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VIKTOR BÖHM

Berechnung und Überraschung
Erzähl- und Handlungsalgorithmen
im Werk Karl Mays
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Berechnung und Überraschung gehören zusammen. Überraschung kommt als Einfall in die Berechnung. Berechnung folgt als Plan aus der Überraschung.

   Der Einfall als Unfall macht die Berechnungen zuschanden: »Ja, hast ausgerechnet, daß ich erst morgen abend kommen kann; diese Kalkulation war aber falsch.« (Santer zu Old Shatterhand in W III, 514)(1) Der Einfall als Idee bildet die Grundlage der Berechnung. Aber da kam mir ein Gedanke, noch viel schneller, als Pida das Ufer erreichen konnte. Er war der Lieblingssohn des Häuptlings. Wenn ich ihn in meine Hand bekam, konnte ich ihn dann gegen Sam auswechseln. (W I, 606f.) Der Plan als Routine bringt statt der Überraschung die Gewohnheit: . . . und näherten uns erst dann, als wir die Ueberzeugung hatten, daß die Roten längst nicht mehr darin steckten. (W I, 165) Der Plan als Schlußfolgerung gewinnt aus der Überraschung die überlegte Tat. »Paßt auf! Wenn ich ertrinke, so sind wir gerettet.« (Old Shatterhand in W I, 353)


A l g o r i t h m e n  –  e r s o n n e n  u n d  r e k o n s t r u i e r t

»Ich habe einen guten, einen ganz vortrefflichen Plan.« (W I, 353) Welcher Karl-May-Leser kennte nicht diese Worte Old Shatterhands? Seine Aufgabe im Kampf auf Leben und Tod besteht bekanntlich darin, eine Zeder jenseits des Flusses zu erreichen. Intschu tschunas Aufgabe ist es, dies zu verhindern. Old Shatterhand beschreibt seinen Plan, indem er die gesamte Handlung in einzelne Aktivitäten und Entscheidungen zerlegt. Er beschreibt seinen Plan als Algorithmus, das ist eine exakte, eindeutig bestimmte Vorschrift zum Vollzug einer Reihe von Operationen, um Aufgaben eines bestimmten Typs zu lösen.(2) Eine gute Vorstellung des algorithmischen Aufbaus ergibt sich aus der Darstellung als Blockdiagramm. Abb. 1 veranschaulicht die für Sam formulierte algorithmische Vorschrift. Man sieht: Operationen werden durch rechteckige Felder, Entscheidungen durch Rhomben symbolisiert.

* Vortrag, gehalten am 20.11.1987 auf der 9. Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Wien.


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Rhomboide bezeichnen die Ein- und Ausgabefelder, und der Operationsfluß ist durch Pfeile markiert. Bei Entscheidungen verzweigt sich das Programm oder wird – wie im Algorithmus Old Shatterhands (Abb. 3) – als Schleife rückgeführt.

   Wenden wir uns nun – Abb. 2 – dem Algorithmus von Intschu tschuna zu! Er beschließt, Old Shatterhand ins Wasser zu stoßen, ihm nachzuspringen und ihn, sobald er aufgetaucht ist, zu töten. Der wunde Punkt dieses Programms liegt im Entscheidungsfeld "Zumutbare Zeit überschritten?" Als sich der Häuptling diese Frage mit JA beantworten muß, fehlt ihm nämlich der weitere Plan. Seine Ratlosigkeit ist durch das Feld mit dem Fragezeichen markiert.

   Hier hakt der Algorithmus seines Gegners ein. Old Shatterhand führt zuerst eine Problemanalyse durch. Es verstand sich ganz von selbst, daß ich mich in der äußersten Gefahr befand. Ich mochte grad, schief oder im Zickzack über den Fluß schwimmen, so war ich verloren; der Tomahawk des Häuptlings mußte mich treffen. Es gab nur einen Rettungsweg: durch das Tauchen, und da war ich glücklicherweise nicht der Stümper, für den mich Intschu tschuna gehalten hatte. Aber selbst auf das Tauchen allein durfte ich mich nicht verlassen. Ich mußte doch empor, um Atem zu holen, und bot dann meinen Kopf dem Tomahawk. Nein, ich durfte gar nicht wieder an die Oberfläche kommen, wenigstens vor den Augen der Roten nicht. Wie aber das anfangen? Ich musterte das Ufer auf- und abwärts und sah mit großer Befriedigung, daß die Oertlichkeit mir zu Hilfe kam. (W I, 355f. ) Und so entwirft Old Shatterhand seinen eigenen Handlungsalgorithmus. Auch er enthält, was einen Algorithmus ausmacht, nämlich exakte, eindeutige Vorschriften mit Operationen und Entscheidungen, um die Aufgabe zu lösen. Die erste Aktivität besteht im Simulieren eines Feiglings. Er gibt sich als schlechter Schwimmer, klagt, daß er unbewaffnet sei, wirkt niedergeschlagen, nervt den Häuptling durch sein dummes Fragen, will das Wasser erst probieren, sich abkühlen, fragt, ob es denn wirklich sein müsse. Dabei beobachtet er den Erfolg seiner Täuschungsmanöver, kehrt in einer Schleife wieder zum Simulieren zurück, bis die Täuschung optimal gelungen ist. »Hinein mit dir!« schrie Intschu tschuna abermals und versetzte mir einen Fußtritt in den Rücken. Das hatte ich gewollt. (W I, 358)

   Schon hier gelingt es Old Shatterhand, den Plan seines Gegners zu beeinflussen. Nun hat die Verstellung ein Ende. Es geht unter Wasser flußaufwärts – erstes Auftauchen bei der Unterspülung – kontrolliert den Häuptling – weiter flußaufwärts – zweites Auftauchen beim Schwemmholz – Kontrolle des Gegners – unter Wasser zum Strauchwerk – an Land steigen –abermals Kontrolle. Old Shatterhands Algorithmus wirkt auf die Algorithmen Sams und Intschu tschunas ein: . . . während der Häuptling, noch immer auf mich wartend, hin und her schwamm, obgleich ich unmöglich so lange hätte lebend unter Wasser


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bleiben können. Ob wohl Sam Hawkens jetzt an meine Worte: wenn ich ertrinke, sind wir gerettet, dachte? (W I, 359). Außer Sicht läuft Old Shatterhand nun bis zur Stelle, von der aus er unbemerkt ans andere Ufer schwimmen und an Land flußabwärts gelangen kann. Hier überzeugt er sich, daß er den Häuptling ausgetrickst hat: . . . sah ich zu meinem großen Vergnügen, daß mehrere Rote in das Wasser gesprungen waren und mit Lanzen nach dem ertrunkenen Old Shatterhand stocherten. (W I, 360) Damit ist Intschu tschuna mit seinem Plan am Ende und muß sich in der Folge den Algorithmus Old Shatterhands aufzwingen lassen. Der könnte nun unangefochten zur Zeder gehen und hätte gewonnen. Doch er will den Sieg nicht der List allein verdanken. Das Diagramm (Abb. 3) zeigt seine weiteren Aktivitäten und Entscheidungen. Erst nachdem er Intschu tschuna betäubt hat, geht er – große Schleife –zum Baum.

   Den Zweikampf-Algorithmus hat Old Shatterhand selbst ersonnen, er hat ihn unter bestimmten situativen Bedingungen ausgedacht, um das Handlungsziel zu erreichen. Es gibt aber auch Algorithmen, die nicht vom Ich stammen, die dem Ich unbekannt sind, deren Kenntnis freilich oft lebenswichtig ist, weil sie das Handlungsziel des Gegners verraten. Diese Algorithmen müssen aus der Spur ihrer Ausführung rekonstruiert werden.

   Daß Spurenlesen, Verfolgen einer Fährte schon auf Grund der Häufigkeit ein Lieblingsmotiv Karl Mays ist, gehört zu den Binsenweisheiten der May-Leser und May-Forscher. Ein Musterbeispiel finden wir im 3. Kapitel von Winnetou I. Old Shatterhand und Sam Hawkens verfolgen die Fährte Winnetous und Intschu tschunas, die mit der Leiche Klekih-petras davongeritten sind. Die Apachen haben eine überdeutliche Spur hinterlassen. Sam gefällt dies nicht, er wittert eine Falle. Old Shatterhand ist anderer Meinung. Wer hat recht?

   Die richtige Antwort liegt im Algorithmus, dem die beiden Häuptlinge gefolgt sind. Old Shatterhand setzt mit der Rekonstruktion bei der Wahrnehmung an, daß die Indianer hintereinander geritten sind. Aus der Operation "Hintereinander-Reiten" schließt er auf die nächste Operation "Trennung der beiden Häuptlinge", und aus der Trennung auf ihre Absicht, den Tod Klekih-petras so rasch wie möglich zu rächen. Old Shatterhands Denken führt von den Spuren der Indianer über die Rekonstruktion ihres Algorithmus zu ihrem Handlungsziel, oder kürzer: er liest die Absicht der Häuptlinge aus ihrer Fährte.

   Wir kommen auf dieses Beispiel noch einmal zurück, aber vorher betrachten wir die Verknüpfung der Zweikampf-Algorithmen von Sam, Intschu tschuna und Old Shatterhand hinsichtlich ihrer erzählerischen Funktion. Bisher haben wir Algorithmen als Handlungsalgorithmen, als algorithmische Darstellung von Handlungspassagen betrachtet. Nun wenden wir uns dem Erzählalgorithmus zu, der algorithmischen


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Erfassung des Erzählens der Handlungspassagen, aber auch der übrigen Bestandteile der Erzählung.(3)


E r z ä h l a l g o r i t h m u s

Die algorithmischen Vorschriften Sams, Intschu tschunas und Old Shatterhands stellen drei an Gehalt unterschiedliche Informationsströme dar. Diese Unterschiede sind für den Erzählalgorithmus Karl Mays typisch. Die Waagrechten in Abb. 4 veranschaulichen den Informationsstrom des fehlinformierten Intschu tschuna, des teilinformierten Sam Hawkens und des Ich. Hinzu kommt noch der Informationsstrom des Lesers; mit ihm werden wir uns bald näher beschäftigen.

   Der Informationsstrom des Ich ist der nach Kenntnissen und Operationsfähigkeit beste. Seine Teilaktivitäten sind auf Grund genauer Situations- bzw. Spurenanalysen erstellt, bei der Ausführung kommt die Handlungs- bzw. Kundschafterkompetenz des Ich voll zur Geltung, die Entscheidungen erfolgen nach sorgfältigen Kontrollen. Der Vorrang des Ich-Stroms erweist sich auch darin, daß er die Informationsströme Intschu tschunas und Sams einschließt, daß das Ich mit deren Plänen rechnet und auf sie an entscheidender Stelle einwirkt – im Bild durch senkrechte Pfeile bezeichnet.

   Der Informationsstrom Sams ist mangelhaft. Dies liegt zunächst an der mangelhaften Information. Old Shatterhand reduziert ja das Wißbare auf die Andeutung: »Wenn ich ertrinke, so sind wir gerettet.« Es liegt zweitens am mangelhaften Verarbeitungsvermögen des Teilinformierten. Er weiß bekanntlich mit der Nachricht nichts anderes anzufangen, als sie für den Ausdruck der Verrücktheit Old Shatterhands zu halten.

   Wir finden dieses Verhältnis des optimal wissenden und lernfähigen Ich zu den Mitspielern mit Teilinformation, in unserem Beispiel zu Sam, in den Abenteuerbänden Mays immer wieder. Gerade in Winnetou I zeigt sich, daß das mit den Worten "erfahrener Westmann" und "Greenhorn" ausgedrückte Qualitätsgefälle in Wirklichkeit umgekehrt liegt. In den Orient-Bänden ist Halef markantes Beispiel einer teilinformierten Figur. Ingmar Winter hat dieses asymmetrische Kommunikationsverhältnis zwischen dem Ich und seinen Begleitern jüngst untersucht.(4)

   Doch nun zum Algorithmus Intschu tschunas! Wir betrachten den Apachenhäuptling als Repräsentanten derjenigen Figuren im Werk Karl Mays, die vom Ich nicht etwa nur mit reduzierter Information, sondern mit falscher Information gespeist werden. Ich erinnere noch einmal daran, wieviel Mühe Old Shatterhand darauf verwendet, seinen Gegner zu täuschen, und wie oft sich Old Shatterhand im Handlungs-


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verlauf [Handlungsverlauf] vergewissert, ob ihm die Täuschungsmanöver gelungen sind. Doch von diesem Beispiel abgesehen wissen wir alle, welch große Bedeutung den Täuschungs- und Verstellungskünsten Old Shatterhands und Kara Ben Nemsis zukommt und daß keineswegs nur die Gegner Opfer dieser Mystifikationen sind. Unzählige Male spielt der Held den Trumpf aus, daß der vermeintliche Stubenhocker und Federfuchser Flinte und Revolver, Tomahawk und Lasso ebenso sicher zu gebrauchen weiß wie sein Schreibzeug. So wird der berühmte Old Shatterhand in Winnetou III für einen Sonntagsjäger gehalten. »Ich bin sogar einmal Schützenkönig gewesen!« protestiert er mit einer sehr wichtigen Miene. (W III, 366) Damit erntet er jedoch nur Spott und muß sich sogar Old Shatterhand als das Muster des unübertrefflichen Westmannes vorhalten lassen. Statt nun sein Inkognito zu lüften, setzt er vor dem Probeschuß langsam und sehr bedächtig seinen Klemmer auf die Nase und erntet damit abermals reichlich Spott (W III, 377). Dann legt er an und holt zum Verblüffen seines Publikums eine trillernde Lerche hoch aus der Luft herunter. Ein weiteres bekanntes Beispiel einer Verstellungsszene steht "Im Lande des Mahdi".(5) Es gilt, Achtung und Vertrauen berüchtigter Sklavenjäger zu erwerben, um ihre Pläne durchkreuzen zu können. Kara Ben Nemsi und Ben Nil geben sich das Aussehen von Eingeborenen. Kara Ben Nemsi lockt durch Schüsse die Feinde herbei, dann widmen sich die beiden ganz unbefangen dem landesüblichen Mehlbreigenuß. Und wirklich: die Feinde erscheinen! Beide werden einem strengen Verhör unterzogen und mimen dabei anfangs größte Harmlosigkeit. Mit dem Ausruf des Sklavenjägers: » . . . dein Leben hängt an einem einzigen dünnen Haare!« fällt jedoch das Stichwort, worauf sich die zwei Komiker in zwei Helden verwandeln, ohne indes ihre Maske zu lüften. Kara Ben Nemsi gibt sich als Händler und Bürgermeister von Dimiat aus. Der Sklavenjäger möchte ihn einschüchtern: man nenne ihn Sohn der Grausamkeit. Kara Ben Nemsi jedoch antwortet gelassen: »Und mich benennt man in Dimiat mit dem Beinamen Abu Machuf ["Vater des Entsetzens"], woraus du wohl ersehen wirst, daß ich ein Mann bin, der wohl Furcht und Angst verbreitet, sie aber niemals selbst empfindet.« (M 572) Der Sklavenjäger hat seinen Meister gefunden! Ben Nil spricht die Gedanken des Lesers aus, wenn er sagt: »Welch eine List, Effendi! Jetzt glaube ich, daß du dich vor keinem Feinde zu fürchten brauchst. Deine Verschlagenheit ist noch viel größer als deine Tapferkeit.« (M 568)

   Erzählalgorithmisch ist das Ich hinsichtlich Auffassungskraft, Wissen und Operationsfähigkeit optimal ausgestattet. Das Ich informiert die Mitspieler mit reduziertem Wissen und macht sie zu Teilinformierten. Dieser Schmälerungsprozeß ist im Bild durch einen Reduktor-Teil dargestellt. Noch schlechter als die Teilinformierten sind die Fehlinformierten daran: sie werden durch die falschen Daten zu Fehlplanung


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und Niederlage veranlaßt. Das Verfälschen der Nachricht ist durch einen Falsifikator-Teil symbolisiert.

   Außer dem Ich, den Teil- und den Fehlinformierten enthält das Diagramm, wie schon bemerkt, noch einen vierten Informationsstrom nämlich den des Lesers. Er wird als impliziter Leser ins Werk gesetzt, indem das Ich ihn mit einem speziellen Kommunikationsservice bedenkt und anspricht. Ihn macht das Ich zur Anlaufstelle von Wahrnehmungen, Denkverläufen und Zielen, von Problemanalysen, Handlungs- und Kundschafteralgorithmen. Außerdem erhält der Leser Kenntnis über die Informationsströme der teilinformierten und der fehlinformierten Figuren, im Bild durch die beiden Aufwärts-Pfeile dargestellt. Im didaktischen Zuspruch wird der Leser in die Gedankengänge des handelnden und schreibenden Ich eingeweiht. Dieser Prozeß wird im Diagramm durch einen Didaktor-Teil bezeichnet. Diese Didaktisierung des Handlungsverlaufs formt die Reiseerzählungen Karl Mays. Zwei darstellerische Verfahrensweisen überlagern sich nämlich. Erstens die Action-Erzählung: ein System von Operationen wird vollzogen oder ausgekundschaftet. Zweitens der Unterricht in diesen Algorithmen. Die Beherrschung eines Handlungsverlaufs kann auch ohne Kenntnis der Vorschriften und Operationen erfolgen, im Sinn von: sie wissen nicht, was sie tun; was sie tun sollen; warum sie etwas tun. Solche Fertigkeiten werden durch Objektanpassung und Nachahmung unbewußt erworben.(6)

   Typisches Beispiel für eine unbedachte Handlungsweise ist der Kampf der beiden Aladschy mit Kara Ben Nemsi im "Schut". Sandar und Bybar sind zwar im Gebrauch des Czakans geübt, doch erfolgen ihre blindlings geführten Angriffe, ohne die situativen Erfolgsbedingungen zu beachten: Die Aladschy waren zu meinem Glück wie blind vor Wut. Sie hieben ganz regellos auf mich ein. Der eine verdrängte den andern, um einen tödlichen Hieb anzubringen; ihre Beile waren einander hinderlich.(7)

   Ihrem wütenden Ansturm steht das überlegte und daher überlegene Verhalten Kara Ben Nemsis gegenüber. Mit dem Rücken nahe der Felswand, aber ja nicht an sie gelehnt, was mich in den Bewegungen des Armes gehindert hätte, und den Blick scharf auf sie gerichtet, so wehrte ich ihre Hiebe ab, bald in fester Parade, bald durch Gegenhieb von unten herauf, bald durch Kreiswirbel, wenn sie zugleich schlugen, je nachdem es erforderlich war. Keiner ihrer Hiebe kam zu sitzen. Meine Ruhe verdoppelte ihren Grimm und verleitete sie zu regellosem Kämpfen.

   Das Handeln der beiden Aladschy ist durch ungenügende Kontrolle und Steuerung gekennzeichnet. Auch Kara Ben Nemsi ist zunächst zu spontanem Handeln gezwungen.(8) Aber so rasch wie möglich sucht er die Situation unter Kontrolle zu bekommen und, zumindest ansatzweise, einen Algorithmus zu entwickeln.


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   Diese Algorithmierung setzt die Fähigkeit zu semiotischem Handeln voraus, die Fähigkeit, Systeme von Operationen bewußt selbst zu erfinden oder zu entdecken und diese Systeme als Zeichenprozeß, als Semiose, oder eben als Algorithmus, festzuhalten. Das Ich gibt sich diese Vorschriften als Szenar der Selbstinszenierung, die im teleologischen, im zielgerichteten Handeln verwirklicht wird. Semiotisches Handeln bildet nicht nur die Brücke zwischen spontanem und teleologischem Handeln, es bildet auch die Voraussetzung dafür, die Bedingung-Folge-Struktur eines Algorithmus zu verstehen und anderen diese Struktur mitteilen zu können. Und genau dies ist die Funktion des Didaktors für den Leser.

   Unsere Ausführungen über den Erzählalgorithmus beschränken sich absichtlich auf die Parallelführung und Vermaschung der vier Informationsströme von Ich, Leser, teil- und fehlinformierten Figuren. Darüber hinaus ließe sich auch der Wechsel von Autor- und Figurensprache, von Spannung und Entspannung, von Rührung und Humor, von sachkundlicher Beschreibung, Handlung und Reflexion algorithmisch auffassen und darstellen.(9) Wir wollen aber das Verhältnis zwischen Ich und Leser nicht aus den Augen verlieren.


L e h r e r  s e i n e r  L e s e r

Figuren wie Sam Hawkens oder Mr. Henry sperren sich gegen die Ergebnisse semiotischen Handelns. »Ihr seid ein Greenhorn, und was für eins. Den Inhalt Eurer Bücher habt Ihr gut im Kopfe, das ist wahr. Es ist ganz erstaunlich, was Ihr Leute da drüben lernen müßt! Dieser junge Mensch weiß genau, wie weit die Sterne von hier entfernt sind, was der König Nebukadnezar auf Ziegelsteine geschrieben hat und wie schwer die Luft wiegt, die er doch nicht sehen kann! Und weil er dies weiß, bildet er sich ein, ein gescheiter Kerl zu sein! Aber steckt die Nase ins Leben, versteht Ihr mich, so ungefähr fünfzig Jahre ins Leben hinein; dann werdet Ihr, aber auch nur vielleicht, erfahren, worin die richtige Klugheit besteht! Was Ihr bis jetzt wißt, ist nichts – ist gar nichts. Und was Ihr bis jetzt könnt, ist noch viel weniger.« (W I, 11f.) Das Ich ist anderer Meinung: »Ich mache Reisen, um Länder und Völker kennen zu lernen, und kehre zuweilen in die Heimat zurück, um meine Ansichten und Erfahrungen ungestört niederzuschreiben.« Darauf Sam: »Aber zu welchem Zwecke denn, um aller Welt willen? Das kann ich nicht einsehen.« Antwort: »Um der Lehrer meiner Leser zu sein und mir nebenbei Geld zu verdienen.« (W I, 152f.)

   Heinz Stolte weist in seinen »Untersuchungen zur didaktischen Struktur in Karl Mays Jugendbuch "Die Sklavenkarawane"«(10) auf die »didaktische Leidenschaft« des Autors hin. Diese Leidenschaft ist auch im Ich-Helden lebendig. Wenn May sich Sehnsüchte und Wünsche, die


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ihm das Leben versagte, schreibend erfüllte, dann gehörte auch das Lehren zu diesen Wunscherfüllungen: »ein Lehrer zu sein, ist ein hochwichtiger, ein heiliger Beruf!« (W I, 153) Nicht als ob man Mays pädagogische Relevanz bisher übersehen hätte, aber neben den Untersuchungen und Polemiken über den sittlich-religiösen Wert seiner Werke ist die Frage nach ihrem Wert als Denkschulung sichtlich zu kurz gekommen.(11) Die didaktische Leidenschaft Mays wird nämlich auch von logischen Komponenten gespeist. Er gibt seinen Lesern zu verstehen, woher die Richtigkeit seiner Berechnungen kommt: »Daher, daß ich logisch richtig gedacht und geschlossen habe.« (W I, 172) Das Gespräch, aus dem dieser Satz stammt, wird zwischen Sam und Old Shatterhand geführt und ist ein Lehrstück im Logik-Unterricht. Es findet folgende Fortsetzung: »Das richtige Schließen ist sehr wichtig.« – »Schließen? Was ist das? Mit einem Schlüssel?« – »Nein. Schlüsse ziehen, meine ich.« – »Das verstehe ich nicht; ist mir zu hoch.« – »Nun, ich habe folgenden Schluß gezogen: Wenn Indianer hintereinander reiten, wollen sie ihre Spur verdecken; die beiden Apachen sind hintereinander geritten, folglich wollten sie ihre Spur verdecken. Das versteht Ihr doch?« – »Selbstverständlich.« – »Durch diesen richtigen Schluß bin ich zu der richtigen Entdeckung gekommen. Der richtige Westmann muß vor allem richtig denken können.« (W I, 172f.)

   Aus diesen Darlegungen Old Shatterhands erfährt der Leser, welche Methoden zum Ziehen richtiger Schlüsse notwendig sind:

1. Deduktion:

Wenn Indianer hintereinander reiten, wollen sie ihre Spur verdecken.

Nun sind sie hintereinander geritten.

Folglich wollten sie ihre Spur verdecken.

Aus einer Wenn- und einer Nun-Prämisse wird die Folglich-Konklusion abgeleitet.

2. Abduktion:

Man sieht, daß die Deduktion einen Wenn-dann-Zusammenhang in der ersten Prämisse voraussetzt. Ein solches Grund-Folge-Verhältnis muß einem erst einmal einfallen; der Einfall bildet gewissermaßen die schöpferische Komponente des Schließens. Sam hat bekanntlich einen anderen Einfall: »Einer reitet vorn als Wegweiser; dann kommt das Pferd mit der Leiche und hinterher der andere, welcher aufzupassen hat, daß die Schleife fest zusammenhält und der Tote nicht etwa herunterfällt.« (W I, 168)(12)

3. Induktion:

Das Ergebnis der Abduktion ist eine Hypothese, deren Richtigkeit durch Beobachtung erhärtet werden muß: . . . ich paßte scharf auf


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den Boden und auf die Fährte auf. . . . Wenn ich vorhin das Richtige erraten hatte, so war hier für einen der Apachen der geeignetste Ort, abzuweichen. (W I, 168f. )

Zum besseren Verständnis schickt das Ich diesem Schluß auch noch das Beispiel eines falschen Schlusses nach: »Ich will Euch noch so einen Schluß sagen. Wollt Ihr ihn hören?« – »Warum nicht?« – »Ihr heißt Hawkens. Das soll doch "Falke" sein?« – »Yes!« – »So hört! Der Falke frißt Feldmäuse. Ist das richtig?« – »Ja; wenn er sie fängt, da frißt er sie.« – »Nun also der Schluß: Der Falke frißt Feldmäuse; Ihr heißet Hawkens, folglich freßt Ihr Feldmäuse.« (W I, 173)

   Wer das Funktionieren eines Schlusses einmal begriffen hat, kann diesen Algorithmus vom Einzelfall losgelöst und grundsätzlich anwenden. Bei der Vielfalt menschlicher Aufgaben ist es nicht möglich, die Lösung aller einzelnen speziellen Probleme zu lehren. Daher die didaktische Forderung, beim Lösen konkreter Aufgaben allgemeine Verfahren zum Lösen ähnlicher Aufgaben mitzuentwickeln, Verfahren, die auf einen anderen Inhalt oder eine andere Situation übertragbar sind: Verfahren mit Transfer-Charakter. Zum Beispiel macht Old Shatterhand eine Bemerkung über eine Spur. Darauf Sam: »Nicht übel gedacht. Steht so etwas auch in Euren Büchern zu lesen, Sir?« – »Wörtlich und genau auf diesen Fall passend nicht; aber es kommt darauf an, wer ein solches Buch liest und wie er es liest. Man kann wirklich viel daraus lernen und dann in der Wirklichkeit für andere, ähnliche Fälle anwenden.« (W I, 166)

   Das Ich lehrt den Leser auch, in Mußezeiten Algorithmen für den Ernstfall zu speichern: Ich setze den Fall, daß ich mich, allein oder mit anderen, das ist gleich, am Lagerfeuer befinde; mein Gewehr liegt mir, wie es Regel ist, griffbereit zur rechten Hand. Da bemerke ich zwei Augen, welche aus einem Verstecke mich beobachten. (W I, 487) – Das Ich teilt dem Leser das Verfahren des Knieschusses als algorithmische Vorschrift mit, in Distanz zur Anwendung. (Abb. 5)

   Schließlich lehrt das Ich den Leser auch, daß man einmal übernommene oder selbst erfundene Algorithmen verbessern müsse: Später freilich . . . wäre es mir nie eingefallen, dieser Fährte so nachzureiten, sondern ich wäre geradeaus durch den Wald geritten und jenseits wieder auf sie getroffen, wodurch ich den Umweg abgeschnitten hätte. (W I, 165)

   Es wäre interessant, wieweit im schreibenden Ich didaktische Impulse aus dem Lehrerseminar nachwirken. Ich setze den Fall, daß . . . könnte diese Formel nicht aus der Kasuistik stammen, die im Fach "Seelen- und praktische Denklehre" betrieben wurde? Auch die Zerlegung eines Handlungsverlaufs in kleine Schritte, die für eine algorithmische Beschreibung typisch sind, liegt der Pädagogik des 19. Jahrhunderts


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keineswegs fern. »Setze nahe Ziele, zerschneide die längeren Wege und Entfernungen in mehrere kürzere«, fordert bereits Ernst Christian Trapp († 1818), dessen Lehrart schon seinerzeit als die "mathematische" bezeichnet wurde.(13) Und mit den Worten: Man lehrte nämlich weniger das, was zu lernen war, als vielmehr die Art und Weise, in der man zu lernen hatte. Man lehrte uns das Lernen, stellt Karl May seinen Lehrern kein schlechtes Zeugnis aus.(14)

   Noch eine letzte Bemerkung zum "Lehrer seiner Leser". Trotz seines unleugbaren didaktischen Geschicks meinten Bearbeiter noch ein übriges tun zu müssen, um dem Leser das Mitdenken zu erleichtern. So wurde etwa in die Ueberreuter-Ausgabe von Winnetou II an der Stelle, wo Old Shatterhand in Santers Händen ist,(15) eine Situationsanalyse eingeschoben, die mehr als eine Druckseite einnimmt.


A l g o r i t h m e n - S c h a c h t e l u n g

»Old Shatterhand hat gesiegt. Er und seine drei Gefährten sind frei!« (W I, 366) Mit diesen Worten verkündet Winnetou das Ergebnis des Zweikampfes zwischen Old Shatterhand und Intschu tschuna. – Die Bewunderungsrufe der Apachen quittieren diesen Sieg. Darüber hinaus findet aber auch der Algorithmus eigens Anerkennung, der diesen Sieg ermöglichte. Sam kann sich den Ausgang des Kampfes nicht erklären. »Wie habt Ihr es nur angefangen? Ihr waret verschwunden. Ihr hattet solche Angst vor dem Wasser, und so dachten alle, daß Ihr ertrunken wäret.« Old Shatterhand antwortet: »Habe ich nicht gesagt: Wenn ich ertrinke, so sind wir gerettet?« Diesen Worten entnimmt Winnetou das Planmäßige des Sieges: »Mein Bruder wußte, was er wollte.« Dann kommt das Lob für den geistesgegenwärtig ersonnenen Handlungsalgorithmus: »Mein Bruder ist nicht nur stark wie ein Bär, sondern auch listig wie der Fuchs der Prärie.« (W I, 366f.)

   Kurz darauf erinnert der Erzähler, daß der Zweikampf-Algorithmus von einem umfassenderen Algorithmus eingeschachtelt wird. Erst jetzt gibt sich ja Old Shatterhand durch das Vorzeigen der Haarlocke als der Befreier der beiden Apachenhäuptlinge zu erkennen. Der Verlauf dieses Algorithmus beginnt mit dem Schuld-und-Tod-Spruch über Old Shatterhand und das Kleeblatt. (Abb. 6) Schon jetzt könnte Old Shatterhand Freiheit und Freundschaft durch Vorzeigen der Haarlocke bewirken. Sein NEIN führt zum Zweikampf als Gottesurteil. Man sieht, daß dieses Feld den gesamten Zweikampf mit seinen vielen Operationen und Entscheidungen als eine einzige Aktivität zusammenfaßt. Erst nach seinem Sieg zieht Old Shatterhand die Haarlocke hervor und bewirkt dadurch das gute Ende. Seine Niederlage hätte den Tod für ihn und seine drei Gefährten bedeutet.


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   Der Haarlocken-Algorithmus umfaßt den Zweikampf-Algorithmus. Doch auch der Haarlocken-Algorithmus wird wiederum umfaßt von einem Algorithmus, an dessen Anfang und Ende Worte Mr. Henrys stehen: »Ich habe Euch doch nur deshalb hinausgeschickt, damit mein altes Gun wieder einmal mitreden kann. Kehrt Ihr zurück, so sucht mich auf und erzählt, was Ihr erlebt und erfahren habt. Dann wird es sich zeigen, ob Ihr das noch seid, was Ihr heute seid und doch nicht glauben wollt, nämlich ein Greenhorn, wie es im Buche steht!« (W I, 35) und »Seid ein Westmann geworden, wie er im Buche steht!« (W II, 3)

   Und nochmals weiter fingiert Karl May den Lebensplan (W I, 451) des Ich, beginnend als Hauslehrer und als Surveyor, entelechisch mit der Leidenschaft des Algorithmierens und Lehrens ausgestattet und fortgeführt mit den Abenteuern Old Shatterhand-Kara Ben Nemsis. Dieser Gesamtalgorithmus des Ich scheiterte schließlich an der Behauptung, daß sein Vollzugsorgan der wirkliche Karl May sei.

   Der Befund all der ineinander verschachtelten Algorithmen drängt weiter zur Frage nach einem letzten, umfassenden, aber selbst fassungslosen Algorithmus, also einer absoluten Handlungsvorschrift. Im Gespräch zwischen Old Shatterhand und Klekih-petra – und dann an unzähligen anderen Stellen des Gesamtwerks – wird die Heilsleitung Gottes als absoluter Algorithmus anerkannt: Was geschieht, geschieht auf Gottes Wege(n). Sie sind umfassend, leiten den Frommen und den Frevler. – »Wie oft bin ich dem Selbstmorde nahe gewesen«, bekennt Klekih-petra, »immer hielt mich eine unsichtbare Hand zurück – Gottes Hand.« (W 1, 129) Und »Gottes Wege erscheinen oft wunderbar, sind aber stets sehr natürliche. Die größten Wunder sind die Folgen natürlicher Gesetze . . . Ein Deutscher, ein Studierter, ein namhafter Gelehrter, und nun ein richtiger Apache; das scheint wunderbar; aber der Weg, der mich zu diesem Ziele geführt hat, ist ein sehr natürlicher.« (W I, 126f.) Klekih-petras Worten zufolge ist sein Lebenslauf innerhalb der göttlichen Vorsehung derart mit dem Wirken eines Pfarrers in Kansas und mit dem Todesschicksal des roten Mannes verknüpft, daß daraus seine Rolle als Lehrer der Apachen resultiert.

   Wie eine solche Integration untergeordneter Algorithmen in einen übergreifenden Algorithmus statthat, zeigt Karl May sehr schön in "Der Weg zum Glück". Die drei Algorithmen haben verschiedene Handlungsziele. Der Talmüller will einen Schatz heben, der Fingerl-Franz sein gestohlenes Schwein wiederhaben, der Wurzelsepp aber will den geizigen Talmüller bestrafen und den brutalen Fingerl-Franz blamieren. Innerhalb seines eigenen Handlungsalgorithmus ersinnt der Wurzelsepp wechselseitig wirkende Vorschriften für die beiden und gibt ihnen ihre Handlungsschritte mit minuziöser Zeitangabe ein, sodaß er sein Handlungsziel erreicht.(16) Karl May insinuiert also, wie das Struktogramm in Abb. 7 zeigt, die Schachtelung folgender Algorith-


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menstufen [Algorithmenstufen]: als alle anderen umfassende die Vorschrift Gottes, die alle Prozesse in Makro- und Mikrokosmos vorsieht; dann den Algorithmus des fingierten Ich; schließlich die handlungsstiftenden Algorithmen der einzelnen Werke und Episoden.


Ü b e r r a s c h u n g

In dieses Integrationssystem von episodischen Algorithmen, von Algorithmen der Lebenspläne und der göttlichen Vorsehung bricht ein, wovor es schützen soll: Überraschung.(17) Wie kommt Überraschung ins Spiel? Erinnern wir uns noch einmal an den Haarlocken-Algorithmus, der nach dem Sieg Old Shatterhands über Intschu tschuna zu Ende geführt wird. Wie reagiert Winnetou? »Du – du – du also hast uns losgebunden! Dir also haben wir die Freiheit und wohl auch das Leben zu verdanken!« stieß er, noch immer ganz betroffen, hervor, er, der sonst nie durch Etwas zu erstaunen oder zu überraschen war. (W I, 368)

   Diese Art von Überraschung erfolgt, wenn einem teilinformierten Mitspieler, in unserem Beispiel Winnetou und vorher schon Sam, über den wahren Verlauf der Dinge die Augen geöffnet werden. Was für die teilinformierten Figuren gilt, trifft in noch stärkerem Maß auf die Fehlinformierten zu, wenn ihnen die Stunde der Wahrheit schlägt. Old Shatterhand löst eine solche Überraschung bei Intschu tschuna und seinen Apachen aus mit dem Ruf: »wir haben gewonnen – gewonnen!« (W I, 360) In diese Kategorie gehören auch die Überraschungen, die entstehen, wenn das Ich sein Inkognito preisgibt.

   Eine andere Art von Überraschung betrifft das wohlinformierte Ich, zu dem Sam meint: »Hol Euch der Teufel! Alles habt Ihr gelesen, und da ist es nicht gut möglich, euch zu überraschen.« (W I, 78) Aber möglich ist es doch: erstens, wenn das Ich seine Handlungsvorschriften mißachtet; zweitens, wenn unerwartetes Mißgeschick die Berechnungen durchkreuzt. In Winnetou III gibt Old Shatterhand zu, durch Santers plötzliches Erscheinen vollständig überrascht worden zu sein aus Gründen, die er selbst als die größte Dummheit oder Nachlässigkeit meines Lebens bezeichnet. (W III, 512f.) Und als gegen Schluß von Winnetou I der Apachenhäuptling plötzlich von den Kiowas entdeckt wird, bekennt Old Shatterhand: Das machte mir einen großen Strich durch die Rechnung. (W I, 606) Erinnern wir uns noch an ein anderes Beispiel, wo eine ganze Serie böser Überraschungen über Kara Ben Nemsi hereinbricht, diesmal aus dem Schut: das Ich wird von einem Stein getroffen, verliert Büchse, Stutzen, Messer und Revolver, das Pferd geht durch, stößt mit Lindsays Pferd zusammen, das Ich taumelt aus dem Sattel, die an Zahl überlegenen Feinde kommen herangesprungen, schießen . . . In solchen Augenblicken hat man keine Zeit zur Angst(18), und auch nicht zum Ersinnen eines Handlungsalgorithmus. Oder


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doch? Schon wechseln Situationsanalysen mit kurzen algorithmischen Passagen, wird der Übergang vom spontanen zum überlegten Handeln vollzogen: Nur die größte Kaltblütigkeit konnte mich retten . . . und so fort bis zum glorreichen Sieg.(19)

   So gehören Überraschung und Berechnung zusammen. In Handlungsalgorithmen gewinnt das Ich seine Identität, in der Erkundung vorgegebener Algorithmen Sicherheit. Andererseits ermöglicht der überraschende Spurenbefund Nscho-tschi hat mit ihren Füßen den Boden nicht berührt (W I, 440) die algorithmische Rekonstruktion und bewirkt die überraschende Planlosigkeit, die algorithmische Schöpfung: Aber da kam mir ein Gedanke, noch viel schneller, als . . . (W I, 606)

   Eine voll algorithmierte Wirklichkeit ohne Überraschung wäre ein riesiger Automat ohne Abenteuer und Lust an Berechnung. Aber bedingt der absolute Algorithmus des göttlichen Planes nicht diese voll determinierte Welt? Nicht nur Klekih-petra sieht in diesem Plan den allumfassenden Algorithmus. »Oder ist es auch eine Gottesfügung, daß ich hier und jetzt mit Ihnen zusammengetroffen bin? Sie sehen, ich, der frühere Gottesleugner, suche jetzt alles auf diesen höhern Willen zurückzuführen.« (W I, 131) Auch das Ich weist den Zufallsglauben des Zweiflers ab. Ich . . . mußte dabei wieder einmal eine jener höheren Fügungen bewundern, welche der Zweifler Zufall zu nennen pflegt. Und: »Es giebt ein Auge, welches über alles wacht, und eine Hand, welche selbst die bösesten Anschläge für uns zum Guten lenkt.« (W III, 117) Der Zufall des Zweiflers ist für das Ich die Gottesfügung als Überraschung. Der Mensch kann Anschläge machen, gute und böse; sie entgehen dennoch nicht der Vorsehung und Leitung: Gottesfügung fügt sich auch in die Spielräume menschlicher Freiheit ein.


Z u s a m m e n f a s s u n g

1. Unter algorithmischen Aspekten erscheint der Inhalt jedenfalls der Reiseerzählungen Karl Mays als ein Integrationssystem von episodischen Algorithmen, von Algorithmen der Lebenspläne und der göttlichen Fügung. Die Bestandteile dieses Systems werden dargestellt als Rekonstruktion vorgegebener Algorithmen, realisiert durch Spurendeutung, und als Erfindung eigener Handlungsvorschriften, realisiert als Zeichensystem und Vollzug.

2. Ersinnen und Erkunden von Algorithmen betreibt das Ich als Selbstinszenierung und Identitätsgewinnung. Indem es sich auch als Lehrer seiner Leser inszeniert, erscheint das Verhältnis von Ich und Leser in einer didaktischen Sphäre der Reflexion.


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3. Algorithmierung und Überraschung bedingen einander in der Handlung. Algorithmierung bewirkt Identitätsgewinn und Sicherheit der Problemlösung, trägt aber die Gefahr der Automatenhaftigkeit des Geschehens in sich. Überraschung macht zwar einen Strich durch die Rechnung, bietet jedoch die Voraussetzung für das Abenteuer.



1 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. VII, VIII, IX: Winnetou der Rote Gentleman I–III. Freiburg 1893 (künftig: W)

2 Mit dieser Auffassung folgen wir Lew N. Landa: Algorithmierung im Unterricht. Berlin 1969. – Der Ausdruck selbst leitet sich vom Mathematiker Muhammed ibn Musa Alchwarizmi her, der zwischen 800 und 825 ein grundlegendes Werk über das Rechnen mit indischen Zahlen unter Verwendung des Stellenwertsystems schrieb.

3 Zur Darstellung der Textstruktur habe ich Algorithmen und Gegenalgorithmen erstmals verwendet für Johann Peter Hebels Kalendergeschichte "Der Barbierjunge von Segringen". – In: Viktor Böhm: Sprache und Sprachgebrauch. Wien 1986 S. 98ff.

4 Ingmar Winter: »Bin doch ein dummer Kerl.« Vom Spurenlesen beim Spurenlesen. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1987. Husum 1987 S. 47–68

5 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XVI: Im Lande des Mahdi I. Freiburg 1895 S. 555ff. (künftig M)

6 Über die Wege der Ausbildung von Fähigkeiten und Fertigkeiten vgl. Landa wie Anm. 2 S. 335ff.

7 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. VI: Der Schut. Freiburg 1892 S. 357

8 Die Begriffe spontanes Handeln, semiotisches Handeln und teleologisches Handeln stammen aus Ulrich Gaier: System des Handelns. Eine rekonstruktive Handlungswissenschaft. Stuttgart 1986.

9 Dazu das Kapitel "Komik, Spannung, Rührung und Ruhepunkte" in: Viktor Böhm: Karl May und das Geheimnis seines Erfolges. Gütersloh 21979

10 Heinz Stolte: Ein Literaturpädagoge. Untersuchungen zur didaktischen Struktur in Karl Mays Jugendbuch "Die Sklavenkarawane". 1. Teil. In: Jb-KMG 1972/73. Hamburg 1972; fortgesetzt in den Jb-KMG 1974, 1975 u. 1976

11 Vgl. jedoch die Ausführungen und Anmerkungen bei Volker Neuhaus: Old Shatterhand und Sherlock Holmes. In: Karl May. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1987 S.146–157 (Sonderband Text + Kritik).

12 Auf die Bedeutung der "Abduktion" neben den beiden anderen "Denkarten" "Deduktion" und "Induktion" hat der amerikanische Philosoph Charles Sanders Peirce (1839–1914) nachdrücklich hingewiesen.

13 Vgl. dazu Josef Dolch: Lehrplan des Abendlandes. Ratingen 1971 S. 312ff.

14 Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o. J. (1910) S. 97f. (Repr. Hildesheim New York 1975, hrsg. von Hainer Plaul)

15 Vgl. Karl May: Winnetou II. Wien–Heidelberg. 3. Aufl. S. 585ff. und Karl May's Gesammelte Werke Bd. 8: Winnetou II. Bamberg (3064. Tsd.) S. 563f. [*)]

16 Karl May: Der Weg zum Glück. Dresden 1886–87. Repr. Hildesheim–New York 1971 S. 251ff

17 Böhm: Karl May wie Anm. 9 S. 202

18 May: Der Schut wie Anm. 7 S. 355

19 Ebd. S. 357


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[Abb.1 und 2]


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[Abb.3]


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[Abb.4 und 5]


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[Abb.6 und 7]


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