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VORWORT



Tausend Nächte saß ich gottverlassen
Und erlebte immer wieder Mich,
Bis mein Hoffen, Fürchten, Lieben, Hassen
In gespensterhafte Helden wich,
Und mir graute selbst vor den Gestalten,
Die mit einem Leben ich durchdrang,
Das, von ewger Leidenschaft gehalten,
Die Erschütterten zu handeln zwang.


Tausend selig-bange Schöpfernächte
Feuchteten die Stirne und die Hand,
Bis nach immer wilderem Gefechte
Ich die Geisterschau in Worte band,
Bis mein Herz, das aufgelöst von Tränen,
In den Helden, die es schuf, erstarkt,
Bis ich meiner Brust erregtes Sehnen
Eingewiegt - nein: gläsern eingesargt!


Helden schuf ich und der Helden Feinde -
Und ihr Kampf gab Frieden meiner Brust,
Gott erschuf ich und schuf die Gemeinde -
Und ward meiner Frömmigkeit bewußt,
Männer schuf ich und schuf stille Frauen
und erlöste Mann in mir und Weib,
Denn mit wunderlichem Selbstvertrauen
Gab ich meine Seele jedem Leib.


Das Verhältnis Karl Mays zu seinen Romanfiguren kann nicht besser ausgedrückt werden als mit den ersten drei Strophen dieses Gedichtes von Börries, Freiherr von Münchhausen.(1) Viele der Figuren Mays sind Selbstdarstellungen, mal ganzheitlich das ›gebrochene‹ Leben des Schriftstellers in einem utopischen Omnipotenztraum kompensierend (Kara Ben Nemsi - Old Shatterhand), mal in Teilaspekten schlimme Erfahrungen der Seele - durchaus im Sinne der Psychoanalyse Freuds - aufarbeitend, mal ungute eigene Charaktereigenschaften objektivierend. May selbst schrieb dazu: »Diese meine Gestalten haben alle gelebt, oder sie leben noch; sie sind Wirklichkeit. Aber es giebt Sammelwesen und es giebt getheilte Wesen unter ihnen, deren körperliche Umrisse nicht nach den Ansprüchen unpsychologischer Pedanten und Ignoranten verlaufen.«(2) Das ist



1 Börries, Freiherr von Münchhausen: Das Balladenbuch. Gütersloh 1962, S. 5
2 Karl May an Prinzessin Wiltrud, 29.11.1906. In: Briefe an das bayerische Königshaus. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1983. Husum 1983, S. 94


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erstaunlich hellsichtig; May hat sicher - insbesondere in seinem Spätwerk - eine ganze Reihe seiner Figuren bewußt einer biographisch bedeutsamen realen Person verschlüsselt nachgestaltet, doch darf davon ausgegangen werden, daß die meisten der ›Spiegelungen‹ äußerer und innerer biographischer Ereignisse ihm während des Schreibvorgangs nicht bewußt waren.

   Es ist gewiß nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, daß der große Erfolg des Schriftstellers Karl May zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auf der Faszination beruht, die insbesondere seine Helden-Figuren auf sein Leserpublikum ausübten. Winnetou, Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi sind moderne Heroen, den klassischen Gestalten der griechischen und germanischen Mythen- und Sagenwelt - etwa Odysseus, Siegfried - und teilweise auch den ruhmreichen Heiligen der christlichen Legende (z. B. St. Georg) vergleichbar. Doch nicht nur die herausragenden Helden der Mayschen Werke wurden Publikumslieblinge, auch die skurrilen Gestalten an ihrer Seite, in besonderer Weise natürlich der unvergleichliche Hadschi Halef Omar, auch die kauzigen Westmänner, etwa Sam Hawkens, Hobble-Frank, Tante Droll, Gunstick-Uncle, bleiben in der Erinnerung eines jeden, der jemals Karl-May-Bücher mit Freude gelesen hat, unvergeßlich.

   Das Werk Karl Mays ist allerdings so umfangreich - legt man den Satzspiegel der Fehsenfeldausgabe zugrunde, so dürfte es nahezu 40000 Druckseiten umfassen -, daß man nur die wirklich herausragenden Figuren des Mayschen Kosmos deutlich in Erinnerung behält. Arno Schmidt hat schon früh gefordert, den »Reichtum der MAY'schen Population« in einem »kompletten, mächtigen MAY-Lexikon« zu erfassen. »Wo also z. B. jeglicher Figur ein Biogramm mitgegeben würde«.(3)

   Schmidt schwebte ein einziges, umfassendes May-Lexikon vor. Wegen der Fülle des Materials ist ein solches Unternehmen jedoch nicht realisierbar; so bleibt nur, das Maysche Werk in mehreren großen Nachschlagewerken der Forschung und dem Leser aufzuarbeiten. Nachdem mit dem Karl-May-Handbuch(4) ein Anfang gemacht wurde und nun auch eine detaillierte Bibliographie erschienen ist,(5) wird mit diesem Figuren-Lexikon die Reihe der Nachschlagewerke zum Œvre Karl Mays fortgesetzt.



3 Arno Schmidt an Hansotto Hatzig, 6.12.1962. In: Hansotto Hatzig: Karl May-Register (zu Bd X, XI, XXIII). Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft Nr. 27/1980, S. IV
4 Karl-May-Handbuch. Herausgegeben von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987 (Kröner)
5 Hainer Plaul: Illustrierte Karl-May-Bibliographie. München-London-New-York 1989 (Saur)


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   Die Gattung ›Figuren-Lexikon‹ ist im deutschsprachigen Raum nicht so bekannt wie im Bereich der englischen Literatur. Dort findet man Who is Who's zum Werk etwa Charles Dickens‹, Jane Austens, Shakespeares oder Tolkiens. In Deutschland hat Christian Grawe mit seinem Buch ›Führer durch die Romane Theodor Fontanes‹ ein allerdings etwas über ein reines Figurenlexikon hinausgehendes Werk dieser Art vorgelegt, und Joachim Kaiser stellte das Personal der Mozart-Opern in einem Lexikon vor.

   Das Karl-May-Figurenlexikon erfaßt vollständig die in Karl Mays Werken - von der kleinen Dorfgeschichte bis zum Spätwerkepos, vom Possenfragment bis zum Kolportageroman - vorkommenden Figuren, die einen Namen tragen und eine Reihe von wichtigen Figuren, die keinen Namen tragen. Alle Figuren, die keinen Namen tragen, konnten nicht aufgenommen werden, da sonst seitenweise namenlose Figuren hätten erfaßt werden müssen, von denen lediglich die Angabe des Werkes und der Seiten, auf denen sie vorkommen, mitteilenswert sind. Diese Figurengruppe wird in einem einmal erscheinenden Gesamt-Register zu Mays Werk ausreichend repräsentiert sein.

   Die Artikel enthalten (meist als Zitat) die Beschreibung der Figur, ihr Schicksal und ihre wesentlichen Aktivitäten. Sie enden mit einer Auflistung der Textseiten, die den gegebenen Informationen zugrundeliegen. Historische Personen sind nur in der ihnen im May-Werk (fiktiv) zugeschriebenen Funktion dargestellt, ihre reale Biographie wird nur durch die Angabe der Lebensdaten berücksichtigt. Auf die Tatsache, daß Mays Figuren, wie oben dargestellt, oft ›Spiegelungen‹ und Verschlüsselungen biographischer und psychischer Erlebnisse Karl Mays darstellen, wird nur in ganz seltenen Fällen eingegangen, da die Forschungssituation meist eine eindeutige Zuordnung noch nicht zuläßt. Für die ›Großfiguren‹ Old Shatterhand, Winnetou, Kara Ben Nemsi, Hadschi Halef Omar und Marah Durimeh wurden Essay-Artikel geschrieben, die der Genese und der Entwicklung der Figur detailliert nachgehen.

   Das Lexikon entstand als Gemeinschaftsarbeit von Mitgliedern der Karl-May-Gesellschaft. Es soll neben seinem Charakter als wissenschaftlichem Nachschlagewerk auch einen Unterhaltungswert haben. Deshalb werden insbesondere die Figurenbeschreibungen ausführlich zitiert.(6) Über das Vergnügen an den originellen ›Out-fit‹-Schilderungen, den das Schönheitsideal des vorigen Jahrhunderts ausführlich dokumentierenden Beschreibungen ›unbeschreiblich‹ schöner Frau-



6 Daß die Figurenbeschreibung ein aufschlußreiches Gestaltungsmittel des Schriftstellers Karl May ist, hat Helmut Schmiedt in Teil B ›Handlungsführung und Prosastil‹ (3. Personenkonstruktion) des Karl-May-Handbuches (wie Anm. 4, S. 158-61) ausgeführt.


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en und der Auflistung der ungeheuerlichen Verbrechen der Schurken der Kolportageromane hinaus, ist es dem Leser möglich, über die zahlreichen Verweise auf die weiteren wichtigen Figuren eines Textes, eine Kurzlektüre der Mayschen Werke aus ungewohnter Perspektive vorzunehmen.

Bernhard Kosciuszko



ANMERKUNGEN ZUR 2. AUFLAGE

Für die 2. Auflage wurde das Lexikon von einem 14köpfigen Mitarbeiterstab durchgesehen; Fehler wurden korrigiert, Unstimmigkeiten bereinigt, Tippfehler berichtigt, Ergänzungen vorgenommen und Belegstellen nachgeprüft. Für wertvolle Hinweise und Anregungen aus dem Kreis der Mitglieder Karl-May-Gesellschaft (insbesondere von Wolfgang Hammer, Dr. Ralf Gehrke, Volker Griese, Dr. Harald Jenner, Joachim Biermann, Rudi Schweikert) bedanke ich mich an dieser Stelle herzlich.

   Inhaltliche Fehler wurden - am Umfang des Werkes gemessen - nur ganz wenige gefunden. Der gravierendste ist die Verwechslung des preußischen Kriegsministers (bei May im ›Waldröschen‹ anonym) ALBRECHT VON ROON mit HELMUT VON MOLTKE.

   Die bedeutendste Ergänzung ist die Aufnahme der Figuren der neu entdeckten frühen May-Erzählung ZIEGE ODER BOCK.

   Die Kolportageromane ›Waldröschen‹ und ›Die Liebe des Ulanen‹ sind in der Zwischenzeit in neuen Auflagen herausgekommen: Das ›Waldröschen‹ in der Edition Leipzig (1988) in der frühen Fassung der Jahre 1882-84. Die Schreibweise der Namen und die Seitenangaben (die aber nicht gravierend differieren) wurden von Stefan Schmidt auf diese Ausgabe umgestellt. Da nun der ULAN in der ›Wanderer‹-Fassung als Reprint des Karl-May-Verlages (Bamberg 1993) vorliegt, wurden die Artikel um die Seitenangaben dieser Ausgabe von Dr. Christoph F. Lorenz ergänzt.

Bernhard Kosciuszko


Großes Karl-May-Figurenlexikon

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