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JÜRGEN HEIN


Die »Erzgebirgischen Dorfgeschichten«
Zum Erzähltyp »Dorfgeschichte« im Frühwerk Karl Mays


In der verhältnismäßig jungen Geschichte der wissenschaftlichen Karl-May-Forschung sind die frühen Erzählungen Mays, darunter insbesondere die ›Erzgebirgischen Dorfgeschichten‹, zugunsten der Reiseerzählungen vernachlässigt worden. Die wesentlichen Erkenntnisse und Ergebnisse literaturwissenschaftlicher, literaturpädagogischer, literatursoziologischer und literaturpsychologischer Forschung sind fast ausschließlich ohne Berücksichtigung der in der »Heimat« spielenden Kolportageromane und Geschichten zustande gekommen.1 Ob man in Karl May einen Märchenerzähler und Volksschriftsteller sieht oder ihn als »altdeutschen frommen Spinner aus dem Erzgebirge« bezeichnet2, in keinem Falle wird man an einer Betrachtung der ›Erzgebirgischen Dorfgeschichten‹ vorübergehen dürfen, die mit ihrer anschaulichen, belehrenden und unterhaltenden Form sowie der heimat- und sozialbezogenen Thematik in einer bestimmten Erzähltradition stehen. Dem Einfluß der »Dorfgeschichten«-Tradition auf das Frühwerk Karl Mays nachzugehen, soll Aufgabe der folgenden Betrachtungen sein, die auf einen bisher vernachlässigten Aspekt in der Forschung aufmerksam machen wollen.

   Nach einem Überblick über die Entstehung und Entwicklung der »Dorfgeschichte« im 19. Jahrhundert werden die Fakten erörtert, die dafür sprechen, daß Karl May - bewußt oder unbewußt - in der »Dorfgeschichten«-Erzähltradition steht; eine Charakteristik der ›Erzgebirgischen Dorfgeschichten‹ wird zeigen, in welcher Weise sich der Einfluß inhaltlich und formal niedergeschlagen hat. Weitere Forschungen könnten dann die eigentümliche Stellung Karl Mays in der Literatur des 19. Jahrhunderts unter den Aspekten etwa der »Destruktion der Heimatdichtung«, der Flucht in die Ferne, der Realismusdiskussion, der sozialen Thematik usw. zu bestimmen versuchen.3


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Die Dorfgeschichte, die um 1840 fast überall in Deutschland, Österreich und der Schweiz - darüber hinaus in Frankreich, England und Skandinavien - als eigenständige literarische Gattung hervortritt, verdankt ihre Entwicklung verschiedenen Faktoren.4 Der literarische Stilwandel ist dabei Ausdruck einer politischen, sozioökonomischen und pädagogischen Entwicklung. Die seit dem Mittelalter immer wieder in der Literatur auftretende Diskriminierung des Bauern als derben Tölpel schwächt sich in dem Maße ab, wie die »gebildete Welt« ihr Gefühl für die bäuerliche Welt und Landschaft entdeckt, das in der Idylle seinen literarischen Niederschlag findet. In der positiven Entdeckung des Bauern und des Dorfes verbinden sich Intentionen der Aufklärung und der Romantik.

   Aufklärerische Züge gehen in zweifache Richtung; der Bauer erscheint als Vorbild und erzieherisches Objekt zugleich. Die pädagogisch-volkserzieherische Bewegung sieht einerseits die ländliche Bevölkerung als Erziehungs- und Aufklärungsobjekt, zum anderen wird das städtische Publikum über das Leben auf dem Lande belehrt, ihm wird das »einfache Leben«, das noch keine Zivilisationsschäden aufweist, als erstrebenswert hingestellt. Für den städtischen Leser verbindet die Dorfgeschichte Unterhaltung mit belehrender Zivilisationskritik; das dörfliche Lesepublikum soll in allen Lebensbereichen aufgeklärt werden. Diese Aufklärung kann - besonders in den Vorformen der Schweizer Dorfgeschichte - bis zur konkreten Anleitung zum besseren und ertragreichen Führen der Landwirtschaft gelangen.

   Der Einfluß der Romantik auf die Entstehung der Dorfgeschichte kann in der Besinnung auf Einfachheit, Naivität und Ursprünglichkeit der volkstümlichen Literatur und in dem Rückgriff auf noch unverbrauchte, originelle Stoffe und Motive gesehen werden. Hinzu kommt die von der Romantik verstärkte Besinnung auf die Poesie der Sprache, die auch in der Mundart als »Muttersprache des Volkes« gefunden wird. Den Zusammenhang von Heimat, Volk und Sprache greift dann das Biedermeier auf.5 Aus Novelle, Idylle und Kalendergeschichte einerseits, der vergleichsweise objektiven, realistischen Darstellung des Lebens auf dem Lande andererseits - wenn auch zum Teil aus städtischer Perspektive - und der erzieherischen Wirkungsintention auf städtisches und bäuerliches Lesepublikum entsteht der für die Zeit von 1840 bis 1860 (z. T. auch noch später) charakteristische Erzähltypus der »Dorfgeschichte«. Er zeigt nach Friedrich Sengle »die


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Vorteile eines einfachen, gemeinschaftlichen Lebens und die Möglichkeit, die Mißstände ohne Revolution, durch eine besondere moralische Anstrengung und unter kirchlicher Führung zu überwinden«6.

   Trotz der Nähe zur Idylle und der didaktischen Grundhaltung trägt die Dorfgeschichte schon Züge des Realismus.7 Sie ist Zeuge für die Emanzipation des Bauern, für die Herausbildung eines selbstbewußten Bauernstandes und damit für die sozialgeschichtliche Entwicklung im 19. Jahrhundert. Sie spiegelt im Spannungsfeld zwischen Stadt und Land die Ursachen und Folgen einer politischen und sozioökonomischen Entwicklung im Vormärz, in der Industrialisierung, Landflucht, Pauperismus nur die wichtigsten Faktoren sind. Der Realismus der Dorfgeschichte liegt in ihrer - zum Teil sozialkritischen - Abbildung der bäuerlichen Wirklichkeit, in die die Kräfte der neuen Zeit umstrukturierend eingreifen, und in dem Versuch eines volkserzieherischen Ausgleichs zwischen Dorf und Stadt.

   Ihre Zugehörigkeit zum Biedermeier verrät sich in der Haltung, die Zeitströmungen und sozialen Probleme in einen begrenzten Erfahrungsraum - die »Heimat« - einzubetten und als Zeichen einer übergreifenden, höheren Ordnung zu deuten. Dadurch entgeht sie meist nicht der Gefahr der Verharmlosung und Überdeckung aktueller Probleme und bietet statt wirklichkeitsbezogener Aufklärung nur Unterhaltung, Trost und Erbauung. Dennoch kommt, wie Friedrich Sengle feststellt, »das konservative Biedermeier dem Ideal einer Volksliteratur näher als das fortschrittliche Junge Deutschland«8, das der Dorfgeschichte kritisch gegenübersteht, wenngleich es ihre Entstehung wesentlich mitbeeinflußt hat. Gerade auch im Hinblick auf das angesprochene Lesepublikum - Bürger, Kleinbürger und Bauer - und die Form der Verbreitung - meist in Volkskalendern und Almanachen - kann die Dorfgeschichte als eine im besten Sinne volkstümliche Literaturgattung bezeichnet werden.

   Als solche faßt sie auch Berthold Auerbach (1812-1882) auf, der als ihr Begründer, zumindest ihr bedeutendster Vertreter gilt. Auerbach greift auf die volks- und sozialerzieherischen Intentionen Johann Heinrich Pestalozzis (1746-1827) und Johann Peter Hebels (1760-1826) zurück. Bei Pestalozzi findet er die Entdeckung des bäuerlichen Lebens als Erfahrungs- und Erziehungsraum (›Lienhard und Gertrud‹, 1781), bei Hebel die volkstümliche Schreibweise (Kalendergeschichten, »mündlicher« Erzähler). Weitere Stationen auf dem Weg zur deutschen Dorfgeschichte des 19. Jahrhunderts sind Heinrich Zschokke (1771-1848; ›Das Goldmacherdorf‹), Jeremias Gotthelf (d. i. Albert Bitzius, 1797-1854) und Karl Immermann


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(1796-1840; ›Oberhof‹-Episode im Roman ›Münchhausen‹, 1838). Neben Auerbachs ›Schwarzwälder Dorfgeschichten‹ (1843 ff.), die geradezu paradigmatisch für die neu entstandene Gattung stehen könnten, waren um die Mitte des 19. Jahrhunderts die seiner Zeitgenossen Melchior Meyr (1810-1871; ›Erzählungen aus dem Ries‹, 1856 ff.) und Josef Rank (1816-1896; ›Aus dem Böhmerwalde‹, 1843 ff.) am beliebtesten. Später kamen Ludwig Anzengruber und andere hinzu.9

   Die Dorfgeschichtentradition beeinflußte darüber hinaus einige der bedeutendsten Novellisten des 19. Jahrhunderts: Annette von Droste-Hülshoff (›Die Judenbuche‹, 1842), Gottfried Keller (›Romeo und Julia auf dem Dorfe‹,1856), Theodor Storm (›Draußen im Heidedorf‹, 1871) und Adalbert Stifter (›Das Haidedorf‹,1840, und ›Bergkristall‹, 1852), der zudem auf eine eigene österreichische Dorfgeschichtentradition zurückgreifen konnte.10

   In der Gattung »Dorfgeschichte« fließen Intentionen des Volksschriftstellers und Literaturpädagogen, des Heimatschriftstellers und des Dichters zusammen und prägen eine eigentümlich fließende Form, die auf der einen Seite zur Unterhaltungs- und Trivialliteratur neigt, andererseits sich über das klischeehafte Grundmuster erhebt und die Dorfgeschichtentradition hinter sich läßt wie Stifters ›Haidedorf‹ oder Kellers ›Romeo und Julia auf dem Dorfe‹ bei Friedrich Hebbel führt sie gar zur Anti-Dorfgeschichte.11


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Aufgrund einer historischen und typologischen Betrachtung der Dorfgeschichte des 19. Jahrhunderts, wie sie Friedrich Altvater vorgelegt hat, können wir das Wesen der Dorfgeschichte folgendermaßen umreißen12:

   Die Dorfgeschichte spielt im Dorf und handelt von Bauern; sie hält sich im allgemeinen streng an die bäuerliche Umgebung und betrachtet alles Geschehen immer nur aus dieser Perspektive. Die typische Alltäglichkeit der Bauernwelt mit ihren einfachen und durchsichtigen Verhältnissen erweist sich als Hauptgegenstand ihrer Darstellung. Die Dorfgeschichte ist im wesentlichen Gemeinschaftsdichtung; der einzelne Dorfbewohner steht in enger Beziehung zum Gemeinschaftsleben. Die Bauernschaft ist eine nach außen und innen festumgrenzte Einheit. Nur wer das »Heimatrecht« besitzt, denselben Grund bewohnt, die gleichen ethischen und religiösen Ansichten hat, gehört zur Dorfgemeinde. In der Dorfgeschichte entspricht das Milieu


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ganz dem der bäuerlichen Wirklichkeit. Hof und Acker, der Besitz, erweisen sich als die eigentlich milieubildenden Faktoren. Von hier empfängt des Bauern gesamtes Denken und Tun Inhalt und Richtung. Die Dorfgeschichte wendet sich an kein bestimmtes Publikum, sondern an den einfach fühlenden und denkenden Menschen überhaupt. Ihr Leserkreis umfaßt verhältnismäßig breite Schichten, denn ihre Inhalte sind dem ungebildeten Leser ebenso mühelos verständlich wie dem literarisch gebildeten und anspruchsvollen, d. h., die gesamte Haltung der Dorfgeschichte ist als volkstümlich anzusprechen. Als Dichtung vom Volk befaßt sie sich mit der Darstellung einfacher Inhalte in allgemeinverständlicher Form. Zuweilen, wenn sie nicht ausdrücklich Kunstdichtung sein will, kann sie auch Dichtung für das Volk sein (für den gebildeten Bürger und Bauern; das Proletariat und »niedere Volk« blieben ausgeklammert).

   Die Wesenselemente von Volksdichtung und Kunstdichtung vereinen sich unter dem Signum des »Volkstümlichen«. Die Tendenz der Dorfgeschichte zu überprovinzialer Bedeutung ist ihr durchaus eigen. Robert Petsch hat dies so ausgedrückt: Die »Dorfgemeinde ist ein Symbol menschlichen Verhaltens und sozialer Beziehungen auch in ganz anderen, städtischen Gemeinschaften mit hoher gesellschaftlicher Kultur. Urformen des Zusammenlebens der Menschen werden dichterisch vor uns aufgedeckt, das Landleben nicht um seiner selbst willen, sondern in seiner sinnhaften Bedeutung für unsere Welt überhaupt«.13

   Die Stoffe und Motive der Dorfgeschichte lassen sich in fünf, meist miteinander verbundene Hauptkomplexe aufgliedern14: (1) die sich um den Hof drehende Problematik zwischen Tradition, Besitz und Erbschaftsfolge; (2) der Zusammenhang von Heimat, Landschaft, Dorf und Dorfgemeinschaft; das Zusammenhalten der Dorfbewohner bei Unglücksfällen und Krankheiten; die Frage des Heimatrechts und die oft feindselige Haltung gegenüber dem »Fremden« im Dorf; (3) der Gegensatz zwischen Stadt und Land; (4) Sittenkritik am dörflichen Leben; (5) die Bedeutung kirchlicher Festtage für die ländliche Welt.

   Die Stoffe und Motive werden in dem Maße vielfältiger, in dem die Dorfgeschichte mit anderen Formen (z. B. Novelle, Kriminalgeschichte) Mischtypen bildet, z. B. die »Dorf- und Schloßgeschichte« der Marie von Ebner-Eschenbach, die kriminalistische Novelle mit Dorfgeschichten-Thematik in der ›Judenbuche‹ der Annette von Droste-Hülshoff.15 Inwieweit es sich hier - und das gilt dann auch für die ›Erzgebirgischen Dorfgeschichten‹ - noch um  e c h t e  Dorfgeschichten handelt, ist ein noch ungeklärtes Problem. Berthold Auer-


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bachs Betrachtung ›Schrift und Volk, Grundzüge der volkstümlichen Literatur‹ (1846) kann - obgleich an eine Charakteristik Johann Peter Hebels angeschlossen - als theoretische Rechtfertigung der Dorfgeschichte wie der volkstümlich-realistischen Literatur überhaupt angesehen werden.16

   Auerbach geht es im Horizont von Bildung und Humanität um eine Zusammenführung von Kultur und Volk in der Begegnung aller Bevölkerungsschichten mit Sprache, Literatur und Geschichte. Seine Gedanken fanden größte Beachtung zu einer Zeit, in der man von einem Volksschriftsteller meist sehr weltfremde Vorstellungen hatte.17 Ihm ging es um eine Literatur, die, auf der Höhe ihrer Zeit stehend, dem Volk die sinnlich und geistig erfahrbare Welt in ästhetischer Weise darstellt und deutet: »Das eben ist die besondere Schwierigkeit der dichterischen Volksschrift, daß man bei ihrer Abfassung des vorgesetzten lehrhaften Zweckes vergesse und das volle Leben walten lasse«18.

   Auerbach will die erzieherisch-pädagogische Tendenz in das Poetische integriert wissen. Für ihn ist - wie auch für Keller und Stifter zum Beispiel - das Pädagogische ein Ausdruck des Ästhetischen. Indem der Volksschriftsteller »die Vermittlung zwischen Wissenschaft und Leben« zu verwirklichen sucht, führt er das lesende Volk zur Selbstund Welterkenntnis. Ziel dieses der Literatur immanenten Bildungsprozesses ist die »thätige Humanität«; die Aufnahme der Volksschrift »muß ein Thun sein und zum Thun hinführen«19.

   Die der Literatur immanente Lehrhaftigkeit wird durch das Prinzip des Exemplarischen erreicht, in dem das Aktuelle, Konkrete, Wirkliche an das Ewige, Allgemeine, Menschliche gebunden wird. In einer höheren Auffassung der Wirklichkeit soll das Individuum seinen Zusammenhang mit dem Menschenleben und der Welt erkennen und in der konkreten Situation zum Handeln fähig werden. Der Volkspoesie wohnen Erziehung zur Mündigkeit und Freiheit als Bildungsziel inne, aber sie ist nicht Nützlichkeitspoesie mit unmittelbarer Wirkung und Anweisung.

   Stoffwahl und Sprache der Volksschrift müssen den literaturpädagogischen Zielsetzungen nach »Volkstümlichkeit« und »Realismus« entsprechen. Der dörfliche Schauplatz mit seinen Motivkomplexen und die Forderung nach einfacher, anschaulicher, wirklichkeitsbezogener Sprache in der Dorfgeschichte bieten dem Volksschriftsteller genügend Ansatzpunkte, mit einem Stil der integrierten pädagogischen Tendenz dörfliche wie städtische Leser anzusprechen. Auerbach sieht - in Theorie und dichterischer Praxis - seine Aufgabe als


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»Vermittler zwischen Bildung und Bäuerlichkeit«, d. h. auch zwischen Stadt und Land.20 Das dörfliche Lesepublikum soll durch Ereignisse, die den dörflichen Menschen betreffen, unterhalten und zugleich gebildet werden (»Aus dem Volk - für das Volk«); der städtische Leser mag im Dorf ein Modell der »kleinen Welt«2 erblicken oder auch nur seinen Stoffhunger an einem der Literatur neu gewonnenen Wirklichkeitsraum stillen. Daß die Dorfgeschichte beim gebildeten Publikum großen Anklang fand, ist bezeugt22; ob sie von Bauern gelesen wurde, müßte noch - wenn überhaupt möglich - eingehend untersucht werden. In jedem Falle spiegelt sie den Fortschritt, indem der Bauer dem Städter nicht länger als Spottfigur, sondern als gleichwertiger Mensch in seiner sozialen Gebundenheit dargestellt wird.

   Auerbach macht »die Welt des Dorfes zum Schauplatz aktueller Probleme, die er stets zu positiv-sittlichen Lösungen führt23. Dies entspricht seiner Anschauung eines Realidealismus, der das in der Wirklichkeit Unvollkommene, Gebrochene in der Dichtung zu einem versöhnlichen Schluß zu führen habe. Durch eine die (gesellschaftlichen) Widersprüche versöhnende Tendenz bleibt Auerbach in seinen Dorfgeschichten oft weit hinter dem theoretischen Programm zurück.24 Er scheute sich nicht, mit Mitteln der Unterhaltungsliteratur volkstümliche Bildung zu erzielen, konnte aber die damit verbundenen Probleme (Abgleiten ins Triviale durch Schönfärberei; Ideologisierung von Heimat, Landleben und Volkstum) nicht immer lösen.


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Zwischen 1870 und 1880 schreiben Ludwig Anzengruber, Peter Rosegger und andere Dorfgeschichten; Karl May steht mit seinen Erzgebirgischen Dorfgeschichten mitten in dieser Phase, in der sich Dorfgeschichten beim Publikum größter Beliebtheit erfreuten. Dies bestätigt auch Peter Rosegger in einem Brief an Karl May vom 7. November 1877, mit dem er May eine für die von ihm herausgegebene Zeitschrift ›Heimgarten‹ geschriebene Dorfgeschichte zurückschickt: »Verehrter Herr! Da wir mit Dorfgeschichten allzu reichlich versehen sind, so gebe ich Ihre, die als solche sehr gut ist, dankend zurück.«25 Da auch Anzengruber zu den Lieblingsschriftstellern Mays gehörte26, kann angenommen werden, daß May zumindest die Dorfgeschichten-Entwicklung des Jahrzehnts zwischen 1870 und 1880 verfolgt hat. Ob er Erzählungen Auerbachs kannte, kann nur vermutet werden. Immerhin gehörten Auerbachs Dorfgeschichten zu den am meisten


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gelesenen Werken in den Gefängnisbibliotheken27; es ist also durchaus möglich, daß May während seiner Haftzeit, insbesondere durch seine bibliothekarische Tätigkeit, mit Werken der durch Auerbach eingeleiteten Dorfgeschichten-Erzähltradition bekannt und zu eigenen Gestaltungen angeregt wurde. Das während der Haftzeit entstandene Repertorium C. May gibt dafür einige Anhaltspunkte.28 In der Selbstbiographie ›Mein Leben und Streben‹ geht May auf den Zusammenhang von biographischen Eindrücken, Haftzeit und Aufgabe des Volksschriftstellers näher ein.

   Über seine literarische Bildung während der Haftzeit schreibt er29:


Außerdem hatte ich die Bibliothek der Gefangenen zu verwalten, und auch die Bibliothek der Beamten stand mir offen (...) Wenn ich behaupte, daß ich die literarischen Bedürfnisse, oder sagen wir, die Lesebedürfnisse der Volksseele kennen lernte, so bitte ich, diese Behauptung ernst zu nehmen. (. . .) Ein Leser in Freiheit und ein Leser in Haft, das sind zwei ganz verschiedene Gestalten. Bei dem Letzteren kann das Lesen geradezu zum seelischen Existenzbedürfnisse werden . . .

   (Beispiele) Aus solchen Beispielen geht hervor, wie genau ich zunächst meine Bibliothek und sodann auch die Bedürfnisse ihrer Leser kennen zu lernen hatte. Das war mit ernsten und schwierigen psychologischen Erwägungen verbunden und führte zu dem betrübenden Schlußresultate, daß eigentlich solche Bücher, wie wir sie brauchten, nur ganz wenige vorhanden waren. (. . .) Darum will ich Märchenerzähler sein, nichts Anderes als Märchenerzähler(. . .) Ich will zwischen Wissenschaft und Leben vermitteln (S. 131-137). Und nun die Hauptfrage: Für wen sollten meine Bücher geschrieben sein? Ganz selbstverständlich für das Volk, für das ganze Volk . . . (S. 147)


Im Zusammenhang damit sind die - allerdings spärlichen - Äußerungen über die Erzgebirgischen Dorfgeschichten zu sehen:


In diesen Dorfgeschichten wies ich regelmäßig nach, daß Gott nicht mit sich spotten läßt, sondern genau so straft, wie man sündigt (S. 115). Ich gab allem, was ich damals schrieb, besonders meinen Dorfgeschichten, eine ethische, eine streng gesetzliche, eine königstreue Tendenz. Das tat ich, nicht nur andern sondern auch mir selbst zur Stütze (. . .) Ich bin aus der Heimat fort, um mich zu retten, kein Mensch wußte, wohin, doch es zog mich wieder und immer wieder zurück (S. 118). Ich nahm mir vor, zunächst noch weiter an meinen Humoresken und erzgebirgischen Dorfgeschichten zu schreiben, um der deutschen Leserwelt bekannt zu werden und ihr zu zeigen, daß ich mich absolut nur auf gottesgläubigem Boden bewege (S. 139).


Während May in der Selbstbiographie die Dorfgeschichten kaum erwähnt und meint, sie bei der Betrachtung seiner Werke übergehen zu können30, rechtfertigt er an anderer Stelle sein Frühwerk31. Auch in der Eingabe zum »Stollberg-Fall« führt May die Erzgebirgischen Dorfgeschichten zum Beweis an, er stehe auf dem festen Boden des göttlichen und staatlichen Gesetzes, sie seien geschrieben, um Frömmigkeit und Patriotismus zu verbreiten; er spricht auch von meinen so viel gelesenen ›Geschichten aus dem Erzgebirge‹.32


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   Das Zusammenwirken biographischer und sozialer Faktoren (Jugend, Heimatbezogenheit, soziales Milieu, Gefängnis) mit den literarischen und pädagogischen Intentionen Mays (literaturpädagogische Reflexionen) bestimmt - wie die Zitate zeigen - Mays eigentümliche Stellung zur Dorfgeschichten-Erzähltradition. Vom erziehenden Einfluß der Literatur überzeugt, schreibt er als Volkserzähler Geschichten, die in der Heimat spielen und in denen das Gute siegt.33 Dabei werden - bewußt oder unbewußt - die von Auerbach entdeckten Möglichkeiten volkstümlichen Erzählens zwischen anschaulicher Belehrung und spannender Unterhaltung genutzt. Rückblickend erläutert May im Vorwort zur ersten Buchausgabe eines Teils seiner Dorfgeschichten sein Verfahren34:


Komm, lieber Leser, komm! Ich führe Dich hinauf in das Gebirge. Du kannst getrost im Geiste mit mir gehen. Der Weg ist mir seit langer Zeit bekannt.

Ich baute ihn vor nun fast dreissig Jahren, und Viele, Viele kamen, die meine Berge kennen lernen wollten, doch leider nur, um sich zu unterhalten! Dass es auch Höhen giebt, in denen man nach geistgem Erze schürft, das sahen sie bei offnen Augen nicht, und darum ist es unentdeckt geblieben.

Ich führte sie dann einen anderen Weg . . . Wer das ihm Nahe nicht verstehen will, den muß man klüglich in die Ferne leiten, wenn auch auf die Gefahr, dabei verkannt zu werden!


Der letzte Satz erinnert an Auerbachs sprichwörtliche Maxime: »Wer nicht hinauskommt, kommt nicht heim« und die Begründung »Das Volk liebt es nicht, sich seine eigenen Zustände wieder vorgeführt zu sehen (. . .). Erst wenn (. . .) höhere Beziehungen in dem alltäglich Gewohnten aufgeschlossen werden, lernt man das Alte und Heimische neu lieben«35. Während in den Reiseerzählungen die unmittelbar greifbare Wirklichkeit in abenteuerliche Bilder der Ferne entrückt und im Spätwerk symbolisch aufgehoben wird, erkennen wir in Mays Frühwerk den Versuch, die konkrete menschliche und soziale Wirklichkeit so darzustellen, daß »höhere Beziehungen in dem alltäglich Gewohnten« durchscheinen, so z.B. der - auch biographisch gestützte - Gerechtigkeitsgedanke. In der Selbstbiographie geht May auf die Bedürfnisse des Lesers ein, die der Jugend- und Volksschriftsteller zu berücksichtigen habe36:


Darum weiß ich, daß man dem Volke und der Jugend keine Tugendmusterbücher in die Hand geben darf, weil es eben keinen Menschen gibt, der ein Tugendmuster ist. Der Leser will Wahrheit, will Natur. (. . .) Die Aufgabe des Jugendschriftstellers besteht nicht darin, Gestalten zu schaffen, die in jeder Lage so überaus köstlich einwandfrei handeln, daß man sie unbedingt überdrüssig wird, sondern seine größte Kunst besteht darin, daß er von seinen Figuren getrost die Fehler und Dummheiten machen läßt, vor denen er die jugendlichen Leser bewahren will. Es ist tausendmal besser, er läßt seine Romanfiguren zugrunde gehen, als daß der ergrimmte Knabe hingeht, um das Böse, das



nicht geschah, obgleich es der Wahrheit nach geschehen mußte, nun seinerseits aus dem Buche in das Leben zu übertragen. Hier liegt die Achse, um die sich unsere Jugend- und Volksliteratur zu drehen hat. Musterknaben und Mustermenschen sind schlechte Vorbilder; sie stoßen ab. Man zeige Negatives, aber lebenswahr und packend, so wird man Positives erreichen.


Der hier angedeutete Weg findet seine literarische Gestaltung in den Erzgebirgischen Dorfgeschichten. Mays Redakteurstätigkeit und die Gründung zweier neuer Wochenblätter unterstreichen die literaturpädagogische Intention seines Frühwerks. Für die Dorfgeschichten sind dabei insbesondere die Betrachtung Stadt und Land aus den Geographischen Predigten und das Bekanntwerden mit den ›Erzgebirgischen Geschichten‹ des Elfried von Taura bedeutsam.37 In Stadt und Land greift May eine zentrale Dorfgeschichten-Thematik in betrachtender Form auf, den Gegensatz von Stadtleben und Landleben. Die anschauliche, belehrende und unterhaltende Form verbindet diese »geographische Predigt« mit den frühen Erzählungen, die zur gleichen Zeit entstanden. Eine weitere Anregung für Thematik, Schauplatz, Figuren (erzgebirgisches Milieu) usw. der Erzgebirgischen Dorfgeschichten sind vermutlich die im Titel fast gleichen Erzählungen Elfried von Tauras (d. i. August Peters, 1817-1864) gewesen, die vor allem die soziale Thematik betonen, einen - auch dem Erzähltyp Dorfgeschichte eigenen - Stil der integrierten pädagogischen und moralischen Tendenz aufweisen und überwiegend traurig und tragisch, also nicht wie bei May mit dem Sieg des Guten enden.38

   Wenn auch Kühne eine Verwandtschaft zwischen den Erzählungen von Tauras und Mays leugnet39, scheinen doch beide in einer gemeinsamen Erzähltradition zu stehen, die einen landschaftlich getönten, sozial- und milieubezogenen Erzähltyp hervorbringt. Inwiefern dabei wegen des oft sehr verdeckten bäuerlichen Milieus noch von »Dorfgeschichte« gesprochen werden kann, müssen Einzelanalysen vor dem Hintergrund der Dorfgeschichten-Definition und der spezifischen Erzählweise Mays zeigen. In jedem Fall scheint ein Ansatz zu eng gefaßt, der in den Erzgebirgischen Dorfgeschichten nur »Vorstufen und Vorstudien für das spätere Hauptschaffen des Dichters« sieht, gleichzeitig aber die »größere Fertigkeit« des Erzählens gegenüber den Reiseerzählungen in der Urform und »Formwillen und die Fähigkeit zu knapper novellistischer Bewältigung der Themen« betont.40 Dieser Widerspruch löst sich dann vielleicht auf, wenn man, was schon Winfried Johannes Weber forderte, »May und sein Werk einmal im Zusammenhang mit den Büchern der Volksschriftsteller« betrachtet41, in unserem Fall mit den Dorfgeschichten-Schreibern.



   Geht man von den von Altvater genannten Voraussetzungen für einen Dorfgeschichten-Schreiber aus - die Herkunft aus dem Dorf, das Heimweh-Erlebnis der Fremde, die Nähe zum Lehrberuf42 -, so treffen diese auch auf May zu. Andererseits gibt es keinen Beleg dafür, daß er sich im Sinne der Tradition als Dorfgeschichten-Schreiber aufgefaßt hat. Die Tatsache, daß May in seiner Selbstbiographie kaum auf seine Dorfgeschichten eingeht, hat wohl auch die spätere Kritik dazu verführt, dem Frühwerk weniger Beachtung zu schenken und es nur vor dem Hintergrund der Reiseerzählungen zu betrachten. Eine skizzenhafte Analyse der Erzgebirgischen Dorfgeschichten im Hinblick auf das Gattungsmuster des Erzähltyps Dorfgeschichte soll den Blick für eine neue Betrachtung des Frühwerks öffnen.


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Der Erzähltyp Dorfgeschichte scheint auf vierzehn Erzählungen zuzutreffen, die bis auf zwei Ausnahmen zwischen 1874 und 1880 entstanden und in namhaften Wochenblättern, Volkskalendern usw. erschienen sind;43 auch diese Art der Verbreitung entspricht der Tradition. Es handelt sich um die Erzählungen


Das Gewissen (um 1873/74?) (Bd. 72; Rache oder Das erwachte Gewissen)
Der »Samiel« (1877) (Bd. 43)
Der Dukatenhof (1877) (Bd. 44; F)
Der Bonapartenschuster (1878) (Bd. 43) (Der Kaiserbauer)
Der Teufelsbauer (1878) (Bd. 43; F; W) (Der Einsiedel)
Der Herrgottsengel (1878) (Bd. 44; W) (Der Klapperbein)
Des Kindes Ruf (1879) (Bd. 43; F; W)
Der Waldkönig (1879) (Bd. 44; F) (Der Waldschwarze; Vergeltung u.a. Titel)
Der Gichtmüller (1879) (Bd. 43; W) (Der Geldmarder)
Der Giftheiner (1879) (Bd. 43)
Die Rose von Ernstthal (1880) (Bd. 43)
Der Grenzmeister (1880) (Bd. 43) (Im Sonnentau)
Sonnenscheinchen (1903) (Bd. 43; F)
Das Geldmännle (1903) (Bd. 44; F)


Bei der Betrachtung im Rahmen des Themas geht es nicht um Quellenstudien, Vergleiche, ausführliche Untersuchungen zu Sprache und Stil, sondern lediglich um den Versuch eines Nachweises, daß Karl Mays Frühwerk - vermutlich mehr unbewußt - in Thematik und volkstümlicher Schreibweise in der Tradition der Dorfgeschichte steht.

   ›Das Gewissen‹. Diese frühe, anonym überlieferte Erzählung wird aus thematischen und stilistischen Gründen May zugeschrieben (vgl. Nachbemerkung der Redaktion). Sie enthält bereits die wesentlichen



Grundmotive der Erzgebirgischen Dorfgeschichten: die sich aus dem Verhältnis von Liebe, Leidenschaft, Ehre und Besitz ergebenden Spannungen im dörflichen Bereich, die zu verbrecherischen Handlungen und zu gerechter Bestrafung der Schuldigen führen. Die Landschaft wird - allerdings meist als Kulisse - im Wechsel der Jahreszeiten gezeigt. Der bäuerliche Erfahrungsbereich ist weitgehend zugunsten der Liebes- und Rachethematik zurückgedrängt. Die Figurenzeichnung folgt der Schwarz-Weiß-Manier: Grunert und der Waldbauer werben um dasselbe Mädchen; der Gute erhält sie zur Frau, der Böse (Waldbauer) begeht aus Rache Brandstiftung und vernichtet später Grunerts und seines Schwagers - eines Wilderers aus Not - Existenz: »Ha, der Bruder im Arbeitshaus und der Mann auf der Gasse! Sie sollen sehen, was für ein Unterschied ist zwischen diesen Lumpen und dem reichen Waldbauern, den sie nicht gemocht hat!« (Bd. 72, S. 16). Er erwischt beide beim Wildern und bringt sie ins Gefängnis. Nach dem Abbüßen der Strafe bleibt Grunert ehrenhaft, während sein Schwager beim Waldbauern Brandstiftung begeht und diesen als Täter verdächtigt (Versicherungsschwindel). Erst bei der Gerichtsverhandlung plagt alle das »Gewissen«; die früheren Bosheiten des Waldbauern kommen auf, und die Gerechtigkeit siegt. Im Hinblick auf die Motivgruppen der Dorfgeschichte finden wir hier vor allem das Motiv der »Laster- und Triebleidenschaften der Bauern« gestaltet; die erzieherisch-moralische Tendenz kommt unterstützend hinzu. Das Handlungsschema kann geradezu als Muster für die nachfolgenden Erzählungen gelten.

   ›Der »Samiel«‹. Das Motiv der Rache aus verschmähter Liebe beherrscht auch diese Erzählung. Weil ihr früherer Geliebter Hermann um die Tochter des Försters wirbt, wird die reiche Wiesenbäuerin zum Wilddieb »Samiel«, der im Revier des Försters Unheil stiftet und sich am Ende mit den für Hermann und den Förster gedachten Kugeln selbst richtet. Auch hier fehlt die Thematik des bäuerlichen Erfahrungsbereiches; die durch Besitz und Ehrgeiz genährte Triebleidenschaft dominiert. In der Erzählweise ist die Nähe zu den Dorfgeschichten unverkennbar.

   ›Der Dukatenhof‹. Das bei May häufig auftauchende Motiv der bösen Tat, die sich am Ende gegen den Täter selbst wendet, bildet den Rahmen für diese Erzählung, die am Schluß durch das Eingreifen des Königs neben der moralisierenden noch eine patriotische Tendenz erhält. Die Zwischenüberschriften ›Ein Gottesgericht‹ und ›Gesühnte Schuld‹ unterstreichen die Schuldthematik. Wieder geht es um Liebe, Leidenschaft, Reichtum und Verbrechen. Franz und der Dukatenbau-



er kämpfen um dieselbe Frau (Anna), die Tochter eines Grenzoffiziers. Dieser wird aus Versehen vom Dukatenbauern im Wald erschossen; der Schuß war eigentlich für den Nebenbuhler bestimmt. Nach einem weiteren Mordversuch, der Franz zum Krüppel macht, heiratet der Dukatenbauer Anna, gerät aber, weil diese ihn nicht liebt und aus Spielleidenschaft, auf die schiefe Bahn, verspielt Haus und Hof. Am Ende gelingt es Franz und seinem Patenkind Wilhelm, den Dukatenbauern als Schmugglerfürsten zu entlarven. Dieser erleidet bei einem Mordversuch an Wilhelm dasselbe Schicksal, das er einst Franz bereitete. Als Krüppel sühnt er für seine Schuld und ist für die Versöhnung mit Franz geläutert. Franz kauft den verschuldeten Dukatenhof zurück; Wilhelm heiratet die Tochter des Dukatenbauern (»Du bist ein tüchtiger Bauer! das ist besser als Soldat ...«, Fehsenfeld, S. 209). Motive, Landschaftsbezug und Erzählweise entsprechen dem Erzähltyp Dorfgeschichte, doch tritt auch hier das Motiv des Verbrechens dominierend in den Vordergrund, wenn auch gebunden an die Hofbesitz- und Hoferhaltungs-Thematik. Die Schilderung der Schauplätze (z. B. »Mordloch«, Friedhof) gibt vielen Erzählpartien einen Zug ins Schaurige. Auch dies liegt an der Mischung des Erzähltyps Dorfgeschichte mit dem kriminalistischen Erzählschema.44 Erzeugung von Spannung und »Aufklärung« bedingen sich gegenseitig.

   ›Der Bonapartenschuster‹. Das Motiv des unrechtmäßigen Besitzes steht im Mittelpunkt der Handlung. Armut und Zufriedenheit in der Gestalt des Schusters stehen Reichtum und Habgier des Kaiserbauern gegenüber. Sein Reichtum gründet sich auf die Unterschlagung dessen, was dem Schuster rechtmäßig gehört. Durch das Motiv der ungleich begüterten Liebenden (Berta und Albert) wird eine Handlung in Gang gesetzt, die das Ausgangsverhältnis umkehrt. Die Gerechtigkeit siegt; der Schuster und sein Sohn werden reich, während der Kaiserbauer seinen Hof verliert. Anders als er, geht es aber dem Schuster nicht um das Geld, sondern um ein glückliches und zufriedenes Leben. Er versöhnt sich am Ende mit dem Kaiserbauern, der erst jetzt erkannte, worin der wahre Reichtum besteht (Bd. 43, 195). Die Motive und der moralische Gehalt passen zur Dorfgeschichte, wenn auch die bäuerliche Thematik kaum akzentuiert ist.

   ›Der Teufelsbauer‹. Wie in den anderen Erzählungen wird hier das Motiv der Liebe zweier Bauern zu einem Mädchen mit der Verbrechensthematik verbunden. Der Tannenbauer steht unter dem Verdacht, seinen Rivalen, den Bruder des Wiesenbauern, ermordet zu haben. Überdies wird ihm ein Pakt mit dem Teufel nachgesagt. So wird



er zum Außenseiter der Dorfgemeinde. Seine bäuerliche Sachkenntnis (Heilung kranken Viehs, Übersicht bei der Ernte) und Hilfsbereitschaft (Feuer im Wiesenhof, Rettung der Wiesenbäuerin) führen dazu, daß der Wiesenbauer und mit ihm die ganze Dorfgemeinde die Untadeligkeit des Tannenbauern erkennt. Die Liebe der Kinder aus den verfeindeten Höfen bereitet die Versöhnung der »Alten« vor. Damit sind mehrere Motivgruppen der Dorfgeschichte nachgewiesen.

   ›Der Herrgottsengel‹. Hier treten Verbrechensthematik und Kriminalschema in den Vordergrund. Der realistische Gehalt wird zugunsten einer Schauerromantik (Friedhofsatmosphäre) aufgegeben. Lediglich das Motiv bäuerlicher Habgier erinnert an die übrigen Dorfgeschichten. Das Ende des Schuldigen durch »höhere Gewalt« - ein bei May immer wiederkehrendes Motiv - ist höchstens für die Dorfgeschichten Mays spezifisch.

   ›Des Kindes Ruf‹. Betrug und Verbrechen aus Habgier und Leidenschaft (Nebenbuhler-Motiv) werden durch echte Liebe und Gerechtigkeitssinn aufgedeckt und besiegt. Eine spannende, kriminalistische Handlung wird in bäuerliche Landschaft und bäuerliches Leben eingebettet, von denen aus die verschiedenen Motive einsichtig werden. Viele realistische Details (Dorfschule, Gefängnis), der ethische Grundzug und die familiäre Bindung (Lindenbäuerin - Fährmann - Paul) entsprechen dem Erzähltyp Dorfgeschichte.

   ›Der Waldkönig‹. Hauptmotiv ist die Schmuggelei in Verbindung mit unmenschlichen Verbrechen (Blendung des Bachbauern und Ermordung eines seiner Söhne). Die Gründe liegen wieder in der Liebe zweier Rivalen (Bachbauer - Feldbauer) zum selben Mädchen. Die wahre Liebe führt zur Aufklärung des Verbrechens (Waldbauersohn Frieder - Feldbauertochter Martha). Der Feldbauer wird als »Waldkönig« entlarvt, er entgeht der gesetzlichen Bestrafung durch tödlichen Absturz. Insgesamt ist die Erzählung eher eine Kriminal- als eine Dorfgeschichte, doch gibt es einige Details, die sie mit der Dorfgeschichte verbindet, vor allem das Stadt-Land-Motiv in Verbindung mit dem Heimatgefühl (z. B. in dem Dialekt und Hochsprache sprechenden Frieder, der als gelehrter Kopf aus der Stadt zurückkehrt: »Der Bachhof steht mir höher als die Gelehrsamkeit, denn er ist ja meine Heimat, und die hält man hoch!« (Fehsenfeld, S. 246).

   ›Der Gichtmüller‹. Auch bei dieser Erzählung handelt es sich eher um eine Kriminalgeschichte, in der die Aufklärung eines Verbrechens geschildert wird. Der Gichtmüller wird von seinem eigenen Sohn als »Geldmarder« entlarvt; er stirbt bei einem Einbruchsversuch beim Grundmüller. Die Versöhnung zwischen Gichtmüller-Sohn und



Grundmüller spielt zwar auf das Motiv der rivalisierenden Müller an, doch überwiegt insgesamt das Kriminalschema zu sehr, um von einer Dorfgeschichte sprechen zu können.

   ›Der Giftheiner‹. Ähnlich wie im ›Teufelsbauer‹ wird ein Mensch zu Unrecht einer Tat beschuldigt; wieder kämpfen zwei Rivalen um dasselbe Mädchen, dessen Vater als Unschuldiger einem Säureanschlag zum Opfer fällt. Der Täter schiebt die Schuld seinem Nebenbuhler zu, dem er den Anschlag zugedacht hatte. Erst ein weiterer Anschlag, dessen Opfer er selbst wird, entlarvt den Verbrecher und beweist die Unschuld des Verstoßenen, der sich mit der Dorfgemeinschaft versöhnt. Die breiten Naturschilderungen (Vogelfänger-Thematik), der als Stilmittel angewandte Dialekt und die eingestreuten Lieder und Gedichte entsprechen dem Erzähltyp Dorfgeschichte. Die Verbindung zwischen Verbrechensthematik und bäuerlicher Lebenserfahrung ist gelungen.

   ›Die Rose von Ernstthal‹. In dieser Geschichte weist nichts auf den bäuerlichen Erfahrungsraum und das Landleben hin; sie spielt fast ausschließlich im bürgerlichen und militärischen Leben einer Garnisonstadt und ist mit historischen Reminiszenzen durchsetzt.

   ›Der Grenzmeister‹. Hauptthema ist der Schmuggel; die Grundmotive entsprechen den anderen Erzählungen (Nebenbuhler, Blendung, Aufklärung der Verbrechen, Versöhnung feindlicher Häuser durch die Liebe der Kinder, gerechte Strafe: »Siehst, Heiner, es gibt einen Gott, der geradeso straft, wie man sündigt! Er (der Rivale) hat mich geblendet und ist durch mich wiedergeblendet worden . . . er hat dich in den Bruch stürzen wollen und liegt nun selber tot darin.« (Bd. 43, 113). Geht man davon aus, daß Wilderei und Schmuggel zum erweiterten Motivkreis der Dorfgeschichte gehören können, dürfte diese neben anderen Erzählungen dem Typ zuzurechnen sein.

   ›Sonnenscheinchen‹. Diese wie auch die folgende Erzählung hat May erst rund dreißig Jahre später im Stile der früheren Geschichten geschrieben (vgl. zitiertes ›Vorwort‹). Sie erfüllt vom Inhalt her die Wesensmerkmale einer Dorfgeschichte. Erzählt wird von einem heruntergewirtschafteten Pachthof, der von seinem Besitzer einem neuen Pächter gegeben wird, der ehemals Knecht auf dem Pachthof war. Alter und neuer Pächter sind Rivalen (Nebenbuhler-Motiv). Das Amerika-Motiv (der frühere Pächter erhält die Chance, in Amerika eine neue Existenz aufzubauen, und wird nicht vor Gericht gestellt), die Stadt-Land-Thematik und das Motiv der Kinder als Vermittler, die die Versöhnung einleiten, entsprechen dem skizzierten Typ. Der alte Pächter verspielt sein Heimatrecht in der Dorfgemeinde durch die



mangelnde Bewirtschaftung des Hofes und den Mordversuch an seinem ehemaligen Knecht, der sich - obwohl längst sein eigener Herr - für den heruntergekommenen Besitz des Majors verantwortlich fühlt. Auch dies unterstützt zusammen mit der Schilderung des bäuerlichen Lebens, der Figurenzeichnung und dem volkstümlichen Stil das dorfgeschichtliche Element.

   ›Das Geldmännle‹. Von Bauern ist hier keine Rede mehr; statt dessen werden unter sozialkritischer Perspektive die Armut der Weber und die Ausbeutungsversuche gerissener Geschäftemacher geschildert. Im Vordergrund steht die Entlarvung eines verbrecherischen Falschmünzers. Eigentliche Dorfgeschichtenthematik ist nicht gestaltet, wenngleich die sozialkritischen Motive einen Zusammenhang andeuten. - Das Zurücktreten der bäuerlichen Thematik hängt mit der anderen Agrar- und Sozialstruktur im Erzgebirge zusammen.


5


Die kurze Übersicht inhaltlicher Akzentuierungen hat deutlich gemacht, daß einerseits einige Erzählungen durchaus im Zusammenhang der Dorfgeschichten-Tradition zu sehen sind, daß aber andererseits die schon von Forst-Battaglia herausgestellte Entwicklung zur Kriminalgeschichte zu beobachten ist45:

   »Mit den Dorferzählungen verhält es sich um einige Grade besser [als mit den Humoresken]. Zwar ist auch bei ihnen die Handlung grobkörnig, dick aufgetragen, bar jedes Ansatzes einer Psychologie der Gestalten, die jeweils eine Marionette der volkstümlichen Bühne verkörpern. . . Hin und wieder blitzen allerdings Funken auf. Zumal, wenn die engere Heimat Mays den Schauplatz darstellt . . . rankt sich die Handlung um ein Verbrechen, um dessen schrittweise Aufdeckung und schließlich Sühne. Es sind also, im weiteren Sinne, Kriminalgeschichten, bei denen Schmuggel, Kindesraub im Vordergrund stehen, was prächtig zur Mengnis aus Schundroman und Heimaterzählung paßt.«

   An anderer Stelle schreibt er: »Ich wüßte keine bessere Lektüre für Volk und Jugend als . . . manche Erzgebirgische Dorfgeschichten«.46 Die durchsichtige Handlungsführung und die auch dem »einfachen Volk« verständliche Schreibweise des Volksschriftstellers verbindet sich bei May mit der spannenden kriminalistischen Thematik in bäuerlicher oder zumindest heimatlich-landschaftsbezogener Umgebung zur Veranschaulichung der abstrakten Begriffe Recht, Gerechtigkeit, Strafe usw.47



   Dementsprechend ist auch die Figurengestaltung. Die Helden in den Erzgebirgischen Dorfgeschichten zeichnen sich durch Tapferkeit, Großmut, Würde und Stolz aus; die Haupteigenschaften der Gegenspieler sind Eitelkeit, Feigheit, Habsucht, Grausamkeit und Hinterlist. In der Darstellung der Personen zeigt sich das dualistische Weltbild der Volks- und Massenlesestoffe. Während der Held allein gute Eigenschaften besitzt, weist der Gegenspieler nur negative Züge auf, für ihn gibt es nur einen Wert, den materiellen Besitz. Durch seine Habgier angetrieben, schreckt er vor keinem Verbrechen zurück. Das Leben anderer Menschen zählt nicht. In der Reihe der Helden und ihrer Gegenspieler läßt sich kein »Charakter« entdecken, die Figuren handeln typenhaft im Sinne der Gut-Böse-Schematik. Als Sieger geht aus allen Geschichten die Gerechtigkeit hervor. Auch der Ausgang des Kampfes zwischen Held und Gegenspieler mit der Bestrafung des Schurken bestätigt den schematischen Ablauf.

   Karl May vermeidet vielfach in seinen Geschichten, den Verbrecher vor ein ordentliches Gericht zu stellen (nur in ›Die Rose von Ernstthal‹, ›Der Giftheiner‹ und ›Des Kindes Ruf‹). In vielen Fällen kommt es zu einer Versöhnung zwischen den beiden Parteien, wenn es dem Helden gelingt, die Verbrechen seines Gegners zu erklären und zu verzeihen. Er kann die Verbrechen noch in die Reihe menschlicher Schwächen einordnen und ihnen damit ihre Bösartigkeit nehmen. Der Verbrecher wird in die Gemeinschaft seiner Mitmenschen wieder aufgenommen (vgl. ›Der Dukatenhof‹). Sind die Verbrechen aber derart schwerwiegend, daß der Schuldige nicht mehr in die Gemeinschaft integriert werden kann, so erfolgt seine Bestrafung durch »höhere Gewalt« (vgl. ›Der Grenzmeister‹, ›Der Herrgottsengel‹, ›Der Waldkönig‹), wobei die Bestrafung meist am Tatort und oft auf die gleiche Art erfolgt, wie der Verbrecher zuvor sein Opfer vernichtet hat.

   Auch bei den Frauengestalten tritt das dualistische Prinzip in den Vordergrund. Dem Helden entspricht eine weibliche Figur, die durch Weisheit, Güte, Tapferkeit, Reinheit und Mütterlichkeit ausgezeichnet ist, während die Gegenspielerin eitel, schlampig, habgierig und grausam ist (z.B. die Frau des Fährmanns in ›Des Kindes Ruf‹, Rosalia in ›Das Geldmännle‹48). Mit Ausnahme des Herzle in ›Das Geldmännle‹ nehmen die Frauen eine untergeordnete Position ein. Wir finden den Typ der »guten Seele« in der Gefährtin oder Mutter des Helden (z.B. Berta in ›Der Bonapartenschuster‹, Emma in ›Der Dukatenhof‹); diese Figuren tragen nicht wesentlich zum Handlungsgeschehen bei, da der Held seine Entscheidungen immer allein trifft (vgl. Martha in



›Der Waldkönig‹, die für ihren Stiefvater bittet, aber Frieder entscheidet später anders49).

    Gertrud Oel-Willenborg hat in ihrer Inhaltsanalyse zu den Reiseromanen Karl Mays die Aktivitäten, Normen und Werte der handelnden Personen untersucht und dabei eine Normenhierarchie aufgestellt, die zum Teil auch für die handelnden Personen in den ›Erzgebirgischen Dorfgeschichten‹ gilt.50 Es sind insbesondere folgende Normen, nach denen die Helden handeln: Achtung vor dem Leben; Strafe bzw. »Gerechtigkeit«; Menschlichkeit, Christlichkeit und Nächstenliebe; Wahrhaftigkeit; Selbstdisziplin; Vorurteilslosigkeit. Eine besondere Rolle spielt dabei die Strafnorm - »Personen, die des Raubes, Mordes oder Diebstahls verdächtig bzw. schuldig sind, sollten verfolgt bzw. bestraft werden«51 -, die oft in den Konflikt mit der Norm »Achtung vor dem Leben« gerät. Hier erfolgt dann vielfach als Ausweg die dem Verbrechen angemessene Bestrafung durch das »Schicksal«, durch »höhere Gewalt«.

   Die Untersuchung der Figurengestaltung und der Handlungsnormen bestätigt im wesentlichen die Feststellung: »Alles ist einfach und überschaubar. Das verschachtelte Gefüge sozialer Schichtung sowie das Unwägbare der menschlichen Individualität werden reduziert auf die plausible Zweiteilung der Hauptpersonen in Gut und Böse, Helden und Schurken, Freunde und Feinde«.52 Im Unterschied zu den Romanhelden, die in der Ferne auf abenteuerliche Weise für Recht und Ordnung sorgen, finden die Helden der Erzgebirgischen Dorfgeschichten das Abenteuer in der Heimat, in der bürgerlichen Gesellschaft selbst, mag sie auch noch so vereinfacht und klischeehaft dargestellt sein. Überdies entsprechen die Romaninhalte bestimmten typischen Verhaltensmustern und Wertvorstellungen der Epoche zwischen 1871 und 1933.53 Dies gilt auch für die Erzgebirgischen Dorfgeschichten, die in einem zweifachen Begründungszusammenhang zu sehen sind.

   Zum einen gehören sie in Thematik, Figurenaufbau und Schreibweise der Dorfgeschichte in ihren letzten - schon entleerten - Ausläufern an. Das in Dorfgeschichten häufig zu findende Motiv des Verbrechens und krimineller Handlungen wird bei May dominierend und verdrängt die bäuerliche Thematik fast ganz. Die Übergänge zwischen Dorfgeschichte und Kriminalgeschichte werden fließend. Mays Erzgebirgische Dorfgeschichten rücken - das ist der andere Aspekt - in die Nähe der »sendungsbewußten Trivialliteratur«54. May will den Leser hinauf in das Gebirge führen55; Schwerte: »Das Hochgebirge, mit Hochtälern, Hochwäldern, gehört als erstarrte Formel zu den beliebtesten



Geländen der Trivialliteratur. Hochland provoziert das rechte Leben; Hochland provoziert gesunde Literatur.«56 Dort herrscht noch das Edle und Gute, auch wenn ihm immer wieder mit Gewalt zum Sieg über das Böse verholfen werden muß. Mays Dorfgeschichten stehen an der Schwelle zwischen den Ausläufern der Dorfgeschichten-Tradition und dem Beginn einer Ideologisierung der Heimat- und Trivialliteratur.57 Vermutlich hat May, wie folgendes Zitat belegt, diese zwielichtige Position des Volksschriftstellers erkannt: Schreiben wir nicht wie die Langweiligen, die man nicht liest, sondern schreiben wir wie die Schundschriftsteller, die es verstehen, Hunderttausende und Millionen Abonnenten zu machen! Aber unsere Sujets sollen edel sein, so edel, wie unsere Zwecke und Ziele.58

   Er versuchte durch ein Anknüpfen an Themen und Schreibweisen der Unterhaltungs-und Trivialliteratur den Leser bildend und erziehend nach »oben« zu führen und mußte damit in Kauf nehmen, als Schundschriftsteller disqualifiziert zu werden.



1Zur literaturpädagogischen und literatursoziologischen Forschung vgl. vor allem Heinz Stolte, Der Volksschriftsteller Karl May, Beitrag zur literarischen Volkskunde, Diss. Jena 1936; - Ingrid Bröning, Die Reiseerzählungen Karl Mays als literaturpädagogisches Problem, Ratingen 1973; - Gertrud Oel-Willenborg, Von deutschen Helden, Eine Inhaltsanalyse der Karl-May-Romane, Weinheim und Basel 1973, sowie die in den ›Mitteilungen‹ und ›Jahrbüchern‹ der Karl-May-Gesellschaft widergespiegelte Diskussion.
2Bulletin Jugend und Literatur, Heft 12, 1974, S. 17.
3Vgl. hierzu Ina-Maria Greverus, Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen, Frankfurt/M. 1972; Peter Mettenleiter, Destruktion der Heimatdichtung, Tübingen 1974; Hermann Kinder, Poesie als Synthese, Ausbreitung eines deutschen Realismus-Verständnisses in der Mitte des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1973; Klaus Bergmann, Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, Meisenheim a.G. 1970.
4Zum Erzähltyp »Dorfgeschichte« vgl.: Robert Hallgarten, Die Anfänge der Schweizer Dorfgeschichte, Diss. München 1906; Erwin Rüd, Die deutsche Dorfgeschichte bis auf Auerbach, Diss. Tübingen 1909; Friedrich Altvater, Wesen und Form der deutschen Dorfgeschichte im neunzehnten Jahrhundert, Berlin 1930 (Nachdruck 1967); Erich Trunz, Bauerntum und Dichtung, in: Hochschule und Ausland 14 (1936), 506-522, 631-647, 720-734, 790-800; Rudolf Zellweger, Les débuts du roman rustique, Suisse - Allemagne - France 1836-1856, Paris 1941.
5Vgl. Friedrich Sengle, Biedermeierzeit, Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution, 1815-1848, Bd. 1, Stuttgart 1971.
6Sengle, Biedermeierzeit, a.a.O. 134.
7Es empfiehlt sich, den Realismus-Begriff zu differenzieren, je nachdem, ob mehr eine werk- oder wirkungsästhetische Intention zu beobachten ist. Im ersten Fall handelt es sich entweder um einen Fakten- oder Detailrealismus oder um eine Wirklichkeitsbeziehung im Kunstwerk, im anderen Fall ist mehr an ein Erlebnis von Realität beim Rezipienten gedacht.
8Sengle, Biedermeierzeit, a.a.O. 127.



9Vgl. die Titel in der Bibliographie bei Altvater (vgl. Anm. 4), S.5-8, der Karl May nicht erwähnt. Vgl. jetzt Verf., Dorfgeschichte (›Sammlung Metzler‹).
10Zu Keller vgl.: Verf., Gottfried Keller, Romeo und Julia auf dem Dorfe, Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart 1971, S.27 ff., - zu Stifter, Anzengruber und der österreichischen Dorfgeschichte vgl. Rudolf Latzke, Die literarische Tradition der Dorfgeschichte, in: R. L., Anzengruber als Erzähler, Bd. 15, 1 der Sämtlichen Werke Anzengrubers, Wien 1922, S. 436-491, und Verf., Adalbert Stifter und die »Dorfgeschichte« des 19. Jahrhunderts, in: Vierteljahresschrift des A.-Stifter-Instituts 21 (1972) S. 23-31.
11Vgl. Verf., Die »absurde Bauern-Verhimmlung unserer Tage«, Friedrich Hebbel und die Dorfgeschichte des 19. Jahrhunderts, in: Hebbel-Jb 1974, 102-125.
12Der folgende Überblick nach Altvater (vgl. Anm. 4), 13 ff.
13Robert Petsch, zit. nach Altvater, a.a.O. 23.
14»Stoff« soll hier verstanden werden als »Verfestigung individueller oder gesellschaftlicher Konflikte«.
15Zur Dorf- und Schloßgeschichte vgl. Altvater, S. 14, zum »Kriminalschema« vgl. Rainer Schönhaar, Novelle und Kriminalschema, Ein Strukturmodell deutscher Erzählkunst um 1800, Bad Homburg [...] 1969, und Edgar Marsch, Die Kriminalerzählung, München 1972.
16Berthold Auerbach, Schrift und Volk, Grundzüge der volkstümlichen Literatur, Leipzig 1846; - vgl. Verf., Berthold Auerbach, Ein Literaturpädagoge des 19. Jahrhunderts, in: Beiträge zur Didaktik und Erziehungswissenschaft, Paderborn 1971, S. 189-202.
17Vgl. Rudolf Schenda, Volk ohne Buch, Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910, Frankfurt/M. 1970, 160 und das Kapitel ›Autoren - ihre Ideale, ihre Wirkung, ihr Milieu‹
18Auerbach, Schrift und Volk (Gesammelte Schriften Bd. 20, 1858), 120 f.
19Ebd., 154, l00, 167 (Reihenfolge der Zitate)
20Berthold Auerbach, Briefe an seinen Freund Jakob Auerbach, Bd.1, Frankfurt/M. 1884, 145
21Auerbach, Schrift und Volk, 18 ff.
22Auerbach war nach Schendas Untersuchungen (vgl. Anm. 17) einer der meistgelesenen Autoren der Volksschriftvereine. Vgl. auch Anm. 27.
23Altvater (vgl. Anm. 4), a.a.O. 130
24Zum Realismus-Verständnis Auerbachs vgl. Kinder und Mettenleiter (vgl. Anm.3)
25Alfred Schneider, ». . . unsere Seelen haben viel Gemeinsames!« Zum Verhältnis Peter Rosegger - Karl May, in: Jb-KMG 1975, 227-242, Zitat S. 228
26Klara May, Die Lieblingsschriftsteller Karl Mays, in: Jb-KMG 1970, 149
27Was soll ich lesen? Weihnachtsalmanach 1894, Äußerungen deutscher Männer und Frauen, hrsg. von Victor Ottmann, Berlin 1894, 63
28Karl May, ›Hinter den Mauern‹ und andere Fragmente aus der Haftzeit, in: Jb-KMG 1971, 132-143.
29Karl May, Mein Leben und Streben, Selbstbiographie, Bd. 1, Freiburg i.Br. 1910. Die Seitenangaben sind den Zitaten in Klammern beigefügt.
30Vgl. ›Mein Leben und Streben‹, a.a.O. 208
31Vgl. Karl May als Erzieher (. . .) (Freiburg i.Br. 1902), 14; Neudruck unter dem Titel ›Der dankbare Leser‹, Bruchsal 1974
32Vgl. Fritz Maschke, Karl May und Emma Pollmer, Die Geschichte einer Ehe, Bamberg 1973, 22, 28 und 152.
33Zu den literaturpädagogischen Intentionen vgl. Stolte und Bröning (vgl. Anm. 1).
34Vgl. den faksimilierten Text in den Mitt. der KMG 17 (1973), S. 15 und im Bd. 44 der Bamberger Ausgabe, 1974,474 f. - Das »Vorwort« erschien 1903 in der ersten Buchausgabe der Dorfgeschichten (Belletristischer Verlag, Dresden), in der Fehsenfeld-Ausgabe, Freiburg i.br. 1908, fehlt es.
35Auerbach, Schrift und Volk, 1846, 18 und 72.
36May, Mein Leben und Streben, a.a.O. 33 f.



37Karl May, Schacht und Hütte, Frühwerke aus der Redakteurzeit, Bamberg 1972 (Gesammelte Werke Bd. 72), ›Stadt und Land‹ 442-467. - Elfried von Taura Erzgebirgische Geschichten, 2 Bde., Hannover 1858; vgl. dazu Hartmut Kühne Karl May und E.v.T., in: Jb-KMG 1970, 198-220 (mit Inhaltsangaben und Stilvergleichen).
38Vgl. Kühne, a.a.O. 211, - auch die ›Erzgebirgischen Dorfgeschichten‹ von August Wildenhahn (Leipzig 1848/50) »können als Textquellen kaum angesehen werden«, S. 214
39Vgl. Kühne, a.a.O. 214.
40Vgl. Nachwort des Herausgebers (Roland Schmid) in Band 44 der Bamberger Ausgabe (1974 erschienen, Copyright 1971), 466 und 461.
41Winfried-Johannes Weber, Die deutschen Räuberromane und ihr Einwirken auf Karl May, Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Volkslesestoffes, Diss. masch. Berlin 1941, 168. Weber geht auf die Dorfgeschichten nicht ein.
42Altvater (vgl. Anm. 4), 70 f.
43Vgl. die Übersichten bei Hans Wollschläger, Karl May in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1965, 160ff. und in Bd. 44 der Bamberger Ausgabe, 462ff. (vgl. dazu auch Mitteilungen der KMG 23 (1975), S. 12). - Mir standen als Textgrundlagen zur Verfügung: ›Weltspiegel. Illustrierte Zeitschrift‹, Dresden 1878 und 1879 (Reprint der KMG; Sigle: »W«); - Karl May, Erzgebirgische Dorfgeschichten, Karl Mays Erstlingswerke, Bd.1 (mehr nicht erschienen), Freiburg i.Br. (Fehsenfeld) 1908 (Sigle: »F«), Karl May, Gesammelte Werke Bd. 43 ›Aus dunklem Tann‹ (124. Tsd.), Bamberg 1973 und Bd. 44 ›Der Waldschwarze und andere Erzählungen‹ (129. Tsd.), Bamberg 1974, beide hrsg. von Roland Schmid. - Für wertvolle Hinweise und Textgrundlagen habe ich Herrn Ekkehard Bartsch, Kulmbach, zu danken.
44Vgl. Schönhaar (vgl. Anm. 15) und Verf., Dorfgeschichte (›Sammlung Metzler‹).
45Otto Forst-Battaglia, Karl May, Traum eines Lebens - Leben eines Träumers, Bamberg 1966, 93
46Ebd. 178
47Wortschatz und Satzlänge entsprechen durchaus der Schreibweise eines Volksschriftstellers, wie Stilanalysen sowie sprachstatistische Beobachtungen und Vergleiche zeigen.
48Bei Rosalia spielt der Gegensatz Dorf-Stadt eine Rolle: Sie war eine hohe, sehr voll gebaute Person, die sich ganz städtisch trug . . . (Bd. 44, 328) und: »Nun schau die mal an, wie sie dahergeht! Wie eine Fürstin tritt sie auf, und nichts ist ihr gut und teuer genug gewesen!« (386).
49Bd. 44, 251 und 279
50Oel-Willenborg (vgl. Anm. 1) 55-87, Normenkatalog S. 78
51Ebd., 75
52Ebd., 145
53Vgl. ebd. 137-146
54Vgl. Hans Schwerte, Ganghofers Gesundung. Ein Versuch über sendungsbewußte Trivialliteratur, in: Studien zur Trivialliteratur, hrsg. von H. O. Burger, Frankfurt/ M. 1968, 154-208
55Vgl. Anm. 34
56Schwerte, 169
57Vor dem Hintergrund der skizzierten Entwicklung zeigt sich die Notwendigkeit, die Dorfgeschichte in einem größeren Rahmen zu betrachten, in dem die gegenseitige Abhängigkeit von »Hoher Literatur« und Trivialliteratur stärkere Beachtung finden muß. Insbesondere muß dabei auch gesehen werden, wie in der Entwicklung das aufgewertete Leben auf dem Land als »heile Welt«, als Rettungsraum des Volkhaft-Ursprünglichen vor der industriellen Revolution mit ihren schädlichen Auswirkungen interpretiert wurde. Diese Ideologisierung führte später zusammen mit der pervertierten Heimatkunst-Bewegung zur »Blut-und-Boden-Dichtung«. Vgl. dazu Verf., Dorfgeschichte, Heimatkunst und »Blut und Boden«, Politische



und pädagogische Aspekte eines Erzähltyps, in: Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe Nr. 19, 20. Januar 1974, S. 50 und die nach Abschluß des Manuskripts erschienene Untersuchung: Peter Zimmermann, Der Bauernroman. Antifeudalismus - Konservativismus - Faschismus, Stuttgart 1975.
58Karl May, Mein Leben und Streben, Freiburg (1910), 227 (Reprint Hildesheim-New York 1975); vgl. auch Gesammelte Werke, Bd. 34, Bamberg 1968, 233


N a c h b e m e r k u n g  d e r  R e d a k t i o n :


Hinsichtlich der Erzählung ›Rache oder Das erwachte Gewissen‹, die unter dem Titel ›Das Gewissen‹ in Karl Mays Gesammelte Werke, Bd. 72 (1968), aufgenommen wurde, hat sich der Verfasser vorliegender Arbeit der Meinung des Herausgebers von Bd. 72 angeschlossen, diese Erzählung Karl May zuzuschreiben. Dort wird sie nämlich als »zweifellos von Karl May stammende Kurzgeschichte« bezeichnet: »Stilistische und motivische Einzelheiten weisen mit Sicherheit auf Karl May als Verfasser hin« (a.a.O., Vorwort S. 6 und 13). Angesichts der besonderen Bedeutung, die in vorliegender Untersuchung dieser Erzählung zugemessen wird (». . . geradezu als Muster für die nachfolgenden Erzählungen«), sei der Hinweis gestattet, daß Mays Autorschaft keineswegs gesichert ist. Nachdem bei einer anderen May zugeschriebenen Erzählung (›Fundgrube »Vater Abraham«‹, vgl. Jb-KMG 1970, 198 ff.) der wirkliche Verfasser ermittelt werden konnte, spürte dies auch der Herausgeber von Bd. 72 und äußerte sich zurückhaltender: In einem Privatdruck (Roland Schmid: An alle Empfänger der ehemaligen »Mitteilungen« der Arbeitsgemeinschaft »Karl-May-Biographie«, Bamberg, 22.4.1969, S. XI) sprach er von der großen »Wahrscheinlichkeit von Mays Autorschaft« an der Erzählung ›Das Gewissen‹ laut einem Brief vom 26.2.1970 fand sie sogar »nur mit Vorbehalt als  m ö g l i c h e r w e i s e  von Karl May stammend Aufnahme« in den Bd. 72. Im Vorwort des Buches blieben die apodiktischen Behauptungen hinsichtlich der anonymen Erzählungen ›Das Gewissen‹ und ›Ein Fang‹ jedoch auch in der »1972 revidierten Fassung« unverändert stehen.

   Wenn wir zur Vorsicht raten, frühe anonyme Erzählungen spekulativ May zuzuschreiben, so aus guten Gründen. Mays früher Stil weist zu wenig eigene Charakteristik auf, als daß dieser beweiskräftig sein könnte. Und bei motivischen Einzelheiten muß man besonders vorsichtig sein: auch in der ›Fundgrube »Vater Abraham«‹ hat man das Verstecken der Erzstufen als Spiegelung des Versteckens der Talglichter (im Seminar Waldenburg) deuten wollen. Da bis heute nicht geklärt werden konnte, woher May die Vorbilder für seine Erzgebirgischen Dorfgeschichten nahm, ist es bedenklich, beim Auftauchen bestimmter Handlungsmuster sofort auf Karl May als Verfasser zu tippen. Wir wissen zu wenig über Mays Quellen; sicherlich waren seine Dorfgeschichten mit kriminalistischem Einschlag nicht seine ureigenste Erfindung. Woher aber hatte er seine Anregungen? Möglicherweise aus den frühen Münchmeyer-Zeitschriften, deren Titel Hainer Plaul ermittelt hat (Jb-KMG 1975, 179 ff.), und ähnlichen Publikationen. Eine kritische Quellenforschung mußte bisher am völligen Verschollen-Sein dieser Zeitschriften scheitern.

   Karl Mays Behauptung aus später Zeit: Meine ersten Veröffentlichungen erschienen schon im Jahre 1863 . . . (Die Freistatt, Wien, Nr. 22 vom 4.6.1910; Nachdruck in diesem Jahrbuch) ist nicht von der Hand zu weisen, und manches spricht für die Richtigkeit seiner Äußerung. Aber so erfreulich es wäre, in der Erzählung ›Rache oder Das erwachte Gewissen‹ solch eine frühe Arbeit aus Mays Feder gefunden zu haben, dürfen die Zweifel angesichts des Fehlens aller Belege nicht verschwiegen werden.




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