1. Vorrede

In seinem Werk über den Schriftsteller Karl May berichtet Viktor Böhm(1) von einer Wortschatzanalyse der Erzählung "Winnetou"(2). Das von Böhm erwähnte Ergebnis dieser Untersuchung (3065 Wörter in "Winnetou I") wurde in den Folgejahrzehnten immer wieder zitiert, aber bis zum Jahre 1991 offensichtlich nicht nachgeprüft, denn in der Diskussion auf der Karl-May-Tagung am 26. September 1991 in Wiesbaden(3) äußerte Prof. Dr. Roxin, der Vorsitzende der Karl-May-Gesellschaft, Zweifel an der Richtigkeit dieses Resultats und regte eine "umfassende Wortschatzuntersuchung" an:

"In der Karl-May-Literatur geht die Sage um, der Wortschatz Karl May's habe dreitausend Wörter betragen. Möglicherweise hat man da in bearbeiteten Fassungen nachgelesen. Wenn ich Karl May heute lese, dann scheint mir: das kann unmöglich wahr sein, womit ich zugleich der Forschung eine umfassende Wortschatzuntersuchung ans Herz legen möchte."

Die Bedeutung dieser bislang fehlenden exakten und umfassenden Wortschatzuntersuchung wird besonders dann klar, wenn man sieht, daß aus der Zahl von "3000 Worten" erhebliche Folgerungen gezogen worden sind, so zum Beispiel in dem Essay "Sächsischer Janus" von Arno Schmidt(4), wo in Bezug auf "Silberlöwe Band 3 und 4" gesagt wird:

"Auch formale Energie & Wortschatz scheinen sich schlagartig verdreifacht zu haben (er hat sich eben zum ersten Mal in seinem Leben Mühe gegeben; bei den <Reiseromanen> sind's, es ist ausgezählt worden, nur 3.000 Worte).

Und in "Old Shatterhand und die Seinen", auch von Arno Schmidt(5), heißt es von den Kolportageromanen May's:

" - und solche Absurditäten vor allem vorgetragen auf Basis eines Wortschatzes, der auf keinen Fall mehr als 3.000 betragen darf: das ergibt sowohl <volksnahe> Unverdächtigkeit als auch frappante <Fülle>."

In den Heften 98 und 100 der Mitteilungen der KMG(6) habe ich von meinen ersten Bemühungen berichtet, die bei Böhm erwähnte Aussage über die Größe des Wortschatzes zu überprüfen. Das Ergebnis meiner damaligen Untersuchung zeigte, daß der Umfang des Wortschatzes zweier Werke von Karl May ("Scepter und Hammer" und "Der Schatz im Silbersee") sich von dem zweier Zeitgenossen ("Nachsommer" von A.Stifter und "Der Augenblick des Glücks" von F.W.Hackländer) nicht signifikant unterscheidet.

Im Abschnitt 4.1.1.3. dieser Arbeit kann man nun genaue Angaben über den Wortschatz der einzelnen untersuchten Werke Karl May's finden.

Während meiner Beschäftigung mit diesem Thema hat sich die Fragestellung - die Frage nach der Größe des Wortschatzes - mittlerweile erweitert, und ich möchte in Zukunft untersuchen, ob es quantitativ erfaßbare linguistische Phänomene gibt,

Gegebenenfalls möchte ich diese Phänomene genauer darlegen und Fragen nach der Bedeutung und der Ursache solcher Phänomene aufzeigen.


Fußnoten: