in die Drangzustände seiner Leser hinein. Ihm ist die Sublimierung des öden Tatsächlichen seiner Zeit zum Poetischen gelungen, indem er die Sorgen und Gefahren des Alltags so auf die Spitze treibt, daß ihnen - dem naiven Leser immer dunkel bewußt - der Staub der Zeit nicht mehr anklebt: er erlöste die Zeit von sich selbst, weil er Sinn und Geist seiner Zeit aus der rationalen Möglichkeit zum Irrationalen, zum Märchenhaften, ja zum Mythos erhob.

   Er wird den naiven Menschen zum Pionier an den Fronten ihrer Selbstbehauptung, schenkt ihnen phanta-



55Nach Feststellungen von Patsch.
56Zit. nach Wagner, a. a. O., S. 29.
57Amand v. Ozoroczy, "Karl May und der Orient", KMJb 1913, S. 169.



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siemäßige [phantasiemäßige] Bewältigung des die Existenz aus dem Gleichgewicht bringenden Fortschrittes, hält Schritt mit den drohenden Verstandeserrungenschaften, indem er sie in den Gemütszustand seiner Leser übersetzt. Er bändigt die Angst vor den unbekannten, eben ins geschichtliche Blickfeld tretenden Ländern, indem er dort seine Handlung ablaufen läßt, zeigt symbolisch, wie man der Bedrohungen aller Art Herr zu werden vermag am Beispiel des Kampfes gegen gesellschaftliche Abhängigkeit, gegen den Feind, gegen wilde Tiere, gegen das Wüten von Naturkräften. Und der Leser findet Genüge in phantasiemäßiger Habhaftwerdung des Unbekannten und Beängstigenden, er braucht dies alles gar nicht im eigenen Leben verwirklichen, es genügt ihm, daß es dem Autor im Werk gelang58. Schon dadurch nämlich erwächst im Leser Freiheitsgefühl gegenüber unheimlichen Gesetzen wie einst dem Menschen in der magisch-mythischen Epoche seiner Geschichte. So betrachtet, kann man die Poesie Karl Mays im Sinne Vicos als phantastische Freiheitserweiterung auffassen. Bei May findet sich die Magie des asketischen, dem Guten dienenden, fahrenden Ritter mit magischem Ruf, magischem Können und magischen Mitteln, dem wieder auf magische Weise alles zum Guten ausschlagen muß.

   Und in eine noch tiefere, mythische Innenwelt des Menschen greift May hinein. Wie auffällig, welch überragende Rolle der Reiter und die Höhle in seinen Werken



58Vgl. Bloch, "Das Prinzip Hoffnung", S. 195 ff., wo nachgewiesen wird, daß Träume der Verwirklichung in dreierlei Hinsicht überlegen sind: das Verwirklichte erscheint durch seine Nähe gestaltlos und trüber als das Traumbild; das sich sehnsüchtig vermehrende. Traumleben vermag von der Wirklichkeit nicht eingeholt zu werden; das quantitative wie erst recht das qualitative Defizit im Akt des Verwirklichens sucht Niederschlag in neuen Träumen.



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spielen. Der Mensch als Reiter: überlegen einer-, schutzlos andererseits; der Mensch in der Höhle: geschützt einer-, gefangen andererseits. Diese beiden Bilder spiegeln Gefahr und Geborgenheit jeder menschlichen Situation, ja der menschlichen Existenz überhaupt59.

   Kein Wunder, daß der tiefenpsychologische Aspekt an Interesse gewann und daß Karl May immer wieder psychoanalysiert wurde60.

   Zuerst hat Arno Schmidt sein Blütchen an Karl May gekühlt und dabei seine Sprachspaßetteln getrieben und den Erfolg Karl Mays auf die Überschwemmung der Leser mit Sexualwirkstoffen zurückgeführt61.

   Andere, gediegenere Untersuchungen folgten. Die des Wiener Psychiaters Harald Leupold-Löwenthal, der die pseudologische Komponente in Leben und Werk als maßgeblich für des Schriftstellers Berühmtheit hervor-



59Faßt man mit Wilfried Daim, "Tiefenpsychologie und Erlösung", Herold, Wien-München, 1954, den menschlichen Individuationsprozeß als fortschreitende Lösung von der Fixierung an "Götzen", als Befreiung aus Gefangenschaft des Geistes, dann wird die Reiter-Höhle-Symbolik noch verständlicher. Vgl. Daim, a. a. O., S. 82 ff. Vgl. auch Josef Leo Seifert, "Sinndeutung des Mythos", Herold, Wien-München, 1954, S. 96 ff., über den "Heilbringer" und seinen "Widersacher"; ferner Dr. Hans Robicsek, "Sprache, Mensch und Mythos", Deuticke, Leipzig und Wien, 1932, S. 30 ff.
60Ich habe ja in der 1. Auflage, S. 161, auch selbst auf die Ergiebigkeit Freudscher Symbolik hingewiesen - allerdings mit Vorbehalt.
61Arno Schmidt, "Sitara und der Weg dorthin". Karlsruhe 1963. - Schon 1964 äußert der Wiener Psychiater Dr. Lois Marksteiner dazu u. a.: "Arno Schmidt verwendet mit unzureichender Kenntnis psychoanalytisches Gedankengut, um es in einer der Psychoanalyse überaus fernstehenden Weise zu verwerten. Das Buch scheint daher, dem Inhalt und der Darstellungsweise nach, dazu angetan, das tendenziöse Mißverstehen der Psychoanalyse zu fördern." (Aus einem ungedruckten Manuskript, im Besitz des Verf.) 1973 erschien dann die "notwendige Klarstellung" mit dem Haupttitel "Arno Schmidt & Karl May" von Heinz Stolte und Gerhard Klußmeier, worin die beiden den Spaßvogel und Scharlatan Schmidt wahrscheinlich ein bißchen zu ernst genommen haben.



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hebt62. Oder die Studie Hans Wollschlägers, der in seiner Analyse davon ausgeht, daß die Mutter ihrem Sohn in einem entscheidenden Lebensabschnitt ihre Liebe versagte und damit die Tragik seines Lebens und zugleich die Größe seines Gesamtwerkes begründete63.

   All diesen zum Teil wirklich findigen und geistreichen Studien gegenüber geben die Worte Viktor Frankls zu denken:

   "Auf was immer der Reduktionismus die literarische Produktion zurückführt - sei es auf Normales oder Abnormes, auf Bewußtes oder Unbewußtes -, man neigt heute dazu, die literarische Produktion als einen Akt der Selbstdarstellung zu interpretieren. Demgegenüber bin ich nun der Ansicht, daß alles Schreiben aus einem Sprechen hervorgeht und alles Sprechen wieder aus einem Denken. Es gibt aber kein Denken ohne ein Gedachtes, ohne etwas, was jeweils gemeint wird. (...) Mit einem Wort, Sprache ist ausgezeichnet durch ihre Selbsttranszendenz. Und dasselbe gilt vom menschlichen Dasein ganz allgemein. Menschsein ist immer auf etwas gerichtet, was nicht wieder es selbst ist - auf etwas oder jemanden, menschliches Sein, dem es da begegnet64."

   Auf dieser Suche nach menschlicher Begegnung und nach Sinn findet der Leser in Karl May einen auch im Scheitern redlichen Gefährten.



62Harald Leupold-Löwenthal: "Mein Stil ist also meine Seele ..." -Rundfunk-Manuskript, Wien o. J.
63Hans Wollschläger: "Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt." In JbKMG 1972/73, S. 11 ff.
64Frankl, Viktor E.: "Symptom oder Therapie? (Was sagt der Psychiater zur Literatur?)" - A. a. O., S. 107 f.




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