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DIE DARSTELLUNG



Sprache und Stil


Vorangestellt seien drei Äußerungen Karl Mays über seinen Stil.

   "Jeder Leser hat das Recht, seinem Dichter ins Herz zu blicken, und dieser ist verpflichtet, es ihm stets offen zu halten. Soll ein Buch etwas erreichen, so muß es eine Seele haben, nämlich die Seele seines Verfassers. Ist es bei zugeknöpftem Rock geschrieben, so mag ich es nicht lesen." (Old Surehand II, S. 375.)

   "Schreiben wir nicht wie die Langweiligen, die man nicht liest, sondern schreiben wir wie die Schundschriftsteller, die es verstehen, Hunderttausende und Millionen Abonnenten zu machen." ("Mein Leben und Streben", neu hrsg. v. Klara May, 1912, S. 227.)

   "Ich schreibe nieder, was mir aus der Seele kommt, und ich schreibe es so nieder, wie ich es in mir klingen höre. Ich verändere nie, und ich feile nie. Mein Stil ist also meine Seele, und nicht mein 'Stil', sondern meine Seele soll zu den Lesern reden." (Bd. 34, S. 476 f.)

   Am Beginn des Leseprozesses steht nicht die Versinnlichung des Gelesenen, nicht der Genuß der Form; diese bilden, sofern sie überhaupt eintreten, der Regel nach den zeitlichen Abschluß. Am Beginn des Leseprozesses steht das Verständnis für den Inhalt1.

   Die Darstellung muß auf den Erinnerungsvorstellungen der Leser aufbauen und darf, sofern sie mit unbekannten Lebensverhältnissen bekannt macht, die Anschauung des Lesers erweitert, seinen Bekanntheitsraum überschreitet, die zum Verständnis nötigen Voraussetzungen nur wenig übersteigen. May schreibt eine



1Vgl. Max Dessoir, "Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft", Ferdinand Enke, Stuttgart, 2. Aufl., 1923, S. 101.



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für Jugend und Volk leicht verständliche Sprache: er versteht es, ihre eigenen früheren Erfahrungen mitzuerregen, alles so zu bringen, daß die Leser das Gefühl haben: "Gerade wie bei uns, nur ein bißchen anders2!"

   Frl. Margareta Buchmeisser, Wien, hat sich der Mühe unterzogen, an den Bänden "Winnetou" I, "Durch die Wüste", "Der Schut", "Weihnacht" und "Am Rio de la Plata3" den Wortschatz Karl Mays zu zählen. Ergebnis:

   "Die Endsumme der in 'Winnetou' I aufgefundenen Wörter beträgt 3065. Hierzu müssen, als dem Dichter selbstverständlich geläufig, sämtliche Zahl-, Umstands-, Verhältnis- und Bindewörter, soweit sie im 'Winnetou' und damit auch in diesem Verzeichnis nicht vorkommen, zu Karl Mays Sprachschatz hinzugerechnet werden, ferner die gebräuchlichsten Ausdrücke der Wissenschaft (Tiere, Pflanzen; May war besonders in Botanik bewandert!), der Künste, der Technik, des Handels und des Seewesens (May verfügte über erstaunlich viele Seemannsausdrücke)4."

   Die Wortschatzzählung der übrigen Bände bestätigt im allgemeinen dieses Ergebnis. Ein Schatz von 3000 Wörtern entspricht einem halbwegs Gebildeten; May konnte damit die wesentlichsten Verhältnisse beschreiben. Andererseits hält sich die Wortwahl des Schriftstellers in Grenzen, die größere Schwierigkeiten des schlichten Lesers im Wortverständnis ausschließen.

   Charakteristisch ist die Häufung von Bindewörtern: "und auch", "aber auch", "und aber auch", die Verstärkungen mit "sehr" und "ganz", die unseligen Relativsätze mit falschen "welche" und "derselbe"5, dann



2Vgl. Müller-Freienfels, a. a. O., Bd. I, S. 149 ff.
3Erfolgsbände, die verschiedenen Schaffensperioden des Schriftstellers angehören.
4Buchmeisser, "Der Wortschatz Karl Mays mit Wörterverzeichnis des May-Romanes ‚Winnetou'", ungedr. Manuskript, Einleitung.
5Die sprachlichen Mängel wurden inzwischen nach einheitlichen Richtlinien, die der Leiter des KMV 1922 erließ, ausgemerzt.



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formelhafte Wendungen, wie "ganz außerordentlich", "ich richte meine Augen auf", "an Ort und Stelle", "zu haben" statt müssen und sollen, "der Tag neigt sich", "er gab mir die Hand", "auf freundschaftlichem Fuß stehen", "ich gestehe", " . . . machte einen tiefen Eindruck auf mich", "ich kann mir nicht helfen", "ich konnte nicht anders", "das sucht seinesgleichen", "wer beschreibt meinen Schrecken", "das spottet jeder Beschreibung", Wasser und Himmel, die "in immer tieferen, dunklen Tinten erscheinen"; ferner die Ausrufe "Hm" und "Pah", papierene Flüche, wie "Donnerwetter" und "Alle Teufel", auch ins Englische und Polnische6 übertragen; schließlich stereotype Redewendungen: "Ob es dir recht ist oder nicht, ist gleich, aber wenn du meinst . . .", "'s ist klar", "wenn ich mich nicht irre" u. dgl. mehr.

   In all diesem, in den stets wiederkehrenden Formeln und Wendungen und dem begrenzten Wortschatz entspricht er den sprachlichen Fähigkeiten seiner Leser: mit den Mitteln, die auch ihnen geläufig sind, gestaltet er eine Welt, die weit über ihre Erlebnissphäre hinausreicht7. So konnte Charlotte Bühler mit Recht schreiben:

   "Karl May war Volksschriftsteller, Volksschriftsteller nicht in dem Sinn eines Rosegger, der in dem volkstümlich genannten Stil für Gebildete erzählt, sondern der gerade ohne Stil zum Volke selbst spricht3."

   Zwar verfiel May oft in die geschraubte Redeweise des Gesellschaftsromans der Sechziger- und Siebzigerjahre, verfuhr nach den literarischen Rezepten der geschmack-



6Bd. 3, S. 277.
7Finke, "Karl Mays Schreibart", KMJb 1924, S. 267 ff., stellt Urteile namhafter Männer über Karl Mays Sprache zusammen. Vgl. ferner Gurlitt, "Die Hochwacht", 1918/19, Heft 4/5; Forst-Battaglia, a. a. O., S. 68 f.; Kainz, a. a. O., S. 188 ff.
8"Zur Psychologie der Volksliteratur", KMJb 1919, S. 314 f.



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und stillosen Epoche seiner Jugend; wenn er diese Fesseln vergißt, sich in der blumigen Sprache der Indianer und Araber ergeht, aus seinem eigenen Gefühl heraus gestaltet, dann schreibt er fließend, schlicht und doch gewandt, zu Herzen dringend, angemessen dem Stoff, den er vor Augen führen will.

   Seine Sprache entspricht den Eigentümlichkeiten der Aktionsphasen der Jugendlichen: ihrer Unruhe, Erregtheit, ihrem Tätigkeitsdrang, ihrer Neigung zur Äußerung von Gefühlen, ihrer Beachtung der Bewegung, des Lebens, ihrer Subjektivität, die vor allem die eigene Person in den Mittelpunkt rückt, ihrer mehr emotionalen als intentionalen Einstellung, die das Gefühl über den Intellekt stellt9.

   Es ist bekannt, daß May im Blickpunkt seines Arbeitsplatzes einen Zettel befestigt hatte mit den Worten:

   "Die Gestalten klar, hell, rein und groß! Vermeide harte, grelle, schmerzhafte Lichter! Klassische Formen in erhabener, abgeklärter Ruhe! Flimmere nicht! Sei nicht theatralisch! Schlichte Wahrheit! Hüte dich, zu schulmeistern10!"

   Er kannte seine Fehler und suchte sie zu meiden. Patsch wies auf den Scherz Mays hin, sich das von ihm zu oft angewendete Wort "natürlich" abzugewöhnen. In Bd. 25, S. 389 ff., fällt der übermäßige Gebrauch dieses Wortes besonders auf. Diese Häufung von "natürlich" durch einen Beduinenlümmel führt schließlich auf S. 399 zu einer Explosion des kleinen Halef, wobei natürlich das Wort "natürlich" noch mehr ins Lächerliche gezogen wird. Patsch bemerkt hinzu, ihm sei sonst kein Fall geläufig, in dem der Autor etwas niederschreibt in der Absicht, es sich abzugewöhnen.



9Vgl. Dr. A. Busemann, "Die Sprache der Jugend als Ausdruck der Entwicklungsrhythmik", Jena, 1925.
10Wiedergegeben bei Forst-Battaglia, a. a. O., S. 69.



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   Besonders auffallend ist der häufige Gebrauch des Wortes "aber". Es kommt beispielsweise im Bd. 7 853mal vor, die im Deutschen ungefähr gleich oft gebrauchten Bindewörter "als" und "auch"11 finden sich in diesem Roman jedoch nur 260- bzw. 273mal12. Blind aufgeschlagen, findet sich das Wort "aber" in Bd. 12, S. 159 dreimal, S. 239 sechsmal; Bd. 13, S. 143 dreimal, S. 181 zweimal, S. 272 dreimal, S. 535 dreimal; Bd. 24, S. 55 viermal, S. 99 zweimal, S. 201 dreimal, S. 345 zweimal, S. 487 zweimal, S. 595 nullmal, S. 602 sechsmal. Der überaus häufige Gebrauch dieses Bindewortes weist darauf hin, daß Karl May vorwiegend aus dem Gegensatz, aus dem Kontrast gestaltet.

   Von den eingestreuten Brocken aus fremden Sprachen schreibt Forst-Battaglia13, sie "stören wie ein indianischer Skalp als Anhängsel eines europäischen Werktagsanzuges". Und doch findet mancher Jugendliche Gefallen daran und lernt sie sogar auswendig zu gelegentlichem Gebrauch. Prof. Franz Reusse schreibt:

   "Schon als ich in dem ersten May-Buch, es war Winnetou I, die ersten Indianerausdrücke las, durchzuckte es mich eigenartig, und von Seite zu Seite weiterlesend, suchte und haschte ich von diesem Augenblick an nach jedem fremden Ausdruck, nach jedem fremden Wort in irgendeiner Sprache14."

   Fremdsprachige Ausdrücke und Wechselreden, sphinxartige Kapitelüberschriften, wie in Bd. 10 und Bd. 23, wirken als Theaterflitter, als Köder der Einbildungskraft.

   In seinen Vergleichen und bildhaften Ausdrücken



11Im "Häufigkeitswörterbuch der deutschen Sprache" werden die Prozentzahlen der Häufigkeit von "als" und "auch" mit 0,54 bzw. 0,56, von "aber" mit 0,41 angegeben.
12Buchmeisser, a. a. O., S. 3.
13A. a. O., S. 70.
14"Karl Mays Einfluß auf mich", KMJb 1923, S. 354.



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liebt es May, Lebendiges mit Totem zu verbinden. Dadurch erreicht er oft den Eindruck des Puppenhaften, nicht selten haben seine Metaphern etwas erschütternd Drolliges oder Schnurriges an sich15. Dafür einige Beispiele:

   Ein Kurde äußert seine Freude über die Rettung eines Gefährten "durch Töne, die sich nur mit dem Brummen eines invaliden Spulrades vergleichen lassen" (Bd. 3, S. 93). Halefs Augen "rollten wie das Luftrad einer Stubenventilation". Von einem General heißt es, er verstünde "von der Kriegführung so viel, wie das Flußpferd vom Filetstricken" (Bd. 12). Vom Leichengeruch der Todeskarawane: "Mich erfaßte ein unüberwindlicher Ekel, der mein Inneres wie eine Schraube packte und gegen den keine Beherrschung aufkommen konnte" (Bd. 3, S. 324). Über eine sich überstürzende Auskunft: "Das alles kam jetzt auf einmal so schnell und hastig heraus wie aus dem Speiteufel einer Schrotmühle" (Bd. 3, S. 481). Von einem Gefängnisschlüssel: "Man mußte ihn bei dem ersten Griff fühlen, denn er war so groß, daß man ihn mit einer Bärenkugel Nummer Null hätte laden können" (Bd. 2, S. 238). Vom unübertrefflichen Khawassbaschi: Er "hing auf dem Pferd wie eine Fledermaus in der Dachrinne". Der Held von sich selbst: "Der Zufall hatte mich nun einmal, sozusagen, an eine Kletterstange gestellt und mich bis über die Hälfte emporgeschoben; sollte ich wieder herabrutschen und den Preis aufgeben, da es doch nur einer Bewegung bedurfte, um vollends emporzukommen?" (Bd. 2, S. 203). Die Lippenbewegung der Namen murmelnden Haddedihn wird Bd. 25, S. 104 mit der Kaubewegung von Kaninchen verglichen. Ein Fluch in der blumenartigen orientalischen Redewei-



15Vgl. Finke, "Karl Mays Schreibart", KMJb 1924, S. 267 ff.



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se [Redeweise]: "Der Hunger soll deine Eingeweide zerreißen, und der Durst deine Seele auflecken, daß sie vor Qualen zischt wie der Wassertropfen, an dem das Feuer frißt!" (Bd. 3, S. 424.)

   Oft ergeben sich Mays Vergleiche ungezwungen aus der Umwelt, der Beschäftigungsweise, der jeweiligen Lage seiner Gestalten und werden so hervorragende Mittel der Stimmungsbildung, schaffen die innere Einheit der ganzen fremdländischen Welt, in die uns der Autor auf seinem Zaubermantel versetzt. So äußert der erst gefesselte und dann glücklich befreite Hadschi über den Verbleib der Ausreißer: "Wie kann ich es wissen, da ich doch gefesselt war wie der Heilige Koran, der in Damaskus in eisernen Ketten hängt?" Oder Halef über die Treue der Erinnerung: "Ich sage dir, Sihdi, alle diese Taten und Begebenheiten sind rundum an den Wänden meiner inneren Seele aufgeschrieben und mit unvergänglichen Pflöcken in den Boden meines Gedächtnisses eingeschlagen, wie man Pferde, Kamele und lebhafte Ziegen an Pflöcke bindet, wenn man befürchtet, daß sie über die Nacht den ihnen zugewiesenen Platz mit einem anderen vertauschen wollen" (Bd. 25, S. 2). Vom Seelenleben: "Des Menschen Gedanke ist wie der Reiter, den ein ungehorsames Pferd dorthin trägt, wohin er nicht kommen wollte." Vom Roß der Phantasie, dem Pegasus: "Die Hufe warfen Zeit und Raum zurück; der dunkle Schweif strich die Vergangenheiten" (Bd. 29).

   Andere Wendungen spielen an auf Dinge, die dem Leser bekannt sind: "Oh du beglückende Pantoffelherrschaft, dein Zepter ist ganz dasselbe im Norden wie im Süden, im Osten wie im Westen" (Bd. 1). Oder in Bd. 2: "Im Flure hockte ein altes Weib, das Zwiebeln schälte und dabei mit tränenden Augen die abgefallenen Schalen kaute. Ihrem Aussehen nach war sie entweder die



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Urgroßmutter des ewigen Juden oder die vom Tode ganz vergessene Tante des Methusalem." Schließlich noch eine Anspielung auf die Schülerweisheit: "Der Orientale mißt die Schönheit des Weibes nach dem Lehrsatze Radius mal Radius mal Pi, multipliziert mit dem ganzen Quadrat des Durchmessers, gibt, in Millimeter ausgedrückt, die Kubikwurzel des Schönheitsgrades."

   Köstlich ist die Bakschisch-Szene in Bd. 1. "Was ist der silberne Schlüssel, der die Stätten der Weisheit erschließt?" fragt Halef den Boten Abrahim Mamurs, der den großen Arzt aus Frankhistan zur Heilung seiner Frau holen soll. Als Antwort vernimmt der gespannt lauschende Kara Ben Nemsi das leise Klimpern von Geldstücken. "Ein Piaster? Mann, ich sage dir, daß das Loch im Schloß größer ist als dein Schlüssel; er paßt nicht, denn er ist zu klein." - "So muß ich ihn vergrößern." Wieder klingt es draußen wie kleine Silberstücke.

   Daß May auch das Kunstmittel der Wiederholung einzusetzen weiß, zeigt sich am Beispiel des Wirtes Franzl in Bd. 24, S. 46:

   "Er nahm die große, noch halbvolle Fisolenschüssel und trug sie den Leuten hin; er nahm die ebenso noch halbvolle Fleischschüssel und trug sie den Leuten hin; er nahm noch eine ganz volle Weinflasche und trug sie den Leuten hin; er nahm alles, was auf unserm Tische stand und lag, und trug es den Leuten hin, und als es nichts mehr zu nehmen und zu tragen gab, setzte er sich noch selber zu ihnen hin . . ."

   Das viermal wiederholte "trug sie hin" drückt aufs glücklichste die Sicherheit aus, mit der sich der gute Franzl für den Hilfsdienst entscheidet.

   Fast immer belebt May einen Vorgang durch Einzelheiten. Er schreibt nicht etwa: "Während wir rauchten . . .", sondern: "Während wir den starken, rauhen und nur wenig fermentierten Tabak von Kelekowa in Brand steckten . . ." (Bd. 2, S. 126).



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   Bisweilen ist seine Sprache "ungewöhnlich flüssig, frei von Hemmungen, hat schönes Taktmaß, fühlbare Ausgeglichenheit und häufig eine gewisse innere Musik, die auf den Leser bestechend, bisweilen einlullend, meist aber seltsam fesselnd wirkt16."

   Mays Schreibweise ist anschaulich, leicht verständlich, indem sie dem Leser eine Fülle greifbarer, mit den inneren Sinnen vorstellbarer Elemente enthüllt. Dabei ist sie nicht so differenziert im Ausdruck, daß der Leser, um das Leben der Buchfiguren nachzuerleben, gezwungen wäre, aus seiner eigenen, lieben Welt herauszutreten, auch nicht so verschwommen, dürr und oberflächlich, daß sich mit ihr keine Erlebnismöglichkeiten verknüpfen ließen, sondern gerade so allgemein, so typisch gehalten, daß sie dem Leser den Faden bietet, sein eigenes Erleben daran auszukristallisieren. May spart gleichsam einen leeren Raum aus, den zu erfüllen es den Leser zwingt. Die Phantasie wird ohne bestimmten Zwang aufs stärkste in Bewegung gesetzt, man verspürt den Reiz, den Zauber eigenen, freien Imaginierens17.

   Die dichterische Art Mays blüht auf in jenen kurzen, schwerwiegenden Gesprächen zwischen Winnetou und Old Shatterhand, in den knappen Schilderungen landschaftlicher Stimmung und in einzelnen bedeutungsvollen Szenen, wie beim ersten Erscheinen Winnetous, beim Tode Klekih petras, oder wenn Winnetou die Untergangstragik der roten Rasse an seinem Schicksal aufzeigt:

   "Seine Hand wird nimmermehr berühren das Haupt eines Weibes, und nie wird die Stimme eines Sohnes dringen an sein Ohr."

   Überhaupt, wo das Ereignis einsetzt, die Worte



16Finke, "Karl May und die Musik", KMJb 1925, S. 39.
17Vgl. Müller-Freienfels, a. a. O., Bd. I, S. 177.



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schwinden, die Tat alle Kräfte spannt, finden sich Szenen von hinreißender Macht, etwa der Zusammenstoß Kara Ben Nemsis mit Ghulam el Multasim, Bd. 28, S. 533:

   "'Du weißt aber, daß ich der Bluträcher gegen dich bin?'

'Ja.'

   'So sei von dieser Stunde an gesegnet von allen Teufeln, die in des obersten Scheitan tiefster Hölle wohnen. Du entgehst mir nicht!'

   'Und du sei geleitet und geführt von den Engeln der Selbsterkenntnis und der göttlichen Barmherzigkeit. Der über allen Menschen steht, der steht auch über dir. Wehre dich, soviel du willst, ihm entgehst du nicht!'

   'Hund!'

   ' Mensch!'

   'Ich speie aus vor dir. Lecke es auf!'"

   Oder man lese nach die Verfolgung des Krumir, Bd. 10, S. 418 ff.; die Flucht aus dem brennenden New Venango, Bd. 8, S. 418 ff.; die Verfolgung des Schut, Bd. 6, S. 494 ff.; die Abrechnung mit den Aladschy, Bd. 6, S. 452 ff.; den verzweifelten Streit mit den Ponkas, Bd. 8, S. 528 ff.; die Errettung Dschumeilahs aus den Pranken des Panthers, Bd. 10, S. 350 ff.; das unheimliche Erlebnis mit Abrahim Mamur in der Höhle von Baalbeck, Bd. 3, S. 421; die Rettung aus dem Hauptquartier Lopez Jordans, Bd. 12, S. 456 ff.; die Entführung Senitzas, Bd. 1, S. 140 f.; die Rettung des Sendadors von der Felswand, Bd. 13, S. 544; die Rettung des Tuaregknaben vom Sandsee, Bd. 23, S. 253. An diesen Stellen findet der Leser einen Zug in den Sätzen, der unwillkürlich mitreißt und fortträgt.

   Ein weiteres wichtiges Mittel, den Leser zu fesseln, stellt der Dialog dar. Bis zu zwei Drittel der Darstellung sind in Dialogform gehalten18. Oft ist diese Form so ge-



18Vgl. Kainz, a. a. O., S. 165 ff.



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staltet [gestaltet], daß die eine Person die Rolle des Belehrenden, Dozierenden einnimmt, während sich die andere Person auf Einwürfe beschränkt. Zumeist tauschen die handelnden Personen im Dialog ihre Ansichten über die Lage aus. Dabei fällt sinngemäß dem Überlegenen die Rolle des Lehrers, den übrigen die Rolle der Schüler zu19. Der Lehrer gibt

   "den Gesprächspartnern die Möglichkeit, ihre Fehler und Irrtümer einzusehen und zu verbessern, ohne erst durch Schaden klug geworden zu sein. Nur selten belehrt das 'Ich' seine Schützlinge derart, daß es den richtigen Schluß und das richtige Wort und Urteil sofort mitteilt. Dadurch würden die Unwissenden entmutigt und unwillig, und die, deren Meinung sich als unrichtig erweisen muß, gekränkt und verschüchtert. Also hilft der Klügere den anderen auf die Beine, gibt ihnen Hinweise und Fingerzeige, bis sie schließlich den rechten Sachverhalt selbst herausfinden20."

   Wie sehr diese Art des Dialogisierens den intellektuellen Neigungen besonders der Jugendlichen entgegenkommt, liegt auf der Hand: während des Leseprozesses identifizieren sie sich mit den zu belehrenden Personen und werden damit selbst auf feinfühlige Weise vom Irrtum zur Wahrheit geführt. Durch die überlegene Gedankenführung des Helden bei der Beratung erscheint der Tatbestand schließlich in einem neuen, von allen anerkannten Gesichtswinkel, und dadurch wird unter Zustimmung aller die Abänderung des gefaßten Beschlusses bewirkt21.

   Nur selten überrascht der Held seine Mitspieler durch die Aufdeckung einer ihnen verborgen gebliebenen Tatsache, und sein Scharfsinn, seine Beobachtungsgabe



19Vgl. Bd. 8, S. 180; Bd. 14, S. 88, S. 296 ff.; Bd. 36, S. 439; Bd. 37, S. 418.
20Kainz, a. a. O., S. 166. Beispiele in Bd. 8, S. 196 ff.; Bd. 20, S. 141 ff.; Bd. 36, S. 293 ff.; Bd. 37, S. 418.
21Bd. 3, S. 113; Bd. 21, S. 421 ff.; Bd. 36, S. 439; Bd. 63, S. 41 ff.



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zwingen Mitspieler und Leser zu uneingeschränkter Bewunderung22. Während die anderen, Mitspieler wie Leser, möglichst verwickelte Kombinationen anstellen, verblüfft sie der Held oft durch die Richtigkeit des Einfachen und Naheliegenden23.

   Handelt es sich beim Gesprächspartner aber um einen überheblichen oder schlechten Menschen, dann spielt der Held mit ihm Katz und Maus, wiegt ihn in Sicherheit, um ihn schließlich - mit unerhörter Schlagfertigkeit geistig zu vernichten24.

   Der Dialog Mays ist nicht nur Mittel, dem Leser das Mit- und Vorausdenken, und damit verstärktes Miterleben der Handlung möglich zu machen. Der Schriftsteller hat darüber hinaus die Gabe, dem Leser Sitten, Gebräuche und Charakter seiner Personen in ihren Gesprächen zu offenbaren25. Durch das gesprochene Wort äußert sich ihre Seelen- und Geistestätigkeit, zeigt sich ihr Einwirken auf die Umgebung, die Beeinflussung durch die Außenwelt, schließlich die Reaktion auf beide in Widerstand oder Duldung. Zur Charakterzeichnung durch den Dialog kommt bei May ergänzend, bei Nebenfiguren andeutend, ihre Beleuchtung durch Beschreiben von Mienenspiel, Körperhaltung und Gesten, von denen Reden und Handeln begleitet wird, und die physiologische Betonung ihrer Körperbildung, die Art ihrer Bekleidung.



22Bd. 22, S. 208, S. 339 f., S. 356; Bd. 36, S. 209, S. 239.
23Bd. 1, S. 49 f.; Bd. 2, S. 17, S. 85; Bd. 18, S. 256; Bd. 26, S. 344 ff.; Bd. 35, S. 71, S. 87; Bd. 36, S. 378 ff.; Bd. 37, S. 518.
24Bd. 12, S. 281; Bd. 22, S. 459; Bd. 36, S. 227 ff.; Bd. 41, S. 17.
25Vgl. Bühler, "Zur Psychologie der Volksliteratur", KMJb 1919, S. 322.



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Komik, Spannung, Rührung und Ruhepunkte


Mit der Beschreibung des Äußeren der Figuren nimmt zumeist auch die Komik Mays ihren Ausgangspunkt. Der Schriftsteller zeichnet mitunter menschliche Karikaturen und verstärkt ihr lächerliches natürliches Aussehen durch groteske Kleidung. Als Beispiele mögen gelten Buluk Emini, Bd. 1, S. 533, den der Esel andauernd abwirft (Bd. 1, S. 574 f., S. 481 f.); der Köhler Allo samt Hund, Bd. 3, S. 63 ff.; der Kretin und dessen Schwester, Bd. 6, S. 478 ff.; als Gegenstück dazu die schwachsinnige Indianerin Daja, Bd. 12, S. 342; Madana mit ihrem drolligen Äußeren, dem schwachen Verstand und dem guten Herzen, Bd. 2, S. 625 f.; Guszka, die Gans, Bd. 6, S. 96 ff.; der feige Selim mit seiner körperlichen Dürre, Bd. 16, S. 19 u. S. 21; daneben Gestalten grotesker Wohlbeleibtheit: der Wekil von Kbilli samt Gemahlin Mersinah, Bd. 1, S. 55 ff.; das Bäcker-Färberpaar Boschak und Frau Tschileka, Bd. 4, S. 109 ff.; der Diener Kepek, Bd. 3, S. 278, S. 280 ff.26; der Haushofmeister von Siut, Bd. 16, S. 189 ff., S. 206 ff.

   Andere Groteskgestalten sind das Freundespaar Hammerdull und Holbers, Bd. 15, S. 120, S. 125; Sam Hawkens, Bd. 7, S. 28 ff.; die beiden Snuffles, Bd. 26, S. 4 ff.; Sans-ear, Bd. 9, S. 3 f.; Fred Walker, Bd. 9, S. 360 ff.

   Neben der Schilderungskomik kommt die Sprachkomik zu ihrem Recht in den Gestalten Korndörfer, Bd. 10, S. 30 ff., und Krüger Bei mit seinem verderbten Deutsch, Bd. 10, S. 223 ff.; Sprach- und Schilderungskomik vereint finden sich beim Verdrehungskünstler Hobble-Frank in den Bänden 36, 37 und 38; bei "gut, schön, tap-



26Auch in Bd. 26, S. 498 ff. und Bd. 29, S. 510 ff.



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fer [tapfer] Quimbo", Bd. 11, S. 479 und S. 509 ff.; bei Kapitän Turnerstick, Bd. 11, S. 118 f., S. 126 f., S. 131 f. Blumenreiche Phrasen führen im Munde Carpio, Bd. 24, S. 71 ff., S. 104 f., und vor allem Hadschi Halef.

   Situationskomik findet sich im Apothekerladen zu Ostromdscha, Bd. 5, S. 89 ff.; bei der Fabrikation von "Schaumwein", Bd. 1, S. 520; beim Vortrag über die Bedeutung des Gipsverbandes, Bd. 5, S. 189 ff. Überhaupt bieten die unzivilisierten Länder eine Fülle satirischen Stoffes. So gibt es Schmutz und Ungeziefer bei den Lappen, Bd. 23, S. 3 f.; beim Ehrenmahl, Bd. 6, S. 100 f.; in der Herberge, Bd. 4, S. 394 ff. Ergötzliche Darstellungen der alkoholischen Wirkung sind nachzulesen in Bd. 2, S. 232 ff. und S. 302 ff. Auch auf Kosten der Vielfresserei kann man sich belustigen am Hofmeister von Siut, Bd. 16, S. 189 ff.; am Türken Murad Nassyr, Bd. 16, S. 55; am Festessen des Negerstammes der Bor, Bd. 18, S. 84, und der Indianer des Desierto in Südamerika, Bd. 13, S. 422. Zur Abrundung noch einige andere lustige Szenen:

   Sam Hawkens und die Kiowas, Bd. 7, S. 182 ff.; die Kukluxer, Bd. 8, S. 156 ff.; die Feuerspritze in Khoi, Bd. 18, S. 210 ff.; die Siesta des Alkalden und seiner Familie, Bd. 20, S. 88 ff.; der Sturz vom Pferd bzw. vom Esel, Bd. 28, S. 284 und S. 377 ff.; schließlich die Rikschafahrt in Bd. 30, S. 119 ff.

   Im allgemeinen beschränkt sich die Komik Karl Mays auf Mittel, denen der Erfolg nie fehlt, die schon in der antiken und mittelalterlichen Komödie schrankenlos walten: Ohrfeigen, Prügeleien, Prellereien, Verstellungen, Verkleidungen, komische Masken, plötzliche Erschei-



27Bd. 1, S. 1 ff.; Bd. 5, S. 47, S. 76 ff., S. 176 ff.; Bd. B, S. 59 ff., S. 81 ff.; Bd. 18, S. 239 ff., S. 253 ff.; Bd. 25, S. 1 ff., S. 14 ff., S. 26 ff., S. 68 ff., S. 117 ff.; Bd. 26, S. 270 ff., S. 488; ferner an vielen anderen Stellen.



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nungen [Erscheinungen] und Bewegungen, lächerliche Ausdrucksweisen; dies alles dick aufgetragen und reichlich oft wiederholt. Daneben findet sich bei May auch echter Humor, etwa im 1. Kapitel des Bandes "Weihnacht" und an manchen Stellen der Selbstbiographie des Schriftstellers.

   Außer der Komik sind Spannung und Rührung wichtige Bestandteile der Volks- und Jugendliteratur.

   Dr. Kohn-Bramstedt schreibt: "Von diesem Alter (Vorreifezeit) werden drastisch-einfache Spannungen, sogenannte Knalleffekte, in der Literatur bevorzugt28", und weiter: "In beiden Fällen also sind primitive Spannungen und Kontraste Trumpf - und sie werden immer gierig aufgesogen, gleichviel, ob es sich um Frank Allan und Karl May, um Wilhelm Teil, das Nibelungenlied oder Storms 'Schimmelreiter' handelt."

   Die Spannung ist wegen ihrer vereinheitlichenden, interessewachhaltenden und unlustüberwindenden Wirkung ein unentbehrliches Formprinzip29. Spannung erwächst bei der Erzählung aus der Teilnahme für den oder die Helden. Und eine solche ist ohne lebendige Vorstellung ihrer Persönlichkeit, ihrer Schicksale, ihres Charakters unmöglich. Wie viele Fragen drängen sich dem Leser nicht bei der Lektüre auf? Wie werden sich diese Personen bei den kommenden Ereignissen verhalten? Wird ihr Schicksal glücklich oder unglücklich sein?

   Karl May ist ein Meister der Spannungserzeugung. Nicht nur, daß er selbst oft dieses Wort gebraucht! Er versteht alle möglichen Punkte auszunützen, um die Enden des Bogens einzusetzen, läßt ihn bald lange, bald



28Kohn-Bramstedt, "Über Not und Aufgaben des Literaturunterrichts an der höheren Schule", in "Die Not des Jugendbuches. Reden und Debatten auf der Eröffnungstagung der Abteilung ‚Das Jugendbuch der Völker' des Institutes für Völkerpädagogik, in Mainz am2.-4. Oktober 1932. "Als Manuskript vervielfältigt. Hrsg. v. W. Fronemann, Mainz, 1933, S. 40 u. 41.
29Vgl. Viktor Böhm, "Kleiner Leserspiegel", in "Die Zeit im Buch", Heft 11/12 1954, S. 2 f.



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kurze Strecken überbrücken. Da ist einmal Spannung vom Titel angefangen über den ganzen Band hinweg und bei Fortsetzungsromanen noch darüber hinaus. Diesem großen Bogen vermag er kleinere einzusetzen mit dem Motiv als Einheit, und dieser Spannung überlagert er kunstvoll noch kleinere Bögen, wobei das Nicht-erfassen der längeren Spannung nicht wesentlich den Genuß der kürzeren stört. Bald steigt die neue Spannung schon, während die frühere absinkt, bald weiß er Ruhepunkte einzuschalten, Erwartungen zu wecken und Überraschungen zu bereiten. Und das alles in der Dichte, die dem Miterleben des Lesers entspricht: Er hat die rechte Witterung für das Zeitmaß, in dem der Spannungshunger befriedigt werden muß. Aus seinem eigenen Miterleben der Handlung beim Schreibprozeß gelingt es ihm meist, ein Zuviel und ein Zuwenig an Spannung zu vermeiden, er dosiert sie gleichsam richtig nach Gesetzen, die zur Diätetik der Leserseele gehören30.

   Spannung beruht auf dem fortwährenden Wechsel zweier Vorstellungsreihen in der Erlebnissphäre des Lesers31. Diese Vorstellungsreihen verlaufen bei der Lektüre Mays auf den verschiedensten Ebenen: der Leser wechselt Traum und Wirklichkeit, Inhalt und Lesersituation, Wunscherregung und Wunschgefährdung, eigenes Überlegenheitsgefühl und die Ahnungslosigkeit mancher Figur, Mitgefühl für Held und Mitspieler, Erwartungen und Hoffnungen, die er in den Helden setzt, und ihre Verwirklichung. Spannend wirken die kurzen Gesprächssätze des Dialogs. Ehemals wirkte das zerhackte Erscheinen der Werke in Heften spannungsstei-gernd, jetzt verspricht der ansehnliche Umfang des Bu-



30Vgl. Finke, "Mittel der Darstellung", KMJb 1927, S. 370 ff. Als Beispiel vgl. die Deutung des "sprechenden Leders", Bd. 24, S. 200 ff.
31Vgl. Lange, a. a. O., S. 263.



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ches [Buches] Spannung32. Spannung auf das, was kommen muß, wandelt sich beständig in Interesse am Detail, und, wo dieses nachläßt, beginnt wieder die Spannung zu wirken.

   Die Spannung wird geschickt angebahnt durch Ahnungen des Helden33, durch Andeutung von Gefahr, durch Warnung der Gefährten, durch Redevorspiele der Indianer vor dem Kampf.

   Es gibt eine Art analytischer Spannung. Sam Hawkens brummt in seinen Bart: "Gefällt mir nicht, diese Spur, ganz und gar nicht!" Das Greenhorn Old Shatterhand erwidert: "Und mir gefällt sie desto besser." Der Leser ist gespannt, warum die Fährte dem einen gefällt, dem anderen nicht, und durch den folgenden, enthüllenden Dialog wird er von der Spannung befreit.

   Oder eine Art synthetischer Spannung: Kara Ben Nemsi bespricht mit Ben Nil einen Plan, die Sklavenjäger zu täuschen, und der Leser ist gespannt, wie die Ausführung des Planes in Wirklichkeit gelingt34.

   Als Mittel, um die Spannung des Zwiegespräches zu erhöhen, verwendet May die Enttäuschung. Etwa im Gespräch Kara Ben Nemsis mit Mutesselim und dem Machredsch, die ein Lösegeld erpressen wollen. Der Held geht zunächst scheinbar auf ihren Gedankengang ein und platzt dann auf dem Höhepunkt ihrer Erwartungen mit der Absage heraus. Als ein zweites Mittel sei die Zurechtweisung erwähnt. Kara Ben Nemsi hat für den Pascha "Schaumwein" gebraut, und der hohe Herr trinkt, ohne daran zu denken, den Helden von seinem Kunstprodukt auch nur kosten zu lassen. Der Leser ist



32Vgl. Prof. Dr. Eduard Engel, "Spannung", KMJb 1925, S. 319 ff.
33Z. B. Bd. 11, S. 447.
34Vgl. die Kurzdarstellung des weiteren Verlaufes dieses Abenteuers S. 74 f.



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über die Selbstsucht des Pascha empört, zumal er aus dem Munde des Helden hören möchte, wie ihm die Erzeugung des Getränkes gelungen ist. Der Leser ahnt weiterhin, daß sich der Held dieses Verhalten nicht lange gefallen lassen werde. Aber - wie der Obrigkeit Anstand und Sitte beibringen? Nun, der Held weiß sich zu helfen:

   Der Pascha "trank, ohne an mich zu denken. Seine Miene drückte die höchste Wonne aus, und als die zweite Flasche leer war, meinte er:

   'Freund, dir kommt keiner gleich, weder ein Gläubiger, noch ein Ungläubiger. Vier Khawassen sind zu wenig für dich; du sollst sechs haben.'

   'Deine Güte ist groß, o Pascha, ich werde sie zu rühmen wissen.'

   'Wirst du auch erzählen von dem, was ich jetzt getrunken habe?'

   'Nein, darüber werde ich schweigen; denn ich werde auch das nicht sagen, was ich getrunken habe.'

   'Maschallah, du hast recht! Ich trinke, ohne an dich zu denken. Reiche mir dein Glas, ich werde diese Flasche noch öffnen.'" (Bd. 1, S. 526 f.)

   Einen verhältnismäßig breiten Raum nehmen spannende Zweikämpfe ein. Die spannungserzeugende Technik Mays sei am Beispiel des 12. Kapitels des Bandes 36 nachgewiesen35.

   Das Kapitel trägt die Überschrift "Auf Tod und Leben". Old Shatterhand und seine Gefährten Hobble-Frank, Davy und Jemmy wurden von den Utah-Indianern gefangen. Durch Zweikämpfe können sie Freiheit und Leben erkaufen. Der kleine, hinkende Hobble soll mit einem riesigen Indianer um die Wette laufen. "Während dieser 'springende Hirsch' mit seinen Siebenmeilenstiefeln zwei Schritte machte, mußte der Kleine zehn machen!" (S. 437) Trotzdem wird der Indianer durch eine List besiegt.

   Zunächst hat May dem Hobble-Frank die seelische Anteil-



35Im engen Anschluß an Prüfer, "Wettlauf. Eine vergleichende Studie", KMJb 1924, S. 228 ff.



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nahme [Anteilnahme] seiner Leser gesichert. Er ist ihnen längst ein guter alter Bekannter mit unverwüstlichem Humor (vgl. S. 361). Der Gegner hingegen erweckt kein Mitgefühl: "Er hatte den Bau eines guten Läufers, und seine Beine waren gewiß geeignet, ohne zu ermüden, große Strecken zurückzulegen. Aber die Menge des Gehirns schien nicht mit der Länge der Beine im Einklang zu stehen. Er hatte ein wahres Affengesicht, aber ohne daß von der Klugheit dieser Tiere ein Zeichen darauf zu entdecken gewesen wäre." "Ich laufe mit dem Reh' um die Wette", hört man ihn versichern. (S. 459)

   Unwillkürlich fühlt sich der Leser als Hobble-Frank und auch als Vertreter seiner drei Kameraden, mit deren Geschick das seine auf Tod und Leben verknüpft ist. Diese Teilnahme des Lesers wird durch Zweck und Ziel des Wettlaufes erhöht: Es geht um Freiheit und Leben. Und nun der Verlauf des Kampfes.

   Schon hat der "springende Hirsch" mit weitem Vorsprung die Wendemarke, eine frei stehende Buche, umkreist, da bemerkt er, daß sein weißer Gegner auf eine mindestens doppelt so weit entfernte und links von der Buche stehende Fichte zuhält. Erstaunt starrt er den Jäger an und wartet, bis dieser in seiner Nähe ist. Als ihm nun Hobble die Worte zuruft: "Nach jener Fichte!", fliegt er schnellstens nach der Fichte zu. Der kleine Hobble läuft hinter seinem Rücken nur bis zur Buche und kommt mit glänzendem Vorsprung ans Ziel. So siegt der Weiße durch List gemäß der Ankündigung: "Der Kopp muß mit, denn der hat die Hauptarbeit." (S. 445)

   Hat Hobble nicht unfair gehandelt? Nein, denn die Anwendung von List ist zwischen den Parteien ausdrücklich erlaubt worden: "Der Hobble-Frank maß die Entfernung mit den Augen . . . und meinte dann: 'Aber ich hoffe, daß Ehrlichkeit zwischen beiden Teilen vorhanden ist!' -, Willst du sagen, daß du uns Unehrlichkeit zutraust?' fragte der Häuptling scharf. - Ja.' - 'Soll ich dich niederschlagen?' - 'Versuch es! Die Kugel meines Revolvers würde schneller sein als deine Hand. Hat sich vorhin nicht der 'große Fuß' umgedreht, obgleich es verboten war? Ist das ehrlich gehandelt?' - 'Es war nicht unehrlich, sondern listig.' - 'Ach, und solche Listen sollen erlaubt sein?' - 'List ist kein Betrug. Warum soll sie verboten sein?' -'Ich erkläre mich einverstanden und bin bereit, den Lauf zu beginnen.'" (S. 460)



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   Die Spannung dieses Wettlaufes ergibt sich also daraus, daß der Leser von vornherein eine List erwartet, aber nichts Näheres darüber erfährt. Er muß den ganzen Verlauf mitdenken, bis kurz vor dem Ende die Spannung gelöst wird.

   Voll Traumspannung ist die Befreiungsszene Senitzas in Bd. 1. Der Retter gerät in einen engen Gang, dann in einen Kanal, er schwimmt, er watet, das faule Wasser steigt über die Augen, endlich der Ausgang in den Hof: Kara Ben Nemsi will auftauchen - voll Atemnot -, da - ein hinderndes Gitter, mit letzter Kraft zertrümmert er es, kommt halb erstickt hoch - wie ein häßlicher Traum.

   Oder eine Spannung, die mit der Enttäuschung des Lesers arbeitet: Wettschießen in Bd. 24. Der Prayer-man fordert auf, mit ihm um die Wette zu schießen, der Leser frohlockt: ist doch Old Shatterhand inkognito hier anwesend, sicher wird er dem frömmelnden Verbrecher eine derbe Lehre erteilen. Und dann - leider, Old Shatterhand lehnt es seinen Bekannten gegenüber ab, sich am Wettschießen zu beteiligen. Die Erwartung des Lesers ist aufs höchste erregt, aber die Hoffnung auf die Sensation glimmt nur noch schwach. Da sich auch sonst niemand getraut, dem Prayer-man Widerpart zu bieten, schwillt diesem der Kamm, und er fordert ausgerechnet Herrn Meier (Old Shatterhand) auf, stänkert, verhöhnt und beleidigt ihn, bis das Unglück über den Frechling hereinbricht: der verkannte Herr Meier nimmt die Herausforderung an und übertrifft das fünfschüssige Ergebnis des Gegners mit vier Schüssen ins Schwarze!

   Auch im Moralismus des Helden liegt ein spannungssteigerndes Motiv, wenn er die überwältigten Feinde wieder laufen läßt, nachdem er ihnen ins Gewissen geredet hat. Manche allerdings finden es "fad", daß er den Verbrechern immer wieder die Freiheit schenkt. Seine



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sittlichen Anwandlungen im wildesten Kampf erscheinen ihnen als innere Unwahrheit36.

   Zumeist steht der Held vor einer Aufgabe, der an sich kaum mehr einer gewachsen ist, und er muß sie meistern trotz noch hinzutretender erschwerender Umstände. Schöne Beispiele hierfür bietet der Anfang des Bandes 7. Mit einer Büchse, die sonst nicht einmal jemand halten konnte, tut er, das Greenhorn, Meisterschüsse, bändigt ein Pferd, das vor ihm jeden abwarf, bewährt sich auf der Jagd, auf der ein erfahrener Westmann versagt, und rettet diesem sogar das Leben. Oder der Kampf mit dem Grizzly: Beiläufig wird die Gefährlichkeit dieses Raubtieres erwähnt, dem auch der erfahrene Westmann lieber ausweicht. Ein paar Seiten später steht das Greenhorn Old Shatterhand allein - die Westmänner sind geflohen - einem riesigen Exemplar dieser Raubtierart gegenüber, noch dazu durch eine verhängnisvolle Verkettung von Umständen nur mit dem Messer und lächerlichen Pistolen bewaffnet. Während der Leser im Spannungsfieber liegt, läßt ihn May noch durch eine lange, neuerliche Beschreibung der Gefährlichkeit des Grizzly völlig gar werden, und erst dann wird der Leser allmählich von der Spannung befreit.

   Manche Stellen - man lese die Rettung des Sendador von der Felswand in Bd. 13 nach - werden buchstäblich zu Zerreißproben der Wirklichkeit. Solche Stellen über-



36Vgl. hierzu Strobl, "Das Tragische im Karl-May-Problem", KMJb 1919, S. 227: "Ein Westmann war kein Prediger, sondern ein Krieger und hatte beim Leisten seines harten Handwerks, zu bleiben; wir wußten es nicht, aber wir spürten es, daß hier der innere Stil seiner Bücher, die wir liebten, seine Brüche und Sprünge hatte." Auch Mahrholz sieht die Brüchigkeit des Schriftstellers in der Moralpaukerei an Stellen, wo jeder nur an die Vernichtung des Gegners denkt: "Dadurch verfälscht er die Szene und macht aus lebendiger, leidenschaftlicher Bewegung unnatürliches und heuchlerisch anmutendes Geschwätz." ("Literarisches Echo", 1918, Heft 3.)



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wältigen [überwältigen] den Leser derart, daß er den Inhalt gar nicht mehr richtig aufzunehmen vermag, nur noch unter der Spannung leidet und unter der Lösung aufatmet. So der Kampf gegen die Aladschy und Genossen in Bd. 6, S. 360, wo erst Knaben beim nachahmenden Spiel dieser Szene herausfanden, daß Osko, einer der Gefährten, drei Hände haben müßte. Ein anderer Fehler wurde erst nach über 60 Jahren bei der Vorbereitung der Wiener Karl-May-Ausgabe von Patsch bemerkt, es heißt an einer Stelle des Bandes 4: "Aller Lippen hingen an meinem Munde!" Und noch ein Beispiel: Ein kritischer Leser schrieb zur Wiener Ausgabe, Bd. 25, S. 410, wieso Basch Nasir ein blutiges Gewand haben könne, wo sich doch Seite 424 herausstelle, daß er gar nicht verletzt sei. Patsch konnte antworten: "Sie haben übersehen, daß der Perser schon Seite 400 in einer Lache Soldatenblutes steht. Das ist ein kleiner Originaltrick des Zauberers von Maykka, daß er schon früher die Erklärung gab, wieso Basch Nasir so blutig ist. Sogar der gereifte Leser ist von der spannenden Handlung so gefesselt, daß er glatt darüber hinweg liest, sich die Sache nicht zusammenreimen vermag und schließlich den Bevollmächtigten des Karl-May-Verlages ob dieses vermeintlichen kompositorischen Fehlers berennt." Schließlich weiß jeder, der May-Korrekturen las, wie sehr das Auffinden von Fehlern durch die Spannung erschwert wird.

   Oft läßt May die Spannung sanft verklingen, indem das Ereignis im rückschauenden Gespräch nachbehandelt wird. Oft aber nach Spannung bis zur letzten Reserve, wenn der Leser ohnedies schon ganz aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht worden ist, wie etwa nach dem Kampf auf Leben und Tod gegen die Aladschy, nach der Rettung des Sendador, wird er vollends erweicht durch die unmittelbar folgende rührende Szene.



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Im einen Fall durch die zu Herzen gehenden Worte des Hadschi, mit denen er seine Prahlsucht eingesteht, im anderen durch die Bekehrung des Sendador. Andere rührende Szenen finden sich in Bd. 6, S. 637 f., wo sich Halef nach Rihs Tod Vorwürfe macht, in Bd. 24 in Form der Todesgespräche Carpios und Hillers Geständnis während der Weihnachtsfeier. Über den Tod Winnetous können Jugendliche Tage und Wochen trauern.

   Neben Komik, Spannung und Rührung weiß May seinen Lesern - variatio delectat! - auch Überraschungen zu bereiten. Überraschend taucht ein neuer Gegner, ein schurkischer Plan, ein atmosphärisches Hindernis auf, überraschend erscheint Winnetou in Radebeul, völlig unerwartet sind manche Begegnungen, so die mit dem schiffbrüchigen Chinesen in Bd. 11, die mit Carpio in Bd. 24, mit Lindsay in Bd. 6, mit Winnetou in der Scouterzählung in Bd. 8, mit Turnerstick in Bd. 12, das Zusammentreffen mit Halefs Briefboten in Bd. 26. May stellt sie nicht als bloße Zufälle, sondern als Fügungen des Himmels hin. Es gibt auch angekündigte Überraschungen, z. B. der Kampf gegen die Aladschy in Bd. 5.

   Nach aufreibenden Stellen werden Ruhepunkte eingeschoben. Manchmal Gedichte, wie das Weihnachtsgedicht in Bd. 24, das Ave Maria in Bd. 9, "O Ewigkeit, o Donnerwort" in Bd. 15, "Tragt euer Evangelium hinaus" in Bd. 30, ein Wiegenlied in Bd. 35; manchmal Bibelzitate; in den Bänden 25,28 und 29 finden sich längere poetische Stellen in Jambenform. Oft streut der Autor Exkurse und Reflexionen über Kunst, Religion, Erziehung, Völkerschicksal ein, er tritt mit seiner Person hervor und sagt gewissermaßen zum Leser: Jetzt vergiß einmal eine Zeitlang die Personen der Fabel und die Handlung und höre mir zu, ich will dir meine Meinung über diese Dinge mitteilen.



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   Bei May paaren sich Unterhaltung und Belehrung, sie werden nicht streng geschieden und gehen darum auch nicht einzeln erkennbar nebeneinander her, sondern sie sind sachlich und inhaltlich derart miteinander verwebt und verwirklicht, daß der Leser, vor allem der jugendliche, im ganzen Befriedigung seines Denkens, Fühlens und Wollens findet und seine Bedürfnisse an Seele, Geist und Leib stillen kann37.



Komposition


Die Handlung wird im erlebnismäßigen Abrollen dargestellt. Die Anordnung des Geschehens entspricht den Wünschen und Erwartungen der Leser. Den zentralen Beziehungspunkt bildet nicht etwa ein gedankliches Zentrum, sondern das Gefühl: der Leser erlebt den Augenblick, Vergangenes versinkt rasch, die Zukunft liegt als Geheimnis vor ihm, der eigentliche Gehalt wird durch die um den Helden gereihten Taten und Erlebnisse dargestellt. Gurlitt schreibt über die Grundsätze Mayscher Komposition:

   "Der Kampf führt selten zum sofortigen Sieg: so schnell unterliegt das Böse nicht. Dadurch erhält die Darstellung einen dramatischen Aufbau. Oft, wenn ein Gegner unterlegen ist, erweist er sich nur als Vorkämpfer der sogleich auftretenden größeren Macht. Es sammeln sich die feindlichen Kräfte, verdoppeln ihre Anstrengungen. Es kommt zur höchsten Spannung: die Mächte stehen sich gesammelt gegenüber und bald muß die Entscheidung fallen. Und doch gibt es wieder retardierende Zwischenfälle und immer neue Möglichkeiten, bis endlich, und zumeist wieder überraschend, das gute Prinzip ob-



37Ähnliche Gedanken bei Dr. Hans Walter Schmidt, "Karl May und das Jugendschrifttum". In "Natur und Gesellschaft", Febr. 1920, S. 61.



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siegt [obsiegt], das Böse bekehrt wird oder durch eigenes Verschulden zugrunde geht38."

   Oft schildert May liebevoll eine Episode, verweilt an einem Punkte der Handlung, während er eine andere Strecke einfach übergeht39. Der dichterische Wert ist unterschiedlich:

   "Manche Kapitel sind wunderbar komponiert und in einem Zustand fast ekstatischer Steigerung geschrieben, andere sind matt und trocken, Lückenbüßer, die vielleicht rasch zu Papier gebracht werden mußten, weil ihr Erscheinen in einer periodischen Zeitschrift zur Fortsetzung in unbereiter Stunde nötigte40."

   Manche Werke sind aus einem Guß, eben solche, die als Ganzes komponiert wurden: "Weihnacht" und "Der blaurote Methusalem", die "Schut"-Serie, "Im Lande des Mahdi", "Und Friede auf Erden" und "Der Schatz im Silbersee". Andere Erzählungen, z. B. "Winnetou", wurden aus vor dem gesondert erschienenen Fragmenten zusammengeschweißt, weisen dadurch Wiederholungen, Inkonsequenzen in der Charakterzeichnung, chronologische Widersprüche auf. Diese Tatsache mag an zwei Beispielen, an "Winnetou" und "Im Lande des Mahdi", in aller Kürze gezeigt werden, indem der Aufbau dieser beiden Romane skizziert wird41.

   Die Behandlung des "Winnetou" hat seine Schwierigkeit, da er, wie schon mitgeteilt, aus in sich geschlossenen Novellen für verschiedene Zeitschriften zusammengesetzt wurde42. Für Bd. 7 ergeben sich folgende



38Gurlitt, a. a. O., S. 132.
39Vgl. dazu Otto Eicke, "Wesen und Werk", KMJb 1925, S. 178.
40Dr. Max Fischer, "Karl Mays Kunst der Erzählung", KMJb 1921, S. 241 f.
41Der Aufbau des Romanes "Der Schatz im Silbersee" wird von Kainz, a. a. O., S. 152 ff., beschrieben.
42Vgl. Joseph Hock, "Zum Aufbau des Romans 'Winnetou'", KMJb 1926, S. 423 ff., und Gunter G. Sehm, "Der Erwählte. Die Erzählstrukturen in Karl Mays 'Winnetou'-Trilogie", JbKMG 1976, S. 9 ff.



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Gesichtspunkte: Prüfung des Greenhorns zum Übertritt aus der Zivilisation des Ostens in die Wildnis des Westens. Schießen, Pferdebändigung, Prüfung auf die Tauglichkeit zum Vermesser. Vorstellung des Westmannes Sam Hawkens. Einführung des Greenhorns in das Leben der Savanne. Taufe Old Shatterhands. Spannung zu den Westmännern. Spur der Redmen. Dreifache Jagd auf Büffel, Mustang, Grizzly. Lebensbedingungen der Indianer. Die Lage ist geschaffen, der Rote mag sich zeigen! In die Spannung hinein kommen die Apatschen. Old Shatterhand wird Winnetous Beschützer (erregendes Moment). Zweimaliger Kampf ums Leben. Blutsbruderschaft mit Winnetou (1. Höhepunkt). Mord Santers (2. Höhepunkt).


   Für die Winnetou-Trilogie ergibt sich folgende Gliederung:

A)Einführung Winnetous (1. Bd).
I.Aufsteigende Handlung:
1.Prüfung (Kap. 1),
2.Bewährung (Kap. 2),

3.Vorspruch und erregende Momente,

4.Steigerungsstufe,
a)Kampf mit Kiowas (Kap. 3-1),
b)Kampf mit Winnetou und den Apatschen.
II.1. Höhepunkt: Freundschaftsbund.
III.Zwischenhandlung mit Nschotschis Liebeserklärung (Kap. 5)
IV.2. Höhepunkt: Katastrophe am Nugget-tsil.
V.Fallende Handlung (Kap. 6).

B)Abschnitte aus Winnetous Leben (2. Bd. sowie 3. Bd., 1. Hälfte).
I.Winnetou als Häuptling II, 1-4.
II.Winnetou als Mensch, mit Höhepunkt II, 5-6.
III.Winnetou als Rächer II, 7.
IV.Winnetou als Freund in der Not III, 1-4.



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C)Ausgang (III, 2. Hälfte).
I.Winnetous Läuterung und Tod:
1.Los vom Erdengut (Kap. 5),
2.Näher zu dir, mein Gott! (Kap. 6),
3.Doppelhöhepunkt: Am Ziel (Kap. 7).
II.Ausklang und Überleitung zu "Winnetous Erben" (Kap. 8 und Nachwort).


   Die Romantrilogie "Im Lande des Mahdi" beginnt mit mehreren Vorwürfen nebeneinander, läßt diese sich verknüpfen, um schließlich durch Entwirrung des Knotens zu einer befriedigenden Lösung zu gelangen43.

   In Bd. I stellen sich drei Aufgaben: 1. Was will Murad Nassyr, 2. der Kampf mit der heiligen Kadirine, 3. die Sklavenjäger. Am Schluß des ersten Bandes weiß der Leser: 1. Murad Nassyr ist Sklavenjäger und Kara Ben Nemsis Feind, 2. die heilige Kadirine und die Sklavenjäger sind Verbündete, 3. der hl. Fakir ist - Abd Asl, der Vater des berüchtigten Sklavenjägers Ibn Asl. Neue Aufgabe: Ausforschung des Schicksals des verschollenen Hafid Sichar.

   II. Bd.: 1. Abd Asl, der hl. Fakir, ist gerichtet. 2. Hafid Sichar ist gefunden, 3. Murad Nassyr lebt in Gefangenschaft des Reis, 4. Ibn Asl, dessen Karawanen vernichtende Schläge empfingen, sinnt mit Abd el Barak und dem Muza'bir neue Untaten aus.

   III. Bd.: 1. Abd el Barak und der Muza'bir gerichtet, 2. Freundschaft mit Reis Effendina zerbricht (verzögerndes Moment), 3. Ibn Asl vernichtet, 4. Bundesgenosse Ibn Asls festgenommen, Niederlassung der Sklavenhändler zerstört44.



43Vgl. Alfred Biedermann, "Über Karl Mays ‚Mahdi'", KMJb 1927, S. 304 ff.
44Den in Kurdistan und wieder am Nil spielenden "Epilog" mußte May zur Auffüllung auf die Norm von rund 600 Bandseiten nachträglich hinzufügen.



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   Schon aus dieser Darstellung der Handlungsgerippe ergibt sich der ruhige, gleichmäßige Verlauf im "Mahdi", die Zerrissenheit in Episoden in "Winnetou". Im allgemeinen gilt, was schon Droop von der Komposition der Werke Mays aussagt:

   "Einem Flußsystem gleich, das die Bäche zu Flüssen verstärkt, die Flüsse zum Strome vereinigt und im Meer das Ende findet, tauchen an diesem und jenem Ort Personen auf, deren Zusammengehörigkeit oder feindliche Beziehung man deutlicher und deutlicher erkennt, bis alle Fragen beantwortet sind und alle Personen und ihre gegenseitigen Verhältnisse sich zu einem klaren Bild vereinen45



Ich-Form und Identifikation


Karl May zieht für sein Werk aus den verschiedenen epischen Gattungen Vorteile: dem Märchen entstammen die phantasievollen Geschichten aus dem Reich des Wunderbaren, in dem das Unglaubwürdige glaubwürdig, das Gute belohnt, das Böse bestraft wird; dem Reiseroman die Reisebeschreibung, das Abenteuerliche und Aufschneiderische, der humorvolle Einschlag, die religiös-allegorischen Züge des 17. Jahrhunderts; der exotischen Dichtung der ungewohnte, unerhörte Schauplatz; dem Abenteuerroman das Schelmenhafte als Gegenstück bürgerlicher Lebensordnung und die sittlich betonten Züge der Robinsonade; dem Kriminalroman die Verbrechens- und Detektivgeschichte und Züge der Räuberromantik; dem Ich-Roman schließlich die autobiographische Einkleidung.

   Die Ich-Form war zunächst das Kunstmittel, wodurch die verschiedenen Elemente der Erzählung zusammengehalten werden, sie vereinigt alles Getrennte dadurch, daß sie es zum Erlebnis des einen Helden macht. Sie ist



45Droop, a. a. O., S. 15.



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aber auch für den Erfolg des Schriftstellers von größter Bedeutung:

   "Die Ich-Form der meisten Erzählungen ist ein Teil ihrer ungeheuren Wirkung. Es wird dadurch etwas erreicht, was das Geheimnis der wahren lebendigen Wirksamkeit jeder Dichtung ausmacht: die unmittelbare Identifikation des Lesers mit seinem Helden46."

   Vom Vorgang der Identifikation der Leser her kann viel vom Erfolgsgeheimnis Karl Mays aufgehellt werden. Dieser Vorgang wird dadurch angebahnt, daß ja der Leser seine eigenen Erfahrungen und Gefühle zur Verfügung stellen muß, um die in Druckerschwärze erstarrten Personen und Begebenheiten mit seinem eigenen Blut zu beleben.

   Zunächst sei der Leseprozeß als zeitlicher Vorgang betrachtet. Spannung treibt die Augen des Lesers über die folgenden Zeilen und Seiten, indem er seine Hoffnungen und Befürchtungen, Wünsche und Vermutungen mit dem Fortgang der Erzählung verbindet. Dabei haben die Vorstellungen und Gefühlsrichtungen der Leser die Neigung, sich bis zum Intensitätsgipfel fortzusetzen47; Hemmungsüberwindung steigert diese Neigung, die von May - wie gezeigt wurde - mit Meisterschaft erregt und angereizt wird. Wenn der Gipfel erreicht ist, kommt es leicht zu einem Umschlag des Gefühls: May läßt auf spannende Szenen Rührung oder Ruhepunkte folgen. Er gibt dem freien Phantasiespiel der Leser48 die erwünschte Führung durch Miterregung der den Lesern eigenen früheren Erfahrungen:

   "Das sinnlich wahrgenommene Kunstwerk ist eben der Ausgangspunkt der ganzen Phantasietätigkeit, gewisserma-



46Zuckmayer, a. a. O.
47Vgl. dazu Dessoir, a. a. O., S. 101 ff.
48Vgl. Müller-Freienfels, a. a. O., Bd. I, S. 176 f., über die "freie Imagination".



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ßen [gewissermaßen] das Sprungbrett, von dem sich unsere Phantasie zur Vorstellung des Inhalts emporschwingt49."

   Man muß den Genuß des Lesers als ein Auskosten seiner eigenen Phantasietätigkeit verstehen, um den Erfolg Mays auch in dieser Hinsicht zu begreifen50.

   Am leichtesten aufzunehmen sind Dialoge, da hierfür am wenigsten sinnliche Vorstellungen erforderlich sind. Handlungen und Situationen sind je leichter umzusetzen, je äußerlicherer Natur sie sind. Komplizierte Seelenvorgänge sind am schwierigsten zu verstehen, da die meisten Leser hierfür nicht die entsprechende Erfahrung besitzen, ihnen also die Resonanzmöglichkeit fehlt51.

   Daß May diesen drei Tatsachen im höchsten Maße gerecht wird, haben die vorangegangenen Ausführungen wohl zur Genüge bewiesen.

   Jeder Mensch hat die Fähigkeit, sich auch ohne äußere Ursache verhältnismäßig lebhaft in ein Gefühl zu versetzen, vor allem, wenn es sich um ein Wiedererleben52, um eine Gefühlsreproduktion handelt, die durch Drangzustände heraufbeschworen werden. Der Anruf der sinnlichen Gefühle appelliert an den Zusammenhang zwischen Organempfinden und Affekten im Le-



49Lange, a. a. O., S. 246 f.
50Vgl. hierzu Spranger, a. a. O., S. 62: "Im Genuß dieser Kunstgattung spielt beim Jugendlichen das Interesse am Stoff noch eine sehr erhebliche Rolle. Es kommt für ihn gar nicht unter dem rein ästhetischen Gesichtspunkte in Betracht, sondern auch deshalb und vor allem deshalb, weil es Bilder aus dem Menschenleben gibt, die der einfühlenden Phantasie gestatten, sich selbst in die verschiedensten Situationen hinüberzudenken, sie innerlich mitzuspielen und so den Bezirk des eigenen Seelenlebens zu erweitern." Ferner S. 64: "Vor allem vergesse man ja nicht, wie viel der Jugendliche an Bildern der Erhöhung aus sich im Lesen hinzuträgt."
51Vgl. das Bühler-Zitat, S. 144 f. oben.
52Spranger spricht von "Erlebnisnachklängen", "seelischem Nachgenuß". (A. a. O., S. 59.)



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ser [Leser]53. So rufen etwa die so häufigen engen, schluchtigen Raumformen bei May Veränderung in Atmung und Gleichgewichtsgefühl, Beklemmung im Leser hervor. Darstellung der Bewegung wendet sich an die Empfindungen des Muskelsinnes: Die entsprechenden Bewegungen werden vom Leser in der Regel zwar nicht wirklich ausgeführt, aber er vollzieht ansatzweise die Innervation der Bewegung. Die motorischen Nerven erleiden einen bestimmten Reiz, der zu schwach ist, um die wirkliche Bewegung auszulösen. Es kommt zu Ansätzen von Muskeleinstellungen und Nachahmungsbewegungen. Dadurch wird die Lektüre zum Ersatz wirklichen Erlebens, ihre stellvertretende Kraft zeigt sich etwa in der zusammengeballten Faust oder in den Kehlkopfbewegungen mancher Leser.

   Gesichtsbilder werden durch die Lektüre verhältnismäßig selten hervorgerufen, und wenn, dann sind sie schwebend, lückenhaft und verschwinden wieder schnell54. Karl May versteht es, sich unter Ausschluß von Gesichtsbildern direkt an die Affekte zu wenden. Sie zeigen sich dann in ihrer Rückwirkung auf das Ich des Lesers und greifen in den Wirkungskreis seiner Einstellungen und Anpassungen ein. Oft aber genügt einfach das Wissen um die Bedeutung des Vorganges.

   Beschriebene Körperformen wertet der Leser nach der Funktion des entsprechenden Teiles: Sam Hawkens dünne Säbelbeine wirken grotesk, weil sie mit den ihnen zugemuteten Strapazen in Widerspruch stehen, die Riesennase Lord Lindsays nimmt im Gesicht einen Rang



53Vgl. Müller-Freienfels, a. a. O., Bd. I, S. 97 ff., über die "sensorischen" und "motorischen Faktoren des Kunstgenießens".
54Vgl. Wolfgang Metzger, "Das Räumliche der Hör- und Sehwelt bei der Rundfunkübertragung." R. v. Decker's Verlag, G. Schenck, Berlin W 15, 1942, besonders S. 58 ff.



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ein, der ihr nicht zusteht. Die instinktive Beurteilung durch den Leser geht immer auf den Sinn der Formen.

   Sympathiegefühle schließlich können sich bis zum wirklichen Gefühl, bis zur Identifikation, zur Gleichsetzung mit der betreffenden Person steigern55. Der Leser erlebt sich von innen her und kann sich gleichzeitig sichtbar bewundern, sein eigenes Wunschbild erscheint ihm von außen her so, wie der Filmheld das typisierte Wunschbild der Menge darstellt. Durch die Ich-Form Karl Mays wird dem Leser die Identifikation mit dem Helden erleichtert, und als vorzüglich Beteiligter an der Handlung sucht er seine Mitspieler nach Ausdruck und Sprache zu verstehen. Ihm ist dabei mitbewußt: Das bin ich selbst, und das sind die Gestalten, denen ich bloß meine Gefühle leihe.

   Im Helden entfaltet er seine Kräfte in wunschbildgemäßer, heldenhafter Weise. Es wäre jedoch falsch, würde man nur eine Identifikation mit dem Helden annehmen. Wie der Filmschnitt dem Kinobesucher verschiedene Identifikationsrollen zuweist, indem er einmal die eine, dann die andere Person in Großaufnahme zeigt, so identifiziert sich der Leser auch mit den Gefährten des Helden, mit den Bedrängten und Hilfebedürftigen, so daß er gegen den Helden, der sie rettet - und damit wieder gegen sich selbst -, Gefühle tiefer Dankbarkeit empfinden kann. Man muß an ein andauerndes Umspringen der Einfühlung des Lesers denken, das ihm übersteigertes Ausleben in mehreren Personen verschafft.

   Der Leser kann auch ganz aus dem Identifikationsprozeß herausspringen. Er ist dann sozusagen nur probe-



55Vgl. Müller-Freienfels, a. a. O., Bd. I, S. 60 ff., über "Einfühlung, und Kontemplation", S. 66 ff., über "Mitspieler" und "Zuschauer".



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halber [probehalber], spielhalber dabei, um zu sehen, was man aus dem Leben machen kann, er läßt sich zu neuen Wunschbildern anregen, behält sich dabei volle eigene Freiheit vor.

   Und noch etwas anderes muß berücksichtigt werden: die reaktiven Gefühle, die während des Leseprozesses eintreten. Zunächst Gefühle als Reaktion auf die Gleichsetzung, wie Mitleid, Furcht, Stolz, Rührung. Dann die assoziativen Reaktionen: der Leser bereichert die Personen mit eigenen Gefühlen, die er auf sie überträgt oder die in ihm komplexartig aufgerührt werden. Schließlich die Wertgefühlsreaktion auf das Verhalten der Personen: der Leser empfindet Überlegenheit gegenüber den kämpferisch und geistig Unterlegenen, Bewunderung für den Helden, Spott für die von ihm lässig Abgefertigten56 . So erlaubt die Karl-May-Lektüre dem Leser, in der verhältnismäßig kürzesten Zeit die verhältnismäßig größte Zahl von Erlebnissen und Vorstellungen in sich aufzunehmen.

   Mit den vorstehenden Ausführungen wurden überdies die Grundlagen geschaffen, dem Problem der Fluchtlektüre leserpsychologisch beizukommen. Der Wille zur Flucht geht zunächst auf die Tatsache zurück, daß in Wirklichkeit starke und triebhafte Kräfte abgespalten oder verdrängt werden müssen, um die guten Beziehungen zur Welt nicht zu zerstören57. Die Lektüre ermöglicht, das Abgespaltene, Verdrängte, Unterdrückte emotionell als Teil seines Selbst zu erleben.

   Bei gefühlter Minderwertigkeit gibt es zwei Auswege: Entweder es gelingt, ein anderes Organ für das minder-



56Z. B. beim Gespräch Old Shatterhands mit Watter, Bd. 24, S. 173 ff.
57Vgl. zu den folgenden Ausführungen Clara Thompson, "Die Psychoanalyse, ihre Entstehung und Entwicklung". Pan-Verlag, Zürich, 1952.



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wertige [minderwertige] einzusetzen, oder man versucht, sonst irgendein Mittel zu finden, sich überlegen zu fühlen, und das führt dann häufig zum Ausspinnen von Wunschphantasien. Von May werden sie in reichem Maße geboten und durch Identifikation vom Leser für sich beansprucht.

   Einen dritten Grund zur Flucht stellen schlecht funktionierende zwischenmenschliche Beziehungen dar, was in der Pubertät beinahe die Regel ist. Dadurch entsteht Sehnsucht nach Ersatz, und der wird in phantastischen Personifikationen, in gänzlich oder teilweise nichtexistenten Produkten der Einbildung gefunden, etwa in den Gestalten Karl Mays. Umgekehrt findet ein Mensch, der sich von den Mitmenschen verkannt fühlt, im Helden Mayscher Art ein idealisiertes Bild seiner selbst als Abwehrmaßnahme vor.

   Viertens können die Personen Karl Mays zur Übertragung von belastenden Gefühlen und Gedanken dienen. Aber auch Angstzustände des Lesers können in die Handlung projiziert werden, sie erscheinen dann als äußere Gefahren, die bewältigbar sind und vom Helden, einschließlich des sich mit diesem identisch fühlenden Lesers, auch bewältigt werden.

   Fünftens kann das May-Buch der Regression des Lesers dienen. Wenn das Leben anfängt, schwierig zu werden, regt sich im Menschen der Wunsch, zu der Phase des Lebens zurückzukehren, in der das Leben zwar abhängig von anderen, dafür aber müheloser war58. Für den Jugendlichen in den Schwierigkeiten des Pubertierens bedeuten die märchenhaften Anklänge der May-Bücher eine Rückkehr in den früheren Lebensabschnitt, dem Erwachsenen vermag das May-Buch im



58Vgl. Franz Alexander, "Irrationale Kräfte unserer Zeit". Ernst Klett, Stuttgart, o. J. (Vorwort vom März 1942).



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ganzen ein Zurücksinken in die sorgenlose Kindheit zu bedeuten. Man darf diese Regression nicht nur als neurotische Flucht auffassen, sie hat auch für den gesunden Menschen eine "entscheidende Bedeutung in allen den lebensnotwendigen Tätigkeiten und physiologischen Funktionen, die wir als 'Erholungsvorgänge' bezeichnen59", und die sich als Spiel, Schlaf und Traum äußern. So wie der Traum kann auch die Lektüre schützen gegen äußere Störung und störenden Einfluß der inneren Triebe, vermag die Spannungen aufzuheben ohne Konflikt und Angst, die die Geborgenheit stören würden. Karl May kommt dem tiefverwurzelten Bedürfnis des Menschen entgegen, zu früheren Freuden des Lebens zurückzukehren, die noch nicht mit Verantwortung belastet waren. Vielen Lesern wird so das May-Buch ein Refugium zur Bewältigung der Wirklichkeit.

   Diesem Bedürfnis der Leser konnte May um so mehr entsprechen, als in seinem Schreibprozeß selbst alle angeführten irrationalen Motive wirksam wurden:

   "Seine Werke sind eine Fundgrube von verdrängten Komplexen, von versteckten Bekenntnissen, die der bedauernswerte Mann den Gestalten seiner Phantasie in den Mund legt, die alle, und nicht etwa der strahlende, sieghafte Held allein, das Ich des Verfassers repräsentieren60."

   Autobiographische Züge tragen die wahnsinnige Indianerin in "Old Surehand", der Münedschi in "Am Jenseits", Prinz Ahriman im "Silberlöwen", Ohlert in "Winnetou" (sein Gedicht spiegelt die "Letzte Nacht des Irrsinns" von Karl May), der Herkules im "Satan", der sich nicht aus den Krallen eines wertlosen Weibes lö-



59Alexander, a. a. O., S. 165.
60Forst-Battaglia, a. a. O., S. 29. Vgl. dazu Claus Roxin, "Karl May, das Strafrecht und die Literatur", JbKMG 1978, S. 9 ff., und Heinz Stolte, "Mein Name sei Wadenbach. Zum Identitätsproblem bei Karl May", JbKMG 1978, S. 37 ff.



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sen [lösen] kann, weil er ihr mit den Sinnen verfallen ist. Von May erlebt und transponiert sind die Zuchthausepisode in "Zepter und Hammer", in "Des Kindes Ruf", ferner die Schmuggelaffäre im "Waldschwarzen". Die Redaktion im "Satan" ähnelt der Müchmeyer-Redaktion, ebenso die im "Brodnik". Die Mediziner Dr. Sternau, Dr. Rost und die häufig beschriebenen heilkundlichen Kenntnisse Old Shatterhands erinnern an den "Dr. Heilig" der Strafakten, ebenso die Geschichte des amerikanischen Onkels von Carpio an den "Neffen des Pflanzers aus Martinique", als der sich Karl May ausgab61. Mit Recht schreibt daher Forst-Battaglia:

   "Erschaut, schmerzlich erfahren im Lande seiner Seele, ob auch nicht immer und dann in sehr veränderter Gestalt der groben Wirklichkeit entlehnt, sind die Bücher unseres Dichters wirklich der Spiegel seines Erlebens: sein Dasein, besehen durch das Prisma eines ungewöhnlichen Temperamentes62."

   Von den beschriebenen Tatsachen her eröffnet sich neues Verständnis für die Anwendung der Ich-Form durch Karl May. Durch das Zurschaustellen von unerhörten Leistungen, dann durch den Taumel der Macht gegenüber den anderen Gestalten seiner Phantasie konnte er sein Selbstgefühl befriedigen. Darüber hinaus war ihm die Ich-Form "Ansporn, Anreiz, war wie ein Rauschgift, das ihn in Träume versetzte, die er nur auf diese Art so stark zu erzeugen vermochte, daß sie der Niederschrift standhielten63."

   Karl May war Traumschreiber. Wie der Traum selbst gibt er das Einseitige, das Beklemmende und das Be-



61Patsch ging in 15jähriger Arbeit den "Spiegelungen" von Mays Leben im Werk nach und faßte die Fülle der dabei gewonnenen Erkenntnisse in drei Manuskripten zusammen: "Spiegelungen", "Dr. med. Karl May" und "Karl Mays erste Liebe", alle Wien, 1938.
62Forst-Battaglia, a. a. O., S. 67.
63Otto Eicke, "Wenn sie geschwiegen hätten!'", KMJb 1928, S. 119.



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dürfnisstillende [Bedürfnisstillende], alle anderen Ordnungen und Schichten bleiben verhüllt. Dadurch ersteht die geheimnisvolle Traumperspektive seiner Werke, in der nur deutlich wird, was man mit dem Sinn, dessen Reiz das Bild veranlaßt hat, in einem Augenblick erfassen kann. Das übrige des Milieus, der Charaktere bleibt seltsam verschwommen, nur schemenhaft mitbewußt. Oder wie es May selber ausdrückt:

   "Vergangenes, Erlebtes, Kommendes und die Gebilde der reinen Vorstellungsgewalt fließen mit dem Gegenwärtigen in ein seltsames, halbbewußtes Dasein zusammen64."

   Auf das angelegentlichste weiß der Dichter seine Traumwelt65 gegenüber der Wirklichkeit abzuschirmen, durch Ahnungen, Funde, Botenrollen, Zufälle, unter Anrufung der göttlichen Vorsehung die innere Gesetzlichkeit und Möglichkeit zu wahren. Durch Aussicht auf Lösegeld etwa schützt er diejenigen, die nicht sterben dürfen, vor dem Tod. Und trotzdem - manchmal klafft ein Riß auf, durch den grelles, unbarmherziges Tageslicht hereinbricht. Hier ergäbe sich für May die Gelegenheit, durch einen Ausbruch romantischer Ironie das Gleichgewicht mit der Wirklichkeit des Tages herzustellen. Aber nein: Lieber springt der Dichter mit seinem eigenen, bürgerlichen Leben in die Bresche, indem er auch im gewöhnlichen Leben die Fiktion aufrecht erhält, er selbst sei der Held der berichteten Abenteuer und sein schriftstellerisches Werk ein autobiographischer Zyklus66 . Und es wurde ihm geglaubt, weil es dem sehn-



64Bd. 11, S. 422.
65Über die Geschlossenheit der Phantasie-Welt Mays vgl. ü. a. Wolf-. gang Hultzsch, "Alte, ehrliche Schmetterfaust", "Pommersche Zeitung", Stettin, v. 25.2.1942.
66Übrigens wäre Ironie einem Jugend- und Volksschriftsteller nicht angemessen: sie ist letztlich Ausdruck überlegener Selbstverspottung, Vorbehalt aller anderen unendlichen Möglichkeiten, Selbstreserve, und setzt eine vom naiven Menschen nicht erreichte Reflexionsstufe voraus. Vgl. Spranger, a. a. O., S. 75, Fußnote!



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lichsten [sehnlichsten] Wunsch der Leser entsprach, die Heldentaten wären wahr, deren Kunde sie vernahmen67.

   Ja, May wurde von seinen Lesern geradezu in die Rolle des Schwindlers hineingedrängt. Wie die Engländer an ihren Sherlock Holmes glaubten und viele Londoner Trauerflor trugen und seine fiktive Wohnung mit Beileidschreiben überfluteten, als Conan Doyle den schon lange gehegten Mordplan gegen seine Romanfigur in die Tat umsetzte, so wollten die Karl-May-Leser an ihren Old Shatterhand-Kara Ben Nemsi glauben. Sehr schön wird diese Lesermentalität und ihre verhängnisvolle Wirkung auf den Schriftsteller von Forst-Battaglia beschrieben:

   "Die Knaben schworen bei Old Shatterhand und Winnetou, die Eltern und Lehrer schimpften, griffen dann widerstrebend zu den verfemten Büchern und gerieten auch in den Bann des Unwiderstehlichen. Der hauste nun in einem Vorort von Dresden, in einer schönen Villa 'Shatterhand', umgeben von Trophäen, die sich, man weiß nicht recht, wann und wie, angesammelt hatten; umstürmt von Briefen, die um Autogramme, Rat und Hilfe baten, sich nach dem Schicksal der Helden von Karl Mays, allgemein wenigstens, in der Hauptsache für buchstäbliche Wahrheit angesehene Romane erkundigten. Dieser Triumph und der mit ihm parallel sich mehrende finanzielle Erfolg stieg dem eitlen Mann zu Kopf, und die blühende Phantasie tat ein übriges, um die Linie zwischen Wirklichkeit und Fiktion zu verwischen68."

   Auf des Schriftstellers Vortrags- und Propagandareisen wurde ihm Weihrauch gestreut, per fürstlicher Kutsche besucht er die Familie Schönburg, sitzt dem späteren letzten Kaiser von Österreich, Wittelsbachern, der



67Vgl. Franz Cornaro, "Karl May", "Wiener Stimmen" v. 24.2.1922.
68Forst-Battaglia, a. a. O., S. 21 f.



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Herzogin von Hohenberg gegenüber, ihm danken staatliche Würdenträger und Prälaten. Und so verliert der aus erzgebirgischem Elend hervorgegangene Mann schließlich Maß und Ziel: er vollzieht vor der Öffentlichkeit die Gleichsetzung Karl May-Old Shatterhand-Kara Ben Nemsi.

   In seinen Werken ab 1895 beteuert er die Echtheit der geschilderten Erlebnisse69, läßt auf die Identität zwischen dem Ich und Old Shatterhand hindeuten: "Wenn ich mich nicht irre, hießen Sie wie einer von den zwölf Monatsnamen?", wandelt er ganz in den Spuren des Müllersohnes, der sich als Graf von Karabas ausgab, oder des Herrn Tartarin aus Tarascon, den sein Dichter Alphonse Daudet nie seine Vaterstadt verlassen ließ, und der doch in seiner Phantasie solange in Jagd- und Kriegsgeschichten lebte, bis er schließlich selbst daran glaubte. Anfangs noch etwas schüchtern, griff May bei jeder ruckweisen glanzvollen Ausgestaltung des Haupthelden wieder geschämig zur Er-Form70. Es folgten Zwischenstadien mit Vorbehalt: "Ich bin eine Art Spaßvogel, und nichts macht mir mehr Vergnügen, als wenn ich zuletzt über andere Leute lachen kann!" läßt er seinen Trapper Geierschnabel sagen. In Bd. 11 meint Turnerstick auf der Ziegenjagd: "Wenn einem Menschen die Rakete in den Kopf fährt, so ist er imstande, Dinge zu sagen, an die er selber niemals glaubt." Im "Mahdi" II, S. 45, läßt May einen Beduinen, dem er von seinen erfolgreichen Löwenjagden erzählt hat, ausrufen: "O, Effendi, wie schön du lügst; nein, wie schön du lügst!"



69Siehe S. 97, Anm. 2
70Vgl. Patsch, "Traumwelt", S. 36. Patsch macht auch auf den Umstand aufmerksam, daß die vollzogene Gleichsetzung die Milde des Helden beeinflußte. ("Traumwelt", S. 54.)



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   Alsbald findet man May im " Deutschen Hausschatz" als Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi abgebildet, in Bd. 19 erschien ebenfalls ein Bild des grimmigen Old Shatterhand, und in seiner Korrespondenz wußte der Schriftsteller Erstaunliches von sich und seinen Abenteuern zu vermelden. So in einem Brief, datiert Oberlössnitz, Dresden, den 2. November 1894:

   1. Der Bärentöter ist ein doppelt Vorderlader mit 2 lötigen Kugeln, Treffsicherheit 1800 m, Gewicht 20 alte Pfund; es gehört also ein sehr kräftiger Mann dazu. Verfertigt von der berühmten Firma M. Flirr, San Francisco. Er ist das einzige Gewehr dieser Art.

   2. Der Henrystutzen ist gezogen; der Lauf wird nicht warm, was eben sein größter Vorzug ist. Treffsicherheit 1500 m. Die Patronen sind in einer exzentrisch sich drehenden Kugel enthalten.

   3. Winnetou, der Häuptling der Apatschen, war 32 Jahre alt, als er starb. Sein Name wird ausgesprochen Winneto-u, das o-u sehr schnell hintereinander als Diphtong.

   4. Ich spreche und schreibe: Französisch, englisch, italienisch, spanisch, griechisch, lateinisch, hebräisch, rumänisch, arabisch 6 Dialekte, persisch, kurdisch 2 Dialekte, chinesisch 6 Dialekte, malayisch, Nanaqua, einige Sunda-Idiome, Suaheli, hindostanisch, türkisch und die Indianersprachen der Sioux, Apachen, Komantschen, Snakes, Uthas, Kiowas, nebst dem Ketschumany 3 südamerikanische Dialekte. Lappländisch will ich nicht mitzählen. Wieviel Arbeitsnächte wird mich das wohl gekostet haben? Ich arbeite auch jetzt noch wöchentlich 3 Nächte hindurch. Montag nachmittag von 6 Uhr bis Dienstag mittag 12 Uhr und ebenso von Mittwoch bis Donnerstag und von Freitag bis Samstag. Wem der Herrgott 1 Pfund Verstand verliehen hat, der soll damit wuchern, denn er hat dermal einst Rechenschaft abzulegen.

   5. Mein bestes Pferd war Hatatitla, den Winnetou mir schenkte, nämlich in Amerika. Rih war wertvoller.

   6. Halef ist jetzt Oberscheik aller Schammarstämme, zu denen auch die Haddedihn gehören. Lindsay hat soeben eine großartige Expedition durch Australien vollendet und bedeutende Goldfelder entdeckt. Haben Sie in den Zeitungen nicht



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davon gelesen? Hobble lebt noch, Hawkens, Firehand, Hawerfield sind tot.

   7. Buffalo Bill kenne ich persönlich; er war Spion und guter Führer, weiter nichts. Zu den Westmännern á la Firehand wurde er nicht gerechnet. Sein eigentlicher Name ist Cody.

   Schließlich noch die Bemerkung, daß die 34schüssige Flinte von Evans eine Fabel ist. Über meinen Stutzen kommt kein anderes Gewehr. Henry hat seinerzeit nur 12 Stück angefertigt; 11 sind verschwunden; das meinige ist noch allein da. Was Sie sonst noch wissen wollen, würde mich zu weit führen . . .

   (Es folgen moralische und religiöse Gedanken.) Dr. Karl May71."

   Ein anderes bezeichnendes Schreiben Karl Mays teilt die "Berliner Volkszeitung", Morgenausgabe v. 24.2.1942, mit. Eine begeisterte May-Leserin, die Gräfin J. aus Cabuna in Slavonien, konnte es nicht verwinden, daß Winnetou als Heide gestorben war, und fragte mit sanftem Vorwurf bei May an, warum er Winnetou nicht die Nottaufe gegeben habe. May schrieb ernsthaft zurück, der Vorwurf sei ungerecht, so sehr der Schein gegen ihn spreche. Er habe als Old Shatterhand Winnetou tatsächlich die Nottaufe gegeben, habe es aber in dem Buch nicht erwähnen wollen, um nicht Angriffe von andersgläubiger Seite zu erfahren.

Und ein drittes Beispiel, mitgeteilt von Weber, a. a. O., S. 43. In einer Gesellschaft wurde May von einem Waffenfachmann nach dem Geheimnis des Henrystutzens gefragt. Der Schriftsteller erwiderte:

   "Das ganze Geheimnis liegt zwischen Lauf und Laufmantel. Vielleicht erfahren Sie einmal später davon. Ich habe nur noch zwei große Lebenszwecke zu erfüllen: eine Mission bei den Apatschen, deren Häuptling ich bin, und eine Reise zu meinem Halef, dem obersten Scheik der Haddedihn-Araber. Dann aber werde ich vor den deutschen Kaiser treten: 'Majestät, wir wol-



71Abgedruckt in der Reichsausgabe der "Frankfurter Zeitung" v. 1.4.1937.



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len [wollen] einmal miteinander schießen!' Ich werde ihm meinen Stutzen vorführen. Derselbe wird in der gesamten deutschen Armee eingeführt werden, und kein Volk der Erde wird dann je den Deutschen widerstehen können."

   In seinem Aufsatz "Freuden und Leiden eines Vielgelesenen" für den "Deutschen Hausschatz" trieb May die Gleichsetzung derart auf die Spitze, daß er damit die "Frankfurter Zeitung" herausforderte, dem Schwindel zu steuern72.

   Die Wirkung dieser Gleichsetzung auf Jugendliche spiegelt sich im Bekenntnis Joseph Höcks:

   "Kurz und gut, ich war ganz begeistert für den Haupthelden der Erzählung, für die 'Ich'-Person. 'Ich, das muß ja der Schreiber des Buches sein', dämmerte es in mir auf. Und ich schlug nochmals den Titel des Buches auf und las 'von Karl May'. Der Name Karl May blieb haften73."

   Strobl schreibt zur Ich-Form: "Literarisch unbeschwerte Knabeneinfalt ist leicht geneigt, das Ich des Buches mit dem Ich des Schreibers gleichzusetzen: die Enttäuschung unserer fünfzehn Jahre, dieser Fall aus unserem Heldenhimmel und der nachfolgende Ingrimm über die Irreführung bedürfen keiner Erklärung74."

   Zuerst mag sich der Jugendliche noch nicht schlüssig sein: Form und verschiedene Hinweise sprechen für die Gleichsetzung, der immer kritischer werdende Verstand sträubt sich dagegen wegen der dargestellten Unwahr-



72Erstes Morgenblatt der "Frankfurter Zeitung" v. 17. Juni 1899. Zur Verteidigung der Ich-Form siehe Sehling, "Das Recht auf Phantasie", KMJb 1920, S. 368 ff.; ferner Strobl, "Das Tragische im Karl-May-Problem", KMJb 1919, S. 233; Wulffen, "Kriminalpsychologie", Leipzig, 1915, S. 12; Finke in "Natur und Gesellschaft", Juli 1919, S. 163. Patsch zeichnet in der "Traumwelt" die Ausgestaltung des Helden von ihren ersten Anfängen bis zum bitteren Ende. Die "Freuden und Leiden . . ." wurden wieder veröffentlicht im "Magazin für Abenteuer-, Reise- und Unterhaltungsliteratur", Heft 18, 19, 20/1978 u. 21/1979.
73"Aus meinen Knabentagen", KMJb 1922, S. 308 f.
74"Das Tragische im Karl-May-Problem", KMJb 1919, S. 231.



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scheinlichkeiten [Unwahrscheinlichkeiten]; es ist ein Schwanken zwischen Glaube und Unglaube, bis schließlich die Wahrheit durchbricht. Patsch weist darauf hin, daß sich diese Enttäuschung ähnlich verhalte wie die Enttäuschung über das Christkind: Wenn die erste Krisis der Ernüchterung überstanden ist, freut man sich doch wieder über den Weihnachtsbaum.



"Mein Stil ist also meine Seele"


   Nach der Behandlung der Mittel der Darstellung und ihrer Bedeutung für den Erfolg sei nun die Frage nach dem künstlerischen Wert der May-Bände gestellt. Mahrholz urteilt:

   "Alles, was den Dichter ausmacht, Leidenschaft, Verstand, Phantasie, Erlebnisbreite, hat Karl May, aber ihm fehlt die Fähigkeit, jede dieser Eigenschaften am rechten Ort zu verwenden, ihm fehlt der Überblick und die innere Disziplin, ihm fehlt Vernunft75."

   Aber - greift die breite Masse überhaupt gern zum künstlerisch gestalteten Buch, das man "lesen" muß und nicht "verschlingen" darf76?

   Es ist irgendwie tragisch, wenn Walter Hofmann, der Pionier der Volksbildung, der einst mit allem Idealismus und Optimismus ans Werk ging, schließlich zu der Einsicht gelangte, daß es Tausende und Hunderttausende gibt, die weder mit Goethe und Schiller, noch mit Raabe und Storm, auch nicht mit Keller und Stifter zu beglük-



75Mahrholz im "Literarischen Echo", Heft 3 v. 1.11.1918. (Der zit. Absatz wurde nicht in das KMJb 1927 übernommen.)
76Vgl. hierzu den Aufsatz im "Abend", Berlin, v. 2.12.1947: "Karl May, Gebrüder Grimm und Wilhelm Busch".



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ken [beglücken] sind, die sich vielmehr und unter anderem bei Karl May wohl fühlen77.

   Indessen, wäre es nicht zuviel verlangt, von der breiten Masse Kunstenthusiasmus zu fordern? Ganz abgesehen davon, daß jeder Kunstgenuß höherer Art beim Aufnehmenden eine besondere Begabung voraussetzt (bei der Dichtung wird dies leicht übersehen, weil man sich ihres Mediums auch zur Verständigung bedient), so bildet eine zweite unentbehrliche Voraussetzung zu ihrer genußreichen Würdigung eine weit fortgeschrittene Ausbildung menschlichen Geistes, Erwerbung vieler Kenntnisse und eine Rangordnung der Werte auf dem Boden der Persönlichkeit, die nur in harter Arbeit, in ernsten und müßigen Stunden errungen werden können. Die Bewertung eines Buches auf Wirklichkeits- und Wahrheitsgehalt hin ist abhängig vom Stande des Weltbildes und Kulturumblicks des Lesers. Das Verständnis für die Mittel der Darstellung setzt liebevolle Beschäftigung mit der Sprache überhaupt, zudem Wissen um die Technik der entsprechenden Gattung und vielfältige Vergleichsmöglichkeiten voraus. Die Erfassung des Stils



77Walter Hofmann, "Buch und Volk", Verlag Der Löwe, Köln, 1951, S. 21. Selbst von May fielen die meisten Leser ab, als er sich dem Symbolismus zuwandte. Sehr richtig schreibt Fritz Barthel, "Der Wanderer", KMJb 1924, S. 38: "Viele seiner Leser werden ihm an dieser Wegstelle böse, wenden ihm den Rücken oder leben von ihren schönen Erinnerungen an die gemeinsam durchlebten Abenteuer, das heißt, sie lesen die Abenteuerbände, soweit sie ihnen rein Irdisches schenken, zum zweiten, dritten und vierten Mal und bedauern offen, daß der gute, liebe Karl May alt und mystisch geworden sei." Auch Strobl, "Das Tragische im Karl-May-Problem", KMJb 1919, S. 227, macht eine ähnliche Bemerkung: "Die Weltkinder schieden sich von ihm, der sich immer deutlicher bemühte, uns von seiner Gotteskindschaft zu überzeugen, auf daß auch wir die Pfade des Lichtes zu wandeln begönnen." - Karl May gibt einen Schlüssel zu seinen symbolischen Werken in der Einleitung zu "Abdahn Effendi", Bibliothek Saturn, Stuttgart, 1909.



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schließlich hängt ab von der Ausgestaltung der eigenen Persönlichkeit, von der Reife des Lesers als Mensch. Nur wer sich auch im Leben bemüht, neben der einseitigen Einstellung seiner jeweiligen Gedanken und Taten die gesamte Fülle der Wirklichkeit samt der Rangordnung der Werte vergleichend und begründend mitbewußt zu halten oder sich wenigstens nachträglich ihrer zu besinnen, wird den Stil eines Buches klar erkennen und sich der Durchführung der inneren Form bis ins Detail hinein erfreuen können. Er wird darüber hinaus in der Überbetonung des Teiles oft Manier wittern.

   Das Stilproblem hängt irgendwie mit dem Freiheitsproblem zusammen: Entweder der Leser liest und vermag dabei das Gebotene gegenüberzustellen der vollen Wirklichkeit samt der ungeschmälerten Wertordnung, oder ihm versinkt bei der Lektüre das Ganze und damit die Freiheit, er wird vom Teil, vom Ausschnitt, vom Buch, oft nur vom Kapitel, von der Seite, der Zeile überwältigt. Wieviel Arbeit und Zucht erforderlich ist, das Gelesene immer in die Schranken zu verweisen, die ihm vom Gesamten her gesetzt sind, wird vergleichsweise bewußt, wenn man bedenkt, wie selten der Mensch auch im Leben aus der Vernunft handelt, wie viel mehr er sich natur- und umweltbedingten Bahnungen überläßt. Es ist schwer, über das Buch zu herrschen, und es würde die meisten auch noch um den Genuß bringen.

   Geht doch die breite Leserschar mit ganz anderen Voraussetzungen an die Lektüre heran und stellt demgemäß auch andere Anforderungen. Sie sucht Hilfe zur Daseinsbewältigung, Zuflucht vor dem Lebenskampf, Erholung, Zerstreuung, phantasiemäßige Ergänzung der Persönlichkeit und Wunscherfüllung in einer Traumwelt. Die mangelhafte Selbsterkenntnis des Durchschnittlesers treibt ihn zur Übersteigerung des ei-



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genen [eigenen] Wertes, er fühlt sich einmalig und überträgt die Einmaligkeit auch auf banale Wörter, abgedroschene Phasen, schablonierte Handlungen, die ihm dann hohe Poesie bedeuten. Umgekehrt entspricht es seinem Einmaligkeitsgefühl, daß er besonders ausgefallene Wörter, hinkende und an den Haaren herbeigezogene Vergleiche liebt. In diesen beiden Strebungen ist das Wesen des Kitsches begründet. Die meisten Leser stehen in der vorkünstlerischen Phase des "ästhetisch halb gebildeten Kulturmenschen78", dessen Augenmerk auf stoffliche Spannungsreize gerichtet ist, da er für die formale Spannung, die feineren Spannungs- und Harmoniewerte noch kein Empfangsorgan entwickelt hat:

   "Auf das Wie der Darstellung kommt es dem Volke niemals an. Es beachtet das nicht. Der Gebildete verlangt eine dem Inhalt adäquate Form, er sucht Einheit, Harmonie. Ihn vermag eine Dichtung zu spannen und dann doch nicht voll zu befriedigen. Diesen Zerfall des Urteils kennt der Ungebildete nicht. Was spannend ist, hat allen seinen Ansprüchen genügt79."

   Das Heer der Durchschnittsleser wird noch durch jene Gebildeten verstärkt, die im Buch Zerstreuung und Erholung suchen. Es ist kennzeichnend für geistige Ermüdung, daß der Betreffende, sich gehen lassend, in die vor künstlerische Phase zurückfällt: komplizierte Zusammenhänge werden nicht mehr erfaßt, der Zusammenhang mit dem Ganzen geht vielmehr verloren, der Trieb, Wahrheits- und Wirklichkeitsgehalt zu überprüfen, schwindet, und das Verantwortungsgefühl schlummert. Ähnlich wie bei einer Operation wird alles Ablenkende, Beunruhigende, Störende zugedeckt und der Leser liefert sich dem nunmehr allein wichtig er-



78Erwin Ackerknecht, "Lichtspielfragen", Weidmannsche Buchhandlung, Berlin, 1928, S. 46.
79Ch. Bühler, "Zur Psychologie der Volksliteratur", KMJb 1919, S. 316.



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scheinenden Teil aus, läßt sich vom Buch, von den Seiten, manchmal nur noch von den Zeilen fesseln, in primitiver Art phantastische Ergänzung seines Daseins suchend80.

   Der Bestseller stand von seinen Ursprüngen an in nur zufälligem Zusammenhang mit der Kunst, er steht in anderen Diensten:

   "Zeitung wie Roman haben zur selben Zeit, mit denselben soziologischen Hintergründen, im bürgerlichen England des ausgehenden 18. Jahrhunderts ihre erste Blüte erlebt. In dieser Zeit liegen auch die ersten Ansätze zum Bestseller, denn vom Puritanismus aus sollte sich später über den Utilitarismus der Pragmatismus entwickeln. Der 'fiction-bestseller' ist weder ein Roman noch ein Zeitungsartikel, er ist ein Gemisch, das gemeinsame Kind von beiden. Er ist ein völlig neues Phänomen. Mit dem Roman teilt er die Form, die in einzelnen Fällen zu einem dichterischen Kunstwerk gestaltet wird, das Reich der Phantasie, der Träume und Wünsche, mit der Zeitung teilt er die politische Aktualität. Ein Buch wird nie zum Bestseller, weil es ein Kunstwerk ist, so wenig als ein politischer Bericht, dem jede darstellerische Fähigkeit mangelt81."

   Rudolf Schenda spricht von "Exigenzen", Bedürfnissen des "einfachen Lesers", und nennt u. a. das Bedürfnis nach Bekanntheit und Bestätigung, nach Information, nach Varietät, nach Ökonomie der Aussagen, nach Fluchthilfe und nach Überhöhung der Wirklichkeit82. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Horst Holzer, wenn er im



80Vgl. J. Tews, "Der Durchschnittsleser", in "Der Tag" v. 23.11.1927: "Bei Büchern, die mich fesseln, vergesse auch ich die Darstellungsform völlig. Ich lese also nicht mehr, ich lebe, nicht mit dem Erzähler und Schilderer, sondern nur mit und in seinen Menschen und in der von ihm geschaffenen Welt, ganz und gar hingegeben und versunken in das, was er darstellt." Ähnliche Gedanken finden sich bei Josef Hofmiller, "Schund und Kitsch", "Münchener Neueste Nachrichten" v. 20. Juni 1932. Vgl. ferner "Auf den Spuren Winnetous" in der "Rheinischen Illustrierten" v. 29.1.1928.
81Marjasch, a. a. O., S. 107.
82A. a. O., S. 470 ff.



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Rahmen der Massenkommunikationsforschung die aus der sozialen Lage des Publikums resultierenden Bedürfnispositionen beschreibt83. Und bei Karl-Heinz Wallraff steht über den "literarischen Massenerfolg":

   "Der Durchschnittsleser in der ganzen Breite seiner weltweiten Schicht reagiert auf die Lektüre eines Buches aus vital-affektiv-triebhaften und emotionalen Seelenbereichen. Er muß in sein Buch eingehen, muß vergessen, daß er liest, also eins werden mit dem Helden oder der Heldin; er muß darin leben, wie wenn er selbst ihre Schicksale durchlitte. ( . . . ) Erst in zweiter Linie tritt dahinter die literarische Wertung beim Erfolgsbuch in Erscheinung84."

   Die Wünsche an sein Leben fesseln den einfachen Leser an seine Lektüre.

   So muß eine ästhetische Kritik an May überhaupt versagen, weil sie die Sache nicht trifft. Versagen mußten aber auch alle May-Kopisten, die Sattler85, die Held86 und Konsorten87, die ihn kalt nachahmen wollten. Gelang es doch nicht einmal Kandolf, der einer der vorzüg-



83In: Massenkommunikationsforschung 2: Konsumtion, Fischer-Taschenbuch 6152, 1973, S. 324 ff.
84In: Helmut Popp (Hrsg.): Der Bestseller, München, 1975, S. 15.
85Dr. Franz Sattler, "Reisen und Abenteuer": 1. "Am Libanon", 2. "Nach Damaskus und dem Hauran", 3. "Bei den Arnauten"; alle bei E. Bartels, Berlin-Weissensee, o. J. Der dritte Band ist "Dem Andenken Karl Mays in Verehrung gewidmet", die dritte Strophe des Widmungsgedichtes lautet:
"Solch starken Willen kann die Zeit nicht brechen,
Und wenn viel and're längst vergessen sind,
In Nacht versunken und verweht im Wind,
Wird deines Namens stolzer Klang noch sprechen."
86Karl Held, "Im Reiche der Beduinen, Reise-Erzählungen", und "Old Ironhand, der Trapper". Beide im Verlag moderner Lektüre, GmbH, Berlin S. 14, 1916.
87Z. B. Tip Lanners, "Im fernen Westen oder Manalupe, der Siouxhäuptling, eine Erzählung aus Nordamerikas Vergangenheit". Verlag von Max Fischer, Dresden, o. J. Patsch legte dem Verfasser ferner eine Liste vor mit Zitaten aus neuesten Kolportageheften, die zum Teil wortwörtlich aus Karl Mays Werken entnommen wurden.



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lichsten [vorzüglichsten] May-Kenner und -Liebhaber war, den Bd. 50, "In Mekka", stilecht zu vollenden: Kara Ben Nemsi wurde mehr ein Sherlock Holmes statt des kühnen, vom Glück begünstigten Helden Karl Mays88.

   Es fehlt die Seele, das Antlitz Karl Mays, "das zu schauen wir keineswegs ermüden, das treuherzig und gescheit, gütig und heiter uns ansieht; dem wir nicht gram sein können, mag es auch mitunter sich zur Grimasse verzerren oder in ihm nicht geziemende bedeutende Falten legen89." Mays Heimat ist das Land der Butzenstuben, in denen abends beim Spinnrad phantastische Geschichten erzählt wurden, das Land der Bildschnitzer, die in ihre Bergwerke und Weihnachtspyramiden die ganze Weltgeschichte hineingeheimnisten, das Land der unendlichen Heimatliebe, die in tausend melodischen Liedern klingt und singt, der grenzenlosen Sehnsucht nach der Ferne, die die Söhne des Erzgebirges schon seit Jahrhunderten in alle Weiten der Welt geführt hatte. Wie in einem Brennglas sind alle diese Eigenschaften seiner heimischen Landschaft und seines Stammes in Karl Mays Erzählertalent vereint. Nicht die Buntheit der äußeren Abenteuer ergreift letztlich die Seele des Lesers dieser Bücher, sondern die visionäre Kraft des inneren Gesichts, mit der der Dichter selbst seine Geschichten erlebt und mitzuerleben zwingt. Die Bücher Mays sind ihrem innersten Wesen nach Märchen, aus der Kraft einer gütigen Seele gestaltet und fähig, gläubig bereite Herzen ganz in Bann zu schlagen.

   "Mein Stil ist also meine Seele; und nicht mein 'Stil', sondern meine Seele, soll zu den Lesern reden." Karl May schrieb mit seinem Herzblut und büßte dafür zum zweitenmal mit seinem bürgerlichen Ansehen.



88Vgl. Prüfer, "Kandolf in Mekka", KMJb 1924, S. 199 ff.
89Forst-Battaglia, a. a. O., S. 35.



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Lassen wir das Schlußwort einen Schriftsteller und einen Literaturhistoriker sprechen. Heinrich Zerkaulen urteilt:

   "So allein läßt sich die Magie erklären, die vom Gestalter Karl May bis zum heutigen Tage ausgeht: dieser Mann kam aus dem Volk und nicht aus der Literatur. Sein Studium war das Leben, seine Hochschule der Kampf. Er war ein Priester jenseits der Theologie, ein Feldherr ohne Armee, ein Gläubiger ohne Dogma, ein Liebender ohne Berufung90."

   Und Forst-Battaglia:

   "Dadurch unterscheidet sich aber May von den mit ihrer Generation versinkenden Lieblingen der großen Leserscharen: Er wird noch manchen Geschlechtern viel und vielen Geschlechtern einiges bedeuten. Sein Name ist ein Begriff geworden; seine Zeugenschaft hat historische Kraft errungen, seine literarische Position ist unbestreitbar. Zu dieser Einsicht sind wir heute über einen Mann gelangt, dessen Charakterbild fortan in der deutschen Literaturgeschichte nicht mehr schwanken wird91."



90Heinrich Zerkaulen, zit. nach Wolfgang Goethe, "Karl May und wir", "Berliner Allgemeine Zeitung" v. 27.2.1942.
91Forst-Battaglia, "Karl May heute", "Begegnung", Verlag Wort und Werk, Köln, 7. Jg. 1952. Heft 3.




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