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DER SCHAUPLATZ



Quellen zur Schauplatz-Schilderung


Karl May versetzt seinen Helden zwischen exotische Kulissen, die jede seiner Eigenschaften zur größeren Dimension bringen und damit stilisieren. Im Fernbild Arabiens und der Prärien Amerikas findet der Held Gelegenheit zu den ihm gemäßen, außerordentlichen, "unmöglichen" Abenteuern.

   Der Schriftsteller selbst bemerkt zur Wahl des Schauplatzes:

   "Ich hatte meine Sujets aus meinem eigenen Leben, aus dem Leben meiner Umgebung, meiner Heimat zu nehmen und konnte darum stets der Wahrheit gemäß behaupten, daß alles, was ich erzähle, Selbsterlebtes und Miterlebtes sei. Aber ich mußte diese Sujets hinaus in ferne Länder und zu fernen Völkern versetzen, um ihnen diejenige Wirkung zu verleihen, die sie in der heimatlichen Kleidung nicht besitzen. In die Prärie oder unter Palmen versetzt, von der Sonne des Morgenlandes bestrahlt oder von den Schneestürmen des wilden Westens umtobt, in Gefahren schwebend, welche das stärkste Mitgefühl des Lesenden erwecken, so und nicht anders mußten meine Gestalten gezeichnet sein, wenn ich mit ihnen das erreichen wollte, was sie erreichen sollten. Und dazu hatte ich in allen den Ländern, die zu beschreiben waren, wenigstens theoretisch derart zu Hause zu sein, wie ein Europäer es nur immer vermag. Es galt also, zu arbeiten, schwer und angestrengt zu arbeiten, um mich vorzubereiten . . .1"

   In dieser Aussage Karl Mays sind alle Fragen, die den geographischen Untergrund und den ethnographischen Hintergrund seiner Werke betreffen, wenigstens andeu-



1Bd. 34, S. 407 f. Vgl. Heinz Stolte, "Die Reise ins Innere. Dichtung und Wahrheit in den Reiseerzählungen Karl Mays'". JbKMG 1975, S. 11 ff.



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tungsweise [andeutungsweise] enthalten. Wir behandeln die mit dem Schauplatz verknüpften Erfolgsgründe zuerst im Hinblick auf den Autor und dann im Hinblick auf die entsprechenden Leserbedürfnisse.

   Welcher Technik bediente sich May bei der Ausarbeitung seiner "Reiseerlebnisse"? Er selbst hielt die längste Zeit an der Version fest, alles wirklich erlebt zu haben:

   "Ich will die Bücher, welche ich schreibe, nicht mit den Resultaten wohlfeiler Erkundigungen füllen, sondern nur das erzählen, was ich selbst erlebt, geprüft oder gesehen habe2."

   Es gibt heute noch Fanatiker, die an diesem Wahrheitsanspruch festhalten, zumindest an die Reisen Karl Mays glauben. Dieser Auffassung wurde vom Karl-May-Verlag aus nicht widersprochen, da dieser Glaube, Karl May habe alles wirklich erlebt, sehr zum Erfolg der grünen Bände beitrug. Dieser Wirklichkeitsanspruch ist indes aus inneren und äußeren Gründen unhaltbar. Schon 1882 stand in der Zeitschrift "Alte und Neue Welt" zu lesen:

   "Wer speziell etwas von dem berühmten Assyriologen Layard kennt, möchte sich in einem bestimmten Falle zu dem Nachweis versucht fühlen, daß der phantasievolle Verfasser seine Reisen sogar bis auf Layards Werke ausgedehnt habe3."

   Forst-Battaglia macht auf einige Schnitzer aufmerksam, die den Gedanken an einen Wirklichkeitsanspruch unmöglich machen: Im "Wilden Kurdistan" und im "Schut" spricht ein Albanese "skipetarisch", das sich als gutes Serbisch erweist, "Im Lande des Mahdi" wird die Gegend nach einer falschen Karte in Petermanns "Mitteilungen" beschrieben4.



2Bd. 28, S. 32; vgl. auch Bd. 2, S. 242; Bd. 16, S. 560; Bd. 17, S. 406; Bd. 18, S. 153; Bd. 19, S. 150.
3"Alte und neue Welt", 16. Jg., Nr. 29, Jänner 1882, S. 480 unter "Vertrauliche Correspondenz".
4Forst-Battaglia, a. a. O., S. 57.



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   Für die Amerika-Bände geht die Unmöglichkeit tatsächlichen Erlebens mit der Unmöglichkeit der Erstellung einer befriedigenden Chronologie des Geschehens Hand in Hand. Patsch machte schon zu Beginn seiner Verbindung mit dem Karl-May-Verlag aufmerksam, daß May nordamerikanische Flüsse mit Elbedampfern befahren läßt. Er wies zudem darauf hin, daß der Schriftsteller in seinen Orient-Romanen Kopfschütteln und Nicken in abendländischer Bedeutung gelten lasse, während es sich damit in Wirklichkeit umgekehrt verhalte.

   Obwohl man heute weiß, daß Karl May manche seiner Schauplätze erst nachträglich bereiste, andere niemals zu Gesicht bekam, finden sich seine Angaben in Wirklichkeit zumeist aufs wunderbarste bestätigt:

   "Dem ausgezeichneten Lokalkolorit, zumal der in islamitischen Länder spielenden Werke, ist nicht anzumerken, daß der Autor höchstens einige Monate tunesischer und ägyptischer Erfahrung hatte5."

   So stellt sich wieder die Frage: Wie machte es Karl May, das Kolorit des Schauplatzes zu treffen, ohne dort gewesen zu sein? Forst-Battaglia unterscheidet fünferlei Quellen, deren sich May bei der Ausarbeitung seiner Werke bediente: 1. Wissenschaftliche Werke, denen er länderkundliche und sprachliche Tatsachen entnahm; 2. Romane, die er fürs Technische benutzte, um ihnen Motive, Figuren, stilistische Kunstmittel zu entlehnen; 3. Mündliche Berichte von Reisenden; 4. In veränderter Form verwendete eigene Schicksale; 5. Freies Spiel einer zum Adoptieren schon vorhandener Stoffe mehr als zum originellen Schaffen geeigneten Phantasie6.



5Forst-Battaglia, a. a. O., S. 57. Zu Amerika vgl. Werner Poppe: "Die Fred Sommer Story. Untersuchungen über eine angebliche Frühreise Karl Mays in die USA", Sonderheft der KMG 1975.
6Forst-Battaglia, a. a. O., S. 56.



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   Im Rahmen dieser Arbeit wird keine Vollständigkeit auf dem Gebiete der Abhängigkeitsforschung angestrebt7; sie begnügt sich mit einigen Hinweisen, um die Erfolgstechnik Mays auch in dieser Hinsicht zu beleuchten. Für "Winnetou" verwendete May eine Menge amerikanischer Publikationen, unter anderem auch Brownes "Apachen8". Nadler weist auf die Abhängigkeit von Ruppius und Gerstäcker hin. Patsch auf den "Skalpjäger" von Maine Reid. Über den Einfluß, den Ferrys "Waldläufer" auf May nahm, wird später noch ausführlicher zu schreiben sein. Selbstverständlich war May auch mit der sonstigen einschlägigen Literatur vertraut, wie etwa mit Cooper und Sealsfield, Möllhausen und Marryat, John Retcliffe, Samarov, Daudet, Dumas, Auerbach, Vulpius und Scott, Homer, Dante und Swift.

   Für die zweite Hälfte des ersten Bandes und den zweiten Band seiner Werke verwendete May das schon genannte Werk von Austen Henry Layard: "Ninive und seine Überreste, nebst einem Berichte über einen Besuch bei den chaldäischen Christen in Kurdistan und den Jezidi oder Teufelsanbetern9." Ihm entnahm er die ethnographischen und geographischen Schilderungen, die Motive und Anregungen für die Abenteuer und Geschichtswissen, teils geschickt in die Handlung, in den Dialog eingeflochten, teils wortwörtlich nach Layard. Die Spur Kara Ben Nemsis läßt sich Schritt für Schritt auf



7Vgl. das Verzeichnis von Karl Mays Bibliothek im KMJb 1931; ferner Franz Kandolf, "Schrittmesser und Landkarten", KMJb 1925, S. 154 ff.
8Vgl. Forst-Battaglia, a. a. O., S. 56 f. Dazu neuerdings Werner Poppe, "'Winnetou'. Ein Name und seine Quellen", JbKMG 72/73, S. 248 ff.
9Aus dem Englischen übersetzt von Dr. Meissner, Leipzig, 1850. Vgl. Kandolf, "Kara Ben Nemsi auf den Spuren Layards", KMJb 1922, S. 197 ff.



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Layards Karte verfolgen. Layard selbst, der die Ausgrabungen in den Ruinenstätten von Ninive und Babylon leitete, erscheint bei Karl May als Lord David Lindsay. Auch den Einsatz von Bibelzitaten übernahm der Schriftsteller von Layard.

   Abschließend läßt sich sagen: Durch die Lektüre ernster geographischer Werke verschaffte sich May ein gutes Allgemeinbild von der Szenerie, in die er die erdichteten Geschehnisse verlegte. Aus Wörterbüchern schöpfte er jene Kenntnis der jeweils in Frage kommenden Landessprache, die seinen Büchern das "Lokalkolorit" verleihen, das allem den Stempel des "Echten" aufdrückt10. Daß ihm dabei einige Irrtümer unterliefen, ist verständlich und soll hier nicht näher erörtert werden11. In den Werken, wie sie heute erscheinen, sind übrigens geographische, ethnographische und sprachliche Unstimmigkeiten so gut wie ausgemerzt. Die Bearbeitung wurde von erstklassigen Fachleuten durchgeführt, die zum Großteil der May-Lektüre ihrer Jugendzeit die Anregung zum Studium verdankten und auf diese Weise sich dem toten Schriftsteller erkenntlich zeigten.

   Man hat May immer wieder vorgeworfen, daß er es wagte, Länder zu beschreiben, die er gar nicht aus eigener Anschauung kannte. Darauf verweisen Freunde des Schriftstellers mit Recht auf Schiller, der nicht in der Schweiz, auf Dante, der nicht in der Hölle, auf Stifter, der nicht in der Wüste war. Max Geissler trifft wohl das Richtige mit seinem Satz: "Wenn das äußere Erleben das Dichterwerk schüfe, dann wären die besten Erzeugnisse



10Dieser Vorgang spiegelt sich im Werk: Der Held kauft vor dem Reiseantritt Bücher, um sich zu unterrichten. Vgl. Bd. 12, S. 87; Bd. 31, S. 40 ff.
11Vgl. u. a. Dr. Walter Kloeck, "Karl May und der weiße Pferdeadler". "Süddeutsche Sonntagspost", 1929, Nr. 42.



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aller Völker und Zeiten ungeschrieben12 !" Bezeichnend, daß May Ceylon in Bd. 11, also bevor er selbst dort war, mit viel größerer Anschaulichkeit, viel farbenprächtiger beschrieb, als nach seiner Reise in Bd. 30.

   Der Schlüssel zum Verständnis dieser Tatsache liegt in Mays eigener Aussage:

   "Man sieht, daß ich ein echt deutsches, also einheimisches Rätsel in ein fremdes, orientalisches Gewand kleide, um es spannender zu machen und anschaulicher lösen zu können13."

   Von einer Studentenwanderung seiner Jugendzeit erzählt Karl May:

   "Gewöhnlich marschierten wir auf dem Gebirge zwischen Sachsen und Böhmen hin. Wir konnten uns da einbilden, die Pyrenäen zwischen Frankreich und Spanien oder gar den Himalaya zwischen Tibet und Indien zu durchwandern14."

   Kurz: Die heimatliche Landschaft wurde dem phantasievollen Studenten im Handumdrehen zur lockenden Ferne. Das ist das Geheimnis seiner anschaulichen Schilderungen von Gegenden, die sein Fuß niemals vorher betreten hatte: Seine Phantasie versetzte ihn weit fort, der Schwarzbach wurde ihm zu einem Strom in Amerika, die Höhen seiner Heimat wurden zu Felsengebirgen oder zu den zerklüfteten Bergen des Balkan.

   Hans Zesewitz berichtet über die Karl-May-Höhle bei Hohenstein-Ernstthal und kommt zu dem Schluß, die Höhle sei eins der Bilder aus der Heimat gewesen, "das May immer vorschwebte" bei entsprechenden Schilderungen in seinen Reiseerzählungen, "nur daß hier die Phantasie des Dichters die Ausmaße steigert und das Grauen der unterirdischen Stätten schauervoll aus-



12Max Geissler, "Randbemerkungen zu Karl Mays Dichten", KMJb 1918, S. 75.
13Bd. 34, S. 469.
14Bd. 24, S. 20.



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malt [ausmalt]". Auf die besondere Erfolgsbedeutung der Höhlenschilderung bei May wird später noch hingewiesen werden.

   Dr. E. A. Schmid ging den Zusammenhängen zwischen heimatlicher Landschaft und landschaftlicher Schilderung der Fremde weiter nach. Er schreibt:

   "Die schöne, lebendige, reiche Vielgestaltigkeit der Heimat mag Karl May tausendfach angeregt, mag ihm den Hintergrund geliefert haben zu bunten Fabeleien, die auf diesem Grunde fast ohne Zutun erblühten wie Blumen auf einer Waldwiese. In der Sächsischen Schweiz, im Erzgebirge, im Plauenschen Grund, in der Lössnitz hat er Eindrücke empfangen, die seine Phantasie, gebunden an den Orient und an Amerika, leicht und sicher ins Fremdländische übertrug16."

   Um einige Beispiele zu nennen: Die Karl-May-Höhle findet sich wieder in der Krokodilshöhle von Maabdah im "Mahdi" und in der Juwelenhöhle des Köhlers Scharka im "Schut", der Harrasfelsen im Tschopau-Tal wird im "Schut" zur Verräterspalte, der Zirkelstein in der Sächsischen Schweiz zum ragenden Felsen von Almaden alto in Nordmexiko (" Satan und Ischariot"), die Schrammsteine zum Devils-head in "Old Surehand", der unterirdische Gang unter dem See in den Wäldern von Moritzburg stellt das Urbild dar für die Szenerie des "Silbersee".

   "Der unterirdische Gang bestätigt wunderbar, was mein Gedanke mir eingab. Er zeigt eine der lebendigen Quellen auf, aus denen der Phantast Karl May schöpfte: die unvergleichlich schöne, vielgestaltige Heimat17."



15Hans Zesewitz, "Die Karl-May-Höhle bei Hohenstejn-Ernstthal", KMV, Radebeul, o. J., S. 13.
16Schmid, "Am Mississippi in - unserer Lössnitz". "Freiheitskampf" v. 7. Juli 1935, S. 9.
17Schmid, "Am Mississippi in - unserer Lössnitz", a. a. O.



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Psychologisch-soziologische Aktualität


Die gleiche Sehnsucht, die May die Heimat zur weiten Welt umwandeln ließ, findet sich im Leser und wird durch die Werke des Schriftstellers gestillt. Kann der Leser seinen Hang nach Abenteuern und fremden Ländern nicht in Wirklichkeit befriedigen, so geschieht es doch wenigstens in der Phantasie durch das Lesen Karl Mays, der von fernen Ländern und Völkern erzählt18.

   Die Phantasie des eintönig in die Zivilisation eingespannten Menschen verlangt nach Nahrung, weit fort aus dem Alltag, hinaus in ganz andere Lebensverhältnisse, am liebsten hinaus in ferne Länder zu fremden Völkern. Und May schildert mit viel größerer Kraft und Eindringlichkeit, als die eigene dürftigere Einbildungskraft dem Durchschnittsmenschen bieten könnte. Denn als der vierjährige Knabe May spät und mühsam sehen lernte, die Wirklichkeit mit den Augen begriff, trug er längst ein viel reicheres Bild von den Dingen und Erscheinungen der Welt in seinem Inneren:

   "Die Kraft dieses inneren Blickes war es, die ihn durchs ganze Leben begleitete, die ihn über Not und widrige Verhältnisse siegen ließ, die ihm in der einsamen Zelle, zwischen vier kahlen Wänden, die Wunder aller Fernen vorzauberte und die ihm schließlich, in seinem Werk, die Fernen aller Länder und die unendliche Weite und das große, grenzenlose Schweifen schenkte, das wir alle als Mensch und Sehnsucht im Blut haben19."

   Gerade im deutschen Sprachraum ist das Fernweh, der Hang zur Flucht aus der wirklichen Umgebung be-



18Vgl. Dr. Rudolf Beissel, "Die Bedeutung der Reise- und Abenteuerromane für die Auslandskunde", in "Weltwirtschaft", März 1919, S. 89 ff.
19Carl Zuckmayer, "Palaver über Karl May", "Vossische Zeitung" v. 14.4.1929. Auch KMJb 1930, S. 35 ff.



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sonders [besonders] groß20. Diese Tatsache mag auf die reizlose Landschaft zurückzuführen sein, die sich über weite Gebiete Deutschlands erstreckt, und hat wohl noch tiefere Gründe.

   Univ.-Prof. Dr. Konrad Guenther schreibt über die May-Lektüre Jugendlicher:

   ". . . es ist, als ob in dem Knaben die Erinnerung an jene längst entschwundene Zeit erwachte, als der Mensch kraftvoll und frei über die Steppen eilte und durch Wälder schlich, die Lanze in der Hand, das flüchtige Wild zu jagen oder den Kampf mit dem Raubtier zu bestehen21."

   Dieser Trieb nach den menschlichen Urverhältnissen ist vielfach auch beim Erwachsenen noch zu wecken.

   Die Tatsache, daß gerade in der Zeit Karl Mays ein neuer, unbändiger Drang zurück zur Natur sich geltend machte, ist einer der gewichtigsten Gründe für seinen Erfolg. Hierbei ist zu beachten, daß bewußte Naturbewunderung sehr spät einsetzte. Das Wort "Waldeinsamkeit" wurde von Ludwig Tieck gefunden, die Schönheit des Hochgebirges erst zu Goethes Zeiten erkannt. Vorher wurden Residenzen vom Gebirge ins flache Land verlegt, weil man nur dort der Natur jene künstlichen Formen aufprägen konnte, die man für schön hielt. Da bricht in den Achtzigerjahren eine Bewegung los, die mit elementarer Gewalt aus der Enge des physischen, geistigen und moralischen Raumes hinausstrebt22. Die Jugend protestiert gegen die Nüchternheit eines rationalistischen Weltbildes, gegen die Plattheit der Alltagsmoral, gegen den Stumpfsinn des Alltags,



20Vgl. S. 57, Anm. 39
21Dr. Konrad Guenther, "Die Naturliebe bei Karl May". KMJb 1921, S.171 f.
22Vgl. Johannes Nixdorf, "Mein Weg zu Karl May und zur Jugendbewegung", KMJb 1921, S. 158 ff.; ferner Franz Hirtler, "Lebt Winnetou noch?" in der "Donauzeitung" v. 20.1.1942.



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sagt sich los vom verknöcherten Denken der Erwachsenen. Und Karl May wird zum Heerrufer der "Evasion":

   "May . . . eröffnet . . . Ausblicke weit hinaus über die Grenzen des bürgerlichen Nützlichkeitsfanatismus in ein Reich des Geistigen, in eine Welt, wo der Mensch noch als Edelwesen anerkannt wird und nach Vollendung strebt. Er gab der Jugend: Erhebung, Hoffnung, geistiges Neuland, Zukunft23."

   Bei ihm findet die Jugend die Poesie des Lagerfeuers, der Kameradschaft, der Freude an der unberührten Natur, Glücksgefühl nach überwundenen Schwierigkeiten und Gefahren. Kein Wunder, wenn sogar erörtert wurde, ob nicht die Entstehung des Wandervogels und der ganzen romantischen Jugendbewegung überhaupt erst durch Karl May ausgelöst wurde. Er schafft der Jugend Modelle zur Bewältigung ihrer Sportbegeisterung: fast alle Arten körperlichen Wettkampfes sind vertreten; Winnetou verschmäht das Feuerwasser: es beeinträchtigt die Leistungsfähigkeit; die Helden verhalten sich kühl gegenüber den Frauen: sie haben Wichtigeres zu tun. Statt dessen Baden in Flüssen und Seen, Schlafen im Freien, Verbundenheit mit der unberührten Natur!

   Ernst Bloch gelang es, noch tiefer zu schürfen und die Gattung der Mayschen Reiseerzählung auf ganz offenkundliche zeitliche Voraussetzungen zurückzuführen. Er entdeckte den Zusammenhang Karl Mayscher Szenerie-Darstellung mit dem Lebensgefühl einer heute versunkenen Epoche, wie es sich im bürgerlichen Wohnmilieu darstellte: Zimmerflucht mit Winkeln, Erkern, Korridoren; Ottomanen, Portieren, Perserteppiche, Palmen, Waffengehänge. Alles in allem die räumliche Sichtbarwerdung von Traum, Traumangst, drückendem Geheimnis, Flucht- und Verfolgungsdrang, Angst vor dem



23Ludwig Gurlitt, zit. n. Johannes Nixdorf, KMJb 1921, S. 164 f.



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Asphalt-Dschungel mit dem wirr sich Kreuzenden, unterirdisch Verschlungenen menschlicher Beziehungen, jenem dunkel Brütenden, tropisch Dunstigen unter- und überhalb des Menschengewimmels. Und dies alles kehrt bei Karl May wieder: Unheimliche Labyrinthe der Traumängste, der Verfolgungen, der Rettungen, der Requisiten der geheimnisvollen Buden und Schlupfwinkel. Er hielt den Menschen den Spiegel vor, zeigte ihnen ihre Gebrechen, riß gleichzeitig die Fenster auf, um eine neue, kräftigere Luft einströmen zu lassen: "Ein sehnsüchtiger Spießbürger, der selbst ein Junge war, durchstieß den sächsischen Muff seiner Zeit24."

   So findet sich bei Karl May gestaltet, was seine Leser bedrängte, und mit dem Spiel seiner Phantasie befreite er sie von dieser Bedrängnis:

   "Dieser leidenschaftliche Drang in die Ferne, in ein anderes Sein, zuletzt in einen vierdimensionalen, mystischen Kosmos, ist den Zeitgenossen des Schnürmieders, des drahtumwundenen Blumenbuketts und der in einer verhaßten 'Heimat' allzu wohlbehüteten und dennoch schlecht gehüteten Mädchentugend aus dem blutenden Herzen gesprochen. Der wilde und bessere Westen, der verschlampte und in den Farben von Tausendundeiner Nacht glitzernde Nahe Osten sind ersehnte Oasen, in die man aus der Wüste einer beklemmenden Spießbürgerlichkeit flüchtet. Aus einer Welt der 'affreux bourgeois', die der Jugend schwerer zu ertragen war, als den in sie eingewohnten älteren Semestern. Und wir wissen nun, daß der ahnungslos bewunderte und mitleidlos verpönte Volksschriftsteller Karl May im Grunde auf seine Weise den Schrei des unsterblichen Friedrich Schiller wiederholte: 'In tyrannos25'!"


24Ernst Bloch, "Über Karl Mays sämtliche Werke", "Beilage zur Frankfurter Zeitung" v. 31.3.1929 (= "Traumbasar", KMJb 1930, S. 59 ff.); vgl. auch Bloch, "Das Prinzip Hoffnung", Abschnitt "Fernwunsch und historisierendes Zimmer im 19. Jh.". S. 402 ff.
25Forst-Battaglia, "Karl May heute", in "Begegnung", Zeitschrift für Kultur und Geistesleben. Verlag "Wort und "Werk", Köln, Heft 3/1952, 7. Jg.


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   Die Wahl des exotischen Schauplatzes und seine Gestaltung rührt nicht nur an die existentiellen Drangzustände der Leser, sie stillt auch den Wissensdurst. Dies soll an einigen Beispielen gezeigt werden.

   Ludwig Gurlitt schreibt, sein jüngster Sohn verdanke der Führung Karl Mays eine sehr starke Ausdehnung seines Gesichtsfeldes, eine grundlegende und unverlierbare Orientierung auf diesem Erdball und eine so lebendige Teilnahme an dem gesamten Leben auch der entferntesten Völker, wie man es sonst nur bei Geographen, Ethnologen und Historikern von Beruf zu finden pflege. Der Münchner Reformpädagoge schreibt wörtlich:

   "Friedel wußte alles! Woher? - 'Aus Karl May!' Ob Kordilleren, Pampas, Salzsee, ob Bagdad, Damaskus, Babylon, ob Moslim, Hamiten, Schiiten, ob türkische oder indische, mexikanische oder chinesische Sitten26."

   Der Schüler Ulrich J. Schauer schreibt:

   "Man muß Karl May auch lesen können. Vor allem muß der Atlas eine große Rolle spielen. Mir macht es wenigstens sehr viel Freude, diesem Kara Ben Nemsi auf dem Atlas zu folgen und den Schauplatz seiner Taten an Hand des Atlasses kennen zu lernen. Leider aber sind in den May-Bänden keine Karten27."

   Auch die Pfadfinder haben Karl May für sich entdeckt:

   "So sind die Erzählungen von Karl May ein einziges großes Handbuch der Kunst vom Pfad. 'Allzeit bereit' ist der Leitstern seiner Helden28."



26Gurlitt, "Mein Jüngster und Karl May", KMJb 1919, S. 342.
27Ulrich J. Schauer, "Eine Schülerstimme", KMJb 1924, S. 255. Dem letztgenannten Übelstand wurde inzwischen in der Wiener Karl-May-Ausgabe abgeholfen; das Vor- und Nachsatzpapier jedes Bandes zeigt die Karte mit dem eingezeichneten Reiseweg des Helden.
28"Unser Pfad", Salzburg, Februar 1946: "Karl May - ein Leben auf großer Fahrt."



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   Dr. Max Finke schreibt über die wissensvermittelnde Bedeutung der May-Lektüre:

   "Der Erdball überspinnt sich in der Einbildung der Knaben mit einem von Band zu Band dichteren Gespinst von Handlungsfäden, die er aus May herauslöst und um sein Vorstellungsbild der Erde herumlegt. Die Erd- und Völkerkunde wird ihm bei May erst einmal zum atemversetzenden Erlebnis. Hier muß der Lehrer anknüpfen. Den Rahmen der Einbildung kann er nunmehr versehen mit zuverlässigen Kenntnissen29."

   Finke führt dann Stellen aus dem Werk Mays an, die seiner Ansicht nach als Schullektüre geeignet wären.

   Dr. Maria Kreitz schreibt in ihrer Dissertation "Der geographische Wert der Jugendlektüre30":

   "In solcher Verknüpfung der Handlung mit der Landschaft liegt auch der geographische Wert der vielen Bücher Karl Mays. Sie lassen uns teilhaben an dem Leben in der Wüste, wir glauben uns auch in Gefahr beim Durchschreiten der Salzsümpfe oder wilder, öder Gebirgsketten, und dadurch prägt sich das Bild der einzelnen Landschaften unauslöschlich dem Leser ein: ein Grund, warum Karl May als Vermittler geographischen Erlebens unbedingt anerkannt werden muß."

   Werner Legére hebt hervor, May mache manchen Forschernamen volkstümlich, der bisher nur wissenschaftlich interessierten Kreisen bekannt war. Die Riesenauflagen seiner Bücher trügen, ohne davon zu sprechen, den Ruhm deutschen Forschergeistes und deutscher Erfolge hinaus in die Welt31.

   In vielen Lesern rief May den Wunsch wach, die beschriebenen Länder aus eigener Anschauung kennenzulernen. So berichtet Hans Erich Tzschirner:



29Finke, "Das siebente Jahr", KMJb 1924, S. 20. Inzwischen ist Karl May lesebuchreif geworden. Vgl. Erich Heinemann, "Karl May in Lesebüchern", MgKMG 27 u. 28/76.
30B. G. Teubner, Leipzig und Berlin, 1929, S. 48.
31Werner Legére, "Rohlfs, Barth, Nachtigall, von Beurmann - und Karl May", in "Jambo, die koloniale Monatsschrift der jungen Deutschen", Heft 4, Leipzig, 1942, S. 62.



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   "Auf meinen vielen Reisen, die mich in die fernsten und entlegensten Gegenden der Erde geführt haben, traf ich kaum einen, von dem sich bei einem gelegentlichen Gespräch nicht herausstellte, daß May in der Jugend sein tägliches Brot gewesen war32."

   Dr. Wolfgang von Weisl bestätigt die Richtigkeit der Mayschen Beschreibungen auf Grund eigenen Augenscheins33, Univ.-Prof. Dr. Hans Demel hielt am 13. Mai 1949 in Wien, Neue Hofburg, einen Lichtbildvortrag: "Auf den Spuren Karl Mays im Orient."

   Diese wenigen ausgewählten Beispiele zeigen zur Genüge, daß May von vielen als Vermittler geographischen Erlebens geschätzt wird. Allerdings wurden gegen den Wert Karl Mayscher Landschaftsschilderung auch Bedenken erhoben34.

   Karl May selbst äußerte sich, er wolle keine Schilderung der Örtlichkeit liefern35. Zumeist stellt er die Landschaftsschilderung einem Kapitel voran, um dem Leser ein allgemeines Bild zu verschaffen, weniger oft finden sich landschaftliche Belange in den laufenden Text der Erzählung eingefügt, noch seltener mit der Handlung verwoben. Wer die Landschaftsschilderungen nicht lesen will, kann sie zumeist ohne Schaden für das Verständnis der Handlung überschlagen, bei manchen Le-



32Hans Erich Tzschirner, "Zur vaterländischen Bedeutung Karl Mays", KMJb 1918, S. 158.
33Dr. Wolfgang von Weisl, "Karl May und der Islam", KMJb 1929, S. 284 ff.
34Vgl. z. B. den Aufsatz im "Start", Berlin, v. 8.8.1947: "Karl May - ein Schundschriftsteller?" Ferner: Dr. Richard Bamberger, "Karl May", in "Büchergilde", Wien, Heft 7/8, 1953, S. 122.
35Bd. 28, S. 182: "Es ist nicht mein Zweck, die Gegenden, durch die wir kamen, zu beschreiben. Topographische Ausführlichkeiten pflegen wohl für einen Fachmann interessant, für andere aber langweilig zu sein." Vgl. auch Bd. 16, S. 432; Bd. 19, S. 472.



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sern [Lesern] wohl auch einer der Gründe des Erfolges. Setzt aber das Verständnis der Handlung eingehendere Kenntnis des Schauplatzes voraus, dann appelliert May sehr eindringlich, etwa mit der Aufforderung: "Man denke sich . . .", an die Einbildungskraft seiner Leser. Dann fühlt er sich ein in Menschen und Landschaft36, dann erreicht seine Schilderung Anschaulichkeit und Plastik, läßt Kleinigkeiten außer acht, stellt das Wesentliche in den Grundformen einfacher Körper dar, "die wir sozusagen mit einem Blick, mit einem einzigen Gedanken zu erfassen imstande sind, und die deshalb auf unser Raumempfinden den stärksten und nachhaltigsten Eindruck ausüben37".



Zeit- und literaturgeschichtliche Aktualität


Wir betrachteten bisher die Erfolgsgründe des exotischen Schauplatzes, soweit sie durch psychologische und soziologische Bedürfnisse der Leser bedingt sind. May verstand es aber auch, historische Aktualitäten auszunützen. Er selbst spricht sich darüber folgendermaßen aus:

   "Man achtet auf die Regungen der Zeit, sucht sie zu begreifen und schließt sich derjenigen an, für welche man sowohl die



36Vgl. Gurlitt, a. a. O., S. 133: "Er trägt selbst die Trachten der Menschen, mit denen er lebt, spricht ihre Sprachen, teilt alle ihre Lebensgebräuche, wird heimisch in ihrer Natur, wird ganz einer der Ihren, ja, übertrifft sie sogar in ihrer eigenen Art, beschreibt sie nicht nur als außenstehender und unbeteiligter Beobachter. Daher die eindringliche Überzeugungskraft seiner Zeichnungen, die einen Zweifel an ihrer Verläßlichkeit zunächst nicht aufkommen läßt."
37Wilhelm Koch, "Karl Mays Baukunst und ihre Symbolik", KMJb 1918, S. 125.



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Liebe als auch die nötige Kraft und Begabung besitzt. Indem sie nach und nach zum Siege schreitet, nimmt sie auch den, der ihr dient, mit zum Erfolg empor. Das ist das ganze Geheimnis38."

   Versetzen wir uns in die Jahre 1880 bis 1910, die Zeit der Entwicklung der hochkapitalistischen Weltwirtschaft, der Erschließung kolonialer Kapitalquellen und Absatzmärkte: Wettrennen um die Verteilung der Erde. Die agierenden Mächte suchten Förderer der Expansionspolitik, die ihre Bestrebungen politisch, wirtschaftlich und ideologisch vorbereiten sollten. Nach Dr. Gerhard Steiner beruht der Erfolg Karl Mays nicht zuletzt darauf, daß er eine politische Großaktion durch seine literarische Tätigkeit unterstützte:

   "Der 'Deutsche Kolonialverein' (1882) und der 'Flottenverein' (1898) konnten diese Aufgabe allein nicht bewältigen. Und da fand sich in Karl May ein Mann, der diese 'Zeitaufgabe' witterte und sich - ganz gleich ob bewußt oder unbewußt - in den Dienst dieser Interessen stellte. Die Tatsache, daß er eine politische Großaktion durch seine literarische Tätigkeit unterstützte, für die alle daran interessierten Kräfte politisch, wirtschaftlich und ideologisch gut vorgearbeitet hatten, erklärt in erster Linie seinen Erfolg, die so rasche und ausgedehnte Verbreitung seiner Bücher39."

   Auch Dr. H. Dimmler und Dr. W. Matthiessen [sic!]40 weisen auf die Bedeutung Karl Mays für die deutsche Kolonialfrage hin, wenn auch nicht so drastisch und überspitzt wie Steiner.

   Dieser Auffassung widersprechen die Aussagen dreier profunder Kenner der Werke Karl Mays: Ludwig Gurlitts, Forst-Battaglias und Franz Cornaros. Gurlitt schreibt:



38Mitgeteilt von Max Dittrich, a. a. O., S. 70.
39Dr. Gerhard Steiner, "Karl May oder das Verhängnis der Phantasie", in "Urania", Jena, Heft 11, Nov. 1949, S. 453.
40Dr. H. Dimmler, "Unsere koloniale Zukunft und die Reiseromantik", KMJb 1919, S. 196 ff. Dr. Wilhelm Mathiessen [sic!], "Gedanken um Karl May", KMJb 1929, S. 408 ff.



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   "In einem Zeitalter, in dem es alle Völker nur darauf absehen, sich zu bereichern, auszudehnen, Macht und Übermacht über andere zu gewinnen, in einem solchen Zeitalter predigte May allgemeinen Frieden der Menschen, warnte vor der gemeinen Habgier, vor den Mitteln der Gewalt und List, mit denen der Stärkere und Klügere, Durchtriebenere, Raffiniertere den Schwächeren, Arglosen, Kindlichen Vorteile abjagt, sie schädigt, dienstbar macht, obendrein noch verachtet und mißhandelt41."

   Auf jeden Fall, ob so oder so, vielleicht gerade durch eine gewisse Zwiespältigkeit, wird May zu einem Künder des deutschen Weltvolkbewußtseins. Nach Nadler ist sein Werk "die aufschlußreichste Aussage über den deutschen Seelenzustand zwischen dem ohnmächtigen und dem machtbewußten Deutschland".

   Man hat gefunden, daß sich in Mays Amerika-Bänden, etwa in "Winnetous Erben", dem "ergreifenden Sterbelied der roten Rasse", ihrer Zerspaltung in viele Stämme, im Heldenmut, den so manche rote Männer bis zuletzt aufbringen, der Zerfall Deutschlands und der Kampf um seine Wiedererneuerung spiegele. Dadurch



41Gurlitt, a. a. O., S. 111. Vgl. dazu Forst-Battaglia, a. a. O., S. 52: "Wollen wir die Anschauungen des Dichters über das Problem unseres Verhältnisses zu fremden Rassen knapp formulieren, so gelangen wir zu Ansichten, die den neuesten Kunst- und Geschichtstheorien . . . sehr nahestehen: es ist frevelhaft, unsere europäische Zivilisation anderen Völkern mit Gewalt aufzuzwingen. Nur durch Überredung, Beispiel und Liebe sollen, dürfen wir für unsere christliche Gedankenwelt werben und mit deren Propaganda müssen wir bei uns selbst anheben . . . So weltbürgerliche, friedhafte Prinzipien haben das mächtige Nationalgefühl Karl Mays nicht gehemmt, sondern es zur Triebfeder jenes edlen Ehrgeizes geläutert, der darin besteht, anderen Völkern im Dienst an der Menschheit voranzuschreiten." Und Dr. Franz Cornaro, "Jugendbuch und Weltfrieden", "Furche", Wien, v. 3.8.1946: ". . . Die vorstehenden Ausführungen dürften wohl bewiesen haben, daß Karl Mays Friedensgedanken in eine Richtung zielten, die zu einer Weltorganisation gleich dem Völkerbund oder der UNO führt."



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werde der Schriftsteller Künder und Warner für die Zukunft des deutschen Volkes42.

   Auch nach 1870 fühlte das deutsche Volk die Diskrepanz zwischen seiner europäischen Macht und seiner Weltgeltung. Das Deutschtum hatte sich damals noch nicht in Achtung gesetzt, es war im Völkerkonzert eine Nummer, die nicht zählte. Karl May läßt den Advokaten Gibson zum "langen Davy" über dessen Freund Jemmy sagen:

   "Auf diesen Namen (Anm.: 'Pfefferkorn' ist gemeint) braucht er sich nicht das mindeste einzubilden, denn so kann nur ein Deutscher heißen, und Leute dieser Abstammung gelten hierzulande gar nichts43."

   Angesichts dieser Lage bedarf das deutsche Volk starker Worte und starker Taten, um an sich glauben zu lernen, Selbstbewußtsein erringen zu können. Auch Karl May gibt ihm, wonach es im Innersten verlangt: in Old Shatterhand siegt das Deutschtum über Yankeegeist und indianisches Vorurteil den Weißen gegenüber. Wie mußte es den deutschen Leser erfreuen, wenn er vernahm, auf welch kraftvolle Weise sich der deutsche Held inmitten fremder Nationen in Geltung zu bringen wußte44.

   Eigenartig spiegelt sich Zerrissenheit und Weltgeltungswunsch der Deutschen in einem Ausspruch des "langen Davy", der an den "dicken Jemmy", seinen Busenfreund, gerichtet ist:

   "Ja, ihr Deutschen seid eigenartige Kerls. Mild, weich wie Butter, und nachher, wenn es sein muß, so stellt ihr euren



42Vgl. den Aufsatz in der "Linzer Tagespost" v. 12.1.1939: "Karl May. Anläßlich einer neuen Stellungnahme in Nadlers Literaturgeschichte."
43Bd. 35, S. 425.
44Vgl. auch Franz Kandolf, "Karl May und das Deutschtum", KMJb 1921, S. 129 ff.



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Mann wie sonst keiner. Ihr möchtet alle Welt mit Handschuhen von Samt anfassen, und doch schlagt ihr gleich mit dem Kolben drein, wenn ihr meint, daß ihr euch endlich wehren müßt. So seid ihr alle, und so bist auch du45."

   Im allgemeinen bekennt Karl May die Auffassung, ein Deutscher in der Fremde sei nie ein Schuft46. Ruht wirklich einmal Verdacht auf einem Deutschen, wie auf dem alten Desierto und auf Vogel in Bd. 13, oder auf dem jungen Reiter in Bd. 24, so stellt sich schließlich seine Unschuld heraus. Nur zwei Ausnahmen lassen sich anführen: Hamsad al Dscherbaja, der verkommene Barbier aus Jüterbogk, Bd. 3, und der Prayer-man in Bd. 24; Karl May schämt sich für ihn.

   Neben Old Shatterhand sind auch viele andere Helden deutscher Abstammung. Old Firehand, der dicke Jemmy, der Hobble-Frank, Tante Droll, der Bärenjäger, Bloody Fox, Krüger Bey, Frick Turnerstick sind rein deutsch, Old Death ist der Sohn einer deutschen Mutter, Sam Hawkens stammt aus Sachsen. Sie alle lieben Deutschland, auch wenn sie selbst im Ausland geboren oder jahrzehntelang der Heimat fern sind.

   In diesem Zusammenhang sei angemerkt, daß Karl Mays Deutschtumsliebe nie ausfällig wird. Er wurde trotz 1871 in Frankreich verlegt und dort auch nach 1945 in französischen Schulen als Prämie verteilt! So konnte Richard von Kralik mit Recht schreiben:

   "Sein (Karl Mays) vielbändiges Werk ist eine der verdienstvollsten Apologien des echten Deutschtums ohne Überhebung, ohne Gehässigkeit gegen irgendeine Nation47."

   Ohne die eigene Nationalität aufzugeben, zeigen die



45Bd. 35, S. 13.
46In den heimatlichen Erzählungen Mays kommen selbstverständlich deutsche Gauner vor.
47Kralik, "Meine Stellung zum Karl-May-Problem", KMJb 1921, S. 123.



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Deutschen bei Karl May entgegenkommende Anpassung in Sprache, Sitte und Gewohnheit. Seine Helden sind Deutsche und zugleich Weltbürger.

   Damit wurde zunächst allgemein gezeigt, wie das Werk Mays den nationalen Bedürfnissen der Leser entsprach. Im folgenden sollen die Gründe der Schauplatzwahl immer mehr konkretisiert werden. Zunächst fassen wir das immer stärker werdende Interesse am Land "unbegrenzter Möglichkeiten" ins Auge.

   In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hatte sich die Auswandererziffer nach Amerika noch einmal gewaltig gehoben48. Hatte man für das Jahr 1775, also vor den Unabhängigkeitskriegen, die Zahl der Deutschen in der [sic!] dreizehn Provinzen, aus denen die Vereinigten Staaten damals bestanden, auf ungefähr 250 000 Seelen berechnet, so stieg nun die jährliche Zahl der Auswanderer deutscher Herkunft auf Zehntausende, ja, sie erreichte mitunter die Hunderttausend-Grenze. In den Jahren zwischen 1820 bis zum Ersten Weltkrieg landeten fünf Millionen Deutsche in den Staaten. Noch einmal setzte sich, zumal aus Schwaben, der Pfalz, Schlesien und Oldenburg, der Strom der Auswanderer in Bewegung. Schlechte Arbeitsverhältnisse, Unterdrückungen aller Art49, freilich auch Lust am Abenteuer waren die Gründe. Ein einzelner Auswandereragent unterhielt 66 Agenturen und hat allein zwei Millionen Auswanderer hinübergeschafft. Überall sah man die Plakate und Hinweise dieser Leute, es gingen Schabblätter von Hand zu Hand, die das Land der Neuen Welt darstellten und priesen, und die "Ratgeber für Auswan-



48Angaben nach Hans Franke, "Die Legende des Abenteuers", "Bücherkunde", Bayreuth, 10.9.1940, Ausgabe B.
49Vgl. die Spiegelung im Werk Karl Mays: Klekih-petra und Old Firehand sind politische Flüchtlinge.



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derungslustige [Auswanderungslustige]" lagen vor aller Augen offen dar, ungezählte Auswandererbriefe liefen ein, viele Menschen kehrten wieder über das große Wasser in die alte Heimat zurück. Es ist klar: Wenn so viele Menschen sich aufmachen, wenn, wohin man auch schaut, Anverwandte und Freunde ihre Fahrten in Gedanken begleiten, wenn Berichte umgehen und allenthalben ergänzt werden, dann erwacht in den Menschen die Sehnsucht, diese Dinge auch im Buch wiederzufinden. In den Werken Mays werden so viele Auswandererschicksale behandelt, daß es sich erübrigt, sie im einzelnen anzuführen.

   Doch nicht nur vom Leben, auch von der Literatur her wurde Karl May zum Erfolg seiner exotischen Romane emporgetragen. Dies gilt zunächst für den Indianerroman50.

   Das grausame Vorgehen der Spanier erweckte in Europa frühzeitig Teilnahme für das Geschick der Indianer. Eine päpstliche Bulle aus dem Jahre 1536 ermahnt die Eroberer, daran zu denken, daß die Indianer doch auch Menschen seien. Bischof Las Casas (1474-1556), der 1515-16 selbst in Amerika weilte, verfaßte einen "Bericht von der Zerstörung Indiens" und erreichte damit ungeheure Wirkung. Er schilderte darin übertrieben die Indianer von ihrer guten Seite, erhielt dafür den Titel "Beschützer der Indianer", forderte aber heftige Gegenmeinungen heraus. Der Streit darüber, ob die Wilden bessere Menschen seien, begann. Es wird an anderer Stelle gezeigt werden, wie sich noch im Werk Karl Mays



50Vgl. zum Folgenden Dr. Rudolf Beissel, "Dei Indianerroman und seine wichtigsten Vertreter", KMJb 1918, S. 219 ff.; Dr. Theodor Graewert, "Otto Ruppius und der Amerikaroman im 19. Jahrhundert", Eisfeld i. Thür., Verl. u. Dissertationsdruckerei Carl Beck, o. J.; Hans Plischke, "Von Cooper bis Karl May", Droste-Verlag, Düsseldorf, 1951.



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der unmenschliche Wilde und das edle Naturgeschöpf gegenüberstehen.

   Als infolge der zunehmenden weltpolitischen Ausweitung dem Abendländer überseeisches Leben näherrückte, stieg auch sein Verlangen, mit Hilfe der Literatur entsprechende Einblicke zu gewinnen. So liegt die Ursache für die Entstehung des eigentlichen Amerikaromans in der Geisteshaltung des ganzen Zeitalters begründet; der literarische Anstoß kam von James Fenimore Cooper her. Vor allem Amerika wurde ein Zauberwort, mit dem sich die Vorstellung einer neuen politischen und menschlichen Freiheit verband, das verlockend Abenteuer und Gefahren verhieß, das Mitgefühl mit dem erschütternden Schauspiel des Untergangs der roten Rasse erweckte:

   "So war es nicht allein die abenteuerliche Buntheit, sondern oft der Reiz des persönlichen Erlebnisses, die diesen Romanen ihr begeistertes Lesepublikum brachten, und ihre Verfasser galten kraft ihrer Erfahrung als Autorität und Berater künftiger Auswanderer51."

   Hinzu kamen die Anregungen, die dem ethnographischen Roman aus der Romantik erwuchsen und die es sich zum Ziel gesetzt hatten, den Leser in geheimnisvolle Welten zu führen und in die Landschaft zu versenken. Auch aus dem Erstehen der Völkerkunde flössen dem exotischen Roman starke Anregungen zu. Er steht so in seinem Entstehen und Werden im Zusammenhang mit der geistesgeschichtlichen Entwicklung.

   Neben ihr und neben der schon angedeuteten politischen Entwicklung fand auch die Verstimmtheit, welche die zivilisatorische Entwicklung mit sich brachte, ihren Niederschlag im vereinsamten, mit der Zivilisation zerfallenen Weißen. Das Leitmotiv der Robinsonade fand



51Graewert, a. a. O., S. 2.



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durch Schiffbrüchige und Weltflüchtige eine immer neue Erlebnisgrundlage. Auch bei May finden sich an vielen Stellen robinsonartige Anklänge, etwa in der Schilderung der Höhle am Pa Ware, im Schicksal der schiffbrüchigen Wittrin und Petersen auf den Bonin-Inseln, im Schiffbruch des Haupthelden selbst in Bd. 11 oder in seiner und Halefs mißlichen Lage nach der Ausplünderung durch die Massaban im "Silberlöwen".

   Als in der Zeit um 1850 aus der bürgerlichen Welt heraus der Sinn für eine belehrende, unterhaltsame Unterweisung sich Bahn brach, dem Wochen- und Monatszeitschriften52, ebenso Lesevereine und Leseabende nachzukommen versuchten, entstand eine völkerkundliche Unterhaltungsliteratur. Von hier aus wird der belehrende Zug im Werk Karl Mays verständlich. Wie sehr diese Literatur den Bedürfnissen der Zeit entsprach, geht daraus hervor, daß sich um 1860 der geschäftswitternde Kolportage-Buchhandel auf den Wildwest-Roman verlegte. Bisher hatte man sich vorwiegend mit edelmütigen Räubern befaßt. Nun begann der Niedergang des Amerika-Romans, der durch die geschichtlichen Ereignisse in Deutschland, die in der Reichsgründung gipfelte [sic!], noch verständlicher wird. Seit der Gründung des deutschen Reiches galt Amerika nicht mehr als das Land der "blauen Blume", wie für die Jungdeutschen und Sealsfield: das Geschehen in Deutschland war eindrucksvoll genug, den Blick von dem politischen Ideal Amerika wieder auf die Heimat zu lenken. Der Wildwest-Roman führte ein Untergrunddasein in der Kolportage, bis ihn Karl May, von den trüben Fluten die-



52Erwähnt seien: "Das Ausland" seit 1828, "Die Natur" seit 1852, "Die Gartenlaube" seit 1853, "Globus" seit 1862, "Daheim" seit 1874. "Aus allen Weltteilen" seit 1870, "Vom Fels zum Meer" seit 1880.



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ser [dieser] Kolportage getragen, wieder in die reineren Strömungen der Literatur emporführte:

   "Da taucht plötzlich im Ausgang des Jahrhunderts strahlend ein Meteor auf und führte eine neue Glanzzeit des Indianerromans herbei. Neben den Namen von James Cooper, Charles Sealsfield und Gabriel Ferry stellt sich zumindest ebenbürtig der Name Karl May53."

   Winnetou, Winnetous Erben, Old Surehand, Satan und Ischariot, Weihnacht, Unter Geiern, Schatz im Silbersee, Ölprinz und Halbblut, ferner die Waldröschen-Serie und Deutsche Herzen und Helden, die ganz oder teilweise den Wilden Westen zum Schauplatz haben, gehören zu den beliebtesten Bänden.

   Wie sich May bei der Wahl des Schauplatzes des Wilden Westens der Reihe seiner bewährten, erfolgreichen Vorgänger anschloß, durch ihre Bahnungen den Weg bereitet fand, so war auch der Boden des orientalischen Schauplatzes dem deutschen Leserpublikum in langer literarischer Tradition vertraut geworden. Seit Christi Geburt stehen Orient und Okzident in ständiger Verbindung und Beziehung. Der Geschichtsunterricht unserer Schulen beginnt auch heute noch mit den altorientalischen Völkern. So findet May schon aus diesen Gründen bei jedem seiner Leser die entsprechende Erlebnisgrundlage, wenn er angesichts der ehrwürdigen Landschaft biblische und historische Bilder beschwört.

   Die Fabulierkunst der orientalischen Völker erweckte lebhaftes Echo und findet bei May Geistesverwandtschaft. Schon die ägyptischen Literaten ließen ihre Helden die phantastisch ausgeschmückten Reiseabenteuer in Ich-Form berichten54. Vor allem wurden die Ge-



53Beissel, a. a. O., S. 249.
54Vgl. Prof. Dr. Wiedemann, "Die Unterhaltungsliteratur der alten Ägypter", in "Der alte Orient", Leipzig, J. C. Hinrichssche Buchhandlung, 2. Jg., 1902, Heft 4.



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schichten [Geschichten] aus 1001 Nacht bekannt und beliebt, auf die sich May wörtlich bezieht55. Aus Tagebuchaufzeichnungen phönikischer Seefahrer entstanden die Schiffersagen, die in der Odyssee verarbeitet sind. Im Homerschen Kunstwerk finden sich die wichtigsten Bestandteile, die zusammen auch bei Karl May unfehlbare Wirkung hervorbringen: der Held, der allen Schwierigkeiten gewachsen ist; die Häufung dieser Schwierigkeiten bis ins fast unüberwindlich Scheinende; der abwechslungsreiche Szenenwechsel als Hintergrund jedes neuen Problems; außerdem teilweise die Ich-Form. Hier wie dort gibt es starke religiöse Stimmungen, Mischung von Schalkhaftigkeit und religiösem Ernst, von Erfindung und Schauen, von Dichtung und Wahrheit, von Reichtum objektiver Erkenntnisse und subjektiver Phantasie. Hier wie dort kämpfen die Helden für ihren nationalen Ruhm und für die Ehre ihrer Götter56.

   Auch sonst finden sich bei den Griechen ethnographische Fabeln in ernste Reiseberichte verflochten57. Seit dem 11. Jahrhundert wurde diese Gattung im Byzantischen Reich wieder nachgeahmt. Parallel dazu entstanden die Dichtungen der christlichen Legende.

   Das höfische Versepos mit seinen fahrenden Rittern aus den Kreuzzügen wurde von den Volksbüchern abgelöst. Auch hier finden sich immer wieder Fabelgeschöpfe und Naturwunder. So treibt sich etwa Amadis von Gallien mit Vorliebe im wunderbaren Morgenland umher. Werner Mahrholz weist auf die alte Überlieferung der Unterhaltungsliteratur hin, wie sie sich im



55Bd. 25, S. 538.
56Vgl. Dr. Richard von Kralik, "Von Odysseus bis zu Old Shatterhand", KMJb 1922, S. 217 ff.
57Vgl. Erwin Rohde, "Der griechische Roman und seine Vorläufer", Breitkopf und Härtel, 3. Aufl., 1914.



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Amadis-Roman verkörpert findet, und in dessen Tradition Karl May steht:

   "Ganz wie dort ein fahrender Ritter durch die Welt streift, um die Guten zu retten und zu belohnen und die Bösen zu bestrafen und zu vernichten, und bei diesem löblichen Unternehmen die tollsten Abenteuer besteht, ganz wie dieser Held ein Muster aller christlichen und kriegerischen Tugenden, gottesfürchtig, klug, stark, tapfer, edel und hochgesinnt ist, ganz so ist es bei May: was zu diesem uralten Zubehör hinzukommt, ist typisch für die moderne Zeit: die stärkere Durchgeistigung der Abenteuer im Stil der Conan Doyleschen Detektivgeschichte und die bewegtere Subjektivität des Erlebens58."

   In den historischen und heroischen Kunstromanen des 17. Jahrhunderts spielt der Orient eine beträchtliche Rolle. Die Avanturierromane führen ihre Helden ebenfalls in den Orient. Dann wurde das Morgenland der Traum der Romantiker, die den Geheimnissen der Religion und uralter Weisheit der Mythologien, dem Rausch und der Pracht einer zauberhaften Natur nachspürten. Vor allem in den sogenannten symbolischen Werken Mays finden sich Anklänge dieser Geisteshaltung.

   Bei weitem der größte Teil der Werke Karl Mays spielt im Orient, nämlich die ersten sechs Bände, dann "Orangen und Datteln", Im Lande des Mahdi" (3 Bände), "Am Jenseits", "Im Reiche des silbernen Löwen" (4 Bände), "Friede auf Erden", "Ardistan und Dschinnistan" (2 Bände), "Der blaurote Methusalem", "Die Sklavenkarawane"; ein Teil von "Satan und Ischariot", Erzählungen aus "Auf fremden Pfaden" und "Am stillen Ozean", Teile der Münchmeyerromane "Deutsche Herzen und Helden", "Waldröschen", "Die Liebe des Ulanen"; ferner "Zepter und Hammer" und die "Juweleninsel"59.



58Mahrholz, "Ohne Zorn und Eifer", KMJb 1927, S. 13 f.
59Vgl. Beissel, "Der orientalische Reise- und Abenteuerroman", KMJb 1920, S. 142 ff.



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   Nun zur Frage, ob die Orient- oder die Amerikabände sich größerer Beliebtheit erfreuen. Patsch kam nach umfangreichen Auswertungen der Verkaufsziffern zu dem Ergebnis, daß der ferne Westen, vornehmlich die Gestalt Winnetous, den Orient um etwa 20% schlägt. Dieses Ergebnis bezieht sich auf das Gesamt der Buchausgaben seit 1892. Die beliebtesten Orientbände, nämlich 1-6, und die beliebtesten Amerikabände, vertreten durch die Winnetou-Trilogie, vermehrt um die Bände 20-22, halten sich etwa die Waage. Dies führt Patsch zu dem Schluß, daß ein Einfluß der modernen Wildwest-Filme und auch der entsprechenden Stories auf die Beliebtheit der May-Bände noch nicht festzustellen sei: diese bilden nach wie vor ihre eigene Welt.

   Daß es May nicht versäumte, über die allgemein zeitgeschichtlichen Aktualitäten hinaus für sein Werk auch Ereignisse von Tagesinteresse auszunützen, läßt sich an der Stoffwahl im einzelnen nachweisen. Das Interesse für den großen Indianeraufstand von 1876 mit der Schlacht am Little-Bighorn-River am 25. und 26. Juni gab den Ausschlag für die Indianerromane. Zur Zeit des englischen Krieges mit Afghanistan (1878-1881) gab der Orient60 die Themen der Reiseromane "Durchs wilde Kurdistan" (1881) und "Von Bagdad nach Stambul" (1882). Die Schlagworte "orientalische Frage" und "kranker Mann am Bosporus" waren damals in aller Munde.

   Als durch den serbisch-bulgarischen Krieg (1885 bis 1886) der Balkan in den Vordergrund des weltpolitischen



60Zur Wahl des Morgenlandes als Schauplatz seiner Erzählungen äußerte sich May 1899: "Die Undankbarkeit des Abendlandes gegenüber dem Morgenland, dem es doch seine Kultur verdankt, machte mir schwere Gedanken." Mitgeteilt von Ernst Klippel, "Karl May und Ernst Keil", Gartenlaube Nr. 23 v. 9.6.1932.



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Interesses rückte, entstanden die Romane "In den Schluchten des Balkan" (1884), "Durch das Land der Skipetaren" (1887), "Der Schut" (1887).

   Die neue Welle der Kordillerenerforschung (1882-1885 durch Güssfeld in Chile und Argentinien, 1883-1884 und 1888-1889 durch Hettner in Kolumbien und Peru, ferner 1885-1888 durch Ehrenreich am Rio Doce und in Zentralbrasilien) richtete den Blick auf Südamerika, und May schrieb drei Romane, die ihren Schauplatz auf diesem Teil der Neuen Welt haben, nämlich "Am Rio de la Plata", "In den Kordilleren" und "Das Vermächtnis des Inka".

   Als um die Jahrhundertwende der ferne Osten wieder stärker in den Blickpunkt der Weltpolitik trat (Japanisch-chinesischer Krieg 1894-1895, Besetzung von Kiautschou 1897, Boxeraufstand 1900), wählte May das Reich der Mitte als Schauplatz für das vor der Überheblichkeit der Weißen warnende Werk "Und Friede auf Erden" (1900). Im Zusammenhang mit dem Mahdi-Aufstand erschienen drei Bände "Im Lande des Mahdi", die Krumir-Revolte löste die Erzählung "Der Krumir" aus. Durch dieses rasche Aufgreifen welthistorischer Fragen, die die Gemüter aller Leser bewegten, sicherte der Schriftsteller seinen Werken sofortige Durchschlagskraft.

   Trägt die Wahl exotischer Schauplätze selbst erhebliche Erfolgsgründe in sich, so bietet sie darüber hinaus, wie schon eingangs in diesem Kapitel angedeutet, dem Helden gewaltige Vorteile. Sie ermöglicht ihm, als Abenteurer in die Fremde hinauszuziehen61, um der Wahrheit und dem Recht auf Erden zum Sieg zu verhel-



61Richard von Kralik berichtet von einer Zusammenkunft der Leo-Gesellschaft in Wien am 21.2.1898, zu der May als Gast eingeladen war. Dabei ergab sich folgendes Gespräch: Frager: "Also glauben Sie, Herr May, daß man immer und überall, hier oder in Asien, ähnliche Abenteuer wie die Ihrigen erleben könnte und müßte, wenn man weniger philiströs wäre?" Karl May: "Ja gewiß!" Frager: "Warum haben Sie uns dann noch keine Abenteuer erzählt, die Sie in Europa, auf Ihren Reisen durch Deutschland erlebt haben?" Karl May: "Nun, zum Teil habe ich das ja auch getan. Aber freilich nicht in dem Maß, wie Sie erwarten dürften. Ich muß mich eben hier auch mehr zusammennehmen, um nicht in Konflikt mit der Polizei, mit der Gesellschaft, mit den Irrenanstalten zu kommen." ("Der abenteuerliche Tag", KMJb 1919, S. 255.)



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fen [verhelfen]. Dabei bekämpft der Held nicht nur das ihn bedrohende Schicksal, er begibt sich ohne eigene Not und ohne jeden Willen, persönlichen Vorteil zu ziehen, in den Kampf gegen das Böse in jeglicher Gestalt62. Dabei bietet die Furchtbarkeit der Landschaft und die Roheit der Sitten ihrer Bewohner den wirksamsten Kontrast für Menschlichkeit und Christentum des Helden63. Hier hat er den Boden unter den Füßen, den er braucht, um kämpferische Eigenschaften und Nächstenliebe zu bewähren, die freundlichen Sitten zu achten und Blutrache und Skalptrophäe zu verschmähen, Erziehungsarbeit zu leisten, kurz: er steht auf Missionsboden. Charlotte Bühler bemerkt hierzu:

   "Diejenige Form des Reiseromans, welche Karl May gewählt hat, ist wohl eine von ihm originelle Erfindung. Genau betrachtet, ist sie inhaltlich recht merkwürdig. Der Held, Karl May selbst, ein Deutscher mit den Haupteigenschaften Christlichkeit, Tapferkeit und Edelmut, reist etwa in den Wüsten der Sahara oder in den Schluchten des Balkan umher, nicht etwa aus Vergnügen oder irgendeinem angebbaren Reisegrund, sondern als Verfolger schlechter Menschen, die er durch die Einlieferung an die Polizei für bestimmte, von ihm beobachtete, aber nicht einmal an ihm selbst begangene Verbrechen bestrafen will . . . Dabei lernt man die Örtlichkeit ein wenig,



62Vgl. Gurlitt, "Karl May", "Weltstimmen", Franckh, Stuttgart, 10. Heft, Oktober 1931.
63Vgl. Amand von Ozoroczy, "Karl May und der Friede", KMJb 1928, S. 29 ff.



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mehr noch das Aussehen und Wesen der Menschen dort kennen, führt tiefsinnige Religionsgespräche und kämpft, wo man kann, für Recht und Ordnung mit List und Klugheit und möglichst ohne Waffen64."

   Damit ist die Bedeutung des Schauplatzes für den Helden trefflich umschrieben. Für den Leser gilt, was den Schauplatz anlangt, das Wort Karl Rauchs:

   "Irgendwo lebt, trotz Amerika und Europa, noch Wildnis unberührt. Und wenn ihr sie nicht zu finden vermögt, dann reißt die Klüfte der Wildnis auf in eurem Herzen allein oder in der Kameradschaft mit euresgleichen. Nur in der Wildnis lernt der Mann, was Manneshandwerk ist. Und weil kein anderer so köstliche Wege kennt, in die Wildnis vorzudringen, und weil kein anderer versteht, die Wildnis zu meistern und zu zwingen mit eigener Hand wie er, der Gott aller Knabenträume, Karl May, der Unsterbliche, darum wird sein Gedächtnis in uns leben, solange wir Männer sind65."



64"Zur Psychologie der Volksliteratur", KMJb 1919, S. 318 f.
65KMJb 1930, S. 337.




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