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Rudi Schweikert

Eins, zwei, drei: »Welch eine Ueberraschung! Das war ja das Vater unser!«

Ein artistischer Trick Karl Mays: Nachschlagen und erzählen. Vom Beten und Zählen in fremden Zungen



Einem Autor beim Schreiben über die Schulter schauen - das wäre schon reizvoll. Manchmal kann man's sogar, obwohl der betreffende Schriftsteller schon längst tot ist und nur sein Werk uns vorliegt. Es gelingt, wenn man ihn gewissermaßen überlistet hat. Das heißt, wenn man ihm hinter die Schliche gekommen ist, welches handwerkliche Verfahren er an einer bestimmten Stelle seines Werks angewandt hat. Dazu muß man sich in die Produktionssituation des Autors zu versetzen suchen.

Wenn ein Reise-Erzähler Fahrten und Abenteuer schildert, die er nicht tatsächlich gemacht hat, sondern >nur< mittels seiner Vorstellungskraft, dann ist er gelegentlich gezwungen, zwecks Authentizitätssuggestion, zum verbürgten Wissen seiner Zeit zu greifen. Das liegt in Fachwerken geborgen - oder, aufs äußerste verknappt, in Nachschlagewerken.

Karl May hatte ein sicheres Gespür für die offenkundigen wie für die untergründigeren Bedürfnisse und Erwartungen seiner Leser. Wie er aus ganz wenigen und völlig trocken-dürren Lexikoninformationen kleine Geschichten innerhalb seiner bisweilen ausufernd langen Erzählungen und Romane zaubern konnte, möchte ich im folgenden an ein paar Beispielen zeigen.

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Es ist amüsant zu sehen, mit welch geringen Mitteln und mit wie minimalem Aufwand May gewisse Klischee-Stimmungen in seinen Texten zu erzeugen verstand. Da hatte er kurze rabiate Geschichten voller Grausamkeiten geschrieben, in exotischen Gegenden spielend; Raub und Totschlag herrscht, es wird geschlagen, gewürgt, geschossen, Messer treffen genau ins Herz, und archaisch-raffinierte Formen des Garausmachens werden zelebriert, daß es eine Art hat. Und solche Geschichten sollen nun etwa im katholischen »Deutschen Hausschatz« erscheinen?

Unverändert nicht; der Autor will ja seinen Schnitt machen und auch weiter in der Zeitschrift erscheinen. Also heißt es überarbeiten, erweitern, ausfabulieren. Dann müssen noch die nötigen Prisen frommen Gefühls eingestreut werden, damit das Ragout aus rohem Abenteuer-Fleisch den Sinnesnerven der Leser einen angenehmen Geschmack vorgaukelt. Und das in jenem Blatt ungewohnte, aber verführerisch lokkende Atavistische voll wirken kann. Das geht ganz einfach (und Mays Rechnung auf).

Fürs gefällige Bedienen des beruhigenden frommen Gefühls bedient sich wiederum der Autor, und zwar


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gewisser rhetorischer Tricks - sowie schlicht des Konversationslexikons. Wie das?

Zu den lexikographischen Standards im 19. Jahrhundert gehörte es, zumindest in »Pierer's Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart oder Neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe«, einem im 19. Jahrhundert beliebten Nachschlagewerk (Karl May besaß allein zwei Ausgaben davon), beschreibenden Artikeln über fremde Sprachen auch kleine Proben derselben beizugeben. Wechselnde Beispiele für Deklination und Konjugation sind meist darunter. Und in der Regel, als fester Bestand, die Zahlen von eins bis zehn (mit unterschiedlichen weiteren Zahlwörterbeispielen) sowie der Anfang des Vaterunsers.

Den letzteren Usus schlachtete May geschickt aus. Wo immer sich seiner Phantasie die Möglichkeit bot, bastelte er um die Zitierung eines fremdsprachigen Vaterunser-Beginns eine sowohl rührende als auch spannende Handlungssequenz. Das eine oder andere Mal konnte er der weiteren Lockung durch exotische Lautreihen nicht widerstehen und bog sein Erzählen so hin, daß auch ein Zählen notwendig wurde, welches er einer Eingeborenen-Gestalt in den Mund legte.

Blieben die ersten für den »Deutschen Hausschatz« aufbereiteten Texte Mays noch ohne den eben beschriebenen Erzähl-Trick, wurde es ab »Der Boer van het Roer« (1879), einer im Süden Afrikas spielenden Geschichte, anders.


Ein Thema mit Variationen

Eins: Reihung

Der Erzähler von »Der Boer van het Roer« ist in blutige Abenteuer verstrickt. Dazwischen serviert May, zum Ausruhen, eine beschauliche Episode. Welch anrührendes Bild: Ein in der Zivilisation holländischer Prägung aufgewachsenes Kaffernmädchen mit dem traulichen Namen Mietje gibt kleinen Hottentotten und Kaffern am Außenrand abendländisch-christlicher Kulturregion Schulunterricht. Ein Hottentotte macht den Erzähler kundig (ich zitiere nach der von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger herausgegebenen historisch-kritischen Ausgabe): »Klein' Kind und groß' Khwekhwena (wie sich die östlichen Hottentotten nennen) lern' viel, groß viel in Schul - lern' zähl', lern' les', lern' schreib' und lern' bet'. Mietje sein gut, groß gut in Schul'!«

Und Autor May sein groß gut in Abschreib' aus Lexik'. - Leicht verräterisch ist schon der Ausdruck »lern' zähl'« statt >rechnen lernen<, was freilich auch schlechter klingen würde.

Und da die Erzählung im Osten der Orange-Republik spielt, ist klar, daß der Ausdruck »Khwekhwena« fallen muß, denn was steht im »Pierer«, dessen 4. Auflage (erschienen zwischen 1857 und 1865) ich für meine Nachweise benutze?: »Hottentotten, der bei den Europäern gebräuchliche Name für ein Volk im südlichen Afrika, welches sich selbst  S k u h k e u b  (im Koradialekt) od.  K o i k o i b  (im Namadialekt), od.  K h w e k h w e n a  (im östlichen Dialekt) nennt (...).«

Bei der Beschreibung der Hottentottensprache werden die Zahlen von eins bis zehn genannt und, wie üblich, der Beginn des Vaterunsers als krönender Abschluß. Den setzt May sogleich in Handlung um: (...) und ich bemerkte, daß der gegenwärtige Unterricht ein religiöser sei.

»Nun wird gebetet. Faltet die Hände!« gebot sie (Mietje), diesem Befehle durch ihr eigenes Beispiel folgend. Die kleinen, gelbbraunen Händchen der Kinder legten sich zusammen.


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»Jetzt!«

Sie erhob ihre gefalteten Hände zum Zeichen, und nun erklang es im Chore:

»Sida -tib, -hommi "na-hab, sa -ons "anu- "annu-he!«

Sogar die diakritischen Zeichen für die Kehl- und Schnalzlaute hat May präzise aus dem Lexikon abgeschrieben, das nicht mehr als genau diese Worte des Vaterunsers auf Hottentottisch wiedergibt und auch exakt die gleiche wörtliche Übersetzung wie May: »Unser Vater Himmel in seiend, dein Name geheiliget werde.« (Nur ein Buchstabe ist bei May zuviel in den Druck gerutscht; statt »"anu-"annu-he« müßte es laut »Pierer« heißen: »"anu-"anu-he«.)

Die Schul-Idee mag May übrigens durch Lexikon-Lektüre entstanden sein: »Dialekt der  N a m a  od.  N a m a q u a, in Groß- u. einem Theile von Klein-Namaqualand. In letzterem ist er nur noch in der Station Richtersveldt am Oranjefluß gebräuchlich, da neuerdings in den Kirchen u. Schulen von Komaggas, Steinkopf u(.) Pelia das Holländische eingeführt ist (s. Namaqua)« (Pierer, Artikel »Hottentotten«). Und eine weitere Idee Mays könnte sich aus diesen Zeilen gebildet haben: Prompt beten die Kindlein den Vaterunser-Beginn nämlich auch auf holländisch.

Aber noch sind wir nicht soweit. Vielmehr bietet sich als erstes Gelegenheit zu einer kleinen Digression im Zusammenhang mit der Namaqua-Sprache. Über sie sagt der »Pierer« unter anderem: »Eigenthümlich u. für den Europäer unnachahmbar sind eine Anzahl ziemlich schnell u. mit heiserer Stimme aus der hohlen Brust hervorgestoßene, scharf gehauchte Kehllaute, sowie vier sogenannte Schnalzlaute od. Clicks, welche durch Anschlagen der Zunge an den Gaumen, die Vorder- od. Seitenzähne hervorgebracht (...) werden«.

Sechs Jahre, nachdem May die »Boer«-Geschichte für den elften Band seiner »Gesammelten Reiseerzählungen« eingerichtet hatte (1893), erinnerte er sich wieder der Namaqua-Sprache und ihrer besonderen Aussprache-Schwierigkeiten. Presse-Angriffe auf May hatten eingesetzt. Unter dem Namen seines Freundes Richard Plöhn veröffentlichte er in der Dortmunder »Tremonia« den Rechtfertigungsartikel »Karl May und seine Gegner« (1899). Darin stand unter anderem folgendes >Intermezzo< zu lesen:

May übte sich damals in der an Schnalzlauten so reichen Namaqua-Sprache und hatte in Gesellschaft einen ihm dabei vorgekommenen heitern Passus zum Besten gegeben. Da es keinen Namaqua gab, mit dem er sprechen konnte, war er gezwungen, mit sich selbst zu sprechen, und zwar laut. Ein bei ihm neu eingezogener Dienstbote vom Lande geht an der Tür der Studierstube vorbei, hört drinnen die so fremd klingenden, mit Zungenschnalzen untermischten Laute, läuft schleunigst zur Herrin und meldet: »Der Herr schreit oben wie verrückt; kommen Sie schnell herauf!« Dieses von ihm selbst herzlich belachte Intermezzo wurde so herumgedreht, daß es folgende Fassung bekam: Die Herrin kommt plötzlich voller Angst in die Küche gerannt und ruft: »Mein Mann schreit oben in seinem Zimmer herum, er ist verrückt geworden!« Hierauf war in den Zeitungen schwarz auf weiß zu lesen, daß May wahnsinnig sei. (Zitiert nach dem Abdruck im Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1974.)

Zurück zum »Boer«. Die Kleinen beteten das Vaterunser in rührender Andacht zu Ende. Dann wandte sie (Mietje) sich an die Kaffernkinder:

»Und nun auch ihr!«

Die Händchen wurden auch von dieser Abteilung gefaltet; dann gebot sie wie vorher:


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»Jetzt!«

Der kindliche Chor begann:

»Bawo wetu o sezulwini, malipatwe ngobungewele igama lako.«

In der Anmerkung dazu heißt es dann: »Wörtlich: Vater unser, welcher in den Himmeln, geheiliget werde Name Dein.«

Und wir wissen, wo wir diese Wörter haargenau wiederfinden, einschließlich wörtlicher Übersetzung: im »Pierer« unter dem Stichwort »Kaffrische Sprache«. Gleiches gilt für die nächste Sprachprobe. Die steht unter dem Stichwort »Niederländische Sprache«.

»So!« lobte sie (Mietje) die Gelehrigkeit und Andacht der Kleinen. »Und nun wollen wir beten, wie wir des Abends und des Morgens drin bei Jeffrouw Soofje beten müssen. Alle zusammen - jetzt!«

Sowohl die Kaffern als auch die Hottentotten begannen jetzt niederländisch:

»Onze vader, die in de hemelen ziit, uw naam worde geheiligt.«

Die Idee, das Vaterunser auf mehr als eine Sprache in einer (quasi-) schulischen Situation aufsagen zu lassen, verwertete May ein paar Jahre danach nochmals. Und zwar in seinem ersten riesigen Lieferungsroman, betitelt »Das Waldröschen oder die Rächerjagd rund um die Erde« (1882-84).

Ein kleiner Superheld wächst heran, Kurt Helmers mit Namen. Nebenbei entwickelt er sich zu einem Mini-Mezzofanti, der neben seiner Muttersprache bereits französisch sowie englisch sprechen kann und darüber hinaus eine rätselhaft-exotische Sprache, von der er selbst nicht weiß, wie sie heißt. Da er aber ein so neunmalkluges Kerlchen ist, hat er auf eigene Faust schon herausbekommen, daß es entweder Arabisch oder Malaiisch sein muß. Und wie hat er das geschafft? Das ist metaliterarisch nicht unwitzig im Text gesagt: »ich habe ihn (nämlich seinen Lehrer Tombi, einen Zigeuner) überlistet und einmal nachgeschlagen.« Überlisten durch Nachschlagen - das ist sie, Mays Technik, exotisches Kolorit ohne eigene Erfahrung zu vermitteln.

Kurts Onkel Sternau, sein Vorbild, >First-generation<-Superheld des Romans und ergo nebenbei ebenfalls Sprachgenie, ist verblüfft. Uns aber kann es in der Folge nicht mehr allzusehr überraschen, wie Karl May es diesmal angestellt hat, auf seine geliebten Anfangsworte des Vaterunsers zu kommen.

»Aber warum lehrt er es (die unbekannte Sprache) Dich?«

»Er sagt, ich könne es vielleicht einmal gebrauchen, und er will in der Uebung bleiben.(«)

»So wird es wohl die Zigeunersprache sein. Die sollst Du allerdings nicht lernen.«

»Zigeunerisch ist es nicht, nein! Die Zigeuner beten doch nicht!« »Ah, er lehrt Dich Gebete?« »Ja. Alle meine Sprüche, Lieder und Gebete übersetzt er mir. Onkel, nicht war, Du verstehst Arabisch?«

»Ja.«

»Nun, so kannst Du gleich einmal sehen, ob es vielleicht Arabisch ist. Soll ich Dir einmal den Anfang des Vaterunsers sagen?«

»Ja. Arabisch heißt er: >Ja abana Iledsi fi s-semavati jata-haddeso 'smoka.<«

Aus dem »Pierer«, Artikel »Arabische Sprache«, respondiert es: »Der Anfang des Vaterunsers lautet: (...) ja abana 'Iledsi fi 's-semavati jata-haddeso 'smoka, d.h.: O, Vaterunser, der in dem Himmel, geheiliget-werde Name-dein.« Kurt Helmers aber sagt:

»Nein, das ist es nicht; das Meinige lautet: >Bapa kami jang ada de surga, kuduslah kiranja namamu.<«

»Was! Woher hat der Waldhüter (Tombi) diese seltene Sprache! Es ist Malayisch. «

»Malayisch?« fragte der Großherzog (Ludwig III. von Hessen-Darmstadt;


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auch große Herren müssen bei May mitspielen, da kannte er keine Hemmungen). »Ein deutscher Waldhüter, und Malayisch! Wie es scheint, sind hier auf Rheinswalden (ein Ort, der laut Mays Fiktion in der Nähe von Mainz liegt) lauter außerordentliche Menschen zu finden.«

»Er ist in der Malayensee gewesen,« sagte der Knabe. »Er hat mir von Borneo und Timur und Celebes erzählt.«

»Dann muß ich mit ihm hierüber sprechen.«

»Also, Onkel Sternau, darf ich diese Sprache weiter lernen?«

»Jawohl, in Gottes Namen. Auch ich kann Einiges davon; ich werde mitthun!«

Schöne Worte aus der Feder eines, der sich selber (in einem Brief an einen jungen Fan etwa) brüstete, um die vierzig Sprachen schreiben und sprechen zu können, darunter eben auch malayisch, Namaqua. Lappländisch will ich nicht mitzählen. Wie generös. Im nächsten Kapitel werden wir seine kleinen Zähl- und Betkunststückchen unter anderem auf lappländisch bewundern können.

May hatte neben seinen Un-Tiefen auch seine Untiefen. Man kann bei ihm nie sicher sein, ob er seine Leser nicht leise, leise (oder auch mal kräftiger) auf den Arm nimmt und sich ein, oft nur ihm selbst verständliches, Späßchen mit ihnen gönnt. Mittlerweile kennen wir einen gewissen Teil seiner flink aus dem Lexikon gezogenen Fremdsprachen->kompetenz<. Klingt es da nicht sublim ironisch, wenn May seinen jungen Fan nach der Sprachenaufzählung rhetorisch fragt: Wieviel Arbeitsnächte wird mich das wohl gekostet haben?


Zwei: Kombination

Aber noch einmal zurück zur »Boer«-Geschichte. Wo bleibt in ihr das Zählen? Es erfolgt, nur Geduld, einige Zeit nach der Vaterunser-Reihung. Der Zulu Somi stößt auf das Kind seines Bruders, das vor sechzehn Jahren verschwunden ist: »>Wie viel Jahr>? Ishumi und tantatu Jahr<, zehn und sechs Jahr?(<)«. Noch später zeigt er seinen weißen Freunden Diamanten: »Hier Diamant, ishumi, ilinci, mboxo Stein, zwei mal zehn und acht Diamant.« Der Witz dabei: May hat die Zahlwörter nicht dem Artikel »Sulusprache« entnommen, sondern dem über »Kaffrische Sprache«. Laut »Pierer« ist die Zulusprache zwar »ein Dialekt der Kaffrischen Sprache« (Artikel »Sulusprache«). Doch die Zahl acht heißt »hliya nga lobili«. Zehn jedoch wird auch hier mit »ishumi« wiedergegeben. Da die Zahl zwanzig im Lexikon nicht genannt wird, muß May konstruieren. Er macht's, indem er die zwei Wörter, die der »Pierer« für kafferisch zehn anbietet (»10 (=) ishumi, ilinci«), hintereinander setzt und acht (»8 (=) mboxo«) hinzufügt - Kauderwelsch aus Kenntnisnot wird artistisch umgemünzt zum stilisierten Kauderwelsch der Figur Somi.

Enger als im »Boer« sind das Zählen und der Beginn des Vaterunsers in ein paar anderen Erzählungen kombiniert. - In »Der Ehri« (1879/80 im »Deutschen Hausschatz« veröffentlicht) regen Lexikoninformationen May wieder zur Handlungserfindung an. Und erneut sind es die Zahlwörter und der Vaterunser-Beginn. Schauplatz der Geschichte: Ein Archipel in Polynesien. Ein Schwarm kleiner Boote steuert auf die Insel zu, auf der sich der Erzähler befindet. Der Mann im ersten Boot wird verfolgt. Er landet an und beginnt die Distanz abzuschreiten zwischen dem Ufer und seiner Deckung, aus der heraus er seine Verfolger von sich abhalten will.

Er (der Verfolgte namens Potomba) näherte sich mir dabei so, daß ich ihn deutlich seine Schritte zählen hörte. »Satu, dua, tiga, ampat, lima,


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anam, tudschuh, dalapan, sambilan, supuluh,« zählte er von eins bis zehn und fahr dann fort: »Sapuluh-satu, sapuluh-dua, supuluh-tiga---« Der »Pierer« weiß dazu: »Die Zahlwörter sind 1 satu, 2 dua, 3 tiga, 4 ampat, 5 lima, 6 anam, 7 tudshu, 8 dalapan, 9 sambilan, 10 sapuluh. Erneut muß May konstruieren, weil er es nicht mit zehn genug sein lassen kann, und statt elf schreibt er zehn-eins, statt zwölf zehn-zwei und so weiter...

Der Spannungssteigerung durch das Zählen folgen Beruhigung und Rührung durch das Motiv des Dankgebets. Kaum sind die Verfolger in die Flucht geschlagen, sinkt Potomba in die Knie und betet aus dem »Pierer« den Anfang des Vaterunsers her. Natürlich nur so weit, wie die Sprachprobe im Lexikon reicht.

Ich schritt jetzt nach dem Strande, wo Potomba auf die Kniee gesunken war.

»Bapa kami iang ada de surga, kuduslah kiranja namamu«, hörte ich ihn beten nach dem Wortlaute, den die von der Mission Bekehrten anzuwenden pflegen. Die Fußnote dazu erläutert: Wörtlich: »Vater unser, welcher ist im Himmel, heilig möge sein Name dein.« Und genauso lautet es auch im »Pierer«: »Der Anfang des Vaterunsers heißt: bapa kami iang ada de surga, kuduslah kiranja namamu, d.h. Vater unser, welcher ist im Himmel, heilig möge-sein Name-dein.«

Auf noch einfachere Weise koppelte May in der kleinen Erzählung »Saiwa tjalem« (1883 in der Zeitschrift »Vom Fels zum Meer« gedruckt) die Zählerei mit dem Vaterunser-Beginn. Schauplatz der Handlung ist diesmal die Schneeweite Lapplands. Dem alten Pent, bei dem der Erzähler zu Gast ist, werden zwei Geldbeutel mit Silbermünzen entwendet. Wer ist der Dieb? Wo sind die Beutel? Man kennt das Strickmuster: Kein anderer als der ach so klug-gewitzte Erzähler selbst identifiziert den Räuber und entdeckt das Beutelversteck: »In der Zeit, in welcher man drei >Attje mijen, jukko leh almesne< betet, sollt ihr an dem Orte sein (...)!«, kostet er beruhigend-machtvoll die Situation aus (und die mit ihm sich identifizierenden einfachen Leser genießen dieses Gefühl genauso). Die Fußnote gibt, wie gewohnt, die Übersetzung der fremden Worte: »Vater unser, der du bist im Himmel. «

May benötigt an dieser Stelle nicht einmal die volle »Pierer«-Information aus dem Artikel »Lappische Sprache«. (»Der Anfang des Vaterunsers heißt: attje mijen, jukko leh almesne, atlesen sjaddes to namma, d.h. Vater unser, welcher bist Himmel-im, geheiliget werde dein Name.«)

Geleitet vom >fürsorglich<-überlegenen Erzähler, findet der alte Pent sein Geld wieder. »Ich muß zählen!« rief er, sich niederkauernd. (...) Jetzt hörte ich hinter mir Vater Pents jubelnden Ruf: »Tjuote-kwekte-lokkenala ... hundert und zwölf! Es ist richtig! Es ist mein ganzes Silber!(«)


Drei: Coda

Mag Mays Erzähler in noch so entlegenen Weltgegenden bei Chinesen oder Muslimen herumschnüren, irgendwann dringt zu seinem steten Erstaunen doch das Vaterunser im Lexikonwortlaut an seine Ohren. - So in Tunis. Er besucht eine Mutter mit Kind. Sie zog den dichten Schleier nach vorn, so daß ihre Züge nicht mehr zu erkennen waren, hob den Zeigefinger winkend empor und sagte - wir kennen diese Aufforderungssituation bereits zur Genüge:

»Asmar, bete!«

Der Knabe machte sich von mir los, stand auf, faltete die Hände und betete:

»Ja abana 'Jledsi fi' s-semavati jata haddeso 'smoka -«


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Welch eine Ueberraschung! Das war ja das Vater unser!

Wie zentral diese Szene für die Geschichte ist, in der sie steht, deutet ihr Titel an: »Christus oder Muhammed« (1891 im »Regensburger Marien-Kalender« veröffentlicht). Die Heldenhaftigkeit des christlichen Erzählers, der immer, autorgottgesandt, zur rechten Zeit am rechten Ort ist, wirkt bekehrend. Selbst der hartgesottenste Muselmann kann schließlich nicht umhin zu konvertieren. May gab immer dem Kaiser, was des Kaisers ist, und der Kirche, was der Kirche, sprich: Er konnte sich chamäleonartig der jeweils gewünschten >Sprache< anpassen und schrieb eine Art >Rollenprosa< für jede >Zielgruppe< - gelegentlich nicht ohne subversiv durch parodistische Übertreibung (oder erzählerische Unlust) die Absichten seiner Klientel zu unterlaufen.

So kulminiert die Geschichte »Christus oder Muhammed« in einem dreistimmigen Beten des >Ja abana Iledsi<, worauf ein gefährlicher, das Kind bedrohender Panther zu heulen beginnt und vom heldischen Erzähler erschossen wird - die Glaubensentscheidung ist gefallen, der eingefleischte Muslim Abd el Fadl erkennt die >Unterlegenheit< seiner Religion und wendet sich der >stärkeren< zu, der christlich-(ge)wehrhaften.

Ebenfalls den Höhepunkt der Erzählung markiert das Vaterunser, diesmal auf chinesisch, in »Der Kiang-lu« (1880 im »Deutschen Hausschatz« publiziert). Ein schurkischer Chinese, die Titelfigur, gefürchteter Flußpirat, hält seine Frau, bekennende Christin, wegen ihres Glaubens in einem brunnenähnlichen Loch gefangen. Der Erzähler entdeckt natürlich diese Unmenschlichkeit. Die Frau verkennt ihn zunächst und ruft herauf: »Ich fluche deinem Fo und deinem Buddha; ich will lieber verhungern, als meinem Tien tschu untreu werden. Ich bete >Tsei thian ago-teng fu tsche, ago-teng yuan örl ming kian-schin(g)!< und er ist mächtig; er wird mich erretten, wenn es ihm gefällt!«

Wie schön, daß der Erretter in Erzählergestalt bereits parat steht und das Gebet, das in der Fußnote neben Tien tschu (Himmelsherr) übersetzt wird - wörtlich: »Bist-im Himmel unser Vater welcher; wir wünschen Deinen Namen heilig-sein« - nur aus dem Lexikon abzuschreiben war; Stichwort »Chinesische Sprache u. Schrift« im »Pierer«: »Der Anfang des Vaterunsers lautet: Tsai thian ngo-teng fu tsche, ngo-teng yuan örl ming kian-sching, d.h.: bist-im Himmel unser Vater welcher, wir wünschen deinen Namen heilig-sein.«

Aber auch das Vaterunser an einer entscheidenden Textstelle als Teil des Bekehrungsmotivs einzusetzen, ohne es in der betreffenden Fremdsprache zu zitieren, brachte May fertig. So im letzten Kapitel von »Der Brodnik«, einer in Deutschland, Rußland und der Mongolei spielenden Geschichte (1880 im »Deutschen Hausschatz« erschienen). Gegen das Om mani padme hum und das Drehen der Gebetsmühlen setzt der Erzähler im Gespräch mit einer Gruppe von Hirten unter Führung eines Lama die Kraft des christlichen Gebets und missioniert damit selbstverständlich erfolgreich. Ich betete ihnen das Vater unser und den englischen Gruß vor und erzählte ihnen den Ursprung dieser Gebete. Ich erzählte weiter und weiter; die Sterne stiegen höher und höher; das Feuer verlöschte, es wurde kalt, endlich graute der Morgen. Die armen Leutchen sind hin und weg vom Zauber der Liebesreligion, und der Erzähler gewinnt die Ueberzeugung, daß die heilige Mission bei den einfachen, arglosen Mongolen ein viel fruchtbareres Feld finden würde, als bei den arglistigen impassablen Chinesen.


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Eine letzte Variante: Zum Auftakt von »Durch die Wüste«, ursprünglich für den »Deutschen Hausschatz« von 1881 geschrieben, will Hadschi Halef Omar, der noch kein Hadschi ist, seinen Sihdi Kara Ben Nemsi unbedingt zum Islam bekehren. Zu diesem Zweck beginnt er ein Gespräch über die zwei Seiten des Jüngsten Tages nach der Anschauung des Islam, die angenehme für die Muslime und die schreckliche für die Ungläubigen - May schreibt alles aus dem »Pierer« ab, Stichwort »Islam«. Doch Karas Standhaftigkeit ist vorbildlich: »Ich bleibe ein Christ!« »Aber es ist nicht schwer, zu sagen: La Illa illa Allah, we Muhammed Resul Allah!« »Ist es schwerer, zu beten: Ja abana 'Iledsi, si 's - semavati, jata - haddeso 'smoka?«

Das Vaterunser als Abschluß und Amen eines Höhepunkts, der gleich am Anfang einer Reiseerzählung Karl Mays steht. Dabei können wir's ruhig bewenden lassen.


Aus: Pierer's Universal-Lexikon, 4. Auflage, 1. Bd. (1857), S. 651.


Inhaltsverzeichnis der Horen 178

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