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WALTHER ILMER

Mit Kara Ben Nemsi >im Schatten des Großherrn<
Beginn einer beispiellosen Retter-Karriere(1)



Im Jahre 1880 begann Karl May damit, dem geheimnisumwitterten, auf durchlebte Gefahren hindeutenden Titel >Giölgeda padishanün. Reise-Erinnerungen aus dem Türkenreiche< eine großangelegte, von Handlung und Abenteuern, Schurkereien und Heldentaten schier überquellende Erzählung folgen zu lassen, die ab Anfang 1881 fortlaufend - obschon mit einigen Unterbrechungen - bis ins Jahr 1888 hinein in der renommierten Wochenzeitschrift >Deutscher Hausschatz in Wort und Bild<, Regensburg, veröffentlicht wurde und die später in der Buchausgabe (1892) sechs dicke Bände füllte: Die Serie >Durch Wüste und Harem< bis >Der Schut<.(2) Eine Riesen-Odyssee, die seinen Ruhm begründete.

Der innere Aufbau dieser fesselnden Erzählung birgt von Anfang an, bis in die szenische Gestaltung hinein, jenes Charakteristikum, das in der Literatur wahrscheinlich einmalig sein dürfte und den Untergrund bildet für die mit Karl May assoziierte unverwechselbare Note: die zwei-artige Spiegelung. Karl May schildert, als Ich, (1) seine lebenslange geistig-seelische Wanderung zwischen der Welt seiner Imagination und der Realität und, daraus resultierend, (2) in maskierter Form die ihn bewegenden - beim Zeitpunkt der Niederschrift noch nicht psychisch verarbeiteten ­ äußeren und inneren Ereignisse seines eigenen Lebens.

Die seit der Tätigkeit als Redakteur für Heinrich Münchmeyer (März 1875 bis Februar 1877) beträchtlich gewachsenen gestalterischen Fähigkeiten werden jetzt, da er mit >Reise-Erzählungen< ganz eigener Prägung vorstößt zu neuen Dimensionen der Darstellungskraft, nicht vom Bewußtsein, vom kritischen Verstand gesteuert. Der Verstand liefert nur die Oberschicht, das Kleid. Den Gehalt gewinnt jede neue Reiseerzählung aus den seelischen Schwingungen im Autor ­ wobei Karl May also im Grunde nichts anderes tut, als immer neue Variationen eines einzigen großen Themas zu ersinnen und die einzelnen Stationen


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seines vergangenen Tuns und Empfindens unter immer neuen Aspekten zu beleuchten.

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»Im Schatten des Padischa« (Großherrn, Sultan) - so lautete Mays Erläuterung der Worte Giölgeda padishanün (32):(3) Im Schatten des Großherrn, in der Gnade des Herrschers aller Osmanen und ausgerüstet mit den besten großherrlichen Pässen, so reiste der Ich-Erzähler Kara Ben Nemsi, der hier seine >Reise-Erinnerungen aus dem Türkenreiche< publizierte. Kara Ben Nemsi - Karl, (ein) Nachkomme der Deutschen (39). So May. Alles richtig, alles passend, alles treffend. Und zugleich alles falsch.

Das ist das stets wiederkehrende Kernstück bei Karl May: Wahr und erfunden zugleich ist das, was er uns erzählt. Doppelsinnig ­ verschleiernd wie erhellend.

Titel und Untertitel der Erzählung sowie der Name des Helden umreißen bereits das Phänomen, daß Karl May haarscharf auf dem Grat zwischen Schein und Sein wandert, daß er beiden Sichtwelten gerecht wird, beide plastisch einfängt in seine große Rückschau:

(1) Giölgeda padishanün (oder auch padisahnün) ist, aus türkischer Sicht, syntaktisch wie morphologisch falsch.(4) Aus der Sicht des leider allzu Halbgebildeten, der um seines romantischen Anliegens willen mühsam aus dem Deutschen ins Türkische übersetzt (und dies im naiven Sinne wie, auf das Erzählen bezogen, im bildlichen Sinne), erscheint es durchaus korrekt. Und wohlklingend obendrein.

(2) >Im Schatten des Großherrn< wandelte Karl May gewiß nicht. Die Polizei und die Behörden waren alles andere als ihm wohlgesonnen; und auch der König von Sachsen, an den Karl May einmal ein Gnadengesuch gerichtet hatte,(5) mißachtete die Existenz dieses Untertanen. Dem Sultan des Osmanenreiches gar war Karl May überhaupt niemals nahegekommen ... A b e r : Karl Mays wirklicher >Großherr< war niemals irgendein irdischer Machthaber, sondern war und blieb seit eh und je Gott. An Gottes Gnadenerweis wollte er nicht zweifeln; in den Schutz der göttlichen Hand begab er sich willig immer wieder. Das Werk Karl Mays atmet christliche Gesinnung und stete Hinwendung des Helden zu Gott. Ihm beichtete der Autor noch einmal all seine Sünden und Fehlhandlungen.

(3) >Reise-Erinnerungen aus dem Türkenreiche< enthält die Komponenten >falsch< und >richtig<. Reise-Erinnerungen gibt Karl May in der


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Tat zum Besten ­ nämlich Erinnerungen an Erlebnisse auf seiner wirklichen Lebensreise. Und >Türkenreich< ist der verstohlene Hinweis darauf, daß er >einen Türken baut<, den Leser anschwindelt. Die Redensart war schon damals gängiges Allgemeingut.

(4) Der Name Kara Ben Nemsi ist das Glanzstück. Diesen Namen nämlich (!) ersinnt des Helden wortmächtiger Begleiter, Hadschi Halef Omar, der Großsprecher und Flunkerer, der doch ein so integres Kerlchen ist ­ Karl Mays gelungenstes alter ego.(6) Wird Halefs Identität als die Karl Mays durchschaut, so liegt des Autors Geschicklichkeit, das Trickreiche beim Servieren des eigenen Heldennamens auf der Hand. Kara entstand aus dem Vornamen Karl, den Halef nicht aussprechen konnte, und Ben Nemsi geht eben beim unvoreingenommenen Leser glatt durch als (ein) Nachkomme der Deutschen. Diese zweckbegründete reine Erfindung verträgt sich nun aber auch verblüffend gut mit den wirklichen Bedeutungen der Bestandteile des Namens:

>Kara< heißt im Türkischen zunächst >schwarz, dunkel, finster< (May weist im Laufe der Gesamterzählung hierauf hin bei Ausdrücken wie Karadagh (166) = Schwarzer Berg, Kara göz ojunu = Schattenspiele(6a) usw.) sowie >von übler Vorbedeutung< (!). >Kara< ist also eine >Verfärbung< von Karl und paßt somit zu May, der sich als Straftäter wahrhaft sehr >verfärbt< betragen hatte und sich als Autor mit seinen schwarzen Seiten und dem üblen Ruf, der ihn einst umgab, auseinandersetzt. Gerade dieser Namensträger Kara Ben Nemsi ist ein Künder und Vollstrecker des Guten und ein eingeschworener Feind des Bösen und Finsteren ­ Polarität par excellence zum >schwarzen< Straftäter Karl May.

Darüber hinaus dürfte dem fleißigen Wörterbuch-Benutzer Karl May nicht entgangen sein, daß >kara< aber auch >Festland< bedeutet, daß ferner der >kara müstesari< der Unterstaatssekretär im Kriegsministerium ist - dies für den Nicht-Soldaten Karl, dessen Ich-Held Kara Ben Nemsi jeden Generalstabsoffizier in Strategie und Taktik aussticht, ein besonders herzerfrischendes Moment - und daß ausgerechnet die Wortverbindung >kara mayni< (sic) eine Waffe mit besonderer Sprengwirkung bedeutet, nämlich eine >Landmine<. Es bedarf keiner Anstrengung, sich auszumalen, wie ihm all dies innerlich zustatten kam, auch ohne daß er den Leser offen oder versteckt darauf aufmerksam machen mußte: 1880 hatte Karl May sein >Kara<, sein Festland, unter den Füßen, hatte eine von jeder aktiven Kriminalität abgewandte gefestigte innere Gesinnung; beim Schreiben wandelte sich der vorbestrafte, der geduckte, der arme Karl May zu einer bewunderten und hochgestellten Persönlichkeit, die Respekt heischte ...: K - M - der kara müstesari ... Der über Menschen und den Einsatz der Waffen be-


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fahl. Der mit seiner Erzählung >Giölgeda padishanün< eine >kara mayni<, eine Mine, springen ließ, weil er der inneren Brisanz, der Wohltat des Niederschreibens, sicher war und der äußeren Brisanz, der Wirkung auf die Leser, sicher sein durfte. Wieviel Behagen mag der im Umgang mit Wortspielen erfahrene Autor bei all den diversen >Kara ... < empfunden haben. Sein Held Kara Ben Nemsi ist eine Phantasie-Figur, und die ihm zugeschriebenen Heldentaten hat es in dieser Form nie gegeben. Da aber die Siege des Helden schlicht die Niederlagen des Autors spiegeln und ihn von diesen befreien, löst alles sich in Wohlgefallen auf. Lüge und Wahrheit in einem.

>Nemsi< war im Türkischen nie >deutsch< (ist es auch heute nicht), sondern immer >österreichisch<.(7) Aber Karl Mays Heimat lag nahe zur damaligen österreichischen Grenze; nach Böhmen hinein, auf österreichisches Gebiet, war May 1869/1870 geflohen. Einerseits bestehen völkische Verwandtschaft und >Sprachenverbund< zwischen Deutschen, Böhmen und (Alt-)Österreichern; anderseits wird in Böhmen außer Deutsch auch Tschechisch - eine slawische Sprache - gesprochen, und in den slawischen Sprachen bedeuten >njemetz< (vereinfachte phonetische Schreibweise!)(8) und ähnliche Formen >deutsch<. Böhmens Zugehörigkeit zur Donaumonarchie machte >njemetz< umgangssprachlich akzeptabel auch für >österreichisch<. Und auch das in Ungarn, einem anderen Teil dieser Donaumonarchie, korrekte >nemet< = >deutsch< verwischte oft und gern die sprachlichen Grenzen zum engeren Begriff >österreichisch<. Da nun Ungarisch als finno-ugrische, agglutinierende Sprache kernverwandt mit dem Türkischen ist, ergibt sich durch >nemsi/nemet/nemec/nimic/njemetz< eine elegante sprachliche Brücke, auf der Kara Ben Nemsi munter dahinreiten kann. Die durch >Ben Nemsi< geschaffene Distanz zu dem verwegenen Entschluß, verlarvt über Selbsterlebtes zu berichten, gestattet dem Autor dann den Abstecher in das unverhüllte Bekenntnis, er sei ein Sachse (237).

So ist alles ein bißchen wahr und ein bißchen gelogen - demnach alles so gerade annähernd wahr, von jedem der beiden Pole aus betrachtet. Und so ist der Inhalt der ganzen Geschichte von A bis Z reine Erfindung - und schildert doch haarklein Karl Mays eigene Vergangenheit. Der ständige Schwebezustand zwischen Wahrheitsanspruch, unterbewußt rückerlebten Konflikten und märchenhafter Darbietung die sich bei anschaulicher Schreibweise das angelesene Wissen in einzigartiger Weise zu Nutzen macht - ist der Motor der blutvollen Reiseerzählung >Im Schatten des Großherrn<.


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Die episodenartig gegliederte und dabei in jeder Episode auf Künftiges, aufkommende Ereignisse hinweisende Erzählung(9) bringt gleich zu Anfang in dem berühmten Dialog zwischen Halef und Kara Ben Nemsi Karl Mays Programm eines zur Sühne hinstrebenden reuigen Christenmenschen(10) und birgt, wie bereits früher eingehend dargelegt, in der Begegnung des Helden mit dem Schurken Hamd el Amasat die Auseinandersetzung mit dem Schockerlebnis des >Uhrendiebstahls<, das letztendlich den unschuldig-Schuldigen über den Dornenweg ins Land des Lichtes führen soll.(11) Damit legt Karl May den Grundstein für die Rettung der Seele.

Die zweite Episode, das Senitza-Abenteuer, bildet eine für die Zwecke der fortlaufenden Gesamterzählung vorgenommene Umformung der bereits 1876 erstmals bei Münchmeyer veröffentlichten Geschichte >Leilet<(12) und behandelt die Entführung einer schönen jungen Frau aus verhängnisvoller Sklaverei. In der Urfassung seinerzeit war dies eine erstaunliche literarische Gestaltung des 1861 in Glauchau gescheiterten Versuches Karl Mays, einem anderen Mann (seinem Quartierwirt) >die Frau wegzunehmen<.(13) Der Ich-Erzähler befreit das Mädchen Warde, ohne zu wissen, daß es sich um das von seinem eigenen Bruder geliebte Mädchen handelt, und verzichtet dann zugunsten des Bruders. Dieses Brudermotiv ist eine der zahlreichen Varianten des in der Literatur seit je tradierten >Doppelgängers<, um dessentwillen alles geschieht und der die vom Protagonisten bis zuletzt nicht vermutete treibende Kraft darstellt. Innerhalb von Karl Mays seelischem Entwicklungsprozeß ist es die unbewußte Anspielung auf die Hinneigung zur Persönlichkeitsspaltung. Damit mindert sich die Schuld des Täters - sprich hier: des in eine Ehe Einbrechenden ­ Karl May.

In der Senitza-Fassung dominiert Karl Mays Kampf um Emma Pollmer gegen den Widerstand des Großvaters Pollmer und gegen Karls diverse Nebenbuhler. Natürlich handelt der Held in der Erzählung selbstlos, rein im Interesse der um ihr Glück betrogenen Frau, und ist somit von jeder Schuld freizusprechen; gleichwohl aber führt eben dieser Held Kara Ben Nemsi das Mädchen dem mit dem Helden bekannten rechtmäßigen Verlobten Isla Ben Maflei zu (den er in einer späteren Episode der Gesamterzählung noch einmal auftreten läßt) und die Laut-Kombination Ma-ei kennzeichnet das Teil-Selbstporträt.


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In der dritten Episode trifft Kara Ben Nemsi mit dem Seeräuber Abu Seïf und mit dem fahrenden Handelsmann Martin Albani zusammen, und Halef heiratet das Mädchen Hanneh. Und wir begegnen der charakteristischen Mehrfach-Spiegelung samt Ego-Pluralismus, die von nun an das Reise-Werk durchziehen: Die Aufspaltung des Ich in mehr als nur zwei Teil-Ichs, die Zuweisung ein und derselben Funktion an mehrere Figuren und - umgekehrt - die Vereinigung mehrerer Funktionen in ein und derselben Figur, die Darstellung mehrerer persönlicher Erlebnisse vermittels der gleichen Szenenfolge.

Abu Seïf, der Vater des Säbels, der Kara Ben Nemsi gefangennimmt, um Lösegeld zu erpressen, ist der Kolportageverleger H. G. Münchmeyer, der sich listig der Arbeitskraft Karl Mays versicherte. Münchmeyers grob-zupackende, lärmend-polternde Art, die all seine vergeblichen Bemühungen um feines, vornehmes Gebaren übertönte, war die des kruden Säbelgefechtes, dem es an Finesse fehlt. Im Säbelduell zwischen Abu Seïf und Kara Ben Nemsi könnte letzterer Sieger bleiben; er läßt aber aus taktischen Erwägungen heraus Abu Seïf den augenscheinlichen Sieg. So wie das in der Geschichte stimmig ist, so auch in der Realität: Es entspricht Mays klugem Verhalten als Redakteur, dem Verleger eine bestimmte Mitsprache bei der inhaltlichen Gestaltung der von May redigierten Zeitschriften zuzugestehen und darauf zu vertrauen, daß bessere Einsicht sowie Respekt vor May sich bei Münchmeyer allmählich durchsetzen werde. So geschah es zwar auch - aber May wurde für seine Arbeit nicht adäquat bezahlt; und das spiegelt sich darin, daß gerade Halef, für den >die Thaler< lebenswichtig sind, von Abu Seïf seines Geldes beraubt wird.

Kara Ben Nemsis widerrechtliches Eindringen in Mekka, wo er, der Christ, alle wesentlichen Riten eines muslimischen Hadschi erfüllt, zu guter Letzt aber noch mit Abu Seïf hart aneinandergerät, zeigt schlaglichtartig, wie May seine Arbeit im Münchmeyer-Verlag sehen wollte: er konnte sich dort zwar kenntnisreich bewegen und auch neue nützliche Kenntnisse erwerben, aber im Grunde genommen gehörte er nicht dorthin, und der innere Abstand zwischen ihm und Münchmeyer ließ sich nicht wegwischen; ein >Eklat< konnte nicht ausbleiben.

Halef kommt dem in Mekka als Christ entlarvten Kara Ben Nemsi gerade im rechten Moment zu Hilfe und fördert das Entkommen. Das will sagen, daß zum einen Mays Pfiffigkeit - der Halef in ihm - damals den Ausweg fand, wie er bei Münchmeyer ohne Gesichtsverlust für diesen oder für sich selber aus dem Unternehmen ausscheiden könne.


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Zum anderen wächst hier der Mohammedaner Halef, der ja vorgeblich Kara Ben Nemsi >bekehren< will, über sich selbst hinaus: Die von dem Christen vorgelebten Wertvorstellungen stehen Halef höher als die scheinbar bequemen Maximen, denen er bisher anhing; furchtlos riskiert er die eigene Sicherheit. Um der Förderung der Pläne und Absichten seines >besseren Ich< willen, der persönlichen wie der schriftstellerischen Entwicklung wegen, entzog sich Karl May im Frühjahr 1877 der Abhängigkeit von Münchmeyer und nahm ungesicherte äußere Lebensverhältnisse in Kauf.

Das Bild ist insoweit überdramatisiert, als Karl May sich nicht in Feindschaft von Münchmeyer trennte. Die Aufbauschung im Rahmen der Geschichte dient aber der dem Ich notwendigen Bestätigung, daß er immer nur hat Kämpfe führen müssen und jetzt, bei der Niederschrift, eine gewisse Zufriedenheit mit sich zeigen darf. Je größer und gefahrvoller >die Schlachten<, die im Leben zu schlagen gewesen waren, desto berechtigter der Stolz auf >den Sieg<.

Die amazonenhafte Amscha - einst von Abu Seïf geraubt­, ihr Vater, Scheik Malek, und ihre Tochter Hanneh, die alle dem fremden Effendi Kara Ben Nemsi sehr freundlich gesinnt auftreten, spiegeln in Teilaspekten Münchmeyers Menage: Frau Pauline, deren Beziehungen zu Heinrich nicht durchweg die besten waren, ihren gutmütigen Stiefvater, den alten Reuter, und Paulines Schwester Minna, mit der May verheiratet werden sollte - was dann wirklich zum >Eklat< führte, weil May die Heirat ausschlug und seine Redakteurstelle aufkündigte. So nahmen Karl Mays Beziehungen zu Münchmeyers Anhang kein schönes Ende; dies wird in der Erzählung aber dank eines Schwenks der inneren Perspektive ausgeblendet und überblendet: Das zur Münchmeyer-Szenerie nicht passende, für den Fortgang der Erzählhandlung jedoch wesentliche Moment der Heirat Halefs mit Scheik Maleks Enkelin Hanneh leitet über von Minna Ey, vor der Karl May Reißaus nahm, zu Emma Pollmer, der er sich leidenschaftlich-bedingungslos zuwandte, und damit zu Emmas Umfeld. So wird das Abu Seïf-Tableau bei gleicher Personen-Konstellation als ein anderes für Karl May wichtiges Familienbild sichtbar:

Im Jahre 1878 hatte Karl May eigenmächtig Untersuchungen angestellt, um zu erweisen, daß Emmas Onkel, der zum Herumtreiber und Trunkenbold abgesunkene frühere Barbier Emil Pollmer, im Dorfe Niederwürschnitz nicht durch einen Unfall zu Tode kam, sondern ermordet wurde. Damit handelte May sich eine Anklage wegen Amtsanmaßung und - 1879 - eine Haftstrafe von drei Wochen (seine vierte und letzte Verurteilung) ein. Aufgebauscht und verzerrt, wie in Sachen


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Münchmeyer, bringt Karl May Ausschnitte des Falles zu Papier. Und da er, anders als zur Zeit seiner Diebstahls- und Betrugsdelikte - vor Osterstein und Waldheim -, die Berechtigung der Anklage und die des Urteils in der Angelegenheit Emil Pollmer nie anerkannte, darf es nicht wundernehmen, daß er den ahnungslosen ­ weil bereits verstorbenen ­ Verursacher des Debakels gleichsetzt mit der rücksichtslos, gewaltsam und widerrechtlich zupackenden bewaffneten Obrigkeit:

Abu Seïf, dem ein schlechter Ruf vorausgeht und der sich als Derwisch ausgibt, was auf Betteln und Vagabundieren hindeuten soll, gelingt es, den Ich-Erzähler gefangenzunehmen. Emil Pollmer, als Barbier geschickt im Umgang mit dem Rasiermesser (dem Säbel), erregte das Interesse Karl Mays in einem Maße, daß dieser sich, sehr zu seinem Schaden, >verfing< ­ und eingesperrt wurde. Im Duell mit Abu Seïf schlägt Kara Ben Nemsi dem Herausforderer die Waffe aus der Hand und appelliert an den Edelmut des Verblüfften, und in der Geschichte kann das ja auch nicht anders sein, ­ aber dem in den Jahren 1878 und 1879 wieder einmal mit Polizei- und Gerichtsmaßnahmen konfrontierten Karl May gelang es keineswegs, die Gegner zu entwaffnen und sie zur Rücknahme der Anklage zu bewegen.(14)

Der gleiche Sachverhalt wird abgebildet im Erscheinen des Christen Kara Ben Nemsi in Mekka, wo er als Andersgläubiger nichts zu suchen hat: Karl May begab sich in einer ihm nicht zukommenden Rolle nach Niederwürschnitz und vertrat dort als einziger >einen anderen Glauben<, indem er eine Ermordung Emil Pollmers unterstellte. Die Ortsbehörden gerieten in Aufregung - wie Abu Seïf in Mekka -, und der von seiner Rolle wohl etwas zu durchdrungene Karl May hatte damals Mühe, einigermaßen glimpflich davonzukommen ­ wie Kara Ben Nemsi.

Im Zuge der strafrechtlichen Verfolgung Mays war 1878 eine Entfremdung zwischen Karl und Emma eingetreten, nachdem beide längere Zeit ohne Trauschein miteinander gelebt hatten; Karl nahm wieder Wohnung bei seinen Eltern. Im Frühsommer 1880 jedoch kam es zur Versöhnung und im August 1880 zur Heirat. Zum Zeitpunkt der Niederschrift der Abu-Seïf-Episode also sollten Schatten und Schicksal Emil Pollmers endgültig begraben und vergessen sein. Halef hat sich nach Hannehs Anblick sogleich gegen den Gedanken gesträubt, nur eine Scheinehe einzugehen, und erklärt kategorisch, »ich gebe sie nicht wieder her« (309). So bringt er denn, zur Genugtuung aller Beteiligten, Abu Seïf zur Strecke, überwindet alle Hindernisse, die einer Eheschließung im Wege stehen könnten, und gewinnt Hanneh zur Frau.

Hat Karl May in bezug auf die Abbildung der Münchmeyer-Szenerie


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einige Aussparungen vorgenommen, so jetzt auch einige Retuschen hinsichtlich des Pollmer-Bildes. Der Ich-Held hat an der Verfolgung und Beseitigung Abu Seïf keinen Anteil: er bleibt sinnend allein zurück, während die anderen den Bedroher jagen (310) und später seinen Leichnam umdrängen (312). Es ist Halef, der Ruhm auf sich lädt. Den großen Karl May, der edlen Zielen entgegenstrebt, geht die Sache nichts an. Er lenkt das Licht auf den kleinen Schwadroneur, der sich so gern in die schmale Brust wirft und der es so eilig hat, Ehemann zu werden. Der Sieg Halefs ist nicht nur erzähltechnisch bedingt, sondern auch Karl Mays heimliches Eingeständnis vor sich selbst, daß er mit der zu guter Letzt doch vollzogenen Heirat nur seinem >kleineren Ich< einen Triumph verschafft hat und nun an Alltäglichkeiten und Forderungen gebunden ist, statt wie Kara Ben Nemsi in allem frei zu sein.

Daß Abu Seïf gewaltsam statt durch einen Sturz oder anderen Unfall ums Leben kommt, entspricht dem seinerzeitigen Gerücht von der Ermordung Emil Pollmers, durch das Karl May sich zu seinem Schaden hatte täuschen lassen; und dieses Motiv Täuschung belastet insgeheim und unaufhörlich die Beziehung zu Emma. »Die Liebe ist eine Koloquinthe. Wer sie ißt, bekommt Bauchgrimmen.... Und wen ihre Strahlen treffen, der bekommt den Sonnenstich«, spottet Kara Ben Nemsi (272), weil Karl May sich heimlich auflehnt gegen die Fesseln der Leidenschaft, die ihn an Emma binden. So verschafft er sich Distanz zur eigenen Unzulänglichkeit und bastelt an der Wirklichkeit mit Erfolg herum: Im Gegensatz zu Karl May selber handelt Halef, als er Abu Seïf = Emil Pollmer nachstellt, nicht in blindem Eifer, sondern ­ überraschend genug - nach Vernunft und Überlegung; indem er eine Heldentat verrichtet, tut er das, was May sich bei seinen Ermittlungen vorgestellt hatte; und eben durch seine Tat beschleunigt Halef die Erfüllung seines Herzenswunsches Heirat mit Hanneh, während die Beziehung Karl/Emma daran zu scheitern drohte.

Hoffnung wie Zweifel hinsichtlich seiner Ehe spiegelt Karl May auch in dem von Kara Ben Nemsi gespendeten und von Halef als besonders wertvoll angesehenen Hochzeitsgeschenk: ein unter Glas befindliches Teufelchen, das allerlei Verrenkungen vollführen und Grimassen schneiden kann, aber auf ewig gefangen ist (278ff.). Das ist eine gelungene Anspielung auf Karl Mays Hoffnungen, alle in ihm steckenden Versuchungen zum Bösen für immer gebändigt zu haben und - im Vertrauen auf das gute Gelingen der Ehe - das Wissen um all seine Schwächen und Sünden in Emmas Hände legen zu können, dieweil Emma selbst nunmehr als Ehefrau ebenfalls alle in ihr steckenden Teufelchen für immer unter Verschluß halten werde. Teufelchen aber, ob


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künstlich gefangen wie dieses oder nicht, kennen nun einmal teuflische Mittel, sich unerwartet doch bemerkbar zu machen...

Auf einer dritten Ebene zeigt sich in Amscha und Hanneh Karl Mays Reminiszenz an seine trauliche Beziehung, 1869, zur mütterlichen Malwine Wadenbach und ihrer Tochter, wobei im Auftreten des umherziehenden Österreichers Martin Albani ein Ausschnitt aus dem tollkühnen Rollenspiel Mays als Plantagenbesitzer Albin Wadenbach, Anfang 1870, sichtbar wird. Da der Autor jedoch hierauf im späteren Verlauf der Gesamterzählung viel wirkungsvoller zurückkommt und eine Erläuterung bereits an anderer Stelle geboten wurde, kann eine Einzelbetrachtung jetzt und hier entfallen.(15)

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Das Ende des Kapitels >In Mekka< bildet innerhalb der Gesamterzählung eine markante Zäsur. Der Leser gewinnt den Eindruck, als habe der Autor sich bis zu diesem Punkt mit den einzelnen voraufgegangenen Episoden eine Art Exposition geschaffen und sich an die eigentliche Handlung, die er jetzt folgen läßt, sozusagen herangetastet. Von nun an folgt das Gesamtgeschehen einer einzigen großen Linie, die sich von ihrem Endpunkt her mühelos zurückverfolgen läßt und die Karl Mays Erzähltalent, seine unnachahmliche Faszination als >story teller<, sichtbar belegt. Den Endpunkt der Geschichte markieren, wie jeder Karl-May-Leser weiß, zwei herausragende Ereignisse: Kara Ben Nemsis erster Widersacher, der Schurke Hamd el Amasat, wird unschädlich gemacht; und der Rappe Rih verbleibt bei Halef statt bei dem reichen David Lindsay. Mit dem Ende Hamd el Amasats wird noch einmal auf den Ausgangspunkt der Gesamthandlung Bezug genommen; und die Rückkehr Halefs mit Rih in dessen Heimat verweist zurück auf den >zweiten Ausgangspunkt< der Ereignisse: das Kapitel >Am Tigris<. Das entspricht nun exakt dem inneren Anliegen Karl Mays, dem er sich, jedenfalls vom Unterbewußten her, bei der Niederschrift der Kara-Ben-Nemsi-Odyssee widmete: die Überwindung der Schmach des Verlustes des Lehrerberufes - und, als Kompensation, Ehre und Ruhm als Schriftsteller.

In Hamd el Amasat zeichnete Karl May, wie bereits früher dargelegt, den Altchemnitzer Buchhalter Julius Hermann Scheunpflug, dessen böswillige Anzeige wegen Uhrendiebstahls den jungen May die Laufbahn als Volksschullehrer kostete.(16) Nach psychisch bedingtem Abgleiten in die Kriminalität und bitteren Erfahrungen als Strafgefan-


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gener schuf sich Karl May als Schriftsteller eine neue, eine rettende Existenz. Der unbezweifelbare Durchbruch, die ganz eigene unverwechselbare Note, die daraus entspringende Sicherheit, auf dem richtigen Wege zu sein, kamen mit >Giölgeda padishanün<. Und nach jenem Moment in der Geschichte, da der Held >In Mekka< war und nachdem Halef geheiratet hat, tritt urplötzlich mit dem Rappen Rih jenes geheimnisvolle Etwas in den Vordergrund, das seit nunmehr über hundert Jahren jugendliche wie angejahrte Leser dazu gebracht hat, ihre Nachtruhe hinzugeben und Verabredungen zu versäumen und Schelte zu riskieren: Von Rih zu lesen, Kara Ben Nemsi auf Rihs Rücken zu wissen, entschädigte für alle Unbill und ließ die Welt leuchten. »Schnellfüßigkeit, Mut und einen langen Atem« bescheinigt Karl May dem Rappen (359) - all die Eigenschaften, die er selber, im übertragenen Sinne, als Schriftsteller im Kampf ums Dasein beweist. Rih, das herrlichste Pferd, das je ein Autor ersann, verkörpert Karl Mays verblüffendes Talent, mitreißend zu erzählen, zu gestalten, den Leser nicht mehr loszulassen.(17)

Nachdem er sein eigenes Mekka erreicht hat, d. h. als etablierter freier Schriftsteller die langbegehrte Frau endlich geheiratet hat, ist er, unbeschadet stiller Zweifel ob der Beständigkeit des Glücks, fest entschlossen, sein Talent in den Dienst dieser Ehe zu stellen, und er läßt dieses Talent jetzt springen und rennen und mit ihm davonjagen. Und unter der Hand gerät ihm die spannende Handlung zur Rückschau auf den Beginn seiner Schriftstellerlaufbahn, den Beginn seiner Seelenrettung. Er holt weit aus - und erzählt die Münchmeyer-Geschichte in ganz neuem Gewande.

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Kara Ben Nemsi begibt sich von Mekka nach Maskat, da ich es nicht wagen konnte, mich im Westen des Landes sehen zu lassen (317) - so wie Karl May es vermied, die Stätten seiner kriminellen Streiche in den mehr westlich gelegenen Landesteilen Sachsens ohne Not zu berühren. Das zweimalige >M< - Mekka/Maskat - legt die Spur ganz deutlich: Die Verbindung May/Münchmeyer nimmt feste Formen an.

In Maskat begegnet Kara Ben Nemsi einem scheinbar lächerlichen, auf Abenteuer erpichten Mann, der sich bald als sehr brauchbarer Gefährte entpuppt, wenngleich ihm viele elementare Kenntnisse fehlen: Sir David Lindsay, der den Erzähler respektvoll begrüßt - »kenne Sie!« (320) - und mit einem einladenden »bezahle gut, sehr gut!«


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(ebd.) den bereitwilligen Kara Ben Nemsi als Reisebegleiter anheuert. Das war ein Anerbieten, wie es mir nicht gelegener kommen konnte. Ich bedachte mich nicht lange und schlug ein. Natürlich aber stellte ich die Bedingung, daß es mir zu jeder Zeit frei stände, meine eigenen Wege zu gehen. (321)

Die Übereinstimmung dieser Szene Kara Ben Nemsi/Lindsay mit der rund dreißig Jahre später zu Papier gebrachten Schilderung in Karl Mays Selbstbiographie >Mein Leben und Streben<, wie es zu seiner Anstellung als Redakteur kam, könnte kaum auffälliger sein: »Ich habe viel von Ihnen gehört und ... ich habe Ihre Manuskripte gelesen. Ich kenne mich aus. Sie sind der, den ich brauche!«(18) ... Ich gestehe, daß er mich durch dieses Versprechen schon mehr als halb gewann. Das klang in Beziehung auf meine Pläne ja fast wie ein Himmelsgeschenk! ... Und ich war gar nicht gebunden.... Ich konnte ... alle drei Monate gehen, wenn es mir nicht gefiel.... da gab ich ihm den Handschlag...(19) - Auf Kara Ben Nemsis Erkundigung, wann die Reise beginnen solle, antwortet Lindsay: »Uebermorgen - morgen - heut - gleich!« (321) Und auf Karl Mays Frage, wann er seine Stellung antreten solle, erwiderte Münchmeyer: »Spätestens übermorgen.«(20) Damit sind wir mittendrin.

»Titel nicht, brauche nicht - « (320) wehrt Lindsay in bezug auf seine Person ab. Aber der neue Redakteur wurde damals überall wohlberechnet als der »Herr Doktor Karl May«(21) eingeführt...

Auf sich selbst bezogen, karikiert Karl May die Begleitumstände, die seinerzeit den Weg zum gefeierten Schriftsteller hemmten: Die graukarierte Hose und Jacke als Hinweis auf die gestreifte Sträflingskleidung; den gravierenden Mangel an Fremdsprachenkenntnissen; das durch Wagemut allein nicht zu ersetzende Fehlen an fundiertem Wissen; die Nachahmung von Leistungen, die auch andere schon erbracht hatten. Mays Vorstrafen waren ihm auf keinen Fall förderlich; seine Kenntnis fremder Sprachen beschränkte sich ­ jedenfalls noch 1881, bei der Niederschrift der Maskat-Tigris-Szenen - auf die in Wörterbüchern, ggf. in Grammatiken, aufgefundenen Proben; selbst sein Englisch war nahezu wertlos, wie er ganz unbewußt eingestand, indem er partout >Sir Lindsay< statt korrekt >Sir David< schrieb;(22) das mittels der heimischen Leihbücherei, mittels des Lehrerseminars und mittels der Zwickauer Gefängnisbibliothek angesammelte recht konfuse Wissen prädestinierte ihn nicht unbedingt zu einem überragenden Literaten; und die in Anlehnung an zeitgenössische Vorbilder produzierten Dorfgeschichten, Humoresken und vom Hauch der Ferne durchwehten Geschichten vor 1880 gleichen so ganz Lindsays Vorhaben, mittels einer einzigen Hacke Grabungen auf den Spuren anderer Forscher vorzunehmen. (Daß ge-


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rade Karl Mays Dorfgeschichten sich im Ergebnis wohltuend abheben von anderen Beispielen dieses Genres, ändert nichts daran, daß Karl May als i h r Autor nur >einer von vielen< war.)

Dieser Engländer ist jedoch neben aller Verschrobenheit auch zäh und leistungsstark - und er ist unermeßlich reich: drei Eigenschaften, denen nachzueifern für Karl May keine Schande ist und deren erste beiden ihn in Schwung halten, damit eines Tages auch vielleicht die dritte sich einstelle.

Auf Münchmeyer bezogen, verhält es sich ähnlich: Dieser war ursprünglich für das schwierige Geschäft eines Buchverlegers denkbar ungeeignet, wuchs aber dann innerhalb seiner Sparte zu beachtlicher Größe heran (der Sprung in die Seriosität blieb ihm freilich verwehrt); er gebärdete sich sozial tiefer Stehenden gegenüber gern als großer Herr; er umgab sich mit der Aura des Vornehmen (ohne die Voraussetzungen zu erfüllen); er bewegte seinen Verlagsbetrieb auf eingefahrenen Gleisen; aber er besaß Mut und Initiative: wie sein Redakteur und Autor Karl May und wie David Lindsay. Er aß gern gut und viel - wie Lindsay; und er und Karl May bauten rasch das gleiche vertraulich-respektvolle Verhältnis zueinander auf, das Lindsay und Kara Ben Nemsi verbindet. May wie Münchmeyer waren um den Aufstieg bemühte Männer niedriger Herkunft - >Davids< auf dem Weg zur Höhe. Und doch gehörte Münchmeyer lebenslang einer anderen Geisteswelt an als Karl May, und auch Lindsay und Kara Ben Nemsi können bei aller gegenseitigen Sympathie und Verbundenheit und Ähnlichkeit im Verhalten nie die vorgegebenen Statusgrenzen und inneren Unterschiede verleugnen.

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Die Reise geht, über Basra und Bagdad, am Tigris hinauf ins Ungewisse, ins Abenteuer. Entgegen Kara Ben Nemsis Warnungen glaubt Lindsay, seine Einfälle seien die besten - und verschuldet prompt den Raub der mitgeführten Reitpferde. Nur durch Kara Ben Nemsis Umsicht und Klugheit erlangen sie die Pferde zurück. Fortan fügt Lindsay sich willig den Vorschlägen seines Begleiters: Karl May/Lindsay war seinerzeit bereit, aus früheren eigenen Versäumnissen zu lernen und besseren Einsichten zu folgen, und bewies bei Münchmeyer sowohl Tatkraft als auch ein ungewöhnliches Geschick; und Münchmeyer/ Lindsay mischte sich zwar gelegentlich in das Redaktionsgeschäft ein, um den Chef hervorzukehren, ließ sich aber dann von Mays geistiger


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Überlegenheit leiten. Unabhängig hiervon spielt der Raub der Pferde auf Münchmeyers Unvermögen an, die seinem Unternehmen drohenden Gefahren richtig einzuschätzen: Karl Mays Vorgänger Otto Freitag hatte Münchmeyer wegen eines Streites über die zum Untergang verurteilte Zeitschrift >Der Beobachter an der Elbe<(23) verlassen und alle Manuskripte mitgenommen(24) - also die Pferde geraubt. Hilfesuchend wandte Münchmeyer sich an May als Retter - wie Lindsay an Kara Ben Nemsi. Während es in der Realität seinerzeit wohl kaum zu einer Restitution etwa mitgenommener Manuskripte gekommen sein dürfte, muß in der Erzählung natürlich Kara Ben Nemsi die Pferde zurückgewinnen und damit die Situation >Am Tigris<, sprich: an der Elbe, retten. Wir wissen ja längst, daß auch das Umkehrprinzip ­ wie die multiple Identität - unerläßlich ist als Mittel des Autors, die Durchschlagskraft des Helden zu demonstrieren - und das Schicksal zu korrigieren.

Das Mittel der vielfach gebrochenen Identität setzt Karl May souverän ein. Während er selbst sich in Kara Ben Nemsi darstellt und ein Teil Lindsays ist und natürlich nicht aufhört, in Halef zu erscheinen, schafft er neben dem ebenfalls durch Lindsay porträtierten Münchmeyer ein weiteres Abbild des Verlegers und auch zugleich ein Teilporträt des eigenen Vaters, Heinrich May, indem er seinen Helden vor Scheik Mohammed Emin führt ... Der scheinbare Wirrwarr ist nur Larve; bei näherem Hinsehen erweist sich die Identitäts-Spaltung und IdentitätsVerknüpfung als das aus zwingender innerer Logik entspringende Medium, die Spiegelung der Wirklichkeit im Gewande des exotischen Abenteuers zu bewirken.

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Von Halef wird Kara Ben Nemsi zeitweilig getrennt. Das hat, im Lichte des Erzähl-Hintergrundes, einen dreifachen inneren Grund: Erstens betont der junge Ehemann Karl May hier beim Schreiben vor sich selber, daß sein Körper (Halef) bei Emma (Hanneh) weilt, während er sein geistiges Ich zurückschickt in die Vergangenheit, die Münchmeyer-Zeit, also bis zur Vor-Emma-Zeit. Zweitens läßt er Kara Ben Nemsi und Halef auf getrennten Wegen dasselbe Ziel, nämlich Mohammed Emin und die Haddedihn, erreichen - und zeigt damit seine auf zwei verschiedenen Ebenen zustandegekommene Bindung an Münchmeyer: Als Kara Ben Nemsi, also die auf höhere Werte gerichtete Seelenschicht, ergreift er die von Mohammed Emin (als Münch-


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meyer) gebotene Chance und Herausforderung zum Handeln um idealistischer Vorstellungen willen; als Halef, also die untere, den irdisch wichtigen Dingen zugewandte Seelenschicht, sucht er bei Mohammed Emin/Münchmeyer die durch Aufnahme in den Stamm der Haddedihn/in den Verlagsbetrieb gesicherte Existenz, die Geborgenheit, die erklärlichen materiellen Vorteile. Drittens sind Kara Ben Nemsi und Halef der Autor Karl May in dessen Funktion als Sohn, mit Mohammed Emin in der Rolle des Vaters Heinrich May: Im Vordergrund steht, zur Zeit der Niederschrift 1881, der vom Erfolgsnimbus umwehte Sohn, dessen eigentliche Laufbahn 1875 begann, als der Vater ihn drängte, die Redakteurstelle bei Münchmeyer anzunehmen, um endlich Boden unter die Füße zu bekommen und die Familie zu entlasten wie Mohammed Emin dem Helden besondere Fähigkeiten zutraut und ihn zur Rettung des bedrohten Stammes verpflichtet. Ein geraumes Stück dahinter erscheint - gerade noch rechtzeitig genug, um nicht in Vergessenheit zu geraten - Halef als die Imago des Mittellosen, des ohne Zukunftsaussichten Zuflucht Suchenden, den die Vaterfigur Mohammed Emin willig aufnimmt ­ wie Heinrich May den Ex-Häftling Karl nach dessen Entlassung... Karl May überwand die Schwierigkeiten der Resozialisierung, indem er die positiven Züge seines Halef-Ich mobilisierte und ausbaute. Und wie nach Waldheim in Ernstthal, 1874, und bei Münchmeyer in Dresden, 1875, so erhält der kleine Kerl auch bei den Haddedihn durch Kara Ben Nemsi sogleich Gelegenheit, sich nützlich zu machen ­ denn »Wie ich mit den Waffen umzugehen verstehe« (408), weiß niemand besser als Karl May selber ...

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Die Dreizahl, die uns bei der Aufspaltung Karl Mays in die drei Teil-Identitäten Kara Ben Nemsi, Halef und Lindsay sowie bei den drei Gründen für Halefs vorübergehende Trennung von Kara Ben Nemsi begegnet, durchzieht die Handlung ganz auffällig. Kara Ben Nemsi ist mit drei Gefährten (Lindsay und dessen beiden Dienern) unterwegs; er bezeichnet sich (bzw. wird bezeichnet) dreimal, ganz ungewöhnlich, als einen (Sohn der) Uëlad German (346, 354, 373); drei Haddedihn begleiten ihn zum Scheik Mohammed Emin; dieser hat drei Frauen; drei feindliche Nomadenstämme bedrohen den Frieden der Haddedihn und werden dann ihrerseits von drei verbündeten Stämmen besiegt; Kara Ben Nemsi befreit drei gefangene Dschesidi; und drei Männer schließen Blutsbrüderschaft. Diese Häufung ist natürlich kein Zufall. Es


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geht um das Fundament der Schriftsteller-Existenz Karl Mays: die drei von ihm verantwortlich redigierten Zeitschriften, deren Erfolg er gegen alle Widerstände durchsetzte, und die dazugehörigen Begleitumstände.

Mit drei hinter ihm liegenden Vorstrafen tritt Karl May 1875 seine Redakteurstelle an; er schämt sich ihrer und sucht der Außenwelt gegenüber sein Vorleben zu verbrämen. Diese verständliche Haltung schlägt sich verräterisch in der Erzählung nieder: Für den Helden Kara Ben Nemsi besteht keinerlei Veranlassung, plötzlich als >Uëlad German< aufzutreten und sich außerdem bestätigen zu lassen, er spreche »die Sprache der westlichen Araber« (343); aber der Autor, der ja aus dem Unterbewußten heraus gestaltet, liefert hier unwillkürlich den Hinweis auf seine Herkunft und auf seine innerliche wie äußerliche Entfernung von den >weit im Westen< (von Dresden her gesehen, auch geographisch richtig so bezeichneten) verbrachten Perioden der Strafzeiten und Haftzeiten.

Als vormaliger Krimineller war Karl May ein >dem Bösen anheimgefallener< Mensch, quasi also ein >Anbeter des Teufels<. Die durch Münchmeyer angebotene kreative Aufgabe verhieß die Möglichkeit der Bewährung, praktisch der Entsühnung; Karl May betrieb ernsthaft seine Rehabilitierung. Gleichermaßen läßt sich Kara Ben Nemsi von Mohammed Emin zur Rettung des Stammes engagieren - und kann im Zuge seiner Heldentaten unter anderem drei Dschesidi, drei >Teufelsanbeter<, befreien. Da nun die Dschesidi nur irrtümlich in dem üblen Rufe stehen, den Teufel zu verehren, sind auch Karl Mays Straftaten und seine Verurteilungen nur als schicksalhafter Irrtum zu werten. Das >Uëlad German< als Bekenntnis wie Beschönigung des befleckten Vorlebens hat ausgedient; das unbefleckte >Ben Nemsi< des ideal gesinnten Helden kann hell erstrahlen.

Dem Vater Heinrich May und dessen >drei Frauen<, d. h. Mays Mutter und den beiden jüngeren Schwestern Mays,(25) mußte die ehrenwerte Redakteurstätigkeit des Ex-Zuchthäuslers Karl imponieren. Der junge, adrette und nicht übel aussehende >Herr Doktor< genoß auch das Wohlwollen des Prinzipals Münchmeyer und der in dessen Haushalt lebenden Frauen. Der Eindruck im heimischen Ernstthal wie das Renommee in Dresden sind szenisch treffend gestaltet, indem Scheik Mohammed Emin und seine Frauen in Kara Ben Nemsi einen bewunderungswürdigen Helden und >Emir< sehen.

Diesem Emir nun stellt Mohammed Emin das wunderbare Pferd Rih zur Verfügung, mit dem Kara Ben Nemsi auch sofort eine Probe seiner Reitkünste ablegt. Rih hat, wie bereits angeführt, drei maßgebende


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Eigenschaften: er ist schnell, ausdauernd und mutig - und genau das war auch Karl May bei seinem Vorstoß in die Welt der literarischen Produktion. Rih symbolisiert das vom Vater Heinrich May überkommene musische Talent, gekoppelt mit der Vater und Sohn eigenen Anlage zur Dynamik, und das durch Münchmeyers respektvolles Wohlwollen geweckte Selbstvertrauen.

Kara Ben Nemsis Kundschafterritt bringt weit größeren Erfolg ein als vorherzusehen - wie Karl Mays Rundreise 1875 zu den drei großen Unternehmen Hartmann in Chemnitz, Borsig in Berlin, Krupp in Essen, wo er für seine neu gegründete Zeitschrift >Schacht und Hütte< warb und eine Vielzahl Bestellungen erntete.(26) Ein unangenehmer Zwischenfall auf dem Ritt ist die Gefangennahme des Helden durch die Abu Hammed, die ihn verhöhnen: »Wir waren vorhin nicht höflich genug, und daher war dir unsere Gastfreundschaft nicht angenehm.« (381) Ich war zu sorglos gewesen... Ich war trotz meines guten Pferdes ein Gefangener. Der Mensch ist oft ein sehr übermütiges Geschöpf! (ebd.) Das ist die etwas bittere Reminiszenz an das Einschreiten der Polizeibehörde, die ihm nicht gestatten wollte, Ernstthal zu verlassen und sich als Redakteur in Dresden aufzuhalten, da Polizeiaufsicht über ihn verhängt war.(27) Auch Münchmeyers nachträgliches störendes Eingreifen in die Konzeption von >Schacht und Hütte<(28) spiegelt sich darin. Doch dies Intermezzo gefährdet Kara Ben Nemsis Pläne nicht lange: er tötet einen Löwen, was niemand für möglich gehalten hat, und entkommt mit dem Fell. So verklärt der Autor die Erinnerung: Karl May schaffte es damals durch Fleiß und List, sowohl der Polizei als auch den Redakteurspflichten gerecht zu werden; er fügte sich zunächst der Aufsicht, trotzte ihr aber dann erfolgreich und reiste sogar bis Berlin und ins Ruhrgebiet; und von der Richtigkeit seiner Sache überzeugt, verschaffte er mit Elan und glatter Zunge auch der gegen seinen Willen veränderten Zeitschrift noch Erfolg.

Das Fell des Löwen als besondere Trophäe schenkt Kara Ben Nemsi großmütig dem Scheik Mohammed Emin - womit ebenfalls dreierlei angesprochen wird: (1) Münchmeyer als Verleger erwarb damals den äußeren Ruhm; (2) Karl May ließ es zu, daß sein Name nicht als der des verantwortlichen Redakteurs auf dem Titelblatt der Zeitschrift erschien, und begnügte sich damit, als Verfasser von Beiträgen (so insbesondere der Aufsatzreihe >Geographische Predigten<) genannt zu werden; (3) den ihm nicht zustehenden Doktortitel, den er zur Durchsetzung seines Talentes nicht benötigte, wies er zurück (Der Rappe scheute vor dem Felle; er konnte den Geruch ... nicht vertragen - 390), obschon er ihm nicht wenig schmeichelte. Bei der Belegschaft des Verlags


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bedurfte es eines solchen Titels auch nicht; sie schätzte May ohnehin, wie dieser später glaubwürdig niederlegt: »Als der Redakteur May in das Geschäft trat, ging es sogleich in einem ganz andern, bessern Tone. Er war anständiger als Münchmeyer. Wer mit beiden redete, der wußte nicht, welcher der Chef war, Münchmeyer oder May.«(29) In der Erzählung entspricht das der Aussage Mohammed Emins, wonach seine Haddedihn Kara Ben Nemsi lieben und von ihrem Sieg unter seiner Führung überzeugt sind (409).

Dieser überwältigende Sieg im Tal der Stufen, der dank Kara Ben Nemsis Plan über die drei den Haddedihn feindlich gesinnten Stämme errungen wird, ist der Triumph des jungen Redakteurs Karl May, der seine Ideen bei Münchmeyer durchgesetzt hat. (Ich), der Laie im Kriegswesen (398), d.i. der plötzlich zum Redakteur avancierte Laie, sagt dem Scheik/dem Verleger freimütig, was zu tun sei. Ich hielt es keineswegs für eine Versündigung ..., wenn ich mich hier beteiligte; es lag vielmehr wohl in meiner Hand, die Grausamkeiten zu mildern, welche bei diesen halbwilden Leuten ein Sieg stets mit sich bringt. (398f.) May entwickelte dem in seiner Denkart viel primitiveren Münchmeyer gegenüber plausible Überlegungen hinsichtlich der Neustrukturierung der Zeitschriften und deren Befreiung von Wust und >Unrat<. Heinrich Münchmeyer ging bereitwillig darauf ein und hofierte May nach Kräften, und Heinrichs Bruder Fritz trug May spontan das >Du< an.(30) Diese zeitweilige Kameraderie von damals findet ihren bildhaften Ausdruck in der Blutsbrüderschaft-Szene (423ff.).

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Ist der Sieg Mohammed Emins und seiner Verbündeten unter Kara Ben Nemsis Anleitung und Oberbefehl zum einen der Erfolg des Redakteurs Karl May im Konkurrenzkampf, so ist er zugleich, in anderem Lichte, auch die Spiegelung der >Siegerrollen< Karl Mays und Münchmeyers bei der (vergeblich vorgenommenen) Haussuchung im Verlag wegen Verbreitung verbotener Schriften (u. a. der >Geheimnisse der Venustempel...<).(31) Auf Betreiben österreichischer Behörden entschloß sich die sächsische Polizei 1876 zur Aktion gegen den Verlag Münchmeyer - und in der Erzählung rennen drei vom Gouverneur von Mossul aufgehetzte, obschon nicht seiner Befehlsgewalt unterstehende Araberstämme gegen die Haddedihn an und erleiden eine Schlappe. Karl May selber war weder am Zustandekommen des >Venustempel<-Buches noch am Beiseiteschaffen der inkriminierten


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Exemplare mitschuldig und während der Haussuchung auch nicht anwesend ­ so wie Kara Ben Nemsi sehr geschickt und wohlbegründet sich selbst und Lindsay und auch den inzwischen aufgetauchten Halef aus dem eigentlichen Kampfgeschehen heraushält (401,429), ohne daß man ihnen Feigheit vorwerfen kann. So lädt der Held keine Blutschuld auf sich. Erst später wurde May, ohne Nachteile für ihn, vom Gericht als Zeuge zur Sache >Venustempel< vernommen; und diese neuerliche Begegnung mit der Behörde - nach dem Zwischenfall der Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis für Dresden 1875 ­ spiegelt sich dann in Kara Ben Nemsis zweitem Besuch bei den Abu Hammed (die ihn gefangen hatten), wo er diesmal, nach dem Sieg, unbehelligt bleibt.

Diese Abu Hammed und ihr Scheik Zedar Ben Huli sind die unverschämtesten und niederträchtigsten der Gegner; sie spiegeln die in Mays Realwelt von 1875 als die beiden Widersacher empfundenen Kräfte: die Behörden hie, der Redaktions-Konkurrent Otto Freitag dort. Die Räuber der Pferde Kara Ben Nemsis und Lindsays waren, wie sich herausstellt, Abu Hammed, darunter ein Sohn ihres Scheiks, der seine Existenz auf Wegelagerei und Räuberei gründet und Gefangene eingräbt und dann ein jähes Ende findet ­ eine dramatisierende Aufbereitung der für Karl May maßgebenden Version, daß sein Redaktionsvorgänger tückisch gehandelt, alle Manuskripte mitgenommen und ein Konkurrenzunternehmen gegründet hatte, das dann - so May - bald in Konkurs geriet(32) Zwar deckt sich dieses Wunschbild des Autors vom raschen Niedergang Otto Freitags nicht mit dem objektiven Tatbestand,(33) doch beflügelte dieses Bild 1875 Mays Energien; und noch in späteren Lebensjahren war er durchdrungen von der Vorstellung, er als Berufsanfänger habe einen erfahrenen Fuchs zur Strecke gebracht.

Im übrigen stehen den Abu Hammed ­ als Räubern und als Gegnern der Haddedihn - die benachbarten Abu Mohammed als gutartige Nomaden und als Verbündete der Haddedihn gegenüber: ein Kunstgriff der Polarisierung. In der Ähnlichkeit der Stammesnamen symbolisiert Karl May die schmale Trennlinie zwischen Böse und Gut, Lüge und Wahrheit, also das Prinzip seiner eigenen Erzählweise.

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Trotz aller ihm bei Münchmeyer eingeräumten Freiheiten war Karl May dort auch eine Art Gefangener. Münchmeyer konnte mit Recht darauf verweisen, der Vorbestrafte werde nicht leicht eine andere


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adäquate Stellung finden. (Daß dies May später doch gelang, durfte zunächst nicht als selbstverständlich gelten.) Und auch der gutwillige und leistungsbereite Buchdrucker Wilhelm Gleißner, von May offensichtlich sehr geschätzt und von ihm die Seele des Geschäfts, ... die eigentliche treibende Kraft des Verlegers genannt,(34) war in Münchmeyers Abhängigkeit geraten. In Personalunion mit Karl May erscheint dieser Wilhelm Gleißner in der Figur des zu unlauterer Tat verleiteten tapferen Scheiks der Obeïde, Esla el Mahem, den Kara Ben Nemsi zum Freund gewinnen kann (432ff.).

Die Doppelfunktion ist unschwer zu durchschauen. Die Lautzusammenstellung seines Namens deutet sowohl auf M-a-y (ähnlich wie Isla Ben Maflei) als auch, unter Berücksichtigung der Polarität der Buchstaben M und W, auf Wilhelm; der in der Sonne glitzernde, gleißende Panzer ist die dritte Erscheinungsform des >aufgepfropften< Doktortitels des Redakteurs und zielt auch auf den Familiennamen des Druckers. Mit einem >Panzer< als Schutzhülle mußte Gleißner sein Inneres umgeben, um seine ihm ­ vor Eintritt Mays in den Verlag - unangenehme Rolle ausfüllen zu können: die Verbreitung seichten oder gar unsittlichen Schrifttums (wie >Venustempel<) an gutgläubiges Lesepublikum. Gleißner hatte seine Arbeitskraft und seine Druckmaschinen unter falschen Voraussetzungen bei Münchmeyer eingebracht - und der Scheik der Obeïde ist durch falsche Angaben zu unrechtem Tun verleitet worden.

Bezüglich seiner selbst zeichnet Karl May in Esla el Mahem die negativen Aspekte seiner Tätigkeit für Münchmeyer: Im Hinblick auf seine wahren Ansprüche arbeitete er dort >unter Niveau<; und nicht zufällig ist es Lindsay, also der mit Mängeln behaftete May/Münchmeyer, der als erster mit Esla el Mahem spricht, während Kara Ben Nemsi sich noch zurückhält. Weil es nun aber keine Schande ist, von einem Edlen besiegt zu werden, verliert Karl May/Esla el Mahem weder Würde noch Ehre, als er sich bei sich selbst/Kara Ben Nemsi in Gefangenschaft begibt: Immerhin machte May ja das Beste aus seiner Stellung bei Münchmeyer und änderte Mißstände und erwirkte für Gleißner positivere Arbeitsbedingungen, was dieser dankbar anerkannte. So unterstützt denn auch Esla el Mahem nach Kräften Kara Ben Nemsi beim Friedensschluß.

Das damalige geheime Einverständnis zwischen Gleißner und May und das gute Andenken, das May dem Buchdrucker bewahrte, äußert sich in dem Geschenk Esla el Mahems an Kara Ben Nemsi, einem Dolch mit der bezeichnenden Inschrift »Nur nach dem Sieg in die Scheide« (446) ­ eine Aufforderung zum Durchhalten. Und Karl May hielt


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durch - wenn auch nicht bei Münchmeyer, wo infolge des an ihn herangetragenen Vorschlags, Minna Ey zu heiraten, eine unerträgliche neue Lage entstand, wohl aber in seinem Kampf um eine lautere Schriftstellerlaufbahn.(35)

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Die Wiedereinbeziehung Halefs - des urtümlichen, instinktiv, impulsiv handelnden Karl May - in die Handlung, gerade rechtzeitig vor dem Beginn der Schlacht der Haddedihn gegen die Feinde, also bei Mays Antritt der Redakteurstelle, zeigt, daß May bei jenem Entschluß voll mit sich in Einklang stand, keine Identitätskrise befürchtete und erkannte, daß der >Halef< in ihm gut zu gebrauchen war bei dem Bemühen, Wollen und Können zu vereinen und ein Optimum an Kompromiß herzustellen zwischen seinen und Münchmeyers divergierenden Auffassungen. In den Worten »die Wege Allahs sind unerforschlich. Ich glaubte, lange nach dir fragen zu müssen, ehe ich eine Kunde bekäme, und nun bist du der erste, dem ich begegne« (406), in Halefs Jubel über das Wiederfinden, liegt Mays Eingeständnis, daß er sich nur wirklich wohl fühlte, wenn er sein >höheres Ich< und sein >niederes Ich< in sich vereint wußte und sie doch separat betrachten konnte. Weil vom >Korrektiv< Halef begleitet, wirkt Kara Ben Nemsi durchweg sympathischer als Karl Mays anderer omnipotenter Ich-Held, »der oft etwas präzeptorale Mr. Shatterhand«.(36)

Neben der auf die Vergangenheit bei Münchmeyer gerichteten Innenschau wird durch Halefs freimütig-naive Drolligkeit, die ihm bei allem Wagemut eigen ist, auch des Autors Lebenswelt zum Zeitpunkt der Niederschrift der Zeilen erkennbar:

Halef preist Hanneh und wird von Kara Ben Nemsi ermahnt, ihr dankbar zu sein und ihr zu gehorchen ­ ein sprechendes Bekenntnis angesichts der Aussage, daß das als Hochzeitsgeschenk überreichte Teufelchen innerhalb der Gefühlsskala Hannehs noch vor Halef rangiert (486f.): Emmas negative Züge haben sich während der seit der Beschreibung jenes Teufelchens-unter-Glas verstrichenen Monate des ehelichen Zusammenlebens keineswegs verflüchtigt; ihr Wissen um Karls Schwächen und sein Vorleben werden ihrer Zuneigung zu ihm nicht untergeordnet. Immerhin aber wirtschaftete sie gut und schirmte Karl May nach außen ab - und bot ihm somit Anlaß zur Dankbarkeit.(37)

Die Verschmelzung des >oberen Ich< mit dem >unteren Ich< in Zufrie-


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denheit wird erkennbar, indem Halef den Rappen Rih, den er natürlich rückhaltlos bewundert, ohne ausdrückliche Erlaubnis besteigt und sich in Siegerpose gefällt (479, 483): Auch das sehr erdgebundene Teil-Ich, das zum Unedlen ebenso auszuschlagen neigt, wie es hilfreiche Auswege aufzuweisen versteht, wird durch das Talent des zum Idealen hinstrebenden Karl May gefördert und beflügelt, mag sich auch Prahlsucht in das Selbstwertgefühl mischen. Kara Ben Nemsi selber hat sich von der Zuverlässigkeit Rihs inzwischen mehrmals überzeugt (u. a. 417f.) ­ und Karl May, so dürfen wir ihm an diesem Punkt unterstellen, ließ sich tragen von der Überzeugung, um schriftstellerische Einfälle und um Durchsetzungsvermögen nie mehr verlegen sein zu müssen.

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Damit beendet Karl May diesen Rückblick auf den Beginn seiner Karriere als Schriftsteller, die eine Karriere der Seelenrettung werden soll. Er hat Münchmeyer gerettet und ihm die Mittel verschafft, auch nach Mays Weggang ein blühendes Unternehmen zu halten: Kara Ben Nemsi hat die Haddedihn gerettet und ihnen erläutert, wie sie den errungenen Sieg und den Frieden wahren und sichern können (451-55). Die Errettung des Autors durch traumhaftes Niederschreiben maskierter Wahrheiten abseits der Bezirke des kontrollierenden Bewußtseins ist freilich noch lange nicht zu Ende, sondern schreitet jetzt im weiteren Verlaufe der großen Reise >Im Schatten des Großherrn< ­ also, um nahe am Bilde zu bleiben, >im Schatten des Großhirns< - zügig fort:

Einer der drei Dschesidi, die auch nur Kara Ben Nemsi ihre Befreiung und Rettung verdanken, berichtet von seinem Zusammentreffen mit Mohammed Emins widerrechtlich gefangengenommenem und verschleppten Sohn Amad el Ghandur (494), und wie nicht anders zu erwarten, bricht Kara Ben Nemsi auf, diesen Amad el Ghandur zu befreien. Damit stürzt sich Karl May hinein in das Abenteuer, von seiner Irrfahrt in das Gefängnis Osterstein bei Zwickau und, später, in das Zuchthaus Waldheim zu berichten - und mit der Rettung all der Menschen, denen Kara Ben Nemsi tatkräftig und unerschrocken zu Hilfe kommt, sollen und können immer größere Flächen der eigenen Seele von Schmach gereinigt werden. Er ist auf gutem Wege.

Aber die im Schreibprozeß angestrebte Bewältigung der Vergangenheit, der Loslösung von Schuld und der Umkehrung der Schuld in messianischen Triumph gelingt nie vollständig: zurück bleiben immer virolente Reste, aus denen neue Keime sprießen. Immer wieder, und


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immer wieder neu, wird Karl May in den nächsten Episoden und nächsten Schriftstellerjahren seine Straftaten und auch das ab Herbst 1882 neuerlich einsetzende und zunehmend zwielichtiger geratende Verhältnis zu Heinrich Münchmeyer angehen; und immer wieder neu wird er sich mit den zahlreichen Facetten seiner von Lust und Pein durchschüttelten Ehe auseinandersetzen.

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Die tiefinneren Quellen, aus denen Karl May sein Schaffen nährte, sprudelten unaufhörlich, weil sein Dilemma, sowohl ein unschuldig-verkannter, liebeshungriger Verirrter als auch ein mit manisch-exzessiven Zügen ausgestatteter Sucher nach Ewigkeitswerten, ein seelisch Verstörter wie ein seelisch Begnadeter, ein demütig Fügsamer wie ein quirlender Rebell zu sein, ihn immerwährend gleichzeitig in dem unlösbaren Konflikt zwischen Sein und Schein, Ist und Soll, Tat und Anspruch leben ließ. Und so erschrieb er sich, schlichtweg um zu über leben, die Brücke zwischen Abgrund und Himmel. Er erschrieb sich das Gütezeichen KARL MAY. Er ritt pausenlos dahin zwischen Ardistan und Dschinnistan. Und er erzählte in seinen phantastischen Reiseerzählungen die Wahrheit, s o  w i e  e r  s i e  s a h . In diesem Ausleben eines Dauerkonfliktes ist er eine der bemerkenswertesten Verkörperungen des faustischen Menschen schlechthin.(38) Die Seele auf schmalstem Grat zwischen Teufel und Gott. Darum, so glaube ich, sind Karl May und sein >Reise<-Werk unsterblich.



1 Dieser Beitrag bildet einen Teil der Untersuchungen des Verfassers über biographische Spiegelungen in multiperspektivischer Darstellung in Karl Mays großer Orienterzählung, die die Bände 1 bis 6 seiner Gesammelten Reiseromane/Gesammelten Reiseerzählungen/Gesammelten Werke bildet. Zu diesem Thema liegen bereits vor:

Walther Ilmer: Durch die sächsische Wüste zum erzgebirgischen Balkan. Karl Mays erster großer literarischer Streifzug durch seine Verfehlungen. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1982. Husum 1982, S. 97- 130 - Ders.: Das Märchen als Wahrheit ­ die Wahrheit als Märchen. Aus Karl Mays >Reise-Erinnerungen< an den erzgebirgischen Balkan. In: Jb-KMG 1984. Husum 1984, S. 92-138 - Ders.: Von Kurdistan nach Kerbela. Seelenprotokoll einer schlimmen Reise. In: Jb-KMG 1985. Husum 1985, S. 263-320.

2 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. I: Durch Wüste und Harem. Freiburg 1892 - bekannter in der breiten Öffentlichkeit unter dem vom 16. Tsd., 1895, an verwendeten Titel >Durch die Wüste< - Ders.: Gesammelte Reiseromane Bd. VI: Der Schut. Freiburg 1892

3 Die Seitenangaben beziehen sich auf den in Anm. 2 genannten Band >Durch Wüste und Harem<. Die Kenntnis dieses Bandes darf beim Leser vorausgesetzt werden.


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4 Siehe Jürgen Pinnow: Sächsisches in den Werken Karl Mays. In: Jb-KMG 1989. Husum 1989, S. 230 - 264 (259 Anm. 18).

5 Im Zusammenhang mit dem in Abschnitt 4 des vorliegenden Beitrags genannten Strafverfahren wegen Amtsanmaßung (>Affäre Stollberg<); siehe Fritz Maschke: Karl May und Emma Pollmer. Die Geschichte einer Ehe. Bamberg 1973, S. 189f.

6 Vgl. Claus Roxin: Einführung (zu >Durch das Land der Skipetaren<). In Karl May: Durch das Land der Skipetaren. Deutscher Hausschatz. XIV. Jg. (1887- 88), Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Regensburg 1979, S. 4.

6a Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. IV: In den Schluchten des Balkan. Freiburg 1892, S. 352 ­ richtig muß es heißen: karagöz oyunu.

7 Siehe hierzu auch Anton Haider: Was bedeutet Kara Ben Nemsi wirklich? In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (M-KMG) 76/1988, S.54 - Ders.: »Karl der Deutsche«. In: M-KMG 81/1989, S. 54.

8 Siehe auch Jürgen Pinnow: Zum Namen Kara Ben Nemsi. In: M-KMG 77/1988, S. 13f.

9 Vgl. Helmut Schmiedt: Die erzählte Zukunft. Beobachtungen zu Karl Mays Abenteuerromanen. In: M-KMG 64/1985, S. 3- 11.

10 Vgl. Ilmer: Durch die sächsische Wüste, wie Anm. 1, S. 110f. - Helmut Schmiedt: Karl May. Studien zu Leben, Werk und Wirkung eines Erfolgsschriftstellers. Königstein/Ts. 1979, S. 209-212 (21987, S. 220-223).

11 Vgl. Heinz Stolte: Die Reise ins Innere. Dichtung und Wahrheit in den Reiseerzählungen Karl Mays. In: Jb KMG 1975. Hamburg 1974, S. 11-33 (26f.) - Ilmer: Durch die sächsische Wüste, wie Anm. 1 S. 119f.

12 Karl May: Leilet. In: Feierstunden am häuslichen Heerde (1876/77). Zu Mays mutmaßlicher Quelle siehe Bernhard Kosciuszko: >Leilet< - >Eine Rose des Morgenlandes<. In: M-KMG 63/1985, S. 26.

13 Vgl. Wilhelm Vinzenz: Feuer und Wasser. Zum Erlösungsmotiv bei Karl May. Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft (S-KMG) Nr. 26/1980, S. 25. Zu den Fakten siehe Klaus Hoffmann: »Nach 14 Tagen entlassen...« Über Karl Mays zweites >Delikt< (Oktober 1861). In: Jb-KMG 1979. Hamburg 1979, S. 338 - 354.

14 In der Erzählung ist Abu Seïf, der Räuber, mit dem Großscherif von Mekka, dem Repräsentanten der Macht, befreundet. Liegt hier eine Anspielung Mays vor, er halte Ähnliches in seiner Heimat für denkbar bzw. traue es den zwischen dem Volk und den gottgewollten Herrschern agierenden Organen der Macht zu, skrupellos und von vorgetäuschter Rechtschaffenheit geschützt, durchweg nur die eigenen Interessen gegen die des >kleinen Mannes< zu vertreten? - Mit Emil Pollmer und dessen Schicksal beschäftigt Karl May sich auch in der Person Hamsat al Dscherbaja, dem Diener Isla Ben Mafleis, einem früheren Barbier aus Thüringen, der später in Stambul ermordet wird. Weitere Beispiele beschreibt Heinz Stolte: Die Affäre Stollberg. Ein denkwürdiges Ereignis im Leben Karl Mays. In: Jb-KMG 1976. Hamburg 1976, S. 171 - 190.

15 Siehe Ilmer: Das Märchen, wie Anm. 1 S. 97- 106 - Ders.: Von Kurdistan nach Kerbela, wie Anm. 1, S. 277f. Malwine Wadenbachs (für May unerreichbare?) Tochter hieß mutmaßlich Alma, und dies klingt in Amscha und Hanneh ebenso an wie Anna der Vorname des ersten Jugendschwarms Karl Mays, Anna Preßler. Vgl. Ludwig Patsch: Karl Mays erste Liebe. In: Karl-May Jahrbuch (KMJB) 1979. Bamberg/ Braunschweig 1979 S. 189 - 194.

16 Vgl. Stolte: Reise ins Innere, wie Anm. 11, S. 26f. - Ilmer: Durch die sächsische Wüste, wie Anm. 1, S. 119f. - Ders.: Karl Mays Weihnachten in Karl Mays >»Weihnacht!«< III. Eine Spurenlese auf der Suche nach Fährten. In: Jb-KMG 1989. Husum 1989, S. 51-83 (55ff.).

17 Vgl. Ilmer: Von Kurdistan nach Kerbela, wie Anm. 1, S. 282, 290f.

18 Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o. J. (1910), S. 181, Reprint Hildesheim-New York 1975. Hrsg. von Hainer Plaul

19 Ebd., S. 182f.

20 Ebd. S. 182

21 Karl May: Ein Schundverlag. Ein Schundverlag und seine Helfershelfer. Prozeßschriften Bd. 2. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1982, S. 283


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22 Seine angeblichen Sprachkenntnisse zu diesem Zeitpunkt ironisiert May, indem er Kara Ben Nemsi Keilschrift lesen läßt (394) und ihn dann zu Halefs Erstaunen bekennen läßt, er sei des Kurdischen nicht mächtig (486), dieweil Lindsay (Teil-May) sich vergebens bemüht, auch nur einigermaßen Arabisch zu lernen (370,394f.). Letzteres nimmt auch Bezug auf Münchmeyers Bildungsmangel.

23 Vgl. May: Leben und Streben, wie Anm. 18 S. 181f. - dort S. 393*, Anm. 165, präzise bibliographische Angaben von Hainer Plaul. - Im 2. Jahrgang dieser Zeitschrift, 1874/75, ließ Karl May seine Novelle >Wanda< erscheinen.

24 May: Leben und Streben, wie Anm. 18, S. 181

25 Da es sich, bezogen auf Mays Biographie, um Ereignisse aus dem Jahr 1875 handelt, hätte Karl May auch seine ältere Schwester Auguste (geb. 1837) als eine seiner Bewunderinnen einbeziehen müssen; diese aber war am 27.5.1880, also vor Niederschrift der Szenen, verstorben - und wurde somit im Schreibprozeß >ausgeblendet<. Ähnliche Fehlleistungen in bezug auf zeitliche Einordnung unterliefen May öfters u. a. im weiteren Verlauf der Gesamterzählung hinsichtlich des Mübarek, der Kara Ben Nemsi in Mekka gesehen haben will und doch schon sechs Jahre lang in Ostromdscha wohnt: Die Reise des Helden von Mekka bis Ostromdscha nimmt im ganzen etwa ein Jahr in Anspruch; der zeitliche Abstand aber zwischen der Niederschrift der entsprechenden Szenen betrug ziemlich genau sechs Jahre!

26 Vgl. May: Leben und Streben, wie Anm. 18, S. 184 - Ders.: Schundverlag, wie Anm. 21 S.298f. - Mays an beiden Stellen erwähnte Werbereise nach Österreich erscheint etwas zweifelhaft, da der unter Polizeiaufsicht Stehende den für den Grenzübertritt benötigten Paß wohl nicht erhalten haben dürfte.

27 Vgl. May: Leben und Streben, wie Anm. 18, S. 390*f., Anm. 161.

28 Vgl. May: Schundverlag, wie Anm. 21, S. 299f.

29 Ebd., S. 317

30 Vgl. ebd., S. 283.

31 Vgl. May: Leben und Streben, wie Anm. 18, S. 184-86; S. 392*, Anm. 164; S. 396*, Anm. ]75.

32 Vgl. ebd., S. 184 - May: Schundverlag, wie Anm. 21, S. 301.

33 Zu den Fakten siehe May: Leben und Streben, wie Anm. 18, S. 393*f., Anm. 166; S. 394*f., Anm. 167; S. 396*, Anm. 174.

34 May: Schundverlag, wie Anm. 21 S. 285f.

35 In einer späteren Episode der Gesamterzählung bringt dieser Dolch einem heimlich-unschuldsvoll für den Ich-Erzähler schwärmenden Mädchen den Tod, woraus sich eine Fülle >gleisnerischer< Assoziationen ergibt hinsichtlich vermutbarer Schuldgefühle Mays gegenüber Minna Ey und auch gegenüber einer bisher anonym gebliebenen Punktiererin im Münchmeyer-Verlag (vgl. May: Schundverlag, wie Anm. 21, S. 304, dort im Zusammenhang mit Minna Ey erwähnt) - und von daher zu dem bisher nur ungenügend erhellten Martha-Vogel-Komplex. Siehe dazu einstweilen Hans-Dieter Steinmetz: »Der gewaltigste Dichter und Schriftsteller ist ... das Leben«. Zur Deutung der Nebatja- und Martha-Vogel-Episode. In: M-KMG 40/1979, S. 12-23.

36 Claus Roxin: Vorläufige Bemerkungen über die Straftaten Karl Mays. In: Jb-KMG 1971. Hamburg 1971, S. 74 - 109 (94)

37 May kommt unwillkürlich noch einmal auf seine voreheliche Zeit zurück, indem er schreibt: Daß Halef zu dieser Botschaft ausersehen war, bewies mir abermals, daß er der Liebling seines Schwiegervaters geworden sei (322), und beim Wiedersehen des Ich-Erzählers mit Halef Hanneh als dessen Freundin bezeichnet (405). Das zielt ab auf 1877, als Emmas Großvater Christian Pollmer drängte, die in wilder Ehe in Dresden Zusammenlebenden sollten nach Hohenstein zurückkehren, und 1878, als Pollmer Karl veranlaßte, die Umstände von Emils Tod zu untersuchen. Offenbar war May innerlich um Aussöhnung mit dieser für ihn unerfreulichen Lebensperiode (die ja noch nicht lange zurücklag) bemüht. Gleichwohl rangierte für ihn nicht Emma höher als alles andere: Trotz Eheschließung und immer wieder betontem Eheglück geht Halef (und nicht ein unverheirateter neuer Begleiter) auf unabsehbare Zeit mit Kara Ben Nemsi auf abenteuerliche gefahrvolle Reisen - so wie Karl May weitaus mehr Zeit im Reich seiner Phantasie als in Gesellschaft seiner jungen Frau verbrachte.


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Auch für ihn standen die unmittelbar ich-bezogenen Interessen, zu denen das Schreiben nicht nur als Finanzquelle, sondern auch als Therapie gehörte, obenan. Wenn May jemals bei einer seiner Gestalten die (Teil-)Gleichsetzung mit dem eigenen Ich durchschaut hat, so jedenfalls bei Halef. Daher auch ist Halef von vornherein eine rundum gelungene und liebenswerte Schöpfung, während Karl May an seinem Winnetou über viele Schaffensjahre hin in immer neuen Ansätzen >herumgebastelt< hat.

38 Karl May mag im stillen selbst ähnlich empfunden haben. Vgl. die Schilderung, welch nachhaltigen Eindruck seit Kindheitstagen das Puppenspiel >Doktor Faust oder Gott Mensch und Teufel<, im Gegensatz zu Goethes Dichtung, bei ihm hinterließ (May: Leben und Streben, wie Anm. 18, S. 56ff.).


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