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OLD SHATTERHAND (OS):


I. OLD SHATTERHAND tritt auf in:


In den Erzählungen der Bände GR 11 und GR 23 wird der Name des Ich-Erzählers nicht immer mit KARA BEN NEMSI (KBN) oder OS angegeben. Es besteht jedoch kein Zweifel, daß Karl May sich bei der Zusammenstellung dieser Bände aus schon früher erschienenen Erzählungen der Einheitlichkeit der Gesammelten Werke wegen den omnipotenten Ich-Helden dieser Erzählungen als KBN oder OS gedacht hat. Es ist auch eigentlich ohne Bedeutung, welcher der beiden Namen jeweils gemeint ist, da ja beide ICH sind. Für das Lexikon mußte jedoch eine Entscheidung erfolgen: OS wurde nur den in Amerika spielenden Erzählungen zugeordnet, in allen übrigen Erzählungen wurde KBN eingesetzt. OS wird auch mit dem namenlosen Ich-Erzähler der beiden Südamerika-Bände (GR 12/13) und der Südamerika-Erzählung CHR.ERSTANDEN gleichgesetzt.


- (FIREHAND/WESTEN): (anonymer) ICH-ERZÄHLER, in GR 8 zu OS umgeschrieben

- DEADLY DUST

- IM WILDEN WESTEN

- ÖLBRAND

- WINDHOSE

- BÄRENJÄGER

- GEIST

- (SCOUT): (anonymer) ICH-ERZÄHLER, in GR 8 zu OS umgeschrieben

- GR 7

- GR 8

- GR 9

- GR 12/13

- SILBERSEE

- ÖLPRINZ

- CHR.ERSTANDEN

- GR 14/15

- GR 19-22

- GOTT LÄßT SICH

- MUSTANG

- BLIZZARD

- GR 24

- GR 26

- MUTTERLIEBE

- GR 33


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II. Andere Namen OLD SHATTERHANDs


in ÖLBRAND:

- VAUVA-SHALA (Sioux) (7)

- SCHAR-LIH (Anrede durch WINNETOU) (167ff, 176)

in WINDHOSE:

- SELKI-LATA (Apachen) (86)

in BÄRENJÄGER:

- NONPAY-KLAMA (Shoshonen) (34, 99 / NOUPAY-KLAMA ist ein Setzfehler.)

in GEIST:

- NINA NONTON (Comanchen) (362)

in SKLAVENKARAWANE:

- ABU JADD ED DARB (59) (nur erwähnt)

in GR 7:

- SELKI-LATA (Apachen) (302)

- SCHARLIH (Anrede durch Winnetou) (545, 618)

in GR 8:

- MÜLLER (117)

- SCHARLIEH (Anrede durch Winnetou) (74, 77, 629)

in GR 9:

- CHARLEY (mehrfach Anrede durch SANS-EAR)

- SCHAR-LIH (Anrede durch Winnetou) (155, 156, 346, 389, 393, 408, 421, 424, 426, 428, 462, 465f, 468, 473f)

- CARLOS (280f)

- CHARLES (mehrfach Anrede durch FRED WALKER)

- KA-UT-SKAMASTI (Oglala) (471)

- JONES (482 pass.)

in GR 12/13:

- ARRIQUEZ (12: 42)

- CHARLEY (mehrfach Anrede durch FRICK TURNERSTICK)

- TOCARO (13: 284)

in SILBERSEE:

- POKAI-MU (Utah) (306)

in ÖLPRINZ:

- SELKHI-LATA (243)

in CHR.ERSTANDEN:

- EL RASTREADOR (154)

in GR 14:

- MR. CHARLEY: Gräbersucher (8f, 32, 56, 78)

in GR 20-22:

- TAVE-SCHALA (Yuma) (20: 101, 105, 187; 21: 43)

- SCHARLIEH (Anrede durch Winnetou) (GR 20: 254f GR 21: 248, 410, 448, 493 GR 22: 507, 523)


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- MR. JONES (21: 278, 284)

- MÄRZ (22: 35)

- OLD FIREFOOT (22: 34, 45)

in BLIZZARD:

- MR. BEYER

in MUSTANG:

- SCHARLIH (Anrede durch Winnetou) (228)

in GR 24:

- KARL MAY

- MEIER (152)

- SAPPHO (ab 344 mehrfach Anrede durch CARPIO)

- SCHARLIH (Anrede durch Winnetou) (274, 297, 526)

in GR 26:

- MR. GERMAN (17)

in GR 33:

- KARL MAY

- HERZLE (Anrede durch KLARA MAY (-> HERZLE)


III. Herausragende Aktivitäten/Besonderheiten


in ÖLBRAND:

- Der Name Old Shatterhand soll von einem müßigen Trapper stammen. (8)

- OS rettet zwei Frauen aus einem brennenden Öltal. (179)

in BÄRENJÄGER:

- OS nimmt TOKVI-TEY aus dem eigenen Zelt heraus gefangen. (89)

- Knieschuß (Hüftschuß) (145f)

- Messer-Zweikampf mit KANTEH-PEHTA (172f)

- Bericht von einem Zweikampf mit WINNETOU (nur GK 1. Jg.: 554)

in GEIST:

- OS macht Regen. (445)

in SKLAVENKARAWANE:

- OS war Lehrmeister von EMIL SCHWARZ im Anschleichen. (nur erwähnt) (59)

in GR 7:

- OS fängt und zähmt SAM HAWKENS‹ Maultier. (86-89)

- OS tötet einen Grizzly mit dem Messer. (100ff)

- OS befreit WINNETOU und INTSCHU TSCHUNA aus den Händen der Kiowa (248-51), dabei schneidet er eine Haarsträhne Winnetous ab (251).

- Zweikampf mit METAN-AKVA (283f)

- Zweikampf mit Winnetou; OS erhält dabei einen gefährlichen Messerstich oberhalb des Halses in den Mund. (293ff)

- Todestraum (299f)

- Zweikampf mit INTSCHU TSCHUNA (358-63)

in GR 8:


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- OS erlebt einen Hurrican. (7f) (Vorstufe SCOUT)

- OS nimmt eine Stellung als Detektiv im Büro TAILOR an. (11) (Vorstufe SCOUT)

- Kampf mit einem Hund (57f) (Vorstufe SCOUT)

- OS erhält ein Totem von INDA-NISCHO. (265) (Vorstufe SCOUT)

- OS erhält von HENRY den Henrystutzen. (395)

- OS rettet HARRY aus einem brennenden Öltal. (418-21) (Vorstufe FIREHAND/WESTEN)

- Zweikampf mit PARRANOH (444, 495) (Vorstufe FIREHAND/WESTEN)

in GR 9:

- Schießprobe auf selbstgeworfene Steine (14) (Vorstufe DEADLY)

- OS »hat einmal unter einem Grizzlybären gelegen, der ihn im Schlafe überraschte und ihm das ganze Fleisch von der Schulter bis über die Rippe herunterzog; er hat sich den Streifen Rumpsteak zwar glücklich wieder aufgeleimt, aber die Narbe muß ... noch recht gut zu sehen sein« (15). (Vorstufe DEADLY)

- OS fertigt aus Kirschen- und Latiskenblättern sowie aus wildem Hanf Zigarren. (33-35) (Vorstufe DEADLY)

- OS macht Regen. (92-96) (Vorstufe DEADLY)

- Bärenjagd (186f) (Vorstufe DEADLY)

- Schießdemonstration: 20 Schüsse auf einen Pfahl (228f) (Vorstufe DEADLY)

- OS zeichnet die Häuptlinge der Racurroh-Comanchen, steckt die Zeichnung in sein Gewehr und behauptet, die Seelen der Indianer nun in die Luft schießen zu können. (233f) (Vorstufe DEADLY)

- OS führt mit zwei Knöpfen TO-KEI-CHUNs einen Taschenspielertrick aus. (234f) (Vorstufe DEADLY)

- OS weint bei den Shoshonen um ALLAN MARSHAL. (340) (Vorstufe DEADLY)

- OS als Meister der Fährtendeutung (369-74) (Vorstufe IM WILDEN WESTEN)

- Schießdemonstration auf eine Lerche (378f) (Vorstufe IM WILDEN WESTEN)

- OS hat ein ›Ave Maria‹ gedichtet, das in Chikago vertont wurde. (415) (Vorstufe IM WILDEN WESTEN)

- Religionsgespräch mit Winnetou (424-29) (Vorstufe IM WILDEN WESTEN)

in GR 13:

- gefährliche Rettungsaktion im Fels um den SENDADOR (548-56)

in SILBERSEE:

- Schießdemonstration: 10 Schüsse auf ein Ahornbäumchen, je daumenbreit auseinander (314)

- Zweikampf mit Messer und Tomahawk gegen OVUTS-AVAHT (370f)

in CHR.ERSTANDEN:

- OS hat die Toba-Indianer AGUSTIN und MANUEL in den Lehren des Christentums unterrichtet und ist ihr Taufpate. (149)

in GR 14:

- OSs Pferd heißt Hatatitla. (79)

- Kampf im Wasser mit VUPA UMUGI (143)

- Mustangzähmung (288)


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in GR 15:

- OS schlägt mit einem Faustschlag WILLIAM JONES (-> KANADA-BILL) so nieder, daß dieser irrsinnig wird. (Vorstufe THREE CARDE) (112)

in GR 19:

- OS wird von TOBY SPENCER am Oberschenkel erheblich verletzt. (330)

in GR 20:

- Zweikampf mit HARRY MELTON; OS bricht diesem beide Handgelenke. (138)

- Messer-Zweikampf mit NALGU MOKASCHI (337ff)

in GR 21:

- Kampf gegen zwei Yumakrieger mit je zwei Lanzen (169ff)

in GR 22:

- Parforce-Fahrt mit einem Ochsenkarren durch feindliche Indianer (552-57)

in BLIZZARD:

- OS schlägt OLD CURSING-DRY mit einer Gerte ins Gesicht (526)

in MUSTANG:

- OS schneidet zwei Chinesen zur Strafe für den Gewehrdiebstahl die Zöpfe ab. (92)

- OS nimmt TOKVI KAVA die Medizin ab. (240)

- OS vernichtet die Medizinen von 100 Comanchen. (250)

- OS stößt drei Comanchen von einem Felsen herunter. (329)

in GR 24:

- OS schreibt für Zeitungen, wenn er in zivilisierte Gegenden kommt. (123)

- Spiel mit den Namen MAY/MEIER (168)

- OS entziffert ein ›Sprechendes Leder‹. (205ff)

- Wettschießen mit FRANK SHEPPARD auf eine Scheibe (5 Schüsse) (252f)

- OS reißt ein anspringendes Pferd mit der Hand nieder. (444)

- Demonstration in Tomahawkwerfen (495)

- Tomahawkkampf mit PETEH (501)

- Tomahawkwerfen mit Peteh (505)

- OS fertigt Weihnachtsschmuck im Wilden Westen. (591)

- OS singt zusammen mit VON HILLER, HERMANN ROST und EMIL REITER im Wilden Westen ›Stille Nacht, Heilige Nacht‹. (617)

in GR 33:

- OS läßt den Henrystutzen im Koffer; den Bärentöter hat er zu Hause gelassen. (358)

- OS »ist der anbrechende Tag, der über Länder und Meere wandert um uns die Zukunft zu bringen.« (TATELLAH-SATAH) (404)

- Duell mit den vier Häuptlingen (547-52)

* * * * *

Tritt Karl Mays Ich im Orient als KARA BEN NEMSI auf, als ›Karl, Sohn der Deutschen‹, so repräsentiert er dort tatsächlich sein Vaterland exemplarisch als guter Deutscher, als Helden- und Vorbildfigur. Daß May für die Wildwest-Erzählungen einen ganz


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andersartigen Heldennamen wählte, charakterisiert bereits vorab wesentliche Züge des Mayschen ›alter ego‹ in Amerika. ›Old Shatterhand‹, der Jagdname der Figur, weist einerseits auf die gefürchtete Körperkraft des Westmanns hin, dessen Jagdhieb einen Menschen niederstrecken, auf längere Zeit betäuben und sogar irrsinnig machen kann.1 Andererseits deutet das Adjektiv ›old‹ darauf hin, daß der Held wegen seiner Taten als Westmann im selben Rang steht wie die berühmten Helden OLD FIREHAND oder OLD DEATH, ja eigentlich einen höheren Rang einnimmt, da diese Männer mittleren oder sogar fortgeschrittenen Alters sind, während Old Shatterhand als junger Mann geschildert wird (erst in GR 33 ist er alt). Der Name ›Old Shatterhand‹ wurde von May in zunehmenden Maße als Chiffre eingesetzt, als Codewort, bei dessen Nennung die Gegner erschrecken und die anderen »Helden des Westens« Ehrfurcht bezeugen. Die bloße Namensnennung allein spielt in den Amerika-Geschichten eine große Rolle. In noch stärkerem Maße als in den Orient-Erzählungen hat May hier auf die ›Kraft‹ des Namens gesetzt. Man darf dabei an Mays frühe Straftaten denken, die belegen, wie May durch die Wahl bestimmter Pseudonyme (Dr. med. Heilig, Hermes, Polizeileutnant von Wolframsdorf, Albin Wadenbach aus Martinique) Eindruck machen und sich Charaktereigenschaften quasi a priori zuschreiben wollte.2 Die Namenswahl ›Old Shatterhand‹ (künftig: OS) legt den Schluß nahe, May habe mit dieser Figur vor allem die körperliche Stärke und Gewandtheit seines Helden betonen wollen. Die ersten Auftritte von ICH-ERZÄHLERn, die man als ›Prä-Shatterhands‹ bezeichnen kann, belegen allerdings diese Vermutung noch nicht.

Erstmals tritt in der Erzählung ›Old Firehand‹ (FIREHAND - 1875) ein Ich-Erzähler auf, der als Vorläuferfigur zu OS anzusehen ist. Deutlich hat May seinem Helden aber vom Beginn der Erzählung an ausgesprochen empfindsame, ja sentimentale Züge verliehen. So wird gleich in den ersten Sätzen ein Gefühl der Einsamkeit, Verlorenheit und des Liebesschmerzes evoziert, das eindeutig auf das Vorbild des Entwicklungsromans im 18. Jahrhundert zurückzuführen ist, dessen Helden (etwa Goethes Wilhelm Meister) neben vielen anderen Charaktereigenschaften vor allem eine schwärmerische, leidenschaftlich-gemütsbewegte Wesensart an den Tag legen, die man im Zeitalter der Empfindsamkeit liebte: »Noch hatte mich kein Mund geküßt, und mein Frühling konnte also wohl beginnen, doch beileibe nicht schon zu Ende sein; aber das Leben war mir bisher Nichts gewesen als ein Kampf mit Hindernissen und Schwierigkeiten; ich war einsam und allein meinen Weg gegangen, unbeachtet, unverstanden und ungeliebt, und bei dieser inneren Abgeschiedenheit hatte sich eine Art Weltschmerz in mir entwickelt ...« (FIREHAND 107)3 Auch der Hinweis auf das »Paar arme, alte Eltern« (123), das in der Heimat alle Hoffnungen auf den Sohn setzt, der nun durch den Wilden Westen reitet, gehört mit in den Zusammenhang der eher weichlichen Züge des Ich-Erzählers, der noch namenlos bleibt.

Nach der melancholisch-sentimentalen Einleitung stellt May seinen Helden aber bald von einer ganz anderen Seite dar. Auf die Beleidigungen des ›Ölprinzen‹ EMERY FORSTER reagiert er zwar noch mit Stillschweigen (»Meine Meinung über das Duell, über Beleidigung und Genugthuung waren eben nicht die landläufigen« (123)), kaum aber gibt es echte Gefahr für Mensch und Tier durch einen Ölbrand, so wandelt sich der


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Held entscheidend. Im Moment der Gefahr wird er augenblicklich zum Anführer, der den anderen sagt, was sie zu tun haben, und der durch einen Parforce-Ritt ELLEN, die Tochter Old Firehands, rettet. Ellen zürnt ihrem Retter zunächst; sie wirft ihm vor, die anderen Bewohner des Tales aus Feigheit nicht gerettet zu haben. Tieferer Grund für die ablehnende Haltung des Mädchens ist jedoch der Kuß, den der Held der aus der Ohnmacht erwachenden Ellen direkt nach ihrer Rettung raubte. Die Unvereinbarkeit der beiden Rollen, die May seinem Helden zumindest im ersten Drittel der Erzählung zumutet, nämlich die des schüchternen Liebhabers und die des tapferen Westmannes, wird hier ganz deutlich. Überhaupt paßt die zarte Liebesgeschichte zwischen dem Ich-Erzähler und Ellen trotz ihres positiven Ausgangs nicht so recht zu dem Bild, das May im weiteren Verlauf seiner Erzählung von seinem Helden entwirft. May mag diese Ambivalenz gespürt haben, denn immer mehr tritt die Liebhaberrolle zugunsten einiger Züge, die Charaktereigenschaften und besondere Fähigkeiten des späteren OS vorwegnehmen, in den Hintergrund.4

So wird seine Kampferprobtheit dargestellt. Er überrumpelt PARRANOH, den weißen Häuptling der Oglalas: »Es war nicht der erste Feind, welchen ich niedergestreckt, und mein Körper zeigte manches Andenken an nicht immer glücklich bestandene Rencontres mit den kampfgewandten Bewohnern der amerikanischen Steppen« (173). In dieser frühen Erzählung gehen die Helden des Westens noch mit unbekümmerter Grausamkeit gegen ihre Gegner vor, und so überläßt der Erzähler den besiegten Parranoh WINNETOU, damit dieser sich den Skalp nehmen kann. Trotz seiner offenbar grundsätzlichen Billigung des Skalpnehmens wendet er sich aber ab, »um von dieser Prozedur nicht berührt zu werden«. (174) Mit der Schilderung grausamer und ausführlicher Kampfschilderungen steht May in der Tradition des amerikanischen (Mayne Reid) und des französischen (Gabriel Ferry) Abenteurerromans. Aber die innere Abwehr des Helden gegen die brutalen Kampfessitten im Wilden Westen verweisen deutlich auf den Weg, den May in seinen Geschichten einschlagen wird, deren humaner Held OS sein wird.

Noch ist in FIREHAND Winnetou, von dem der Erzähler sein wertvolles Pferd ›Swallow‹ geschenkt bekam und der ihn »mein weißer Bruder« (125) nennt (später stellt er sich als »Winnetou's Freund« (155) dar), der ältere Lehrer und Mentor, der den jüngeren Weißen auf die Probe stellt, um zu erfahren, was dieser im Fährtenlesen und -deuten von ihm gelernt hat. Das ändert sich aber, als das eigentliche Abenteuer beginnt. Der Weiße übernimmt sofort (gewissermaßen automatisch) die Führung, läßt Winnetou ins zweite Glied zurücktreten, warnt das Zugpersonal und rettet Old Firehand das Leben. Auch das Verhältnis des Erzählers zu SAM HAWKENS ist in FIREHAND schon vorgezeichnet. Sam Hawkens behandelt ihn zunächst als »newman«, den er »die Rifle halten« lehren will (192), wird aber kurz darauf von dem ›Greenhorn‹ überrumpelt, das sich als viel besserer Westmann erweist als der anscheinend so erfahrene Sam.

Der Erzähler in FIREHAND wird trotz der angedeuteten Überlegenheit über die anderen Westmänner noch nicht zu der überragenden Heldengestalt der Geschichte - so erlebt er den Ausgang der letzten Schlacht mit Parranoh nicht mit, da er durch einen Schlag auf den Kopf betäubt wird. Die Figur nimmt zwar in vielen Aspekten Mays überlebensgroßen Helden OS vorweg - er hat sogar einen fünfundzwanzigschüssigen Henrystutzen -, so


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daß die Geschichte und die Figur von May 18 Jahre später für die Winnetou-Trilogie umgearbeitet werden konnte, doch trägt sie noch deutlich den Makel des Unfertigen, vom Autor noch nicht in der letzten Konsequenz Durchdachten.

Das Gleiche läßt sich von dem Erzähler der Kurzgeschichte ›Der ÖLPRINZ‹ (ÖLPRINZ-FS; 1877) sagen, der mit Sam Hawkens ein Ölbrand-Abenteuer erlebt. Wieder - wie in FIREHAND - wird der Gegensatz zwischen dem anspruchslosen Wesen der Präriejäger, die im Einklang mit der Natur leben, und dem großspurigen Auftrumpfen eines ›Ölpinzen‹ (JOSIAS ALBERTS) thematisiert. Ein Motiv, das sich als ›Abneigung gegen die durch Geld verdorbenen Yankees‹ später bei OS wiederfindet. Auch der ÖLPRINZ-FS-Erzähler erweist sich als echter Held, der mehr durch seine Persönlichkeit als durch den äußeren Schein imponiert: Er rettet die Tochter Alberts aus dem Feuer.

Einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Heldengestalt OS stellt die 1879 erschienene Erzählung ›Ein Dichter‹ (DICHTER/PFAHLMANN) dar. RICHARD FORSTER, die Hauptfigur, ist ein deutsch schreibender Dichter und hervorragender Westmann. Er ist ein schon deutlicher zu entschlüsselndes Selbstporträt Mays. Forster wird zunächst eingeführt als »der berühmte Mann, der die schönen Lieder macht, die weit über die Staaten hinaus gedruckt und gelesen werden« (127). Sein Ruhm wird dadurch als wahrhaft bedeutend dargestellt, daß ein Westmann wie TIM SUMMERLAND diese Bemerkung macht. Forster reist nicht in erster Linie in den Westen, um Abenteuer zu erleben, sondern um »Savannenbilder« zu dichten. Er erweist sich jedoch auch als tapferer und kenntnisreicher Westläufer. So rettet er Summerland vor dem Verschmachten im Llano estakado, indem er zwei Kojoten erschießt und ihm von ihrem Blut zu trinken gibt - ein Motiv, das auch in DEADLY DUST/GR 9 vorkommt, wo dann allerdings OS der Retter ist. Im Kampf mit den Stakemen des Llano estakado zeigt er sich als geschickter und erfolgreicher Tomahawk-Kämpfer. Bewaffnet ist Forster mit einem »Doppelläufer« und »eine(m) famosen Stutzen« (129), die aber nicht als Bärentöter oder Henrystutzen bezeichnet werden, obwohl in der Erzählung ›Die Gum‹ (GUM-FS; 1878) beide Gewehre schon explizit als Bewaffnung des Helden erwähnt werden. Bei der Begegnung mit einer Gesellschaft von Stutzern vor der Stadt Stenton wollen diese Forster, den sie seines abgerissenen Aussehens wegen als »Biberhauthaggler«, der »wohl noch nie eine wirkliche Lady gesehen (hat)« (145), bezeichnen, »ins Gebet nehmen« und blamieren. So wie Forster reagiert (»Ein leiser Schenkeldruck und der Mustang schnellte bis dicht an TOM WILSON heran; im nächsten Augenblicke sank dieser, von einem fürchterlichen Faustschlage getroffen, aus dem Sattel in das Gras hinab.« (147)), handelt auch OS nach Herausforderungen dreister Gegner: ruhig abwartend, dann plötzlich aber von »Geist und Feuer« sprühend. Der weitere Verlauf der Erzählung ist eher an den Mustern des Kolportageromans orientiert als an denen der Wildwestgeschichten. Forster verliebt sich in MARGA OLBERS und verfolgt mit Summerland Wilson, der Margas Vater um große Geldsummen betrogen hat, bis nach Mexiko. Er rettet dort einen Grafen und dessen Frau, die ihm aus Dankbarkeit große Ländereien in Texas schenken, und heiratet dann Marga. Auch in Forster hat May einen Westläufer geschaffen, der OS-Züge vorwegnimmt, der aber wegen des Liebesabenteuers doch eher zu einem anderen Heldentypus zählt.


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Im Jahre 1882 erschien die kurze Erzählung ›Die Both Shatters‹ (BOTH SHATTERS), in der der Ich-Erzähler, der Mitglied einer Westmannsgesellschaft und ein Freund Winnetous ist, den TWO SAMS gegen Indianer beisteht und durch sie mit den BOTH SHATTERS (JOSIAS PARKER und dessen Sohn) bekannt wird. Er ist mit einem fünfundzwanzigschüssigen Henrystutzen bewaffnet, der von JAKE HAWKINS aus St. Louis stammt. Der ganze Gestus dieser Erzählung paßt eigentlich nicht mehr in die Zeit ihrer Veröffentlichung. Sie ist noch in der Art der ganz frühen Wildwesterzählungen Mays geschrieben. Es wird vermutet - und es spricht vieles dafür, auch wenn ein Nachweis noch nicht gefunden werden konnte -, daß die Geschichte schon 1877 erschienen ist. Wenn die Geschichte so früh schon geschrieben wurde, dann darf angenommen werden, daß der Name der Titelfiguren den Namen ›Old Shatterhand‹ direkt evozierte und daß auch der berühmte Jagdhieb OSs hier seinen direkten Vorläufer hat, denn Josias Parker trägt den Beinamen ›Shatter‹, da er seine Gegner mit einem einzigen Tomahawkhieb niederstreckt, also wirklich ›zerschmettert‹.

Der Name ›Old Shatterhand‹ wird zum erstenmal, zusammen mit einer Erklärung seiner Bedeutung, in ›Unter Würgern‹ (GUM-GR - 1879) erwähnt. In GUM-FS, der Urfassung dieser Erzählung, ist der Held zwar auch schon ein weitgereister Mann, der vor dem Abenteuer im Orient in den Vereinigten Staaten umherstreifte und der die Gewehre OSs führt, aber der Trappername wird dort noch nicht genannt. In ›Unter Würgern‹ heißt es lakonisch, als der Erzähler einen Targi niederschlägt: »Es war dies ganz derselbe Jagdhieb, wegen dessen mich EMERY BOTHWELL zuweilen ›Old Shatterhand‹ (Schmetterhand) genannt hatte.«5 Daß Bothwell den Namen prägte, wird in den Amerika-Erzählungen Mays nicht mehr erwähnt, wohl, weil Bothwell erst spät (in ›Satan und Ischariot II/III‹ - GR 21/22; 1894-96) wieder im Werk Mays auftaucht, nachdem in ›Winnetou I‹ (GR 7) die Genese der Figur OS neu dargestellt worden war.

In dem Roman ›Deadly Dust‹ (DEADLY - 1880/GR 9), der thematisiert, daß »die Gier nach ›deadly dust‹, nach Gold, Geld und Besitz, den Menschen korrumpiert und ins Verderben stürzt«,6 ist das ›Ich‹ erstmals in Mays Werk OS. Die Geschichte weist manche Ähnlichkeit mit dem ab 1881 im Deutschen Hausschatz erscheinenden Orientzyklus (GR 1 - 6) auf. So ist auch sie mehr ein aus verschiedenen Episoden lose zusammengefügter Erzählstrang, auch hier geht es um die Verfolgung einer Verbrecherbande, wie dort findet der Ich-Held in der Wüste Spuren eines Verbrechens, dessen Aufklärung den weiteren Verlauf des Romans bestimmt. Die Figur OS wird so zum Vorläufer des Orienthelden Kara Ben Nemsi. OS ist ein erfahrener, perfekter Westmann, kein Greenhorn; er verfügt souverän über die Kunst des Spurenlesens und alle sonstigen im Wilden Westen erforderlichen Techniken (Anschleichen, Treffsicherheit, Sprachfertigkeit), die es ihm ermöglichen, in der Wildnis nicht nur zu überleben, sondern auch anderen aus Gefahren zu helfen. DEADLY steht »entwicklungsgeschichtlich am Übergang vom Frühwerk zu den ›klassischen‹ Reiseerzählungen Karl Mays ... Die Mittelstellung ... zeigt sich auch darin, daß zwar Old Shatterhand schon im großen und ganzen die für ihn nachmals kennzeichnende Milde und Humanität praktiziert, daß die Erzählung im übrigen aber noch auf den Ton archaischer Wildheit gestimmt ist, der die frühen exotischen Novellen Mays kennzeichnet.«7 »Betritt der noch zartfühlende Mensch, der Christ, die ›dark and bloody


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grounds‹ so fühlt er sich entsetzt von der Strenge und Rücksichtslosigkeit, zu welcher die Savanne ihre kraftvollen Söhne erzieht; bald aber zwingt ihn das grausame Gesetz der Selbsterhaltung, alle seine Kräfte gegen Gewalten einzusetzen, denen gegenüber die Schonung zu seinem eigenen sicheren Untergang führen würde; und er erkaltet nach und nach im Innern wie Alle, welche vor ihm den ›Athem der Savanne‹ tranken.« (467)8 OS jedoch widersteht - allerdings nicht so selbstverständlich wie später - diesem Einfluß: »Mit einer Kugel meines Bärentödters konnte ich sie bereits erreichen; ich hatte ihn zur Hand genommen, und - aufrichtig gestanden - es zuckte mir bereits in den Fingern ... Wenn der Prairiemann auf feindliche Indianer stößt, so gibt es außer der Flucht, die nur in gewissen Fällen möglich ist, keine andere Wahl, als die Feinde entweder zu vernichten oder selbst getödtet zu werden.« (435)9

SANS-EAR wundert sich darüber, daß OS noch sehr jung ist: »›Old Shatterhand muß viel, viel älter sein als Ihr, sonst würde man ihn nicht den a l t e n ›Schmetterhand‹ nennen.‹« Daraufhin antwortet OS: »›Ihr vergeßt, daß das Wort ›old‹ sehr oft anders gebraucht wird, als zur Bezeichnung des Alters.‹« (436/ GR 9, 14f) OS spielt auf seine Erfahrung, seine Heldentaten und Erlebnisse im Wilden Westen an, von denen er einige Narben zurückbehalten hat. So hat er »›einmal unter einem Grizzlybären gelegen, der ihn im Schlafe überraschte und ihm das ganze Fleisch von der Schulter bis über die Rippe herunterzog; er hat sich den Streifen Rumpsteak ... glücklich wieder angeleimt ...‹« (436/GR 9, 15) OS stellt sich Sans-ear als »writer«, als Schriftsteller, vor, läßt sich aber nicht präzise auf dieses Thema ein, auch nicht auf den Zusammenhang zwischen den Reisen in ferne Länder und dem Bücherschreiben. Auf die Frage des Westläufers, der jeden »book-maker« für halbverrückt hält, warum er Bücher schreibe, antwortet OS schlicht: »›Damit sie gelesen werden.‹« (435/GR 9, 10) Später, bei der Beschreibung des Llano estakado, geht er - diesmal aber als Erzähler sich an den Leser wendend und mit einem kleinen Exkurs für Mays gerade erst erschienene Bearbeitung des ›Waldläufer‹ von Gabriel Ferry werbend - noch einmal darauf ein: »Wir hatten die Apacheria durchritten, jenen Boden, den der Liebhaber von Abenteueromanen beinahe klassisch nennen könnte, da der berühmte »Waldläufer« von Gabriel Ferry auf demselben spielt, und mich selbst mußten diese weiten, vom Rio Gila durchzogenen Gründe auf das Lebhafteste interessiren, da ich diesen »Waldläufer« vor Kurzem erst im Gewande einer Umarbeitung aus dem Französischen in das Deutsche übertragen hatte.« (482) Bemerkenswert ist die explizite Gleichsetzung des Schriftstellers May mit seinem Helden schon in diesem frühen Werk.

Nachdem OS sich Sans-Ear gegenüber durch das Vorzeigen der Bärenwunde ausgewiesen hat, legitimiert er sich noch durch Taten. Er demonstriert seine überlegene Körperkraft, indem er den erfahrenen Westläufer blitzschnell entwaffnet und fesselt. Seine Schießkunst belegt er durch einen Schuß auf einen in die Luft geworfenen Stein. Dieses ›Vorstellen‹ durch die Demonstration überlegener Kenntnisse und Fähigkeiten bleibt ein Charakteristikum OSs. Auch der Anlaß zu solcher Selbstdarstellung ist in der Regel der gleiche: OS wird aufgrund seines äußeren Erscheinungsbildes von anderen Westläufern für ein Greenhorn gehalten: »Der echte Westmann giebt auf sein Aeußeres nichts und hegt eine offen gezeigte Abneigung gegen alles, was sauber ist ... Ich hatte mich ... mit


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neuer Kleidung versehen und war von jeher gewohnt, meine Waffen blank zu halten, zwei Umstände, welche nicht geeignet waren, mich in den Augen eines Savannenläufers als vollgültig erscheinen zu lassen.« (434/GR 9, 6)

May hat schon in DEADLY die Kenntnisse und Fähigkeiten der Vorläufer-Figuren zu einer Überfigur gebündelt. Daß es sich hier um eine Konstruktion aus den früheren Erzählungen handelt, ist auch daran zu sehen, daß May handlungsbestimmende Motive des Romans (Eisenbahnüberfall durch Indianer/Auseinandersetzung mit Wüstenräubern/ Rettung vor dem Verschmachten in der Wüste/Kampf mit Indianern) daraus entnahm.

Vom späteren OS unterscheidet sich der OS in DEADLY vor allem in seinem Verhältnis zu Winnetou. Dieser nennt ihn »Sharlih« und bekennt: »›Winnetou sitzt gern bei seinem Bruder, denn dieser ist ein großer Häuptling geworden unter den weißen Jägern; sein Auge ist wie das des Falken, sein Herz ist wie das der Taube und seine Hand wie die Tatze des Bären, welche die Schädel der Comanchen zermalmt.‹« (536) Aber trotz dieser feierlichen Worte ist Winnetous und OSs Freundschaft (die wohl von der Grizzly-Episode herrührt, da Winnetou den schwerverletzten OS damals gesundpflegte) mehr eine Kampfgemeinschaft als eine Seelenfreundschaft. Das ist sicher auch darauf zurückzuführen, daß in DEADLY Winnetou noch nicht der edle Indianer ist, als der er Mythos wurde, sondern ein noch sehr blutrünstiger Krieger, der sich mit den Skalplocken seiner Feinde schmückt.

Im Kampf mit den Indianern greift OS - im Gegensatz etwa zu Sans-ear - stets zur List, um größeres Blutvergießen zu vermeiden, im Zweikampf betäubt er seine Gegner (außer im unabwendbaren Notfall) nur: »›Ich bin in keiner Lage ein Freund von unnützem Blutvergießen, doch sehe ich hier ein, daß Ihr recht habt - es ist traurige Notwehr.‹« (467/GR 9, 56) - er wendet er sich sogar ab, als Sans-ear die blutige Arbeit übernimmt: »um das Fallen des zweiten Opfers nicht mit ansehen zu müssen« (467/GR 9, 57). Den Überfall auf die Eisenbahn vereitelt er dadurch, daß er den Oglalas die Pferde fortführt und die Prärie anbrennt. Den Aberglauben der Indianer benutzt er, ihnen Angst und Schrecken einzujagen: Er zeichnet während einer Beratung der Comanchen über das Schicksal ihrer Gefangenen die Häuptlinge in sein Skizzenbuch. TO-KEI-CHUN erschrickt, als er sein Konterfei erkennt: »›Das ist eine große Medizin! Der weiße Mann zaubert die Seelen der Comanchen auf dieses weiße Fell‹ ... Ich nahm ihm das Blatt aus der Hand und ließ auch die hinter mir sitzenden Krieger einen Blick auf dasselbe werfen, die ebenso erstaunt waren, wie die Häuptlinge selbst. Dann knitterte ich es zusammen, rollte es zwischen den Händen zu einer Kugel und steckte diese in den Lauf meiner Büchse. ›To-kei-chun, du selbst hast gesagt, daß ich eure Seelen auf dieses Papier gezaubert habe; jetzt stecken diese Seelen in dem Laufe meines Gewehres. Soll ich sie hinausschießen in die Luft, daß sie von den Winden zerrisssen werden und niemals in die ewigen Jagdgründe gelangen?‹« (590/GR 9, 234) OS krönt seine Vorstellung mit einem Taschenspielertrick; er wirft zwei Knöpfe, die er vom Jagdrock To-kei-chuns abreißt, scheinbar in die Luft. Dann zeigt er seine angeblich leeren Hände, praktiziert heimlich die Knöpfe in ein Doppelgewehr und schießt sie in die Luft. Solche Listen, die OS selbst noch im letzten Roman Mays (›Winnetou IV‹- GR 33) als handlungsentscheidendes Motiv einsetzt, könnten durchaus als Beweis für die Verachtung angesehen werden, die OS gegen die


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abergläubischen Indianer hegt; sie sind aber lediglich Mittel zum (humanen) Zweck: die Feinde werden zu Freunden - es wird Friede geschlossen.

Als ethisch hochstehender Mensch zeigt sich OS auch darin, daß er Sans-ear davon abhält, sich persönlich an den MORGANs zu rächen, und darin, daß er sich nicht schämt, in Gegenwart der Shoshonen um den toten ALLAN MARSHAL zu weinen. (652/GR 9, 340)

Die nächste Erzählung, in der OS auftritt, ist die Geschichte um Winnetous Tod (›Im ›wilden Westen‹ Nordamerika's‹ - ab Dez. 1882/(IM WILDEN WESTEN/GR 9). Roland Schmid vermutet,10 daß diese Erzählung »etwa um 1881« in einer bislang noch nicht aufgefundenen Erstfassung erschien. May konnte die Erzählung später nur wenig bearbeitet in die Winnetou-Trilogie übernehmen, da die Gestalt OS sich hier als Westmann nicht vom späteren OS unterscheidet. Die Geschichte beginnt wie DEADLY: OS trifft auf einen Westläufer (FRED WALKER), der ihn wegen seiner blankgewichsten Stiefel, seiner blitzsauberen Waffen und seines Schriftstellerberufes wegen für ein Greenhorn hält. Als der Zug, in dem beide sich begegnen, von Indianern überfallen wird, beweist OS durch eine Schießdemonstration und exzellentes Spurenlesen seine Qualifikation, ohne sich jedoch schon als OS zu erkennen zu geben. Auch die Begegnung mit Winnetou verläuft zunächst wie in DEADLY. Neu ist die ausgesprochene Gefühlsbetonung der Szene: »Ja das war er, der Held so vieler Abenteuer, der einzige Indianer, den ich von Herzen lieb gewonnen hatte ...«11 »›Schar-lih!‹ rief er frohlockend. Er öffnete die Arme, und wir lagen uns am Herzen. ›Schar-lih, shi shteke, shi nta-ye - Karl, mein Freund, mein Bruder!‹ fuhr er, beinahe weinend vor Freude, fort. ›Shi int... ni int..., shi itchi ni itchi - mein Auge ist dein Auge, und mein Herz ist dein Herz!‹ Auch ich war so ergriffen von diesem so ganz und gar unerwarteten Wiedersehen, daß mir das Wasser in die Augen trat.« (GR 9, 389) »Ich hatte diesem Manne mehr als hundert Male mein Leben zu verdanken«.12 »Es konnte mir nichts Glücklicheres geschehen, als ihn hier zu treffen. Er blickte mich immer von neuem mit liebevollen Augen an; er drückte mich immer von neuem an seine Brust, bis er sich endlich erinnerte, daß wir nicht allein waren.« (GR 9, 389)

Neu ist, daß OS nun auch als lyrischer Dichter in Erscheinung tritt. Wieder fällt die große emotionale Beteiligung des Helden auf. Die Siedler des Helldorf-Settlements singen ein ›Ave Maria‹, dessen Text OS wiedererkennt: »Was war denn das? Das war ja mein eigenes Gedicht, mein Ave Maria! ... Ich war zunächst ganz perplex; dann aber, als die einfachen, ergreifenden Harmonien wie ein unsichtbarer Himmelsstrom vom Berge herab über das Thal hinwegströmten, da überlief es mich mit unwiderstehlicher Gewalt; das Herz schien sich mir ins Unendliche ausdehnen zu wollen, und es flossen mir die Thränen in großen Tropfen von den Wangen herab.« (GR 9, 415)13

Ganz im Sinne der religiösen Gefühligkeit dieses Liedes/Gedichtes steht dann das große Glaubensgespräch zwischen OS und Winnetou, in dem sich OS erstmals als Missionar betätigt. Während die religiösen Streitgespräche zwischen HALEF und Kara Ben Nemsi meist auch humoristische Untertöne haben und zudem aus der Distanz des Herr-Diener-Verhältnisses geführt werden, ist das Gespräch zwischen Winnetou und OS ein Gespräch zwischen gleichrangigen Freunden. Nachdem er Winnetou davon überzeugt


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hat, daß der christliche Glaube gegenüber den indianischen Vorstellungen »Ruhe, Frieden, Trost« spenden kann, erzählt OS seinem Freund »von dem Glauben der Bleichgesichter«: »ich redete zu ihm in jenem milden, überzeugungsvollen Tone, welcher zum Herzen dringt, jedes Besserseinwollen vermeidet und den Hörer gefangen nimmt, obgleich er diesen denken läßt, daß er sich aus eigenem Willen und Entschließen ergeben habe ... Es war ein liebevolles Netzauswerfen nach einer Seele, die wert war, aus den Banden der Finsternis erlöst zu werden.« (GR 9, 427) Das Glaubensgespräch, überhaupt die missionarische Tätigkeit OSs gegenüber Winnetou, wird hier nicht wie in den Marienkalendergeschichten der neunziger Jahre damit motiviert, daß OS durch seinen christlichen Glauben geradezu verpflichtet ist, dessen Wahrheit weiterzugeben - dies spielt zwar auch eine Rolle, aber nicht die entscheidende. Wichtig ist vielmehr, daß Winnetou und OS hier in ihrer unzertrennlichen Freundschaft so weit eins werden, daß sie auch im Glauben einig sein wollen: »›Mein Bruder Schar-lih hat recht gesprochen. Winnetou hat keinen Menschen geliebt als ihn allein; Winnetou hat keinem Menschen vertraut als nur seinem Freunde, der ein Bleichgesicht ist und ein Christ ... Er hat seinen Bruder Winnetou niemals getäuscht und wird ihm auch heut die Wahrheit sagen. Das Wort meines Bruders gilt mehr als das Wort aller Medizinmänner ...‹« (GR 9, 426f)

Gegenüber den emotionsgeladenen Passagen gerade der Winnetou-OS-Szenen überrascht, daß die Trauer OSs über den Tod Winnetous nur angedeutet wird: »Was soll ich weiter erzählen? Die wahre Trauer liebt die Worte nicht! Käme doch bald die Zeit, in der man solche blutige Geschichten nur noch als alte Sagen kennt!« (474) Nach diesen Worten geht OS (nur in der frühen Fassung - nicht in GR 9) gewissermaßen zur Tagesordnung über und berichtet vom weiteren Schicksal der Helldorf-Siedler.

Die ab Ende 1882 erschienene Erzählung ›Ein Ölbrand‹ (ÖLBRAND) knüpft mit dem Motiv des brennenden Öltals an Mays frühe Erzählungen an. Wie seine noch anonymen Vorläufer rettet er Menschen vor dem vernichtenden Feuer. Jetzt jedoch unterstützen ihn Winnetou und POKAI-PO (TÖTENDES FEUER). Dieser will ein Fort überfallen, da seinem Volk Unrecht getan wurde. OS kann ihn überreden, zunächst zu verhandeln. Er erwirkt ihm freies Geleit. Als die Offiziere ihr Wort brechen, stellt er sich (bewaffnet mit einem Henrystutzen) an die Seite des Sioux. OS ist den Offizieren bis dahin nicht unter seinem Kriegsnamen bekannt. Dann wird dieser genannt: »›Tötendes Feuer, sage diesen Bleichgesichtern, wer ich bin!‹ ›Old Shatterhand!‹ antwortete der Indianer. ›Old Shatterhand!‹ wiederholten die Offiziere. Die verblüfften Mienen waren ein wahres Gaudium für mich. Der bloße Name thut oft mehr, als der Träger desselben jemals fertig bringen kann ... die guten Yankees aber hatten vor meinem Trappernamen einen solchen Respekt, daß die Unterhandlung von neuem begonnen wurde.« (15f) Dem Häuptling wird »ganz gegen das Gesetz« nun Sühne in Form von Gewehren zugesagt. Das Motiv ›Kraft des Namens‹ wird in ÖLBRAND zum erstenmal verwandt. In dieser Erzählung tritt OS weniger als Westmann und Abenteurer als vielmehr als bedingungsloser Verfechter der Rechte der Indianer auf. So ist er nun nicht mehr nur der Freund Winnetous, sondern, wie Pokai-po [ein Sioux !] ausdrücklich betont, ein Freund aller Roten: »›Er ist ihr Freund und darf mitten unter allen weilen, denn keiner wird ihm ein Leid thun.‹« (7) OS brandmarkt in einem langen Exkurs die Vernichtung der roten Rasse durch die skrupellosen Vertreter


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der ›Zivilisation‹ (3f). Zivilisationskritik wird auch deutlich in OSs Freude, nach längerem, durch eine Verwundung erforderlichen Aufenthalt in einem Fort wieder unter freiem Himmel schlafen zu können: »Ich hatte so lange Zeit auf meinen alten, treuen Freund, den Urwald, verzichten müssen, und heute, da ich zum erstenmale wieder in seinen Armen lag, durfte ich ihm das Herzeleid nicht anthun, einzuschlafen, ohne seinen ernsten, tiefen, schwermütigen Stimmen zu lauschen.« (2) Im Verhältnis Winnetou-OS taucht nun auch das Motiv auf, daß die beiden Freunde sich wortlos verstehen (169).

Das Bestreben Mays, für seine Amerika-Erzählungen einen omnipotenten Ich-Helden zu gestalten, ist mit dem OS in ÖLBRAND dennoch nicht gelungen. Werner Kittstein stellt in einer detaillierten Untersuchung fest, daß ÖLBRAND der einzige Text sei, in dem OS in einer Identitäts-Krise gezeigt werde: Er erlebe sich als Fremdling und Fremdkörper in der exotischen Umgebung, die ihn ablehne, was auch der Schluß der Erzählung zeige, der Winnetou und OS arg geschunden, im wahrsten Sinne des Wortes abgebrannt aus dem Abenteuer hervorgehen lasse.14 Aber: die Arbeit an der Figur geht weiter, so daß man die Figur OS, wie sie sich bis hierher darstellt, als ›frühen OS‹ bezeichnen kann.

Parallel mit ÖLBRAND erschien Mays Kolportageroman ›Das Waldröschen‹ (WR). Der strahlende Held dieses Romans ist KARL STERNAU. Sternau ist noch mehr als die beiden Ich-Figuren OS und Kara Ben Nemsi eine überlebensgroße Projektion der Wunschträume seines Autors. Sternau tritt auch als berühmter Westernheld in Erscheinung. Dabei werden alle Charakteristika des frühen OS auf Sternau übertragen: der gefürchtete Name (MATAVA-SE (DER FÜRST DES FELSENS)), die starke freundschaftliche Beziehung zu einem Indianer (BÜFFELSTIRN ->TECALTO), die Bewaffnung: Bärenbüchse und Henrystutzen, die enorme Körperkraft (mit einem Faustschlag wird ein Pferd betäubt), seine überragenden Fähigkeiten im Schießen, im Tomahawkwerfen, im Lassowerfen und im Reiten. Möglicherweise hat May bei der Arbeit mit der Figur Sternau gemerkt, daß seine Figur OS noch nicht mit der inzwischen ja schon zu einem mythischen Helden gewordenen Orienthelden Kara Ben Nemsi vergleichbar ist, da er die Konzeption so ohne Weiteres auf andere Heldengestalten übertragen konnte. Das eigentlich Unverwechselbare, das Faszinosum der Figur fehlte noch.

Erst 1886 wendet May sich wieder seiner Figur OS zu. In der Jugenderzählung ›Unter der Windhose‹ (WINDHOSE) hilft er, ein ›Sprechendes Leder‹ zu entziffern, ein Motiv, das in späteren OS-Erzählungen noch eine wichtige Rolle spielt (so in HEIMATH und in ›Weihnacht‹ (GR 24); in ›In den Cordilleren‹ (GR 13) entschlüsselt OS ein Kipu). May nahm in dieser kurzen Erzählung die Figur ohne Änderung gegenüber den früheren Erzählungen wieder auf. Wichtig ist aber, daß er nun mit Jugendlichen (JOSEPH ROLLINS, ISCHARSHIÜTUHA) zu tun hat, denn schon vor Veröffentlichung von WINDHOSE hatte May begonnen, für die Knabenzeitschrift ›Der gute Kamerad‹ den Roman ›Der Sohn des Bärenjägers‹ (BÄRENJÄGER) - erschienen ab Jan. 1887) zu schreiben. Dieser Roman enthält alle Charakteristika der für den ›Guten Kamerad‹ von May bis 1899 geschriebenen Erzählungen, die speziell für die Gymnasialjugend konzipiert waren. Es agieren in den meisten dieser Geschichten jugendliche Helden (meist ein Weißer und ein Einheimischer), die für die Leser zu Identifikationsfiguren werden sollen. May nimmt deshalb auch seine Überhelden etwas zurück: Die Romane sind nicht in der


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Ich-Form geschrieben, der vollendete Held Kara Ben Nemsi tritt gar nicht auf, von OS wird distanziert in der Er-Form erzählt. Den Jugendlichen stehen erfahrene Männer zur Seite (im Wilden Westen vorrangig OS und Winnetou), die humorigen Szenen dieser Werke sind meist (z.B. durch die Bildungskapriolen des HOBBLE-FRANK) belehrender Art.

OS erscheint im BÄRENJÄGER auf dem Zenit seines Ruhmes. Der Mandane WOKADEH, einer der jugendlichen Helden des Romans, erzählt von ihm: »›Er liebt die roten Männer, trotzdem er ein Bleichgesicht ist. Er ist der berühmteste Pfadfinder; seine Kugel geht nie fehl, und mit der unbewaffneten Faust fällt er den stärksten Feind. Darum wird er Old Shatterhand genannt. Er schont das Blut und das Leben seiner Feinde; er verwundet sie bloß, um sie kampfunfähig zu machen, und nur, wenn es sein eigenes Leben gilt, tötet er den Gegner.‹« (34) Um den ›Helden des Westens‹ ranken sich Legenden: Lang und breit wie den Koloß zu Varus stellt sich der Hobble-Frank OS vor, und auch der DICKE JEMMY glaubt, daß OS von »riesenhafter Gestalt« (61) ist. Der LANGE DAVY erklärt, daß von OS »wohl ein jeder« schon gehört habe und bezeichnet ihn als »›den berühmtesten Westmann, den nur jemals die Sonne beschienen hat!‹« (73) Der Held selbst übt sich in Bescheidenheit: »›mein Ruf (ist) größer als mein Verdienst. Was von einem an dem ersten Lagerfeuer erzählt wird, das vergrößert man am zweiten um das Drei- und an dem dritten um das Sechsfache. So kommt es, daß man für ein wahres Wunder gehalten wird, während man doch nur das ist, was jeder andere auch.‹« (61)

Der berühmte Westmann wird auf typische Weise in den Roman eingeführt: Man hält ihn zunächst für einen Neuling im Westen. Sein Aussehen legt das nahe: »Er war von nicht sehr hoher und nicht sehr breiter Gestalt. Ein dunkelblonder Vollbart umrahmte sein sonnenverbranntes Gesicht. Er trug ausgefranste Leggins und ein ebenso an den Nähten ausgefranstes Jagdhemd, lange Stiefel, welche er bis über die Knie emporgezogen hatte, und einen breitkrämpigen Filzhut, in dessen Schnur rundum die Ohrenspitzen des grauen Bären steckten. In dem breiten, aus einzelnen Riemen geflochtenen Gürtel steckten zwei Revolver und ein Bowiemesser; er schien rundum mit Patronen gefüllt zu sein ... Von der linken Schulter nach der rechten Hüfte trug er einen aus mehrfachen Riemen geflochtenen Lasso und um den Hals an einer starken Seidenschnur eine mit Kolibribälgen verzierte Friedenspfeife, in deren Kopf indianische Charaktere eingegraben waren. In der rechten hielt er ein kurzläufiges Gewehr, dessen Schloß von ganz eigenartiger Konstruktion zu sein schien, und in der Linken eine - - - brennende Cigarre, an welcher er soeben einen kräftigen Zug that, um den Rauch mit sichtlichem Behagen von sich zu blasen ... an diesem jungen ... Manne (sah) alles so sauber aus, als sei er erst gestern von St. Louis aus nach dem Westen aufgebrochen. Sein Gewehr schien vor einer Stunde aus der Hand des Büchsenmachers hervorgegangen zu sein. Seine Stiefel waren makellos eingefettet und die Sporen ohne eine Spur von Rost. Seinem Anzuge war kaum eine Strapaze anzusehen, und wahrhaftig, er hatte sogar seine Hände rein gewaschen.« (56f)

Erkannt wird OS an seinen Gewehren, dem schweren, doppelläufigen Bärentöter »vom stärksten Kaliber« (60) und dem Henrystutzen. Er ist mit Winnetou zusammen, der jetzt als »der herrlichste der Indianer« vorgestellt wird. »Sein Name lebte in jeder Blockhütte und an jedem Lagerfeuer. Gerecht, klug, treu, tapfer bis zur Verwegenheit, ohne


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Falsch, ein Freund und Beschützer aller Hilfsbedürftigen, gleichviel ob sie rot oder weiß von Farbe waren, so war er bekannt über die ganze Länge und Breite der Vereinigten Staaten und deren Grenzen hinaus.« (64)

Die ungewöhnliche Sauberkeit, die sowohl OS als auch Winnetou in ihrer Kleidung, ihren Waffen, in ihrer ganzen Erscheinung bestimmt, verweist auf die moralisch vorbildliche Gesinnung der Helden. So wie auch in der Heiligenlegende die ›Erwähltheit‹ des Heiligen an dem Glanz, der von ihm ausgeht (›Heiligenschein‹) erkannt werden kann. Auch im mittelalterlichen Artusroman werden die berühmtesten Ritter (Yvain, Gauvain oder Erec) als strahlend in ihrer äußeren Erscheinung geschildert, und natürlich glänzen auch ihre Schwerter und Rüstungen in besonderer Weise.

Dieser Herausgehobenheit im Äußeren entspricht ein Herausragen in sozialer Hinsicht. OSs kommt aufgrund seiner hervorragenden Kenntnis des Westens und seiner persönlichen Reputation die Führerrolle bei allen wichtigen Aktionen zu. Er beansprucht sie nicht, sie wird ihm gewissermaßen ›natürlich‹ zugestanden: »›Ihr seid uns gar gewaltig überlegen, und ich will mich in Zukunft gern unter Euer Kommando stellen.‹« (78), erklärt der Lange Davy, nachdem ihm OS einige Fehler nachweisen konnte. OS antwortet bescheiden: »›So ist›s nicht gemeint gewesen. In der Prairie haben alle gleiches Recht. Ich maße mir keinen Vorzug an. Jeder dient dem anderen mit seinen Gaben und Erfahrungen, und keiner kann ohne Genehmigung der andern etwas beginnen. So muß es sein, und so werden auch wir es halten.‹« (78) In der Praxis sieht das jedoch anders aus. Wenn die Gefährten den Ansichten und Anweisungen OSs nicht folgen, geraten sie in gefährliche Situationen, aus denen OS sie wieder befreien muß.

Später - in ›Old Surehand‹ (GR 14) - wird OS OLD WABBLE aus der Reisegemeinschaft ausschließen, weil dieser ständig seinen Anweisungen entgegen handelt und so die Pläne OSs stört und die Gruppe gefährdet. Bei genauer Betrachtung zeigt sich, daß es im Wilden Westen Mays eine deutliche Hierarchie der Westmänner gibt: OS (und Winnetou) stellen die Spitze dieser Hierarchie dar, sie sind Westläufer ›ersten Ranges‹. Beide sind aufgrund ihrer überragenden Kenntnisse und Fähigkeiten einzeln oder gemeinsam gewissermaßen ›geborene‹ Führerpersönlichkeiten, denen sich alle Gefährten von Beginn des Zusammenseins oder gleich nachdem die beiden Helden zu einer Gruppe stoßen schon ihres Ruhmes wegen unterordnen. Westmänner ›zweiten Ranges‹, die OS und Winnetou an Erfahrung zumindest nahekommen, sind Old Firehand, OLD DEATH, Sans-Ear, Sam Hawkens, OLD SUREHAND. Sie unterscheiden sich in der ›Kampfkraft‹ und vor allem in ihrer Einstellung zum Blutvergießen von den beiden höchsten Helden. Eine Stufe darunter sind Westmänner einzuordnen, die May als liebenswürdige, skurrile Kauze darstellt, die dazu neigen, sich selbst zu überschätzen. Zu dieser Gruppe gehören etwa der Hobble-Frank, der Dicke Jemmy, Der Lange Davy, GUNSTICK-UNCLE und der HUMPLY-BILL. Diesen Westmännern unterlaufen - bemerkenswerterweise in der Regel erst, wenn OS zu ihrer Gruppe stößt - grobe Fehler. OS behandelt sie wie ein nachsichtiger Vater seine Dummheiten machenden und manchmal gegen seine Autorität aufmuckenden Söhne. Diese Westmänner dienen May hauptsächlich zur humoristischen Staffage seiner Romane und als Konstrastfiguren zu OS. Unterhalb dieser Ebene kann nicht mehr von Westmännern die Rede sein, da zum Westmannstatus moralische Integri-


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tät gehört. Verbrecherische Charaktere (z.B. OLD CURSING-DRY) sind keine Westmänner, sondern Buschklepper.

In BÄRENJÄGER vollbringt OS zwei Heldentaten: Er entführt den Shoshonenhäuptling TOKVI-TEY aus seinem eigenen Zelt, das inmitten seines Lagers steht, und er trägt mit dem Upsaroka-Medizinmann KANTEH-PEHTA einen rituellen Zweikampf aus. Die ganze Romanhandlung läßt sich als Auseinandersetzung des Schriftstellers Karl Mays mit seinem Verhältnis zu seinem Vater interpretieren. Auch die beiden Hauptaktionen OSs sind so zu deuten. In OS schuf May sich und (seinen Lesern) einen Über-Vater. Die Figur ist in ihrer Anlage dem ›Über-Ich‹ im Sinne der Instanzen-Theorie Sigmund Freuds vergleichbar: OS bewertet die Pläne und Handlungen seiner Gefährten (die häufig auch Teil-Spiegelungen des Menschen May sind); er sorgt für Bestrafung von Bösewichtern (die ebenfalls meist Ich-Spiegelungen Mays sind); er verlangt Wiedergutmachung oder Reue, wenn Unrecht geschehen ist; die Figur ist Ausdruck der Selbstbestätigung, der Selbstliebe Mays - Symbol für die gelungene Resozialisierung aus eigener Kraft.

Gegenüber dem frühen OS wurde die Figur in BÄRENJÄGER weiterentwickelt: Die Gestalt wird deutlicher als Mythos proklamiert, das Verhältnis zu Winnetou ist ausgereifter, der Charakter als Vater- bzw. Über-Ich-Figur wird herausgearbeitet. Daß May mit seiner Konzeption noch nicht zufrieden war, zeigt sich darin, daß er im folgenden Roman, in ›Der Geist des Llano estakado‹ (GEIST) - wieder ein ausdrücklicher Jugendroman -, mit der Figur nichts Rechtes mehr anzufangen wußte; OS vollbringt keine spektakulären Heldentaten, steht nicht im Mittelpunkt der Handlung.

Ein Zeichen für das Unbehagen an der Figur ist auch, daß May kurz vor Schluß des BÄRENJÄGER eine erneute Darstellung vom Beginn der Freundschaft zwischen Winnetou und OS gibt. Winnetou erzählt die Begebenheit Tokvi-tey: Nach einem Kriegszug gegen die Comanchen überfiel Winnetou, der damals noch »sehr jung« war, mit seinen Kriegern fünf Weiße. Vier der Weißen starben, der fünfte »›warf sein Gewehr weg und stürzte sich auf den Roten. Er riß ihn zu Boden und entwand ihm die Waffen. Winnetou war verloren; er lag unter dem Weißen und konnte sich nicht bewegen, denn dieser letztere war stark wie ein grauer Bär. Der Apache riß sein Jagdhemd auf und bot dem Feinde die nackte Brust. Dieser aber warf das Messer weg, stand auf und reichte Winnetou die Hand. Sein Blut war geflossen, denn Winnetou hatte ihn in den Hals gestochen, und dennoch schonte er das Leben des Apachen. Dieses Bleichgesicht war Old Shatterhand. Seit jener Zeit sind beide Männer Brüder gewesen, und sie werden Brüder bleiben, bis der Tod sie voneinander trennt.‹«15

Instinktiv scheint May gemerkt zu haben, was seiner Figur mangelt: Der Leser erfährt über OS nur, daß er eine überragende Heldengestalt ist, wie er das geworden ist, die vom Leser miterlebbare Genese der Figur fehlt. Mit dem Roman ›Der Scout‹ (SCOUT/GR 8) beginnt May noch einmal von vorn. SCOUT erschien ab Dezember 1888 im ›Deutschen Hausschatz‹, der Zeitschrift, in der Mays Orientzyklus mit der rundum gelungenen Heldenfigur Kara Ben Nemsi seit Jahren in Fortsetzungen veröffentlicht wurde. Wie in den frühen Erzählungen agiert ein namenloser Ich-Erzähler, ein Anfänger, der mit viel Selbstironie über seine Erfahrungen im Wilden Westen berichtet. Im SCOUT haben wir »eine nahezu realistische Erzählung vor uns (in den Grenzen, in denen man einen solchen


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Begriff auf einen Autor wie May überhaupt anwenden kann) ... Die Erzählung hat ... einen konkret fixierbaren Hintergrund ... Vor allem aber erhält die Geschichte ihren vergleichsweise realistischen Charakter dadurch, daß der Ich-Erzähler ... hier wirklich ein ›Greenhorn‹ ist. Er übt noch einen ›bürgerlichen‹ Beruf aus (als Detektiv) und wird als tüchtig, aber unerfahren geschildert; er erscheint mehrmals als »im höchsten Grade blamirt« (202, 552), hat große Mühe mit der von May später als selbstverständlich vorausgesetzten Artistik des Anschleichens (360), scheuert sich beim Reiten die Schenkel bis an das Knie auf, »so daß die Lederhose am wunden Fleische anklebt« (488) und er schließlich nur noch mit einer »Art krampfhafter Ergebung« zu Pferde sitzt; ja er muß sogar das Pferd mit sich durchgehen und sich - »eine wahre Affenschande« (680) - von ihm abwerfen lassen, welch letzteres Debakel auch noch von Winnetou inszeniert wird.«16 Es werden auch die Gründe angegeben, die den Erzähler nach Amerika verschlagen haben: May orientiert sich dabei an den in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erschienenen, erfolgreichen Romanen Balduin Möllhausens: Nach seinem Studium machten ihm unfähige und korrupte Vorgesetzte das Leben in der Heimat so schwer, daß er seine Stellung aufgab und in Amerika einen Neubeginn versuchte. Er findet eine Stellung als Detektiv. Der Auftrag, den geistesgestörten WILLIAM OHLERT zu finden, den der Verbrecher GIBSON verschleppte, führt ihn in den Westen. Er trifft dort auf Old Death, einen alten, erfahrenen Westmann, der ihn unter seine Fittiche nimmt und ihm die wichtigsten Fähigkeiten beibringt, die man im Westen beherrschen muß. Im Verlauf der Abenteuer gerät der Erzähler in einem Gefecht zwischen Comanchen und Apachen in einen Zweikampf mit Winnetou, den er überraschend für sich entscheiden kann. Er läßt Winnetou frei und erringt so seine Freundschaft.

Es ist keine Frage, daß der Ich-Erzähler in SCOUT mit der bis 1888 geschaffenen Figur OS nicht wirklich vergleichbar ist, er ist ein Schritt zurück, ein Rückschritt jedoch, der sich später als fruchtbar erweisen wird. Den Versuch, einen neuen Amerikahelden zu kreieren, setzt May im nächsten Hausschatzroman, ›El Sendador‹ - GR 12/13), fort. Der Erzähler ist Deutscher, auch er ist noch namenlos. Mit der Figur OS verbindet ihn, daß ihn Kapitän FRICK TURNERSTICK mit dem Namen »Charley« anredet und daß auf seine Erfahrung mit Indianern in Nordamerika angespielt wird. Er ist kein Greenhorn, sondern in allen wichtigen Kenntnissen und Fähigkeiten seinen einheimischen Begleitern überlegen. Er wird bald - wenn auch widerwillig - als Anführer akzeptiert. Wie später OS trägt er ein Fernrohr bei sich. Er wird als »unwissender und dabei höchst aufgeblasener Deutscher« (56) verkannt, der sich dann aber nachdrücklich Respekt verschafft. Seine Kenntnisse der einheimischen Sprachen, Sitten und Gebräuche hat er aus Büchern geschöpft. Er trägt indianisch gefertigte Westmannskleidung, schlägt mit einem Fausthieb Menschen bewußtlos, fängt ein bockiges Pferd mit dem Lasso ein und reitet es zu, und er ist mit einem Henrystutzen bewaffnet. Nun wird der Ich-Erzähler in den Südamerikaromanen niemals explizit als OS bezeichnet oder angeredet. Er darf aber mit dem Ich-Erzähler aus SCOUT gleichgesetzt werden: In einer Szene, in der es um das Wundreiten bei Anfängern geht, erklärt der Erzähler ausdrücklich, daß er nun kein solches Greenhorn mehr sei. Da aber der Erzähler im SCOUT später für die Buchausgabe ›Winnetou II‹ (GR 8) von May zu OS umgeformt wird und May in der Reihe seiner Gesammelten Werke ein


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einheitliches Heldenpersonal verwendet, ist es möglich, für die Bände ›Am Rio de la Plata‹ und ›In den Cordilleren‹ (GR 12/13) als Helden OS anzusetzen. Daß der Name OS in diesen Bänden fehlt, ist dadurch erklärbar, daß er in diesem Rahmen nur am Platze wäre, wenn May auch sonst Personal verwendet hätte, das in seinen Nordamerika-Romanen vorkam.

Im Südamerikaroman geht es darum, einen Inka-Schatz zu suchen, von dem in einem Kipu die Rede ist. Der Kipu ist im Besitz des Andenführers GERONIMO SABUCO (DER -> SENDADOR). Es stellt sich heraus, daß der Sendador ein Verbrecher ist, der durch Mord an einem Padre zu dem Kipu kam. Mit dem Yerbatero MAURICIO MONTESO und dessen Gefährten erlebt OS zunächst bei der Reise durch die Pampas Abenteuer mit Freibeutern des Aufrührers LOPEZ JORDAN. In die Wirren der Politik gerät OS, weil er dem uruguayischen Oberst LATORRE sehr ähnlich sieht und mit diesem verwechselt wird. Der Verfolgung des Sendadors schließen sich im Laufe der Erzählung der BRUDER -> JAGUAR und Frick Turnerstick mit seinem Steuermann HANS LARSEN an. Höhepunkt des Romans ist die atemberaubende Rettung des in eine Schlucht abgestürzten Sendadors durch OS. Die Argumentation des Helden, die ungeheure Aktion zu wagen, ist typisch für Mays Großhelden: Die Gefährten wollen ihn von der Tat abhalten, er jedoch entgegnet: »›Sennor Monteso, Sie sind kein Christ, wirklich nicht ... Mögt ihr alle denken, was und wie ihr wollt, ich kenne meine Pflicht.‹« (GR 13, 548) Für kurze Zeit überkommen den Helden selbst Zweifel: »Wenn ich aufrichtig sein will, so muß ich gestehen, daß mir der Gedanke kam, ihn seinem Schicksal zu überlassen; aber die Regung der Schwäche währte nicht lange. Sein Anblick war ein entsetzlicher. Ich sagte mir, daß ich denselben während meines ganzen Lebens vor mir haben und mir die schwersten Vorwürfe machen würde, falls ich jetzt versäumte, meine Pflicht zu thun. Es war noch Leben in ihm. Brachte ich ihn nach oben, so zeigten sich seine Verletzungen vielleicht nicht als tödlich, und wenn das nicht, so konnte er doch wenigstens für kurze Zeit zum Bewußtsein kommen und Raum zur Reue finden. Ließ ich ihn aber hängen, so mußte er in seinen Sünden sterben, und ich hatte das für immer auf meinem Gewissen.« (GR 13, 552) Die Tat wird belohnt; der Sendador bereut seine Untaten, und die Feinde werden zu Freunden: »›Das haben Sie gethan, weil Sie ein Christ sind, welcher Böses mit Gutem vergilt. Wir sind ihre Feinde ...; aber von nun an ... soll Friede und Freundschaft herrschen ...‹« (GR 13, 557) Ganz so wäre die Szene auch gestaltet worden, wenn Kara Ben Nemsi der Held gewesen wäre. Die Nähe, in die May seinen Amerikahelden zu seinem Orienthelden nun gebracht hat, zeigt sich auch im abschließenden Abenteuer des Romans: Der Sohn des Sendador wird von OS vor dem Versinken in einem Salzsee gerettet.

Parallel zum zweiten Teil des Südamerika-Romans erschien im ›Guten Kamerad‹ der Jugendroman ›Der Schatz im Silbersee‹ (SILBERSEE - 1890/91). Auch hier scheint May Bedenken gehabt zu haben, seinen in der Knaben-Zeitschrift ja schon eingeführten Helden OS wieder einzusetzen. Der Held der ersten zwei Drittel des Romans ist Old Firehand. May griff auf seine frühesten Amerikaerzählungen zurück. Das gilt auch von den Motiven (Rettung eines Mädchens vor einem ausgebrochenen Panther (vgl. INN-NU-WOH/WINNETOU) und Eisenbahnüberfall). Erst im letzten Drittel des Romans tritt OS


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auf. Es ist der OS des BÄRENJÄGER, der mit Gefährten zum Silbersee unterwegs ist, um dort Winnetou zu treffen. Es gelingt May, seinen Helden faszinierend in Szene zu setzen: Die Westmänner werden von Utahs umzingelt. OS tritt, den Ruhm seines Namens ausnutzend, beherzt und besonnen der feindlichen Übermacht allein gegenüber. Er bringt den legendären Ruf seines ›Zaubergewehres‹ geschickt in die Verhandlung mit den Indianern ein und demonstriert seine enormen Schießkünste: »›Ich werde dir zeigen, wie oft es losgeht. Schau nach dem Ahornbäumchen dort am Bache. Es ist nur zwei Finger stark und soll zehn Löcher erhalten, welche genau die Breite deines Daumens voneinander entfernt sind.‹ Er hob den Stutzen auf, legte ihn an, zielte auf den Ahorn und drückte ein - drei - sieben - zehnmal ab. Dann sagte er: ›Gehe hin, und siehe es! Ich könnte noch viele, viele Male schießen ...‹ Der Häuptling ging zum Bäumchen ... kehrte zurück ... Er sah eine ganze Weile schweigend vor sich nieder ... ›Ich sehe, daß du ein Liebling des großen Geistes bist. Ich habe von diesem Gewehre gehört, es aber nicht glauben können. Nun weiß ich, daß man die Wahrheit gesagt hat.‹« (314f) In einem Zweikampf mit dem Häuptling OVUTS-AVATH beweist OS - zuvor noch durch einen Kampf mit einem indianischen Bluthund und durch das Stemmen und Werfen eines großen Steines seine überragende Körperkraft demonstrierend - seine Unbesiegbarkeit. Als er dann mit seiner Gruppe zum Trupp um Old Firehand und Winnetou stößt, übernimmt er - wie selbstverständlich - die Leitung des Zuges. Das wird zwar nicht ausdrücklich bestimmt, aber alle wichtigen Entscheidungen und Verhandlungen werden vom Zeitpunkt des Zusammentreffens an von OS bestimmt.

Die eindringliche Wirkung der Figur ist hier wie bei der Rettung des Sendadors in erster Linie aktionsbedingt. In SILBERSEE überstürzen sich die Ereignisse gerade im letzten Drittel des Romans, im OS-Teil. Die Annäherung an die Konzeption der Figur Kara Ben Nemsi läßt die Figur OS an Eindrücklichkeit gewinnen.

In der Chronologie der May-Erzählungen folgt nun die Erzählserie ›Die Felsenburg‹/(›In der Heimath‹ (HEIMATH))/›Krüger Bei‹/›Die Jagd auf den Millionendieb‹, die zwischen Mai 1891 und August 1892 entstand - aber erst ab Sept. 1893 im Deutschen Hausschatz erschien und später in die Bände ›Satan und Ischariot I-III‹ (GR 20-22) zusammengefaßt wurde.17 Die ›Old-Shatterhand-Legende‹, das Ineinanderverweben von Phantasiefigur und Schriftstellerleben, nimmt hier ihren Anfang. Die Handlung spielt in Nordamerika, in Dresden und in Nordafrika. Nachdem OS im Wilden Westen eine deutsche Auswanderergruppe vor dem Sklavenleben in dem Quecksilberbergwerk HARRY MELTONs rettete, werden Erlebnisse (und sogar eine Liebesgeschichte (siehe unter MARTHA VOGEL)) des Weltreisenden, Redakteurs und Schriftstellers KARL MAY in seiner Heimat geschildert, die in dem Besuch Winnetous in Dresden gipfeln, der OS von einem geplanten Verbrechen JONATHAN MELTONs, Harrys Sohn, an SMALL HUNTER berichtet. Beide reisen nach Kairo, wo ihnen Emery Bothwell bei der Verfolgung Jonathans und THOMAS MELTONs, dem Bruder Harrys, beisteht. Dabei treffen sie auf KRÜGER BEI, der OS als Kara Ben Nemsi kennt. Die Verbrecher können jedoch entkommen und werden in Nordamerika weiter gejagt. So hat May seine beiden omnipotenten Ich-Helden OS und Kara Ben Nemsi für den Leser eindeutig als ein und dieselbe Person, die identisch ist mit dem Schriftsteller Karl May, wohnhaft in Radebeul bei Dres-


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den, ausgewiesen. Beide Heldengestalten agieren in dem ihnen jeweils zugedachten Handlungsräumen wie gehabt: Zweikämpfe, Schießdemonstrationen, Gefangennahmen und Befreiungen wechseln sich ab: May zeigt sich als souveräner Gestalter von Abenteuergeschichten. In Angleichung an die Figur Kara Ben Nemsi erhält OS nun jedoch auch ein besonderes Pferd, den Rapphengst Hatatitla, ein Geschenk Winnetous: »Es hatte meine Stimme gehört, mich an derselben erkannt und strebte nun, sich loszureißen und zu mir zu kommen. ›Hatatitla!‹ rief ich ... Das kluge, treue Tier kam herbeigesprungen, beschnoberte mich, und als ich ihm den schlanken Hals und die lange, glänzende Mähne streichelte, umsprang es mich einigemale wiehernd und schnaubend, und blieb dann bei mir stehen ... Ja, das war mein ›Blitz‹, der mich aus so mancher Gefahr getragen, und mir durch seine Klugheit und unvergleichliche Schnelligkeit nicht nur einmal das Leben gerettet hatte. Sein Aussehen war noch so frisch und seine großen, verständigen Augen glänzten noch so munter wie früher. Er trug auch ganz dasselbe indianische Sattelzeug, welches ich früher im Gebrauche gehabt hatte. Ich schwang mich hinüber, und noch saß ich nicht fest, hatte noch keinen Fuß im Bügel, da ging das Tier mit allen vieren in die Luft. Es rannte wie ein freudig aufgeregter Hund hin und her, schlug ganze und halbe Kreise und stieg bald vorn und bald hinten in die Höhe. Ich ließ ihm eine kurze Zeit den Willen; sobald ich es aber zwischen die Schenkel nahm, gehorchte es augenblicklich ...« (GR 20, 259)

Die Episode ist symptomatisch: Im Vergleich zur Einführung des Rappen Rih im Orientzyklus ist das Auftauchen des Pferdes Hatatitla - man könnte sagen - rein literarisch. Kara Ben Nemsi hat sich Rih als Geschenk verdient, die Zuneigung und Hingabe des Pferdes hat er sich durch persönliche Riten, die dem Leser verraten werden, errungen. Die Verschmelzung von Held und Pferd zu einem Mythos wurde vom Leser miterlebt. Anders bei OS: Hier wird dem Leser eine Wiedersehensszene vorgeführt, die er nicht wirklich miterleben kann. Er kennt das Pferd nicht, er weiß nichts über den Erwerb, über die gemeinsamen Erlebnisse mit OS: Hatatitla gehört nicht zu OS wie Rih zu Kara Ben Nemsi. Symptomatisch ist die Episode, da die Figur OS in gleicher Weise dem Leser präsentiert wird. In den Jugenderzählungen wird in Er-Form von ihm berichtet, den Versuch, einen neuen Helden von Anfang an aufzubauen, wie er in SCOUT/GR 12/13 erfolgte, konnte der Leser nicht mit der Figur OS in Verbindung bringen. Die Figur ist immer noch zu literarisch, dem Leser noch immer zu fremd; sie ist noch immer nicht Mythos.

Das ändert sich auch im Jugendroman ›Der Ölprinz‹ (ÖLPRINZ) nicht, den May ab Herbst 1892 schrieb; erschienen ist er ab September 1893 im Guten Kameraden. Schon im Frühjahr 1892 hatte May seinem Verleger Fehsenfeld vorgeschlagen, die Erzählungen SCOUT/DEADLY/IM WILDEN WESTEN zu einem zweibändigen Winnetou-Sammelwerk zusammenzufassen. Im Oktober 1892 erklärt May, drei Bände, von denen der erste gänzlich neu geschrieben werden solle, als »hochspannendes Lebensbild des »berühmtesten Indianers« und zugleich eine Tragödie des Untergangs seiner Nation«18 gestalten zu wollen. Der Anfang des neuen Bandes, ›Winnetou der Rote Gentleman I‹ (GR 7) lag im Januar 1893 vor; er entstand also zeitweise parallel zum ÖLPRINZ. Mit ›Winnetou I‹ setzt May ein drittes Mal an, sein Westmanns-Ich zu gestalten. Er wollte eine Winnetou-Biographie schreiben: Diesem Anspruch ist er aber nicht gerecht gewor-


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den. So wie viele Maytitel (und Kapitelüberschriften) die konkret an sie geknüpften Erwartungen nicht einlösten (der MAHDI taucht z.B. nur ganz am Rande in der gleichnamigen Trilogie (GR 16-18) auf, Old Surehand ist keineswegs die bedeutsamste Figur in den drei nach ihm benannten Bänden (GR 14/15/19)), erfährt man in den drei Bänden der Winnetou-Trilogie (GR 7-9) nur wenig über Winnetous Werdegang, dafür aber umso mehr über die Figur OS.

In GR 7 schildert May den Werdegang seines Helden vom Greenhorn, das »unerquickliche Verhältnisse in der Heimat« (welche, wird nicht präzisiert) »und ein, ich möchte sagen, angeborener Thatendrang« (9) nach Amerika führten, zum omnipotenten Westmann. Er verbindet dabei Züge des goethezeitlichen Entwicklungsromans mit Motiven des Abenteuerromans und den Gesetzmäßigkeiten der Legende. Der junge Auswanderer arbeitet in St. Louis als Hauslehrer bei einer deutschen Familie. Damit verwirklicht May in seiner Phantasiefigur eine ihm als jungem Strafentlassenen wohl vorschwebende Realisierungsidee. Zu den typischen Figuren der Legende gehört der weise, väterliche Alte, der die ersten Schritte des zu Höherem Berufenen behutsam lenkt (in der Sage oft ein Schmied). Im Roman ist es der Waffenschmied HENRY, der sich des Neuankömmlings annimmt, da er seinem verstorbenen Sohn ähnelt. Auch hier mischt sich Biographisches in die Konstruktion: Henry ist ein Idealporträt von Mays Vater (HEINRICH AUGUST MAY). Er stellt den jungen Büchermenschen, den er für ein ausgemachtes Greenhorn hält, dreifach auf die Probe. Zunächst soll der Ich-Erzähler beweisen, daß er Schießen kann. Dazu erhält er »das schwerste Gewehr«, einen Bärentöter. Schon vor dem ersten Schuß erweist er sich als des Gewehres würdig: »›Ihr geht ja mit diesem Gun wie mit einem leichten Spazierstocke um‹« (13), dann zeigt er sich als Meisterschütze. Die zweite Probe betrifft das Reiten. Auch hier überrascht der Hauslehrer mit überragenden Fähigkeiten, indem er ein schwieriges Pferd zur Raison bringt. Fazit: »›Entweder Ihr habt den Teufel, Sir, oder Ihr seid zum Westmann rein geboren.‹« (21) Die letzte Prüfung ist intellektueller Art. Es geht um theoretische und praktische Kenntnisse im Bereich der Feldmesserei. Natürlich besteht der Probant auch hierbei mit Auszeichnung. Die Prüfungen ergaben, daß die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Weiterbildung gegeben sind; zugleich hat der angehende Held sich das notwendige Rüstzeug für die weitere Lebensfahrt erworben: Mit Gewehr und Pferd und Aufgabe versehen entläßt ihn Henry aus seiner Obhut. Er überläßt ihn aber nicht sich selbst, sondern übergibt ihn einem kompetenteren Lehrer. SAM HAWKENS, ein erfahrener Westmann, überwacht und lenkt die ersten Schritte des jungen Greenhorns im ›Wilden Westen‹.

Bevor der Neuling sich den eigentlichen Westmannsaktivitäten zuwendet, arbeitet er mit großem Pflichtbewußtsein als Landvermesser für die Eisenbahn. Dabei kommt es zur Konfrontation mit den überheblichen, rohen, unfähigen Yankees, denen Können und Fleiß ihres jungen Kollegen ein Dorn im Auge sind. Dieser kann sich jedoch Respekt verschaffen, indem er den stärksten Widersacher niederschlägt: »Er konnte nicht weiter reden, denn ich schlug ihm die Faust an die Schläfe, daß er steif wie ein Sack niederstürzte und betäubt liegen blieb.« (49) Zwar ist noch die Unterstützung Sam Hawkens› nötig, um die Situation ganz zu beherrschen, aber der Held hat sich durch seine Tat einen Namen gemacht: »›Aber, Sir, das ist ja fürchterlich! In Eure Finger möchte ich auf keinen


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Fall geraten. Man sollte Euch wahrhaftig Shatterhand nennen, weil Ihr einen baumlangen und baumstarken Menschen mit einem einzigen Fausthiebe niederschmettert. So etwas habe ich noch nie gesehen!‹« (51) Diese Worte des (guten) Oberingenieurs WHITE greift Sam auf: »›Shatterhand, hihihihi! Ein Greenhorn und schon einen Kriegsnamen, und nun gar einen solchen! ... Shatterhand, Old Shatterhand! Ganz ähnlich wie Old Firehand, der auch ein Westmann ist, stark wie ein Bär.‹« (51) Diese Namensgebung wird allerdings von den Westmännern um Sam noch nicht ernst genommen; ihr Schützling bleibt fürs erste das Greenhorn, das sich den Namen erst noch verdienen muß.

Wieder sind drei Prüfungen zu bestehen, dieses Mal drei Tierkämpfe. Mit dem Bärentöter erlegt der Neuling einen angreifenden Büffel. Als Sam ihn fragt, warum er sich ausgerechnet mit einem alten Büffel anlege, antwortet das Greenhorn: »›Weil es ritterlicher war.‹« (68). May macht so deutlich, daß er seinen Helden in die Nachfolge der Recken der alten Sagen stellt. Ist hier noch eine gehörige Portion Leichtsinn im Spiele, so wird im zweiten Abenteuer schon bewußter operiert. Der Erzähler erkennt in einer wilden Mustangherde ein Maultier als geeignetes Tier für Sam. Sam, der Meister, kann das Tier jedoch nicht bezwingen; sein Schüler reitet es ihm zu. Das Erlebnis bringt beide einander näher: Aus dem Lehrer wird »›mein Lehrer und mein Freund‹«, der geliebt wird, »›wie man ungefähr einen recht guten, braven und ehrlichen Onkel liebt.‹« (91f) Den endgültigen Respekt seines Lehrers sichert sich der Protagonist durch den dritten Kampf, den Kampf mit einem Grizzly, den er mit dem Messer erlegt (102). Die Lehrlingsjahre sind damit beendet. INTSCHU TSCHUNA, der Häuptling der Apachen, der Vater Winnetous, spricht den Schüler los: »›Dieses junge, mutige Bleichgesicht ist kein Greenhorn mehr. Wer den Grizzly in dieser Weise erlegt, der ist ein großer Held zu nennen.‹« (112)

Bernd Steinbrink hat die Abenteuer, die der Held in den Abenteuerromanen des 19. Jahrhunderts bestehen muß, mit den Initiationsriten verglichen, die bei den Naturvölkern und in den antiken Mysterien zur Aufnahme eines Neulings in die Gemeinschaft des Stammes oder der heiligen Riten dienten.19 Der Prüfling wird durch die ihm auferlegten Mutproben zu einem anderen; im Durchstehen der Gefahren, der Belastungen überwindet er sein altes Ich, als Gewandelter gehört er einer neuen Gemeinschaft an, hat er einen neuen Status erlangt. Es ist also nicht zufällig, daß May seinen Helden in einem fortgesetzten Prozeß von Inititationen seiner Vervollkommnung immer näher bringt. Die in Märchen, Legende und Mythos bedeutsame heilige Zahl Drei spielt dabei eine besondere Rolle, denn den Abschluß der Prüfungen bildet eine weitere, die dritte Serie von Bewährungsproben, wiederum aus drei Abenteuern bestehend. Nach dem souveränen Umgang mit Waffen und Geräten und den Tieren der Wildnis muß der Held sich noch in der Begegnung mit den Indianern bewähren.

Die letzte Stufe der Reifung geht wieder einher mit einem Wechsel des Mentors. Der Held - damit dem ›reinen Toren‹ Parsifal vergleichbar - bemerkt nicht, daß er Unrechtes tut; er erkennt nicht, daß die Landvermessung für den Eisenbahnbau Landraub ist, Entrechtung der Indianer. Intschu tschuna spricht es aus: »›Da hat man endlich einmal ein junges Bleichgesicht gesehen mit einem tapferen Herzen, offenem Gesichte und ehrlichen Augen, und kaum hat man gefragt, was es hier thut, so ist es gekommen, um uns gegen Bezahlung unser Land zu stehlen ...‹« (113) Der Held ist überrascht: »Wenn ich ehrlich


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sein will, so muß ich sagen, daß ich keine Worte zu meiner Verteidigung hätte finden können; ich fühlte mich innerlich beschämt.« (113f) Der junge Westmann steht nun zwischen seiner Pflicht seinem Arbeitgeber gegenüber und seinem Gewissen als Christen. KLEKIH-PETRA, der alte, weiße Lehrer der Apachen, weist ihm den rechten Weg aus dem Dilemma. Aus unbegreiflicher, intuitiver Sympathie heraus erzählt er, der auch Deutscher ist, dem jungen Helden seine Lebensgeschichte. Ein Leben, das nach - ungewolltem, nicht bedachtem - Fehlverhalten der Wiedergutmachung gewidmet war. So wie in der Heiligenlegende oft ein Sterbender dem Heiligen ein Geheimnis anvertraut oder einen Auftrag erteilt, so legt der durch eine Mörderkugel getroffene Klekih-petra dem gerade erst zum Vertrauten gewordenen Landsmann die Weiterführung seines Lebenswerkes und die Freundschaft zu Winnetou ans Herz: »›Bleiben Sie bei ihm - ihm treu - mein Werk fortführen - - -!‹ Er hob bittend die Hand; ich nahm sie in die meinige und antwortete: ›Ich thue es; ja, sicher, ich werde es thun!‹« (135)

Der Held nimmt die Aufgabe freudig an; er will seine Stelle aufgeben und den Apachen folgen: »›Ich will euer Freund, euer Bruder sein; ich gehe mit euch!‹« (136) Er zeigt damit, daß er reif für die nächste Entwicklungsstufe ist. Sein Wunsch ist, da er die erforderlichen Prüfungen noch nicht absolviert hat, noch nicht angebracht. Er wird brüsk zurückgestoßen: Intschu tschuna spuckt ihm ins Gesicht und beschimpft ihn als Länderdieb. Der Held nimmt die Beleidigung hin; er spürt wohl, daß er sich die Freundschaft der Apachen erst erringen, daß er für seine Beteiligung am Unrecht bestraft werden muß. Er sinnt über seine Aufgabe nach, fragt sich, warum er sie übernommen hat. Er glaubt, es sei Mitleid mit dem Sterbenden gewesen, im Nachhinein aber erkennt er, daß der wahre Grund Winnetou war: »Winnetou hatte einen tiefen Eindruck auf mich gemacht, einen Eindruck, wie ich ihn noch bei keinem andern Menschen empfunden hatte.« (140)

Von jetzt an ist es gerechtfertigt, den Helden bei seinem Westmannsnamen zu nennen, da er die Greenhornrolle ablegt und nach und nach die Führerrolle im weiteren Geschehen übernimmt. Er zeigt Sam, daß er der größere Meister im Fährtenlesen ist (169ff), beschleicht gegen Sams Anweisung das Kiowalager (befreit im bravourösen Alleingang Winnetou und Intschu tschuna aus den Händen der Kiowas (247ff)) und kämpft auf Leben und Tod - stellvertretend für die Gefährten - mit einem körperlich überlegenen Indianer (METAN-AKVA). Sam selbst stellt ihn den Kiowas als ›Old Shatterhand‹ vor (182). Zusätzlich zu den überragenden Fähigkeiten, die er nicht wirklich erlernte, sondern die nur - im Sinne der sokratischen Hebammenkunst - geweckt werden mußten, verfügt der Held nach der Begegnung mit Klekih-petra, Intschu tschuna und Winnetou nun auch über das rechte sittliche Bewußtsein, das May sogleich zu einem Sendungsbewußtsein macht: OS bekennt sich dazu, Schriftsteller zu sein (»›Ich mache Reisen, um Länder und Völker kennen zu lernen, und kehre zuweilen in die Heimat zurück, um meine Ansichten und Erfahrungen ungestört niederzuschreiben‹« (152)) und der »Lehrer seiner Leser« (153) sein zu wollen.

OSs Leben und das Winnetous sind auf geheimnisvolle Weise miteinander verbunden. Obwohl die Begegnung nur kurz war und zunächst in Feindschaft endete, geht der Apache OS nicht aus dem Sinn: »Ich hatte während der letzten Tage so viel an Winnetou gedacht, daß er mir innerlich immer näher getreten war; er war mir wert geworden, ohne


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daß es seiner Gegenwart oder gar seiner Freundschaft dazu bedurft hatte, gewiß ein eigenartiger seelischer Vorgang, wenn auch nicht grad ein psychologisches Rätsel.« (223f) Das gipfelt in dem Bekenntnis: »Ich hatte Winnetou liebgewonnen« (246). OSs Verhältnis zu Winnetou ist von vornherein festgelegt: er ist dem Apachen - wenn auch nur geringfügig - überlegen. Das gründet schon darin, daß OS durch das Vermächtnis Klekih-petras Winnetous Beschützer sein soll. Schon im nächsten Abenteuer wird er diesem Auftrag gerecht. Der Vermessungstrupp bedient sich der Kiowas, um den Rachefeldzug der Apachen abzuwehren. OS greift schon jetzt, wo beide sich noch gar nicht kennen, grundlegend in Winnetous Leben ein. Er erkennt im voraus, daß der Apache im bevorstehenden Kampf mit äußerster Tapferkeit kämpfen wird. Um zu verhindern, daß Winnetou durch seine Tapferkeit im Kampf getötet wird, beschließt er, ihn durch einen Fausthieb außer Gefecht zu setzen, so daß er von den Kiowas gefangengenommen wird. Nachts befreit OS Winnetou und seinen Vater. Um diese Tat beweisen zu können, schneidet er eine Strähne von Winnetous Haar ab. Auch dies ist ein Eingriff in Winnetous Sphäre, da dieser durch das Beweismittel OS zu lebenslanger Dankbarkeit verpflichtet wird.

Die Reifeprüfungen, die OS auf der letzten Stufe seiner Entwicklung zu bestehen hat, sind Kämpfe auf Leben und Tod: drei an der Zahl. Im ersten Kampf - mit dem Kiowa Metan-Akva - muß er zum ersten Mal einen Menschen töten. Er steht das Abenteuer durch - auch moralisch: Im Wilden Westen ist es für das eigene Überleben und das der Gefährten manchmal eben unabwendbar, daß man einen gefährlichen Gegner eigenhändig tötet. Der Charakter dieses ersten Kampfes - es werden Regeln ausgemacht, man kämpft in abgestecktem Terrain - erinnert an den Tjost des mittelalterlichen Ritterromans, der nicht nur höchste Bewährung ritterlicher Kühnheit bedeutete, sondern als ›Gang zwischen Leben und Tod‹ Initiationscharakter hat. Hinzukommt, daß solche Zweikämpfe oft den Charakter eines Gottesurteils hatten, und genau diesen Charakter haben auch die meisten Zweikämpfe OSs.

Der zweite Kampf ist anders. OS kämpft in einer Schlacht, in einem Kampf ohne Regeln, mit Winnetou. Winnetou sieht OS über den am Boden liegenden Intschu tschuna gebeugt und will ihn mit dem Gewehrkolben niederschlagen. Er trifft aber nur dessen Schulter. Ein ins Herz gezielter Messerstich gleitet an einer Blechdose ab und dringt oberhalb des Halses und innerhalb der Kinnlade in den Mund und durch die Zunge. Der zweifach getroffene OS kann sich dennoch aus Winnetous Würgegriff befreien: »Nun gab es ein wahrhaft satanische Ringen zwischen uns. Man denke, Winnetou, der nie besiegt worden war und später auch nie wieder besiegt worden ist, mit seiner schlangenglatten Geschmeidigkeit, den eisernen Muskeln und stählernen Flechsen ... Er wendete alle seine Kraft an, mich abzuwerfen, und ich lag auf ihm wie ein Alp, der nicht abzuschütteln ist. Er begann zu keuchen und keuchte immer stärker; ich preßte ihm mit den Fingerspitzen den Kehlkopf so fest nach innen, daß ihm der Atem ausging. Sollte er ersticken? Nein, auf keinen Fall! Ich gab also für einen Augenblick seinen Hals frei, worauf er sofort den Kopf hob; das brachte diesen für meine Absicht in die richtige Stellung - - zwei, drei rasch aufeinander folgende Faustschläge, und Winnetou war betäubt; ich hatte ihn, den Unbesieglichen, besiegt.« (294f)


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Die Dominanz OSs über Winnetou ist deutlich: Der berühmte indianische Kämpfer wird von einem schwer angeschlagenen Gegner, der zudem noch nicht lange im Westen lebt, besiegt. Nach dem Kampf wird OS durch einen Kolbenhieb niedergestreckt. Er versinkt in eine Todesohnmacht (295f), kämpft mit dem Tod (300) und erwacht nach drei (!) Wochen Todesschlaf. Die letzte, die höchste Stufe der Initiation ist erreicht. Der Probant kämpfte siegreich mit dem Tod selbst. Er ist nun Held, Halbgott, Mythos. Das Erwachen wird als Auferstehung (durchaus mit Anklängen an das Neue Testament) dargestellt: »Ich sah den hellen Himmel über mir; die vier Seiten des Grabes senkten sich.« (300); Winnetou spricht davon, daß »ein großes Wunder geschehen« (302) sei und von einem »wieder geöffneten Grabe« (304).

Für den Helden beginnt nun ein neues, ein vollkommeneres Leben. Ein dritter Kampf (der mit Intschu tschuna) steht ihm noch bevor, aber es wird kein wirklicher Kampf sein. Schon bevor er beginnt, ist der Held seines Sieges sicher. Er müßte den Kampf gar nicht mehr kämpfen, da er den Beweis für seine Lauterkeit (die Haarsträhne Winnetous) vorzeigen könnte.20 Aber er geht auf das Spiel - und ein solches ist der Kampf jetzt für ihn nur noch - ein. OS inszeniert ein Schauspiel. Er verstellt sich, macht sich klein, spielt den Ängstlichen, Unbeholfenen, damit er um so strahlender als Sieger aus dem Kampf hervorgeht. Die Offenlegung seines Geheimisses (Haarsträhne) steigert den Triumph noch: Winnetou ist sprachlos und betroffen.

Zur Vervollkommnung des Helden gehört auch, daß er seine Persönlichkeit erweitert. In zwei Schritten volzieht sich dieser Prozeß bei OS. Als erstes wird er der Nachfolger Klekih-petras. Schon vor der Marterszene des Verbrechers RATTLER beruft er sich auf den weißen Lehrer der Apachen, gibt seine Fürbitte als im Sinne Klekih-petras gesprochen aus. Offiziell wird die Nachfolge OSs bei der Begräbnisfeier durch Intschu tschuna: »›Er hat stets an uns gedacht und für uns gesorgt. Er ist auch nicht von uns gegangen, ohne uns ein Bleichgesicht zu senden, welches an seiner Stelle unser Freund und Bruder werden soll. Hier seht ihr Old Shatterhand, den weißen Mann, welcher aus demselben Lande stammt, aus welchem Klekih-petra zu uns kam. Er weiß alles, was dieser wußte, und ist ein noch stärkerer Krieger als er ... Es ist Klekih-petras letztes Wort und letzter Wille gewesen, daß Old Shatterhand sein Nachfolger bei den Kriegern der Apachen sein möge ... Darum soll er in den Stamm der Apachen aufgenommen werden und als Häuptling gelten. Es soll so sein, als ob er rote Farbe hätte und bei uns geboren wäre.‹« (415f) Nach der Zeremonie heißt es: »›Jetzt ist der neue, der lebende Klekih-petra bei uns aufgenommen, und wir können den toten seinem Grabe übergeben.‹« (418f)

Unmittelbar an den ersten schließt sich der zweite Schritt an: OS wird der Blutsbruder Winnetous: »›... er wird das Blut Winnetous trinken, und dieser wird das seinige genießen; dann ist er Blut von unserm Blute und Fleisch von unserm Fleische.‹« (416) May versichert zunächst dem Leser, daß er sich von abergläubischen, heidnischen Riten, wonach die Kraft des einen Blutsbruders auf den anderen übergehe, distanziert, doch die Worte, die er Intschu tschuna in den Mund legt, erinnern deutlich an die Worte, die beim Ritus des christlichen Abendmahles gesprochen werden. May war sich der Bedeutung dieser Szene als Abschluß der Persönlichkeitsentwicklung seiner Figur sicher bewußt, auch wenn er - wohl um den Analogiecharakter zu verdecken - die Handlung nochmals


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abwiegelnd kommentiert: »Es wurde dabei dem Genusse des Blutes weder von mir, noch von den Apachen irgendwelche Wirkung zugeschrieben, sondern er hatte nur eine rein symbolische, also bildliche Bedeutung. Und doch, höchst sonderbar, trafen später stets die Worte Intschu tschunas zu, daß wir [sc. OS und Winnetou] eine Seele mit zwei Körpern sein würden. Wir verstanden uns, ohne uns unsere Gefühle, Gedanken und Entschlüsse mitteilen zu müssen. Wir brauchten uns nur anzusehen, um genau zu wissen, was wir gegenseitig wollen; ja, dies war gar nicht einmal notwendig, sondern wir handelten selbst dann, wenn wir voneinander fern waren, mit einer wirklich erstaunlichen Uebereinstimmung, und es hat nie, niemals irgend eine Differenz zwischen uns gegeben. Das war aber nicht etwa die Wirkung des genossenen Blutes, sondern eine sehr natürliche Folge unserer innigen, gegenseitigen Zuneigung und des liebevollen Eingehens und Einlebens des einen in die Ansichten und individuellen Eigentümlichkeiten des andern.« (418)

Autobiographisch gesehen ist Winnetou der Freund, den May sich immer gewünscht hat und den er sich nun in seiner Phantasie selber schuf; zugleich ist Winnetou ein Teil seines eigenen Selbst. Die seltsam androgynen Züge der Winnetoufigur könnten darauf hindeuten, daß May in Winnetou eigene Seeleneigenschaften, die nach der Theorie C.G. Jungs mehr weiblichen Charakters sind, verkörperte, während OS die männlichen Seeleneigenschaften Mays repräsentiert. In diesem Sinne stellt die Blutsbrüderschaft zwischen OS und Winnetou eine Vervollkommnung besonderer Art dar: männliche und weibliche Seeleneigenschaften verschmelzen zu einem idealen Menschen, zu einer Utopie.21

Die Vervollkommnung des männlichen Helden durch ein weibliches Element erfolgt normalerweise nicht in dieser mythisch-mystischen Weise. May hat den zweiten Schritt der Entwicklung, das Einswerden mit einer anderen Person, gleich mit dem dritten Schritt zusammengelegt. Wäre die Konzeption in der bisherigen Form weitergeführt worden, hätte die Entwicklung des Helden einen eigenen dritten Schritt erfordert. Dieser Schritt wäre die Verbindung mit/die Beziehung zu einer Frau gewesen. Karl May hat eine solche Entwicklung seines Helden in seiner Erzählung vorbereitet. Winnetous Schwester NSCHO-TSCHI wird als Pflegerin des kranken OS eingeführt. Nscho-tschis Gefühle für OS sind von Anfang an eindeutig: »›Du bist ... ein starker Mann, ein Held. Wärest du doch als Apache und nicht als lügenhaftes Bleichgesicht geboren!‹« (316) Auch OS läßt immer wieder erkennen, daß er für Nscho-tschi zumindest große Symphathie empfindet. Er belauscht ein Gespräch zwischen Winnetou und Nscho-tschi, in dem sie ihrem Bruder ihre Liebe zu OS gesteht und den Plan entwirft, in die Städte der Weißen zu gehen, um dort die Kenntnisse einer weißen Frau zu erlangen und so eine gleichwertige Partnerin OSs werden zu können. OS erschrickt: »Mein Lebensplan schloß, wie ich annahm, eine Verheiratung überhaupt aus.« (451), äußert sich aber nicht eindeutig, so daß Nscho-tschi, Intschu tschuna und Winnetou zu der Reise in den Osten aufbrechen. Auf dieser Reise werden Intschu tschuna und Nscho-tschi von SANTER ermordet. Es ist ein seltsamer Zug der Mayschen Wildwestmythen, daß der wahre, der ›auserwählte‹ Westmann im Zölibat leben muß, was wiederum mit entsprechende Motiven der Heiligenlegende übereinstimmt. Und so stirbt Nscho-tschi in OSs Armen.


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Dem Halbgott OS - Sam Hawkens benutzt das Wort (allerdings scherzhaft) ausdrücklich (430) - fehlt gegenüber seinem orientalischen Pendant Kara Ben Nemsi noch das religiöse Sendungsbewußtsein. Es wird nicht in demselben Maße konstituierend für die Figur werden wie bei Kara Ben Nemsi, doch auch für Mays Wildwesthelden ist diese Dimension wichtig. Nach der Begegnung mit Klekih-petra versucht OS, christliche Prinzipien im Wilden Westen zu praktizieren. So sucht er, Blutvergießen, das Töten eines Menschen, wenn eben möglich, zu vermeiden, auch Verbrechern gegenüber Milde walten zu lassen, ihnen zu verzeihen, und wenn sie gegen ihn selbst Anschläge verübten, ihnen Gelegenheit zu Reue und Umkehr zu geben. Mit Winnetou führt er ein langes, persönliches Gespräch über Religion. Winnetou bittet OS, nie den Versuch zu machen, ihn zum Christentum bekehren zu wollen. OS hat diese Bitte »erfüllt und und nie ein Wort über meinen Glauben zu ihm gesagt. Aber muß man denn reden? Ist nicht die That eine viel gewaltigere, eine viel überzeugendere Predigt als das Wort? ›An ihren Werken sollt ihr sie erkennen‹, sagt die heilige Schrift, und nicht in Worten, sondern durch mein Leben, durch meine Thun bin ich der Lehrer Winnetous gewesen ...« (425): Nahezu die gleichen Worte finden sich in dem Gespräch Kara Ben Nemsis mit MARAH DURIMEH.22 Auf eine ernste Bewährungsprobe wird die Blutsgemeinschaft OS/Winnetou gestellt, als Winnetou nach dem Tod seines Vaters und seiner Schwester einen fürchterlichen Racheschwur ablegen will. Es gelingt OS, den Freund und Blutsbruder davon abzubringen und damit einen Vernichtungsfeldzug gegen die Weißen, der auch zur Vernichtung der Indianer geführt hätte, abzuwenden. Auch hier zeigt sich die Dominanz der Figur OS: »›Mein Bruder Old Shatterhand hat eine große Macht über die Herzen aller, mit denen er verkehrt.‹« (499) Erst kurz vor Winnetous Tod kommt es wieder zu einem Religionsgespräch zwischen den beiden Helden (siehe hierzu die Ausführungen weiter unten).

Der erneute Versuch Mays, seinen Amerika-Helden adäquat zu gestalten, ist in jeder Hinsicht gelungen. Dem heutigen Leser der Werke Karl Mays sind die Schwierigkeiten, die May mit der Figur zunächst hatte, nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Das liegt daran, daß die Reihenfolge, in der Mays Werke in der Werkausgabe erschienen, nicht der Entstehungszeit entspricht. Der Band ›Winnetou I‹ (GR 7) ist der erste Amerikaband der Gesammelten Werke. Der Leser dieser Ausgabe nimmt also von vornherein am Aufbau der gelungenen Figur teil. Alle weiteren Erzählungen mit OS werden von ihm vor diesem Hintergrund gelesen. Die Mängel der ersten Versuche werden nicht mehr wahrgenommen. Für die Bände II und III (GR 8/9) hat May die frühen Amerika-Erzählungen FIREHAND, SCOUT, DEADLY und IM WILDEN WESTEN verwandt. Sie wurden - manchmal nur recht oberflächlich - bearbeitet. Das betrifft insbesondere die Figuren OS und Winnetou, die dem Niveau, das sie in GR 7 erreicht hatten, angepaßt werden mußten. Zwischen diese ›alten‹ Erzählungen sind kurze Episoden, die Jagd auf den Mörder Santer betreffend, eingefügt. In GR 8 (394) erhält OS bei einem kurzen Besuch von Henry den Henrystutzen geschenkt, das Symbol der Unbesiegbarkeit OSs. Im Schlußkapitel der Trilogie jagt OS Santer in den Tod, dabei wird Winnetous Testament vernichtet. OS fällt dann in die Hände der Kiowas. KAKHO-OTO, eine junge Kiowa, verliebt sich in OS und will ihn durch Heirat vor dem Tod am Marterpfahl retten. Die Episode ist der Nscho-


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tschi-Episode nachempfunden, erreicht aber nicht deren Tiefgang. Der Held lehnt es ab, durch die Heirat mit einer Indianerin gerettet zu werden.

Im Anschluß an GR 9 entstand (1894) der erste Band der Surehand-Trilogie (GR 14/15/19). In zweifacher Hinsicht ist die Trilogie (besser: deren erster und dritter Band) durch die religiöse Dimension der Figur OS bestimmt. Einmal muß sich der Held mit OLD WABBLE, dem KING OF THE COWBOYS, auseinandersetzen, dessen Alter »man auf über neunzig Jahre schätzte« (GR 14, 31). Old Wabble erkennt die ›Auserwähltheit‹ OSs nicht an; er besteht darauf, durch sein Alter auch die größere Autorität zu besitzen. Er ist nicht bereit, sich in sachlichen Fragen der ›richtigen Ansicht‹ - die natürlich OS hat - zu beugen. Dabei erfahren die Figur Old Wabble und das Verhältnis OS/Old Wabble eine deutliche Wandlung. Anfangs begehrt der Alte zwar oft gegen die Anordnungen OSs auf und versucht, sich selbst in den Vordergrund zu spielen, doch beugt er sich letzlich der Autorität des überlegenen Westmanns. Er ist sogar zur Selbstkritik fähig: »›Ich bin ein alter Querkopf geworden, weil ich noch niemals meinen Meister gefunden habe.‹« (GR 14, 294) Eine erste ernsthafte Trübung im Verhältnis der beiden Westmänner tritt ein, als deutlich wird, daß Old Wabble Neger als rassisch minderwertige Menschen betrachtet, eine Ansicht, die OS nicht dulden kann: »›Mit ebenso großem Rechte könnte ein Neger sagen: Ein Weißer ist kein richtiger Mensch, sonst hätte ihn Gott nicht ohne Farbe geschaffen. Ich bin etwas weiter in der Welt herumgekommen als Ihr und habe unter den schwarzen, braunen, roten und gelben Völkern wenigstens ebenso viel gute Menschen gefunden wie bei den weißen, wenigstens, sage ich, wenigstens!‹« (GR 14, 241) Zur entscheidenden Konfrontation zwischen OS und Old Wabble aber kommt es in der Religionsfrage. Old Wabble leugnet ganz entschieden die Existenz Gottes: »›So glaubt Ihr nicht an Gott?‹ fragte ich mit beinahe bebender Stimme. »›Nein.‹« »›An den Heiland?‹« »›Nein.‹« »›An ein Leben nach dem Tode?‹« »›Nein.‹« »›An eine Seligkeit, eine Verdammnis, welche ewig währet?‹« »›Fällt mir nicht ein! Was kann mir so ein Glaube nützen?‹« (GR 14, 402) Ganz deutlich gestaltet May diesen Diskurs nach Art des Taufbekenntnisses, wie es in allen christlichen Kirchen dem Täufling (stellvertretend den Eltern oder dem Paten) abverlangt wird. Der Katechumene muß zu den einzelnen Glaubensartikeln, die ihm als Fragen vorgelegt werden, sein ›Ja‹ sagen. Old Wabble antwortet jedes Mal entschieden mit ›Nein‹. Von da an wandelt sich sein Bild vom starrsinnigen alten Westmann zum ›gefallenen Engel‹, zum Luzifer, der OS, den ›Stellvertreter Gottes im Wilden Westen‹, an der Ausübung seiner gerechten, hilfebringenden Aktionen hindert, der ihn verfolgt, bestiehlt, der Mordanschläge auf ihn verübt. Das Ende Old Wabbles ist entsprechend: Er wird von Utahs mit dem Unterleib in eine gespaltene Birke eingeklemmt und stirbt langsam und unter unsagbaren Qualen. Aber OS, der den Schrei Old Wabbles hört, kann den Sterbenden bekehren. Der verstockte Sünder bereut sein Leben, seine Ansichten, und OS spricht ihn - hier explizit in die Priesterrolle schlüpfend - von allen Sünden los: »›Spricht die Stimme wahr, die ich jetzt in mir höre, so seid Ihr von Gottes Gerechtigkeit gerichtet aber von seiner Barmherzigkeit begnadigt worden. Geht also heim in Frieden! Ihr habt im Traum das irdische Vaterhaus gesehen; es steht Euch nun die Thür des himmlischen offen. Eure Sünden bleiben hier zurück. Lebt wohl!‹« (GR 19, 500)


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Der zweite wichtige Handlungsfaden des Romans betrifft den Westmann OLD SUREHAND und dessen Familie. OS enthüllt Schritt für Schritt, daß KOLMA PUSCHI in Wahrheit TEHUA BENDER ist und daß Old Surehand und APANATSCHKA deren Söhne (LEO und FRED BENDER) sind, die sie seit vielen Jahren im Westen sucht. OS tritt - durchaus im neutestamentlichen Sinne - als derjenige auf, der das »Verlorene wiederbringt« und die »Trauernden tröstet«, wie es in der Bergpredigt und an anderen Stellen des Evangeliums heißt. Old Surehand ist ein Gottsucher, der um seinen verlorenen Glauben ringt: »›Mich aber treibt das Schicksal von Ort zu Ort; so habe ich auch innerlich den haltenden Anker verloren und die Heimat und bin ruhelos geworden.‹« (GR 14, 413) Surehands rastloses Umherschweifen, seine Suche nach seiner Familie, nach Heimat, wird von May letzlich als Suche nach Gott dargestellt. Indem OS die Familie wieder zusammenführt, handelt er im Sinne Gottes. Wie Old Wabble wird auch Old Surehand ›bekehrt‹: »›Wer hier nicht zu der Erkenntnis kommt, daß es einen Gott giebt, und wer hier nicht glauben und nicht beten lernt, der ist ewig verloren! Ich glaubte und betete lange, lange Jahre nicht mehr; jetzt habe ich es aber wieder gelernt.‹« (GR 19, 562)

Die religiöse Thematik beherrscht den Surehand-Roman so eindeutig, daß die anderen Aktivitäten OSs dagegen an Bedeutung verlieren: er kämpft mit VUPA UMUGI im Wasser, erlegt Bären, entziffert ein ›Sprechendes Leder‹. Im zweiten Band des Romans (GR 15) ist er weitgehend nur Zuhörer bei den Geschichten im Wirtshaus der MUTTER THICK. Diesen Band hat May aus früheren Erzählungen zusammengestellt. Bemerkenswert ist eine Änderung der Kanada-Bill-Geschichte, die May für die Buchausgabe vornahm: Man erzählt, daß OS den Verbrecher KANADA-BILL mit einem Fausthieb so niederschlägt, daß er irrsinnig wird und elendig an Tobsucht eingeht. (GR 15, 112f). Eine grauenvolle Geschichte, die OS als ›Faust Gottes‹ zeigt, während er sonst ja als Heilsbringer dargestellt wird.

In der letzten Jugenderzählung Mays, dem 1896 erschienenen Roman ›Der Schwarze Mustang‹ (MUSTANG), erscheint OS nicht auf der moralischen Höhe des Surehand-Romans. Er geht außergewöhnlich rücksichtslos mit seinen Feinden (Chinesen und Comanchen) um, vernichtet 100 indianische Medizinen, schneidet Chinesen die Zöpfe ab und stößt einmal sogar drei Comanchen einen Felsen hinunter. Möglicherweise hat die Nähe der Erzählungen aus GR 15, die May etwa zu gleicher Zeit zusammenstellte und die einen früheren Stand seiner Wildwestgeschichten darstellen, auf diesen Roman abgefärbt. Auch die ab 1890 erschienenen Marienkalender-Geschichten Mays (OS wirkt mit in GOTT LÄßT SICH/BLIZZARD/MUTTERLIEBE), in denen geschildert wird, wie Gott die Bösen bestraft, indem er ihnen ein schreckliches Ende bereitet, zeigen den ›harten‹ OS.

Freundlicher ist das Bild OSs, das May in GR 24 (›Weihnacht!‹) zeichnet. In diesem Roman gipfelt die in den Werken der neunziger Jahre immer deutlichere Identifizierung des Schriftstellers Karl May mit seinem Helden. Es ist jetzt auch die Zeit, in der May im Westmannskostüm vor Publikum auftritt und Kostümphotos an seine Leser verkaufen läßt. Der Roman beginnt mit einer Episode aus der Jugend OSs. Es wird geschildert, wie dieser als Schüler mit seinem Freund CARPIO eine Ferienwanderung durch das Gebirge unternimmt. Beide können der aus Österreich geflohenen Familie VON HILLER helfen.


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Jahre später trifft OS in Amerika die von Hillers wieder, wobei ein Weihnachtsgedicht des Schülers May eine bedeutende Rolle spielt. Obwohl durch das Heimatkapitel der biographische Bezug schon mehr als eindeutig hergestellt wird, wendet sich May zu Beginn der im Wilden Westen spielenden Haupthandlung direkt an seine Leser, die Identität von Kunstfigur und Autor explizit vorgebend: »Sobald wir nämlich in eine bewohnte Gegend kamen, welche Postverbindung hatte, verwandelte ich mich aus dem Westmanne in den Schriftsteller. Meine Arbeiten wurden von jeder Zeitung gern aufgenommen und meist sofort und gut bezahlt. Diese Honorare waren es, welche mir meine Unabhängigkeit ermöglichten, und diese Zeitungsbeiträge sind es, welche den Reiseerzählungen zu Grunde liegen, mit denen ich seit einiger Zeit vor meine Leser getreten bin.« (123) Hauptfigur des Romans ist allerdings nicht OS, sondern sein Jugendfreund Carpio, den es nach Amerika verschlagen hat und den OS, Winnetou und deren Gefährten vor verbrecherischer Ausbeutung durch seinen Onkel (LACHNER) und Banditen schützen. Der Roman endet mit einer von OS im verschneiten Wilden Westen inszenierten Weihnachtsfeier, in deren Verlauf Carpio stirbt. May hat seiner Figur in GR 24 über die auffallende biographische Anbindung hinaus nichts wesentlich Neues hinzugefügt.

Nach der grundlegenden Wandlung, die sich in Mays Denken nach der Orientreise (1899/1900) vollzog (vgl. dazu die Ausführungen im Artikel KARA BEN NEMSI), beschäftigte sich May fast ein Jahrzehnt lang nicht mehr mit der Figur OS. In dem Roman ›Silberlöwe IV‹ (GR 29 - 1903) wird in einem Gespräch Kara Ben Nemsis mit dem USTAD, einer den Schriftsteller May vor seiner Wandlung repräsentierenden Ich-Projektion, die Identifizierung Mays mit seinem Abenteuerhelden zurückgenommen: »›Du bist Old Shatterhand?‹ fragte er ... ›Ich war es‹, antwortete ich ruhig, aber bestimmt. Er machte, als er hörte, daß ich sein Präsens in das Imperfectum verwandelte, eine Bewegung der Überraschung.« (67) May faßt das schriftstellerische Konzept für sein Alterswerk, durch das seine ›alten‹ Reiseerzählungen einen neuen, symbolischen Abschluß erhalten sollen, so zusammen: »In Amerika sollte eine männliche und in Asien eine weibliche Gestalt das Ideal bilden, an dem meine Leser ihr ethisches Wollen emporzuranken hätten. Die eine ist mein Winnetou, die andere Marah Durimeh geworden. Im Westen soll die Handlung aus dem niedrigen Leben der Savanne und Prairie nach und nach bis zu den reinen und lichten Höhen des Mount Winnetou emporsteigen ... Die Hauptperson aller dieser Erzählungen sollte der Einheit wegen ein und dieselbe sein, ein beginnender Edelmensch, der sich nach und nach von allen Schlacken des Animamenschentumes reinigt. Für Amerika sollte er Old Shatterhand, für den Orient Kara Ben Nemsi heißen, denn daß er ein Deutscher zu sein hatte, verstand sich ganz von selbst.«23 Diese Sätze aus Mays 1910 erschienener Autobiographie könnten als nachträglicher Versuch gewertet werden, den Reiseerzählungen einen ›tieferen Sinn‹ aufzuoktroyieren. Doch darf nicht übersehen werden, daß die Figur OS durchaus eine ganze Reihe von Merkmalen aufweist, die einem Edelmenschen, wie May ihn seinen Lesern als Ideal präsentieren will, adäquat sind. OS ist wirklich der ›Engel seines Nächsten‹, wie May es als ›Gesetz von Dschinnistan‹, dem von ihm erträumten Paradies der Edelmenschlichkeit formuliert.24 OS geht sogar noch darüber hinaus, da er sich zusätzlich dem christlichen Gebot ›Liebet Eure Feinde‹ verpflichtet fühlt.


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1908 - im Alter von 66 Jahren - tritt Karl May seine erste und einzige Reise nach Amerika an. Diese Reise inspirierte ihn zu dem Roman ›Winnetou IV‹ (GR 33). Die reale Reise dient dabei zunächst als Hintergrund: Auch im Roman reist der alte May, alias OS, mit seiner Frau (HERZLE) nach Amerika. Er wird von Freunden und Feinden zu einem Meeting am Mount Winnetou gerufen. Zu Beginn des Romans ist der Erzähler KARL MAY, im Verlauf des Abenteuers, als der Bereich der realen Reise (die nur den Osten der Vereinigten Staaten berührte) längst verlassen wurde, agiert er als OS. Aber: »Mays das Spätwerk beherrschende Friedens- und Versöhnungsgesinnung bewirkt eine geradezu spektakuläre Abkehr von der Westernheroik und Abenteuerromantik, die nun als anachronistische Fehleinstellung gesehen wird. »Bärentöter« und »Henrystutzen« haben sich demnach »überlebt« (358), »Krieger und Indianerspielen« gilt nun gar als sicherster Beweis, daß man »kindisch geblieben ist« (61). Die wenigen verbliebenen Action-Szenen halten deshalb auch keinen Vergleich mit früheren Texten aus. Im Zuge solcher Pazifizierung bleibt auch kein früherer Konflikt mehr unbereinigt, und Shatterhands Mission ist erst wirklich vollendet, als er sich sogar mit dem Häuptling TANGUA versöhnt hat, der ihn ein Leben lang gehaßt hatte. Auch die indianischen Frauenfiguren werden davon berührt: Mays früherer abendländischer Hochmut, der sich im Verhalten zu Personen wie Nscho-tschi oder Kakho-Oto ausgedrückt hatte, wird in diesem Abschlußwerk aus der Welt geschafft. Der Erzähler leistet Wiedergutmachung durch eine Art Ersatzheirat, wobei er seine Ehe mit Herzle quasi als (posthume) Verbindung mit Nscho-tschi oder der ihr gleichenden Kakho-Oto ausgibt.«25

Anlaß des Meetings, zu dem OS geladen wurde, ist, daß man Winnetou ein goldenes Monumental-Denkmal errichten will. OS kann die Befürworter des Denkmals, darunter APANATSCHKA und OLD SUREHAND, davon überzeugen, daß das Andenken Winnetous nicht auf so vordergründige Art gewahrt werden darf: »›... er war der erste Indianer, in dem die Seele seiner Rasse aus dem Todeschlaf erwachte. In ihm wurde sie neu geboren ... Er hat in unserem Herzen gewohnt und soll diese Wohnung behalten!‹« (285) TATELLAH-SATAH, der uralte, weise Medizinmann der roten Völker, erklärt: »›Ich bin Tatellah-Satah, und hier an meiner Seite steht Old Shatterhand. Aber, irrt euch nicht in uns! Wir sind nicht nur das, sondern wir sind mehr. Ich bin die Sehnsucht der roten Völker, welche, nach Osten schauend, auf Erlösung warten. Und er ist der anbrechende Tag, der über Länder und Meere wandert, um uns die Zukunft zu bringen.‹« (404) Die Zukunft der roten Rasse liegt im Vermächtnis Winnetous. Es ist nicht das Testament, das OS in GR 9 fand und das sich auf Goldfundorte bezog. OS grub auf einen Hinweis Tatellah-Satahs hin noch einmal am Nugget-tsil nach und entdeckte Bücher, die Winnetou verfaßte. Am Mount Winnetou versammelt OS seine Freunde, auch die vom Widersinn des Denkmals noch nicht überzeugten, in einem tempelartigen Raum und läßt Winnetous Gedanken vortragen. Wieder ist eine Wandlung zu konstatieren: War die OS-Figur bisher immer etwas dominant gegenüber der Winnetou-Figur angelegt, so wird der Apache nun zum ›roten Heiland‹ hochstilisiert - und OS ist sein Prophet.

May hat vom Beginn seines literarischen Schaffens an Helden im Wilden Westen dargestellt. In mehreren Anläufen versuchte er, in Amerika einen Helden zu kreieren, wie er ihm - in einem großen Wurf - für den Orient in Kara Ben Nemsi gelang. Erst spät, mit


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dem Roman ›Winnetou I‹, ist ihm das gelungen. Fünfzehn Jahre später, in ›Winnetou IV‹, erlöst er seinen Heros vom Zwang zur Omnipotenz. OS ist nicht mehr der überlebensgroße, vermessene Kompensationstraum eines ›gebrochenen Lebens‹, sondern eine Utopie jener menschlichen und geistigen Richtung, in die May sich selbst und andere Menschen mit seiner Idee vom Edelmenschen führen wollte.


1 In GR 15 wird berichtet, daß der KANADA-BILL nach einem Hieb OSs irrsinnig wurde.

2 Vgl. Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 21976, S. 33-43.

3 Zitiert wird jeweils mit dem im Lexikon verwendeten Sigel; die genaue bibliographische Angabe findet sich im Sigel-Verzeichnis.

4 Bei der Bearbeitung der Firehand-Geschichte für die erste Buchausgabe (›Im wilden Westen‹) und später für die Winnetou-Trilogie (GR 8), wurde aus Ellen der Knabe HARRY.

5 Karl May: Unter Würgern. Deutscher Hausschatz. V. Jg. (1879/80), S. 620; Reprint in: Karl May: Kleinere Hausschatz-Erzählungen. Hrsg. von Herbert Meier. Hamburg/

Regensburg 1982

6 Claus Roxin: Einführung (zu ›Der Scout - Deadly Dust‹). In: Karl May: Der Scout - Deadly Dust. Deutscher Hausschatz. XV. Jg. (1888/89) bzw. VI. Jg. (1880/81). Repr. der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Regensburg 1977, S. 3

7 Ebd.

8 Der Text wurde nicht in GR 9 übernommen.

9 Der Text wurde nicht in GR 9 übernommen.

10 Roland Schmid: Vorwort. In: Karl May: Winnetou›s Tod. Hrsg. und erläutert von Roland Schmid. Bamberg 1976, S. 4f

11 Karl May: Im ›wilden Westen‹ Nordamerika's. In: Winnetou›s Tod, wie Anm. 10, S. 64. Der Text wurde nicht in GR 9 übernommen.

12 Ebd., S. 98, der Text wurde nicht in GR 9 übernommen.

13 Karl May hat tatsächlich ein Ave Maria gedichtet und komponiert.

14 Werner Kittstein: Aus den Armen des Urwalds in die Fänge der Kolportage. Karl Mays Erzählung ›Ein Oelbrand‹ - Zeugnis einer frühen Schaffenskrise. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1995. Husum 1995, S. 206-240

15 Karl May: Der Sohn des Bärenjägers. In: Der gute Kamerad. 1. Jg. (1886/87)

16 Roxin, wie Anm. 6, S. 2

17 Der Teil HEIMATH erschien wegen einer Streichung der Hausschatzredaktion nicht; der Originaltext wurde bisher noch nicht veröffentlicht. Zu den Entstehungsdaten vgl. Roland Schmid: Nachwort. In: Karl May: Freiburger Erstausgaben. Hrsg. von Roland Schmid: Bd. XXII: Satan und Ischariot III. Bamberg 1983, N4f.

18 Karl May: Brief an Fehsenfeld vom 10.10.1892. In: Roland Schmid: Nachwort zu ›Winnetou I‹). In: Karl May: Freiburger Erstausgaben Bd. VII. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1984 (unpaginiert)


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19 Vgl. Bernd Steinbrink: Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Tübingen 1983, bes. S. 18ff.

20 Der Kampf wird im Roman als Gottesurteil bezeichnet. Das ist jedoch nicht korrekt, da in einem Gottesurteil ein Guter mit einem Bösen kämpft, hier jedoch zwei Gute eine Entscheidung austragen.

21 Vgl. Johanna Bossinade: Das zweite Geschlecht des Roten. Zur Inszenierung von Androgynität in der ›Winnetou‹-Trilogie Karl Mays. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft. Husum 1986, S. 241-67.

22 Siehe Artikel KARA BEN NEMSI.

23 LEBEN UND STREBEN, S. 144

24 Ebd., S. 3

25 Günter Scholdt: Werkartikel ›Winnetou IV‹. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschpake. Stuttgart 1987, S. 323


Christoph F. Lorenz

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