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XI. Scheidung


Am 15. Juli 1902 hat May das Manuskript des ›Silberlöwen III‹ abgeschlossen, und am 21. Juli 1902 beginnt die Reise mit den beiden Frauen ins Hotel Penegal auf der Mendel bei Bozen, die zunächst aber zu der entscheidenden Station Berlin führt. Diese Reise ist ungewöhnlich gut dokumentiert: zunächst einmal durch die entsprechenden Ausführungen in der ›Studie‹, aber auch durch die korrespondierenden Passagen in der Eingabe; sie hat Spuren in den Scheidungsakten hinterlassen, und sie spielt auch in dem Meineidsverfahren sowie in dem Beleidigungsverfahren gegen Emma Pollmer aus dem Jahr 1909 eine nicht unwichtige Rolle. Daneben existieren zeitnahe Selbstzeugnisse Mays, in denen unmittelbare Reaktionen festgehalten sind. Ihre (versuchte) literarische Bewältigung fand sie schließlich im ›Silberlöwen IV‹ auf eine so deutliche Weise, daß Hans Wollschläger der Auffassung ist, daß die realen Wochentage dieser Reise denen der zeitgerafften Texthandlung stets kongruent blieben.338

   Tatsächlich läßt sich der vielschichtige Roman ›Im Reiche des silbernen Löwen IV‹, dessen Leseebenen die gesamte Spannweite von archetypischen Bildern über allegorische Zeichen bis hin zu mystischer Symbolik umfassen, der Traumdeutung und psychologische Wahrheiten behandelt, der Schlüsselroman zu der May-Hetze jener Tage genau so ist wie ein Werk, das explizite Ideologiekritik an kirchlichen Lehren enthält: welthaltig bis in die Schichten des Unbewußten hinein und dennoch mit Rudimenten der alten Technik der Reiseerzählung arbeitend - auch lesen als Verarbeitung von unmittelbar drängendem biographischen Material. May hat geradezu nach einer Möglichkeit gesucht, die dramatischen Ereignisse seines privatesten Lebens zu verarbeiten; bereits während und kurz nach der Reise schrieb er Gedanken, Gedichte, Dialoge, Fragmente oft nur, auf, weil er nur schreibend bewältigen konnte. Mit diesem Roman, in den nichts assoziativ ›hineingelesen‹ werden muß, wollte er bewußt auch das quälende Schlußkapitel seiner Ehe abhandeln, was, da viel zu früh, nicht vollständig gelingen konnte.

   Drei Selbstzeugnisse belegen die biographische Bedeutung des Romans: Am 15. November 1902, während das Scheidungsverfahren anhängig war, schrieb May aus Trient an den Drucker Krais:


Beginne jetzt den Schluß des »Löwen«. Trete in größter Frische und voller Lust an ihn heran. ... Kann aber leider nicht eher an sie [die Arbeit] gehen, als bis in den Bänden 1-3 einige Aenderungen vorgenommen sind. Für Sie unbedeutend, für mich aber von größter Wichtigkeit. Habe auf dem persönlichen Wege zum Schlusse hinter mir eine überwundene Gegend wegzuschaffen. Werde das aber so thun, daß möglichst wenig Stereotypplatten erneut resp. geflickt werden müssen. ... Der Inhalt des neuen Bandes ist derart von diesen Abänderungen abhängig, daß ich ihn nicht eher beginnen kann, als bis mir die Correcturen derselben vorliegen, die ich als Ausgangspunkt für nothwendige Evolutionen vorzunehmen habe. Daher noch


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einmal: Je baldiger Sie den Schluß des »Löwen« wünschen, umso dringender ist mir die Zusendung der Correctur dieser Aenderungen, deren Manuscript ich ihnen [!] hiermit sende.339


Diese Abänderungen aber, die er bereits zusammengestellt hatte, ohne deren gedruckten Nachweis er schlicht nicht weiterschreiben  k o n n t e ,  betrafen Emma, deren - wenn auch nicht unkritisches - Idealbild Emmeh in den ›Silberlöwe‹-Bänden I und II fortlebte. Diese überwundene Gegend mußte er entfernen, er, der mit größter Frische und voller Lust, tatsächlich erheblich psychisch und physisch angeschlagen, im Schreiben bereits zu bewältigen glaubte. Dieser kindlich-optimistische Glaube an die Heilungskräfte des kreativen Aktes belegt einmal mehr den von Hans Wollschläger festgestellten »Befund, daß May namentlich im Alter, sooft das Weihnachtsfest nahte, höchste Produktivkraft entfaltete, besonders und gerade in der Abwehr feindlicher Angriffe (...)«.340 »Mays Hochleistungszeiten lagen im November und Dezember (...)«,341 Entstehungszeitraum auch des größten Teils der ›Studie‹.

   Vor allem die 1897 geschriebene große Passage im ›Silberlöwen I‹, erschienen 1898, in der Kara Ben Nemsi dem erstaunten Hadschi Halef Omar enthüllt, daß auch er »seit fast zwei Jahren«342 (passend zu Mays Ausführungen im ›Deutschen Hausschatz‹ von 1896) verheiratet sei, mußte total verändert werden, wobei May, diszipliniert, wie er war, darauf achtete, daß nicht allzu viele Platten der Druckvorlage geändert werden mußten. Und wie er das tat, verrät viel über seinen Seelenzustand: die erdenschwere sinnliche Emmeh - so ungebildet, daß Halef sie verspotten darf, »... o wehe! Wie viel, viel klüger sind da unsere Frauen! Die verstehen von allen diesen Sprachen eine Menge Wörter!«,343 aber »Blume des Harems«344 ist sie zweifellos - wird zu dem Seelenwesen Dschanneh.345 ›Dschanneh, ein Name ohne Gestalt‹, hat Hansotto Hatzig seine Anmerkungen zu der Gegenüberstellung der beiden Textvarianten auf S. 390-397 des Romans betitelt und diese Abänderungen, die für May von größter Wichtigkeit waren, als »Fehlleistungen«346 und die Figur Dschanneh als »plumpe Allegorie«347 bezeichnet. Eine Würdigung, die die literarische Qualität der Änderungen durchaus trifft, aber deren psychologische Bedeutung für den Autor unberücksichtigt läßt.

   Tatsächlich ist Dschanneh ein Name ohne Körper: denn was May hier unternimmt, ist eine Entsexualisierung der in einer Mischung aus Dichtung und Wahrheit dargestellten ›öffentlichen Ehefrau‹. Niemand sollte ahnen, daß Karl May, der Idealist des Erden- und des Lebensglückes, für sich persönlich auf dieses Glück verzichtet hatte. (Studie, S. 850)

   Die Fassade der glücklichen Ehe errichtete er nicht nur zeitgleich mit seiner Verwandlung in Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi, nämlich ab 1896, sondern auch mit denselben Methoden: einmal unter Benutzung der Presseöffentlichkeit in dem biographisch-fiktiven Text ›Freuden und Lei-


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den eines Vielgelesenen‹, in dem der Autor und sein Held öffentlich ein und dieselbe Person werden, was neben einigen anderen Details insbesondere durch den Besuch eines Westmannes namens Kraft beglaubigt wird, der einen Brief der Romanfigur Sir David Lindsay überbringt. Emma darf als gute Hausfrau im Hintergrund und in der Küche wirken, vorsichtig neue störende Gäste anmelden und muß, da sie nichts weniger als entzückt reagiert, im übrigen gebeten werden, May nicht bös zu sein,348 weil er schon wieder jemanden für einige Tage eingeladen hat. Als aber dann auch noch der fiktive Westmann als unerwarteter und hochwillkommener Eindringling wie selbstverständlich ebenfalls eingeladen wird, fackelt May nicht lange: »So eile, Emma, und sorge für den Mann! Er wird natürlich bei uns wohnen, solange es ihm gefällt.«349 Und die nun ebenfalls fiktive Emma in jenem Artikel entfernt sich wirklich, ohne Widerworte! Außerdem fällt für sie noch ein Kompliment ab, jedenfalls aus dem Mund von das Ehepaar May auf dem Weg ins Konzert dreist verfolgenden Realschülern: »Hört, sie ist nicht übel, seine Frau! Beinahe majestätisch! ... Hört, jetzt hängt sie gar bei ihm ein! Herr und Squaw Old Shatterhand!«350 Über die Beziehung zwischen den Eheleuten erfahren wir allerdings nichts. Deshalb muß May gegen Ende des Textes seine kurze, aber glückliche Ehe schlicht postulieren - und es klingt wie ein ›Basta!‹ -, denn dann fährt er fort: Und da ich dies hier öffentlich erklärt habe, so will ich das Paket Briefe, welches ich schon in der Hand hielt, wieder weglegen, denn es enthält - honny soit qui mal y pense - Heiratsanträge ...351

   Eine Mischung aus Realität und Wunschtraum in einem funktionalen Text, der auf Abwehr allzu intimer Verehrerinnen gerichtet ist. Neben diesem - hinsichtlich des Eheproblems - reinen public-relation-Text wird Emma dann auch ab 1898 ins Werk eingeführt, aber nur als Gesprächsthema und nicht als Handlungsträgerin; seine wahren Phantasien leistet sich May, wenn er vor Publikum fabulieren darf; bei einer Abendaudienz im Hotel Trefler in München im Juli 1897, folgt man der Aufzeichnung von Ernst Weber, hielt


Old Shatterhand (...) mit nichts zurück, sondern erzählte uns von allem Möglichen und zwar im buntesten Wechsel, von einem Gebiet ins andere überspringend, ohne daß es mir gelungen wäre, irgendwelche Associationspunkte zu entdecken, von den intimsten Dingen, die ihm persönlich Seele und Leib berührten, von seiner Brautwerbung, wie von seinen Mahlzeiten, von erlebten Gefahren und Abenteuern ...352


Der »Associationspunkt« zwischen Brautwerbung und Mahlzeiten ist bereits erörtert worden. Aber was genau May öffentlich über seine Brautwerbung erzählte - die reale schied ja von vorneherein aus -, ist nun wirklich interessant: im März 1898, wiederum in München, gab er folgende Version seiner ›Brautwerbung‹ zum besten:


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Die Ehe mit seiner  E m m e h  sei dadurch zustandegekommen, daß er, als er schwer verletzt von einer Reise zurückgekommen sei, von einer Professorentochter mit größter Hingabe gepflegt worden sei; da diese Dame außerdem Nscho-tschi, der Schwester Winnetous, sehr ähnlich gewesen sei, habe er sie zu seiner Frau gemacht.353


Auch in privateren Kreisen verbreitete May - dies sogar in Anwesenheit Emmas! - ähnlich romanhafte Versionen seiner Brautwerbung, wie am 13. Mai 1897 im Kreise der Familie von Marie Hannes in Wernigerode; in ihrer geplanten Verteidigungsschrift für Karl May (1902), jedenfalls in der ersten Fassung, schildert die 1881 geborene Marie Hannes seine damaligen Fabulierkünste um dieses Thema wie folgt:


[1 .  F a s s u n g :  Als Onkel Karl ca. 38 Jahre alt war, verlobte er sich - auch dieser sein Liebesfrühling war aus wunderbar bunten Fäden gewirkt, wie sein ganzes Leben. - - Er kam gerade von einer Weltreise zurück, verwundet und schwer leidend. Der Speer eines Zulu oder derartigen Kriegers war ihm in den Rücken gefahren, der Widerhaken brach dann ab und konnte nicht ohne weiteres entfernt werden. Er begab sich nun zum Zwecke einer Operation nach einer deutschen Residenzstadt und consultierte einen Spezialisten. Als er an dessen Hausthür klingelte, öffnete ihm eine junge Dame - seine zukünftige Frau - - - ] - Selten habe ich ein so glückliches - so harmonisches Ehepaar gesehen, als Mays es sind.


Selbst die naive Marie Hannes bekam fünf Jahre nach dieser Erzählung Mays so ihre Bedenken und ließ in der zweiten Fassung ihrer Schrift jene Anekdote weg. Zum Ausgleich retuschierte sie dann das ursprünglich über Emma Geschriebene, zu der ihr zunächst nichts Idealisierendes eingefallen war:»[1 .  F a s s u n g :  Tante Emma ist eine mittelgroße, etwas leidende Dame von ca. 40 Jahren;  g e s t r i c h e n :   Sie hat ein kindlich fröhliches]«, damit bricht es ab. In der 2. Fassung heißt es nun, ebenso phantasievoll wie die gestrichene May-Anekdote und der dazu passende Nachsatz:


Tante Emma ist eine kluge, hochgebildete Frau von schlichter Herzensgüte und unbeschreiblichem Liebreiz in ihrem ganzen Wesen - sie versteht und liebt ihren Gatten, wie selten eine Frau.354


Daß Emma angesichts der Erzählungen ihres Gatten etwas leidend gewirkt haben mag, ist nachvollziehbar. Mays Phantasie weist die wahre Emma ja auf die Schäbigkeit ihrer proletarischen Ursprünge hin. Arzt oder Professor, diesen Berufen gilt Mays Hochachtung, ›Chirurgus‹ Pollmer ist keine Herkunft, mit der man hausieren geht. Und immer wieder die pflegende Frau, die Mutterfigur, die im Zentrum seiner Träume steht, während Emma in der Rolle als Ersatzmutter für Mays Nichte Clara 1891/1892 kraß versagt hatte; sie hatte das Kind beim ›Kaninchen‹ oder in einer Konditorei geparkt und ihm strengstes Stillschweigen verordnet, um sich heimlich mit der Turnlehrersgattin Dietrich oder mit Offizieren treffen zu können, was Clara


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ihrem Onkel aber dann doch eines Tages berichtet hatte. Emma hatte das Mädchen wegen des hierauf entstandenen Ehekrachs und aus Eifersucht (denn Karl und Clara liebten sich) dann so lieblos-kalt und zänkisch behandelt, daß es nur noch weg wollte ... Wie sehr May noch im Jahr 1911 Emma für ihre Bestrafungsaktionen ganz à la Marquis de Sade verurteilte und wie sehr er unter dem Schmerz, das Kind wieder hergeben zu müssen, litt (Ich gab es hin, der Sonnenschein war verschwunden), läßt sich seiner Eingabe an das Landgericht entnehmen.355 Die von May ersonnene mütterliche Idealfrau dagegen, gebildet, aus gutem Hause, liebend zugewandt, die dann auch noch Nscho-tschi ähnelt: weiter entfernt von diesem Bild als Emma war wohl kaum eine Frau, und sie wird es ggwußt haben.

   Wenn er denn einmal vor hingerissenen Zeitgenossen persönliche Wahrheiten über seine Eheerfahrungen vortrug, wie am Gartower Honoratioren-Stammtisch im April/Mai 1898, dann im orientalischen Gewande, als eine verschärfte Halef-Hanneh-Variante, eingestreut zwischen Löwenjagd und Wunderbüchse:


May erzählte von seinen Reisen in Arabien und seinem arabischen Diener, der ihn dabei begleitete. Dieser Diener sei verheiratet gewesen und habe stets in Angst vor seiner Frau gelebt. May habe ihn damit aufgezogen, daß er unter dem Pantoffel seiner Frau zu stehen scheine, worauf der Diener sich in die Brust warf und erwiderte: »In meinem Hause bin ich der Herr.« Nach kurzem Überlegen hätte er aber hinzugesetzt: er herrsche in seinem Hause aber mit Liebe und seine Frau mit Gewalt.356


Auch Leserfans wie Emil Seyler aus Deidesheim, dem gegenüber May anfänglich streng an der Shatterhand-Legende festhielt, bevor er sie spielerisch weiterführte, bekamen nur die Kulisse einer funktionierenden Ehe zu Gesicht: Erleichtert wurde dies, weil das Ehepaar May Familie Seyler nur einmal, im Juni 1897, besuchte und sich der Kontakt im übrigen auf Briefe beschränkte. Ein einziges Mal war May kurz davor, die Wahrheit zu schreiben, typischerweise in einem jener instabilen Momente der Distanz von Emma: am 14. September 1896 bietet Dr. Karl May dem liebe(n), hochgeehrte(n) Freund, nach übertreibenden Ausführungen zu den von ihm nach zwei Reisen zu bewältigenden Aufgaben, unter anderem wegen des Schreibens von lange(n) Manuscripte(n) nach Kairo ..., letzteres sogar in arabischer und türkischer Sprache!, Fotos von sich an: Wollen Sie mich als Old Shatterhand, als Kara Ben Nemsi oder als May? Mir ist es gleich; Ihre Hausfreunde sind sie ja alle drei! Dann teilt er mit, daß er sein Haus Shatterhand jetzt mit den dienstbaren Geistern allein bewohne. Meine gute Frau befindet sich in einer Naturheilanstalt, um die Folgen der Influenza fortzujagen. Ich sage Ihnen, es ist entsetzlich, verheirathet und doch ohne Frau zu sein ... Dieser Satz ist die reine Wahrheit. May ist verheiratet und doch ohne Frau, ob sie nun anwesend ist oder nicht. Er hätte diesen Satz hier beenden können, denn im Zusammenhang mit der vorangegangenen Mitteilung der räumli-


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chen Abwesenheit Emmas transportiert er für den Empfänger, der weder ihn noch seine Frau persönlich kennt, nichts weiter als die Aussage, daß May seine Frau vermisse, eben weil sie nicht da ist. Aber May hält erschrocken inne, dieser Satz, dessen tiefere tragische Wahrheit sich ihm offenbart hat, erscheint ihm ohne nähere Kommentierung zu mehrdeutig, zu verräterisch, und er fügt erklärend an: ... nämlich wenn man sie so lieb hat, wie ich die meinige.357 Diese vollkommen überflüssige Anfügung zerstört die klare Aussage des ersten Satzteils. Verheirathet und doch ohne Frau zu sein ist immer entsetzlich, unabhängig davon, ob der Ehemann wegen räumlicher oder wegen emotionaler Distanz ohne Frau ist. Der unschön mit nämlich angeklebte Erklärungssatz, der in Wirklichkeit das Wort verheirathet erläutern soll und damit erst dessen Erläuterungsbedürftigkeit sichtbar macht, gehört in die Legendenbildung dieses Briefes wie die nicht näher konkretisierten zwei Reisen, die türkischen und arabischen Manuscripte, die drei Hausfreunde und der Dr. Karl May.

   Der May von Ende 1902 steht vor der literarischen Zertrümmerung seiner früheren Legenden; hierzu gehört auch das öffentliche Bild seiner Ehe, wie es die ›Silberlöwe‹- Bände I und II perpetuieren. Darauf, und nur darauf kommt es ihm an. Daß die nach dieser radikalen Entsinnlichung entstandene Figur keine Frau mehr ist, Kara Ben Nemsi mithin unbeweibt bleibt, eigentlich so wie früher, das ist sein Ziel. Ein programmatischer Name, Dschanneh, die Seele, mehr soll gar nicht übrig bleiben, um den Paradigmawechsel von Kara Ben Nemsi hin zur Menschheitsfrage zu dokumentieren. May hat später jedenfalls, nach Verwerfung eines in eine literarische Sackgasse führenden Versuches, Dschanneh als Romanfigur zu beleben, nicht die geringsten Probleme damit, im ›Silberlöwen IV‹ dann Schakara, der edeln, gottgesandten Frauenseele, der ich die Gestalt meiner jetzigen Frau [Klara] gegeben habe,358 den Kosenamen ›Dschanneh‹ beizugeben (u. a. Silberlöwe IV, S. 387, 389), worauf Schakara entgegnet: »Wie mich das freut, daß dieser liebe Name mir auch aus deinem Brudermunde klingt!« (Silberlöwe IV, S. 389) Von hinderlicher gleichnamiger Ehefrau des Ich aus den ersten beiden Bänden: keine Spur.

   Aus den Bezeichnungen »Weib« und »Frau« werden daher die »Besitzerin deines Herzens« und die »Lenkerin deines Lebens«.359 Als Beweis seiner Ehe zeigte Kara Ben Nemsi einstmals seinen Ehering vor; diese Stelle ist natürlich gestrichen. In der Neufassung versichert er lediglich, daß es »wirklich Ernst« sei mit der Ehe, obgleich ich unter dieser »Besitzerin meines Herzens« und »Lenkerin meines Lebens« etwas ganz Anderes verstand als er.

   »Du - du hast also eine Frau, wirklich eine Frau, eine wirkliche, richtige Frau?« fragte Halef in der Erstfassung ungläubig. Da Kara Ben Nemsi nun keine ›richtige‹ Frau mehr hat, lautet die Frage jetzt: »Du hast also wirklich, wirklich eine?«

   Halef ist endlich überzeugt. »Wir haben nun alle beide eine Frau, du und auch ich!« konstatierte er in der Urfassung. Diese Stelle ist ersatzlos gestri-


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chen, denn Halefs Hanneh ist eine ›richtige Frau‹, Parallelen zu dem neuen Wesen, das Kara Ben Nemsi lenkt, darf es nicht geben.

   Halef wollte natürlich wissen, wie Kara Ben Nemsis Frau aussieht:

   »Ist sie so gut und schön wie meine Hanneh?« »Ja«, steht in der Erstfassung.

   »Ist sie jung?« »Ja. Und sie wird es ewig bleiben«, korrigiert May nun, denn Seelen sind zeit- und alterslos. ›Gut und schön‹, und dann noch wie Hanneh, das wäre zu sehr reales Weib.

   Halefs Erkundigungen danach, ob er sie gekannt habe, bevor sie seine Frau wurde, und Karas entwaffnend ehrliche Antwort sind natürlich ebenfalls gestrichen; der freigewordene und wegen Schonung der Druckplatten zu benutzende Platz wird mit belanglosen Fragen nach dem Reichtum und der Vornehmheit ihres Vaters gefüllt.

   »Ist sie klein von Gestalt?« »Nein«, darf noch stehenbleiben, nicht aber die intimeren Fragen Halefs: »Hat sie große Hände?« »Ihre Hände und Füße sind so klein, wie ihr diejenigen von Fatima beschreibt«, durfte Kara früher schwärmen. Jetzt läßt er Halef fragen: »Hat sie große Füße und starke Fäuste?«, wobei diese ungehörige Frage Kara Gelegenheit zur abwehrenden Nichtbeantwortung gibt: »Halef! Welchen Geschmack mutest du mir zu!«

   »Und Ihre Augen?« »Wie Muchmal [Fußnote: Sammet], dunkelbraun«, hieß es früher. »Sind schöner als die Augen aller Chawadit« [Fußnote: Märchen], lautet die Antwort jetzt. Die schon damals zweideutige Antwort auf Halefs Frage, ob seine Frau ihn lieb habe, darf stehenbleiben: »Nicht weniger als ich sie.« Der entscheidende Unterschied zu früher besteht allerdings in der Antwort auf Halefs Frage, ob sie doch wohl auch eine Seele habe: »Ihre Seele gleicht ganz genau derjenigen deiner Hanneh.« Der resoluten, tatkräftigen, sinnlichen Ehefrau und Mutter Hanneh kann die neue ›Frau‹ nicht mehr gleichen. Die aktuelle Wahrheit ist: , weshalb sie im Gegensatz zu Emmeh, die nur die Sprache ihres Heimatlandes spricht, nun »alle Sprachen der Welt (versteht)«. Es gibt keinen Anlaß mehr für Halef, über Emmeh, wie noch vor Jahren, zu spotten, dessen Hanneh ja auch »viel mehr (kann)« als Emmeh, die nicht einmal »Felle gerben und Messer schleifen« kann, so die Erstfassung. Jetzt bleibt Halef nur das Staunen: »So ist diese deine Dschanneh ein Wunder, wie es fast kein größeres geben kann! So weit hat es nicht einmal meine Hanneh gebracht ...«

   Radikale Schnitte waren auch im ›Silberlöwen II‹ bei einem weiteren Gespräch zwischen Kara und Halef über Emmeh360 erforderlich, denn die Konversation dreht sich um die Tricks und Kniffe der Frauen, ihre Schönheit zu erhöhen. Kara lehnt Schminke und Pomade im Haar natürlich ab: »Ich mag den Geruch der Bumada nicht haben«, so daß hier noch keine Änderungen erforderlich waren. Aber daß May die weiteren Antworten auf Halefs Fragen: »Aber deine Emmeh bestreicht ihre Lippen doch mit Hennah?« und »Aber schwarze Farbe thut sie an die Augen, um die Eindringlich-


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keit ihres Blickes zu erhöhen?« nicht als zu konkret aufgefallen sind, verwundert doch. »Nein, denn ihre Lippen sind von Natur so rot, daß sie sie nicht zu färben braucht.« - »Auch das nicht. Sie pflegt mich auch ohne Färberei eindringlich anzusehen«, steht jetzt immer noch da, und den letzten Satz zu Emmeh-Emma glauben wir gerne. Mays Wachsamkeit setzt erst da ein, wo er Sexualität wittert: und das ist der Geruch einer Frau.

»Welchen Koku [Fußnote: Parfüm] pflegt sie anzuwenden, um deiner Nase lieblich zu erscheinen?« fragt der indiskrete Halef damals wie jetzt. »Keinen, denn ihre Liebe ist nicht auf meine Nase gerichtet, und für andere Männer braucht sie keinen Duft«, war die alte, wunscherfüllende Antwort. »Keinen«, entgegnet Kara kurz und knapp jetzt.

   »Nicht wenigstens ein wenig Misk [Fußnote: Moschus] insistierte Halef einstmals. »Den nun gar nicht! Mit diesem Geruche könnte sie mich zur Flucht auf Nimmerwiederkehr verleiten; ich kann ihn nicht erriechen«; erriechen statt ertragen also, aber wahrheitsgemäß war die alte Antwort schon. Gegenüber Max Welte hat May sich 1897 in gleicher Weise ausgesprochen, wie Welte kolportiert hat:


Ich bin ein großer Freund von Blumenduft, nur »Odeurs« kann ich nicht ausstehen ... Ich bin manchmal mitten in der Oper aufgestanden und fortgegangen, weil ich die Moschus- und Patschulidüfte nicht mehr aushalten konnte ...361


In der Neufassung formuliert Halef seine Frage schon skeptischer: »Auch nicht ein wenig Misk? Den man von heut bis nach zwei Wochen riecht!« »Den nun gar nicht! Mit Misk könnte man mich zur Flucht auf Nimmerwiederkehr verleiten. Ich kann ihn nicht erriechen.« Die Aussage ist nach wie vor wahr und bleibt daher bestehen, aber sie wird losgelöst von der Frau, die den Duft ausströmt.

   Und May, in Fragen der Sinnlichkeit immer auch ein ›Kenner‹, hat in der Urfassung auch gleich sein Wunschprogramm dargelegt: »Meine Emmeh soll überhaupt natürlich, nur natürlich sein. Es ist in meinen Augen eine Sünde, den leisen, lieblichen Duft einer gesunden Frau durch künstliche Gerüche zu verdrängen.« Diese unverhüllt erotischen Wünsche - ob ›Emmeh‹ sie erfüllte, bleibt offen - mußten natürlich verschwinden. Das mißlingt ihm aber total: »Künstliche Düfte unterstützen die Unwahrheit. Es ist in meinen Augen eine Sünde, den leisen, keuschen Duft einer gesunden Frau durch solche Mittel zu verdrängen.« Um Wahrheit geht es beim Riechen nun wirklich nicht, und ein ›keuscher Duft‹ ist geradezu ein Widerspruch in sich selbst. Warum auch sollte eine gesunde Frau mit ›keuschem‹ Eigengeruch (und eben solchem Wesen) überhaupt künstliche Lockstoffe anwenden? Denn damit sendet sie eine erotische Botschaft aus, die schlicht und einfach ›unwahr‹ ist und logischerweise sogar falsch sein muß ... Aber May wollte und mußte diese Passage ändern, und das, ohne das Korsett des vorhandenen Drucksatzes zu verlassen.


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   Welch biographische Sprengkraft allein schon in diesen im November 1902, also mitten im Scheidungschaos, verfaßten Korrekturen an dem Emmeh-Bild steckt, wird nicht nur an den Streichungen, sondern noch viel mehr an den Ergänzungen deutlich, die May anbringt. Wiederum im ›Silberlöwen I‹, als Halef, sich zu Beginn des Gespräches zurückgesetzt fühlend, eifersüchtig auf die Frau an Karas Seite reagierte, ließ er eine Suada gegen die »unerwünschte und ganz unwillkommene Frau« los: »Ich mag sie nicht sehen; ich will nicht mit ihr reden; ich mag nichts von ihr hören! Ja, höre es: Ich will auch von dir nichts mehr wissen!« Woraufhin Kara Ben Nemsi einstmals scharfsinnig schloß: Der gute Hadschi war eifersüchtig! In der Neufassung klingt das dann so: »Ich mag sie nicht sehen! Ich will nichts mit ihr reden! Ich mag nichts von ihr hören! Sie hat mich um dein Herz gebracht, um deine ganze Freundschaft, um dich selbst.« Kara selbst ist also durch diese »unerwünschte und ganz unwillkommene Frau« ein ganz anderer geworden; und obwohl angesichts dieser klaren Sätze kein Schluß mehr zu ziehen ist, denn Halef hat bereits alles gesagt, existiert immer noch der Satz: Der gute Hadschi war eifersüchtig. Nur das den Geistesblitz andeutende Ausrufezeichen ist getilgt.

   »Du hast der treuesten Freundschaft mit dieser Frau den Todesstoß versetzt«, faßt Halef in der Neufassung seine Vorwürfe zusammen, während in der alten der grammatikalisch verunglückte Einschub »mit dieser Frau« fehlt. Aber die Schuldfrage mußte einfach erörtert werden. ›Diese Frau‹ ist für die erschreckende, freundschaftszerstörende Persönlichkeitsveränderung des Helden verantwortlich, nicht etwa Kara Ben Nemsi selbst.

   In der Passage über die Seele der Frau, die die von Halef wenig, von Kara aber gerne akzeptierte Konsequenz zeitigt, daß die Frau dann auch eine eigene Meinung hat, wird die Streitkultur zwischen Eheleuten abgehandelt.

   »Es hat von uns beiden noch keines jemals unrecht oder allein recht gehabt«, so Karas Fazit in der Urfassung.


»Das ist unmöglich, Sihdi. Seitdem die Frauen auch Seelen haben - - -«

   »Laß das, Halef,« unterbrach ich ihn. »Wenn eine Verschiedenheit der Meinung droht, so müssen Mann und Weib nachdenken und in Liebe miteinander sprechen; dann werden sie schnell einer Meinung werden.«

   »Wenn aber nun die Seele der Frau zu unruhig dazu ist -?«


(Auf diesem Gebiet kannte May sich wahrlich aus im Jahr 1897!)

   »So muß der Mann desto ruhiger sein; das erzeugt Achtung und Ehrfurcht bei der Frau.«362 Goldene Worte fürwahr, aber ihr Realitätsgehalt dürfte schon damals gegen Null tendiert haben. Achtung und Ehrfurcht vor May: hat Emma wohl zu keinem Zeitpunkt empfunden. Diese Passage, man versteht es, mußte geändert werden, und zwar nicht nur, weil mit Dschanneh, der Seele, ein Streit nicht denkbar ist, sondern weil die erbitterten realen Kämpfe der nahesten Vergangenheit diesem hohl-scheppernden Pathos der männlichen Überlegenheit den Garaus gemacht hatten.


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Mays korrigiertes Fazit nun, nachdem er eingestanden hat, daß er meist Unrecht habe, und Halef ihn fragt, ob er Dschanneh denn das Recht-Haben erlaube:


»Sehr, sehr gern, denn sie ist viel, viel klüger und vernünftiger als ich.«

   »Das ist unmöglich, Sihdi. Zwar, seitdem die Frauen auch Seelen haben, wollen sie - - -«

   »Laß das, Halef,« unterbrach ich ihn. »Selbst wenn es eine Frau geben könnte, die keine Seele hat, so wäre es für ihren Mann besser, er hätte sie niemals kennen gelernt. Glaube es mir!«363


Geradezu widersinnig, gegen die Logik des Dialoges eingefügt, erscheint Mays bitterer Kommentar - aber der mußte offenbar heraus. Es stört May auch nicht, daß der Dialog, ohne jegliche inhaltliche Konsequenz, ungerührt nahezu wortgleich fortgesetzt wird, »Aber wenn nun die Seele des Weibes so unruhig ist, daß sie - - -« Welche Seele? Soeben war die Rede doch von einer Frau ohne Seele. So unruhig? Daß sie? Für diesen und den folgenden Satz: »Dann muß der Mann um so ruhiger sein. Das erzeugt Achtung und Ehrfurcht bei der Frau« fehlt es nun an jeglichem Bezugspunkt, denn es wurden ja gerade keine Meinungsverschiedenheiten abgehandelt; Kara hat vielmehr Achtung und Ehrfurcht vor der Seele, die »viel, viel klüger und vernünftiger« ist als der Held.364 Einigermaßen retten ließe sich die Szene nur, wenn man unterstellt, daß Halef, wenn er von der ›Seele des Weibes‹ spricht und nicht mehr wie früher von der ›Seele der Frau‹, an seine Hanneh denkt, das Gesprächsthema mithin unmerklich ein anderes geworden wäre.

   Literarisch sind die Einfügungen mißlungen, aber der psychische Zwang setzte sich gegen das vorgegebene Romangefüge durch: ein Muster, das mehr noch als im ›Silberlöwen III‹ den Fortsetzungsband IV an den entscheidenden Stellen prägt.

   Am Schluß des Dschanneh-Gespräches füllt May entstandene Lücken, auch dies unlogisch, denn Halef steht ja bereits fassungslos vor dem Wunder dieser Dschanneh, die natürlich auch »Felle gerben und Messer schleifen« kann, denn: »Sie kann alles, was Menschenhand vermag«, mit folgenden neuen Fragen und Antworten auf:


»Maschallah! Kann sie zornig sein?«

   »Nie!«

   »Zanken?«

   »Nie!«

   »Da muß ich nicht nur einmal sondern zehnmal Maschallah rufen!«365


Die literarische Wunscherfüllung als Gegenwelt funktioniert einmal mehr, aber wie kläglich versagt May als Literat auch an der nun folgenden Anschlußstelle:


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   »Hat sie denn keine andere Meinung gehabt, als du ihr sagtest, daß du nach Persien willst?« fragte Halef ursprünglich, und May dachte an Emma-Emmeh, als er Kara antworten ließ: »Sie bat mich allerdings, bei ihr zu bleiben; als ich ihr aber meine Gründe in liebevoller Ruhe erklärte -« (eine Idealisierung der wohl schon seit 1897 geführten höchst kontroversen ehelichen Diskussion über Mays reale Orientreise und ihre überflüssigen Kosten läßt sich da herauslesen ...)

   »Nicht wahr, da stellte sich bei ihr die Achtung und die Ehrfurcht ein, von welcher wir vorhin gesprochen haben ...«, fiel Halef ihm damals konsequent ins falsche Wort.366

   In der Neufassung klingt das nun ganz und gar schief:

   »Hast du sie um ihre Einwilligung gebeten, als du zu mir wolltest?« »Sie war es sogar, die mir diese Reise befahl, und ich gehorchte ihr.«367 Eine zunächst konsequente Änderung, denn natürlich zog ihn die Seele in den Orient, Anno 1899. Aber dann läßt er Halefs Erwiderung von der Achtung und der Ehrfurcht unverändert, für die es mangels einer Meinungsverschiedenheit zwischen Dschanneh und Kara Ben Nemsi aber gar keinen Grund mehr gibt. Weitere Flüchtigkeiten Mays, die Änderungen Emmeh in Dschanneh betreffend, hat Roland Schmid dargelegt368: aber um konsequente ›Säuberung‹ ging es May weniger als um Änderung der entscheidenden Stellen, ob sie in die Roman-Dialoge nun hineinpaßten oder nicht.

   Die nächste Andeutung, worum es May mit seinem ›Silberlöwen IV‹ ging, läßt sich wiederum einem Brief Mays an den Drucker Felix Krais in Stuttgart entnehmen, dem er am 6. Dezember 1902 aus Trient schrieb: Bitte, über den neuen Band IV nachzudenken, aber tief! Er enthält meine Abrechnung mit jenen Würmern, von denen Halef träumte. Zugleich so viel Autopsychologisches, wie ich für nötig halte.369

   Und am 24. Dezember 1902, zu diesem Zeitpunkt liegen bereits 128 Druckseiten des ›Silberlöwen IV‹ vor, schreibt May an seinen Verleger Fehsenfeld einen Brief, der ganz und gar von der Euphorie eines Kreativitätsschubes geprägt ist:


Bemerken Sie, daß mit Band IV eine neue Aera angebrochen ist? Der bisher so schweigsame »Silberlöwe« tritt endlich, endlich aus seiner Felsenverborgenheit hervor. Das drohende »Rrrrad!« erklingt. Auf wen hat er es wohl abgesehen? Seine Zeit ist gekommen. Wird er wohl hinabspringen in jenes »Paradies«, vor dessen Thür der »Baum des Geschwätzes« steht?


Und neben der Andeutung, einen Schlüsselroman über seine Gegner und sein eigentliches literarisches Wirken zu schreiben, in dem auch Fehsenfeld eine Rolle spielen werde - Bitte, lesen Sie Band IV aufmerksam. Und wenn Sie ihn gefunden haben, so sagen Sie mir, wie mein Verleger Fehsenfeld in diesem »Fausthieb« heißt! -, erklärt May im letzten Absatz seines Briefes auch ganz deutlich, was ebenfalls Gegenstand des neuen Werkes sein wird:


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Ich mache mich jetzt an den Baum El Dscharanil. Die Wurzel desselben stand in meinem eigenen Hause. Sie haben sie bedauert, doch mußte sie heraus. Grad Sie hätten sich am Meisten darüber freuen sollen!!!370


›El Dscharanil‹, der Baum der Neugierde und Geschwätzigkeit (Silberlöwe IV, S. 27), der im ›Silberlöwen IV‹ durch den Ustad in einem Gleichnis als Gegensatz zu dem abgestorbenen »Baum der Erkenntnis« vorgestellt wird:


Nur ein einziger von allen war ein wirklicher Baum, aber ein höchst sonderbarer. Er war sehr niedrig, doch unendlich breit. Blüten und Früchte trug er nicht, aber tausende von eigentümlichen Blättern, welche die Form menschlicher Köpfe hatten, die lebendig zu sein schienen, denn sie bewegten die Augen immerfort, wobei sie mit den nie schweigenden Lippen plapperten. (Silberlöwe IV, S. 25f.)


Statt Erkenntnis gibt es nur Geschwätz, Lüge, Heuchelei; das von diesem Baum gehütete Paradies: ein gebrochenes Versprechen; denn es ist in Wirklichkeit ein liebeleerer Ort von Einsiedlern, eine unfruchtbare Ebene, die die Existenz in den Staub zwingt, und ein Tummelplatz selbstgerechter Religionsfanatiker. Die Wurzel dieses Baumes stand in Mays eigenem Haus. Emma wird also auch zum Thema - aber eine 1:1-Abbildung ist nicht zu erwarten.

   Nur in den Kommentaren, die May gerne seinen Protagonisten in den Mund legt, wird er überdeutlich; Kara Ben Halef, den neuen, jungen, zu Aktivität drängenden Helden, wird May im ›Silberlöwen IV‹ ein flammendes Plädoyer halten lassen:


»Pekala hat mir von Isphahan erzählt, von ihrem Vater, von Tifl, wie er betrunken gewesen ist, vom Ustad, der sich ihrer angenommen hat, von seinem Tode und von seinem Grabe hier im Hause. Sie weint dabei vor Rührung. Es kommen so schöne Stellen vor, auch Gedichte. Man wird da selbst gerührt und hält sie für ein frommes, liebes, seelensgutes Wesen. ... Und wenn sie bei jeder Gelegenheit hinzufügt, daß die Männer alle noch erzogen werden müssen, so wird sie lächerlich. Vor allen Dingen aber hat mich Folgendes empört: Kaum haben Pekala und Tifl von den hohen Eigenschaften ihres Ustad gesprochen, so dichten sie ihm eine Menge ganz gewöhnlicher, sogar gemeiner Fehler an, die er gar nicht besitzt, sondern die sie nur von sich selbst auf ihn übertragen, weil sie alles, was sie an ihm nicht verstehen können, für Mängel halten wie die ihrigen. Und das tun sie in so niederträchtig vertraulicher Weise, als ob er sie für Engel halte, an denen er sich gern ein Vorbild nehme! Das ist teuflisch, doppelt teuflisch, weil es mit so freundlich lächelndem Munde und mit so warmer Rücksicht ausgesprochen wird. ... Er allein, der vollständig Arglose, der stets und ganz Vertrauende, hat keine Ahnung von der Menge dieser giftigen Gedankenschlangen, die sich unablässig zu seinen Füßen ringeln, ohne daß er es bemerkt, weil er nie auf das Niedrige, auf das Gemeine achtet! ... Ich aber halte sie für ein Gezücht, mit dem man keine Nachsicht üben sollte. Wer ist dieser Aschyk? Ein Dschamiki wohl kaum. Sie verkehren mit ihm, und zwar heimlich, wie es scheint. Sie schildern auch ihm den Ustad gänzlich falsch. Er trägt es fort. Infolgedessen macht man sich da draußen im ganzen Lande über des Ustad soge-


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nannte Fehler und Schwächen lustig, die aber nur in den schwachen Köpfen einer dicken Köchin und eines dünnen Pferdejungen existieren! Die Feinde sind wohl klug genug, das zu wissen. Sie lachen heimlich über die Türkin und ihr ›Kind‹. Oeffentlich aber tun sie, als ob sie es glauben, und verbreiten es aus allen Kräften weiter. Daher der freche Blick, den Ahriman Mirza für den Ustad hatte! Und daher auch die unverschämte Stirn des Multasim! Hätten diese Menschen sich wohl in der Weise, wie sie es taten, in den Duar und hinüber zum Tempel gewagt, wenn der Ruf des Ustad nicht schon fast vernichtet wäre? Sihdi, ich sage dir: Zwei solche Personen im eigenen Hause sind gefährlicher, weit gefährlicher als hundert offene Gegner, die keine Liebe heucheln!« (Silberlöwe IV, S. 226-228)


Es muß also gehandelt werden; das ist in der Realität nicht anders:


Vor mir stand der Tod. Ich mußte fort von daheim, um mir neues Leben zu holen. ... Meine Bestie hatte große Lust, daheim zu bleiben und das schöne, freie Leben aufzufrischen. Ich duldete das nicht. Sie mußte mit. Das »Strohmännle«-Spielen hatte aufgehört. Sie sollte nun endlich Farbe bekennen. Sie sollte mit hinauf nach dem Penegal und in der dortigen, heiligen Einsamkeit zeigen, ob sie noch länger mein Weib bleiben könne oder nicht. Die Reise sollte entscheiden. Doch sagte ich hiervon kein Wort, auch nicht zu Frau Plöhn; ich behielt es für mich allein. (Studie, S. 916)


Tatsächlich scheint Emma von dem wahren Grund der Reise keine Kenntnis gehabt zu haben, denn in ihrer Aussage heißt es nur:


Im Juli 1902, nachdem mein Mann gerade damals seinen dreibändigen Reiseroman »Im Reiche des silbernen Löwen« vollendet hatte, entschloß er sich, mit mir und Frau Plöhn eine längere Erholungsreise zu unternehmen. Er wollte längere Zeit auf die Mentel bei Bozen. (...) Die Frau Plöhn wurde selbstverständlich auf Kosten meines Mannes wieder mitgenommen.371


Zum Gesundheitszustand ihres Mannes macht Emma übrigens in dem Meineidsverfahren keinerlei Angaben; in ihrer Erwiderung vom 5. Juli 1909 in dem gegen sie gerichteten Privatklageverfahren spielt sie seinen Zustand herunter: »Unrichtig ist auch die Angabe, der Privatkläger sei bei seiner Reise auf die Mendel schwer krank gewesen, er war nur etwas angestrengt und angegriffen, weil er eben ein größeres Werk vollendet hatte.«372

   Sowohl für May als auch für Emma ist es eine solche Selbstverständlichkeit, daß Klara Plöhn mitkommt, daß keiner von beiden eine Begründung liefert. Und nach der bisherigen Darstellung in der ›Studie‹ erscheint das auch logisch: Emma, die viel lieber allein zu Hause geblieben wäre, wäre ohne ihre Freundin nicht mit May in ›Erholungsurlaub‹ gefahren. Und May wollte sich seiner Frau und ihren Aggressionen nicht unbeschützt, nicht ohne Puffer aussetzen.

   Das klingt in seiner Eingabe von 1911 ganz anders:


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Die Ärzte teilten mir aufrichtig mit, daß es die höchste Zeit für mich sei, mich hier loszureißen und südliche Höhenluft einzuatmen. Ich beschloß, diesen Rat zu befolgen und das »Losreißen« auch in einem andern Sinne zu nehmen. ... Ich reiste nicht allein; meine Frau sollte mit, und Frau Plöhn ebenso. Sie war ja meine Sekretärin, und wir hatten, so lange wir Plöhns kannten, alle Reisen nur in ihrer Gesellschaft gemacht. Es verstand sich also ganz von selbst, daß Frau Plöhn auch diesmal mit uns kam.

   Einige Tage vor der Abreise nahm ich meine Frau sehr ernst, aber trotzdem in Güte vor. Ich sagte ihr, daß diese Reise eine letzte Probe mit ihr sei. Daß sie unser Haus nie wieder betreten und ich mich ganz unbedingt von ihr scheiden lassen werde, falls sie mir nicht untrügliche Beweise erbringe, daß sie fest entschlossen sei, sich zu ändern.373


Vor aller Welt: muß er begründen, warum er Klara Plöhn mitgenommen hat, und so kommt er auf das Naheliegende, was er später dann auch in der ›Studie‹, für einen anderen Zeitpunkt und in diesem Zusammenhang auch konsequent, ausführt: Klaras Sekretärinnen-Rolle. Die Wahrheit, nämlich die Liebesbeziehung zwischen Emma und Klara und seine Angst vor dem Alleinsein mit seiner Frau, kann er nicht bekennen. Es verstand sich nicht ganz von selbst, daß Klara mitfuhr - zumal es auch nicht zutraf, daß Plöhns das Paar May auf  a l l e n  Reisen begleitet hatten; die großen Leser-Besuchsreisen von 1897 und 1898 jedenfalls hatten ohne Familie Plöhn stattgefunden. Für May ist es zwar eine Reise der Entscheidung; aber daß er Emma diese Zweckbestimmung mitgeteilt haben soll, ist unglaubhaft. Er, der in Wahrheit Unentschlossene, will sie lediglich beobachten, in der Hoffnung, daß irgend etwas passieren werde, was ihm die Entscheidung erleichtere: vor allen Dingen aber, daß etwas Entscheidendes in dem Verhältnis zwischen Klara und Emma geschehe, das er bereits als leicht unterminiert einschätzen darf. Es ist dies eine psychologisch richtige und erfolgreiche Taktik, die er kurz vor dieser Reise bereits im ›Silberlöwen III‹ beschrieben hat. Als Kara Ben Nemsi schon tiefes Mißtrauen gegen die angeblichen Dinarun hegt, Halef aber noch voll und ganz von der wahren Freundschaft dieser finster-feindlichen Gesellen überzeugt ist, hält Kara sich zurück:


Halef traute den Dinarun, ich aber nicht. Das brachte mich in einen zunächst zwar nur innern Zwiespalt mit ihm, der uns aber äußerlich gefährlich werden konnte. Hatte doch Halef mir schon da oben im Lager Widerstand geleistet! Ich mußte wünschen, daß sein Vertrauen zu diesen Leuten ihn nicht wieder zu einem solchen Fehler verleite. Wirklich erschüttert aber mußte es nicht von mir, sondern von ihnen selbst werden. Da kam Nafar Ben Schuri [Scheik der Dinarun] mit seinem Worte »hilflos« mir zur rechten Zeit zur rechten »Hilfe«. Dieses Wort wirkte auf meinen kleinen Hadschi wie ein feindlicher Pistolenschuß. (Silberlöwe III, S. 190f.)


Setzt man Klara für Halef und Emma für den Scheik der Dinarun, ist die Situation zutreffend beschrieben, vor der May jetzt, am 21. Juli 1902, steht.


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   Karl May spürt, daß sich eine Psychodynamik entwickeln wird. Ein Wort, ein einziges, kann den Ausschlag geben - und er wird Emma natürlich nicht vor den Konsequenzen warnen. Diese passiv anmutende eigene Haltung kann er in der Prozeßschrift der Eingabe nicht gestehen, denn er weiß ja schon 1907, wie seine öffentliche Rolle in dieser Dreiecksbeziehung aussieht:


Meine jetzige Frau wird als das Medium hingestellt, welches mich bethört, ich aber als der grauenhafte Waschlappen, der von zwei Weibern ganz nach Belieben hin- und hergerungen wird, bis er auch den letzten Tropfen nicht mehr halten kann; sie aber, die Teufelin, ist das schneeglöckchenreine, unschuldige Opfer, dessen sich der Himmel doch erbarmen möge! (Studie, S. 879)


In der wirklichen Prozeßschrift von 1911 wählt er zur Begründung seines Verhaltens und seiner Entscheidungen daher immer eine - wenn auch manchmal nur rückblickend gefundene - stimmige Erklärung, die auch, aber eben nicht eigentlich, zutrifft. Die privatesten Wahrheiten behält er für sich mit der Folge, daß Emmas nachfolgendes Verhalten doppelt böse erscheint: denn sie agiert ja, folgt man der Darstellung in der Eingabe, während der Reise nicht etwa alltäglich-provokant, ohne die geringste Ahnung von der ihr auferlegten heimlichen Prüfung - wie in der ›Studie‹ beschrieben -, sondern begeht ihre Missetaten in voller Kenntnis ihrer Folgen.

   May beschreibt, wie er seiner Frau einen Tag vor der Reise noch tausend Mark für persönliche Bedürfnisse übergibt; dennoch unterschlägt sie weitere 6000 Mark und übergibt sie heimlich Klaras Mutter zur Aufbewahrung, was nachweislich stimmt: Emma schwankt lediglich bei der Angabe des Betrages, der mal 5000 und mal 6000 Mark lautet.374

   Am Montag, dem 21. Juli 1902, bricht man auf - und schon zwei oder drei Tage später in Berlin


stahl sie mir in meiner und Frau Plöhns Gegenwart einen Hundertmarkschein, den sie Frau Plöhn mit den Worten entgegenhielt: »Siehst Du, Mausel, so muß man es machen! Nur immer so viel Geld nehmen wie möglich! Es ist besser, wir habens!« Dieser Hundertmarkschein gehörte zu einer größeren Summe Papiergeldes, welches ich in einem ledernen Portefeuille aufbewahrte. Um dieses Portefeuille war ein starkes, breites Gummiband geschlungen. Es steckte außerdem in einem starken Werthbrief-Couvert. Und dieses Couvert steckte wieder in der geheimen Innentasche meiner Weste, die mit einem Extraknopf verschlossen war. Diese Weste hatte meine Frau abzubürsten, eine Arbeit von ca. zwei Minuten. Daß sie es in dieser kurzen Zeit und in unserer Gegenwart fertig brachte, diesen Hundertmarkschein aus den vielen Umhüllungen herauszubringen, zeugt von einer Fingerfertigkeit und Raffinirtheit, die sehr lange Jahre geübt sein muß, ehe sie einen solchen hohen Grad erreicht! (Studie, S. 917f.)


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Diese Beschreibung zeugt von einer Detailbesessenheit der Beobachtung und von einer Unnachgiebigkeit der Wertung, daß Mays Angabe, er habe seine Frau prüfen wollen, als zutreffend eingestuft werden muß. Wiederum aber ist es nicht der Diebstahl allein, der ihn aufregt, sondern die Einbeziehung von Klara in den Vorgang. »Wir« sollen das Geld haben, die Frauen, die ihre eigene materielle Grundlage gegen den Ernährer schaffen: denn auch Klara lebt dank Sekretärinnengehalts von Karl May; daneben bezieht sie bis zu deren Verkauf in den Jahren 1903 und 1904 - wohl nicht allzu üppige und mit Rechtsstreitigkeiten belastete - Einkünfte aus Vermietung der zwei geerbten Häuser. Wie wenig aufschlußreich, aber wiederum belastender in der Sachverhaltsdarstellung, sind dagegen Mays dürre Ausführungen in der Eingabe von 1911:


Gleich in der ersten Nacht in Berlin schlich sich jemand in mein Zimmer. Am Morgen fand ich mein Portemonnaie bedeutend inhaltsärmer als vorher. Am zweiten Tage eskamotierte die Pollmer mir einen Hundertmarkschein aus meiner Tasche. Das wiederholte sich derart, daß ich beschloß, die Verbindungstür zu verriegeln oder gar nicht mehr neben ihr zu wohnen.375


Die Ausführungen verfolgen nur einen Zweck: seiner räumlichen Entfernung von Emma ein plausibles, der Öffentlichkeit vermittelbares Motiv zu verschaffen.

   Die Szene mit dem Hundertmarkschein ist, wen wundert's noch, wahr (auch wenn ein Jurist zögern würde, diesen sogleich öffentlich kommentierten Akt in Anwesenheit des Berechtigten ohne weiteres als Bruch fremden Gewahrsams, mithin als Diebstahl, zu definieren). Nicht nur Klara hat den Vorfall als Zeugin am 22. Dezember 1902 im Scheidungsverfahren bestätigt:


Wir wohnten zusammen im Central-Hotel. Beim Ausbürsten einer Weste ihres Mannes nahm die Beklagte aus einer Westentasche und aus der darin befindlichen Brieftasche einen in einem Kuvert verschlossenen Hundertmarkschein, den sie mir mit den Worten zeigte: »So muß man es machen. Nur immer soviel nehmen wie möglich. Es ist besser, wir haben es.« Nachträglich hat die Beklagte mir erzählt, sie habe es ihrem Manne abgeschworen, das Geld gestohlen zu haben.376


Es ist offensichtlich, daß May diese Zeugenaussage vorgelegen hat, als er die ›Studie‹ schrieb. Eine zufällige nahezu wörtliche Übereinstimmung bei Wiedergabe von Emmas Kommentar mehr als fünf Jahre nach dem Ereignis kann schlicht ausgeschlossen werden. Um so bezeichnender sind seine Abweichungen von Klaras Aussage, die auf größtmögliche Genauigkeit abzielen unabhängig davon, ob diese Präzisierungen Emma be- oder entlasten: während die übergenaue Beschreibung des Geldverstecks Emma als fingerfertige Gewohnheitstäterin belastet, wird Emma durch Mays Ergänzung, er sei zusammen mit Klara Plöhn Zeuge des Vorfalls gewesen, juristisch entlastet; Emmas Tathandlung gewinnt hierdurch eher den Charakter


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einer Demonstration ihrer materialistischen Einstellung, während der Vorwurf der Aneignung des Geldes hinter Mays Rücken, wie er sich aus Klaras Aussage herleiten ließe, entfällt.

   Auch Emma hat diesen Vorfall, vernommen als Beschuldigte im Meineidsverfahren am 13. Dezember 1907, keineswegs bestritten, im Gegenteil. Aus den Akten des Scheidungsverfahrens war ihr der Vorwurf bekannt, und so benutzt sie das Forum der richterlichen Vernehmung, um Deutungsmacht zu erlangen. Sie spielt den Vorgang, der für sie, folgt man den bereits erörterten Angaben Selma vom Scheidts, ja auch alltäglich war, herunter und macht, rechtfertigend, wiederum Klara verantwortlich:


Eines Tages in Berlin schickte mich die Plöhn wieder zu Wertheim, um ihr einen Unterrock zu kaufen. Ich hatte mir vorher einen geholt; sie verlangte von mir, daß ich ihr denselben holen solle. Da ich gerade kein Geld mehr hatte, nahm ich aus der Brieftasche meines Mannes, die sich in seiner Weste befand, beim Ausbürsten derselben einen Hundertmarkschein. (...) Dies tat ich aber nicht heimlich, sondern in Gegenwart meines Mannes.377


Der letzte Satz kann nur als Richtigstellung von Klaras Aussage, Emma habe ihrem Mann abgeschworen, das Geld gestohlen zu haben, aufgefaßt werden. Denn Klaras Angabe legt nahe, daß May während dieser Szene nicht anwesend war. Emmas nachfolgende Sätze dagegen sind ersichtlich Reaktionen auf Vorhalte des Richters, deren Beantwortung eine juristisch-moralische Wertung dieses Vorganges nach Aktenlage des Scheidungsverfahrens ermöglichen sollte:


Es ist möglich, daß mein Mann das Herausnehmen des Hundertmarkscheines nicht gesehen hat. Richtiger wäre es vielleicht gewesen, wenn ich es meinem Manne gesagt hätte. Ich bin fest überzeugt, daß mir mein Mann den Hundertmarkschein gegeben hätte, wenn ich ihn gebeten hätte, zumal, da es sich um die Plöhn handelte.378


Damit ist Emma exkulpiert, denn der letzte, geradezu klassische Satz erfüllt den Rechtfertigungsgrund der mutmaßlichen Einwilligung des Berechtigten, die die Rechtswidrigkeit des Diebstahls entfallen läßt. Und wenn Emma an diese Einwilligung lediglich geglaubt haben sollte, läge zumindest ein entsprechender Irrtum vor, der ebenfalls zur Straflosigkeit führt. Für Dr. Larrass ist die Sache damit als strafrechtlich irrelevant abgehakt.

   Emma bestätigt den äußeren Geschehensablauf also, und doch gibt es zwei grundverschiedene Wahrheiten ...

   Zu Emmas Version ist anzumerken, daß sie widersprüchlich ist; denn kurz zuvor hat sie erwähnt, daß Klara noch immer Trauerkleidung getragen habe, obwohl das Trauerjahr längst vorbei gewesen sei; deshalb (um Klara aus dieser Phase herauszulösen) habe sie immer - mithin aus freiem Entschluß! -, wenn sie etwas für sich selbst besorgte, dieselben Sachen auch für


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sie gekauft, »insbesondere, wenn ich glaubte, daß ihr diese Sachen auch Freude machen könnten (...).«379 Und dann soll die auf Äußerlichkeiten nicht bedachte Klara plötzlich »verlangt« haben, einen Unterrock zu erhalten? Unzutreffend ist auch, daß Emma »gerade kein Geld mehr hatte«. Zwar hat sie die ihr vor zwei bis drei Tagen überreichten 1000 Mark in dieser Vernehmung nicht erwähnt, sich aber immerhin verraten, als sie in ihrer Vernehmung vom 16. Dezember 1907 für den Zeitpunkt des Reiseendes am 30. August 1902 ausführt:


Hervorheben will ich noch, daß mein Mann, ehe er von der Mendel mit der Plöhn abreiste, fragte, wieviel Geld ich noch hätte, und auf meine Antwort, daß ich noch 300 Mark hätte, gab er mir  n o c h  einen Tausendmarkschein.380 (Hervorhebung durch die Verfasserin)


Offen bleibt auch, wieso Klara den Unterrock, wenn sie denn einen verlangt hat, nicht selbst hätte bezahlen sollen, denn zur Charakterisierung von Klara hat Emma, ebenfalls kurz vor Erwähnung der 100-Mark-Geschichte, herabsetzend, folgendes gesagt:


Noch ehe wir nach Berlin abreisten, überredete ich meinen Mann, der Plöhn einen jährlichen Zuschuß von dreitausend Mark zu geben. Dies deswegen, weil sie immer so jammerte, daß die von ihrem Manne hinterlassenen Häuser so viel Geld verschlängen. Mein Mann war damit einverstanden und gab ihr noch vor unserer Abreise den halben Zuschuß in Höhe von 1500 Mark.381


Danach hätte Klara ja nun wirklich genug Geld gehabt, sich einen Unterrock zu leisten.

   Daß Klara den genannten Betrag als Gehalt für die Erledigung von Mays umfangreicher Korrespondenz erhielt, unterschlägt Emma, wie sie auch später in ihrem Schriftsatz vom 5. Juli 1909 in dem gegen sie gerichteten Verfahren wegen Beleidigung behauptet:


Durchaus unrichtig ist, daß Frau Plöhn, die jetzige Ehefrau des Privatklägers, bei diesem als Sekretärin angestellt gewesen sei und dafür ein Gehalt von 3000 Mark bezogen habe. Sie ist nur ganz gelegentlich einmal aus reiner Gefälligkeit für den Privatkläger tätig gewesen, hat z. B. beim 60ten Geburtstage des Privatklägers [25. 2. 1902] die Adressen für die Danksagungen auf die zahlreich eingegangenen Gratulationsbriefe geschrieben (...). Die 3000 Mark hat sie sogar lediglich auf meine Veranlassung erhalten; ich bat den Privatkläger, ihr jährlich diese Summe zu geben, derselbe schlug mir meine Bitte nicht ab und gab ihr sofort 1500 Mark für das erste halbe Jahr. Sie tat mir leid, da sie wegen des Besitzes der von ihrem Mann ererbten Häuser oft große Geldsorgen hatte (...).382


Diese Aussage war zu jenem Zeitpunkt immerhin ein ehrenwertes Dementi zu den von Lebius in seinem Artikel vom 28. März 1909 vorgetragenen und als Beleidigung gewerteten Behauptungen, »May (habe) auf Verlangen


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der Geister der Frau Plöhn 3000 M. Rente ausgesetzt, auch sich den Geschlechtsverkehr mit seiner Frau verbieten lassen.«383 Schält man den relevanten Aussagekern aus dieser öffentlich geführten Schlammschlacht Lebius/Emma gegen May heraus, ergibt sich, daß beide Vorgänge, nämlich das Aussetzen der Rente wie auch die Aufgabe des Geschlechtsverkehrs, zeitgleich im Jahr 1901, nach Richard Plöhns Tod, erfolgt sein müssen und aus Mays Sicht auch denselben Zweck verfolgten: eigene Befreiung von Emma sowie ›Aufrichten‹ von Klara, emotional (dies ebenfalls gegen Emmas Einfluß) wie auch materiell. Warum sollte er die Witwe, deren Probleme unmittelbar nach Richards Tod einsetzten, über ein Jahr lang ohne Hilfe lassen? Entsprechend hat auch Klara May am 8. November 1909 als Zeugin in dem Beleidigungsverfahren gegen Emma Pollmer im Zusammenhang mit der gemeinsamen Reise im Juli 1902 erklärt, daß sie nach dem Tode ihres ersten Mannes Mays Sekretärin geworden sei.384

   Festgehalten werden kann als Extrakt aus Emmas Aussagen jedenfalls, daß sie es war, die maßgeblich daran mitwirkte, Klaras materiellen Status zu sichern, und daß sie zugleich - mittels Kleiderkaufs - Klara an den profaneren Freuden ihres eigenen Lebens teilnehmen lassen wollte.

   Berlin, Centralhotel: ein frostig-feindliches Klima zwischen den Eheleuten, das von beiden Parteien übereinstimmend geschildert wird, dessen Ursachen naturgemäß aber unterschiedlich gewertet werden.


Berlin bekam mir gut. Daheim hatte ich nichts zu essen bekommen. Der Magen war verschmachtet; er versagte den Dienst. In meinem Berliner Hôtel gab es Kleinigkeiten, die ich genießen konnte, und einen guten, reinen, stärkenden Wein dazu. Ich lebte langsam wieder auf. Frau Plöhn freute sich darüber. Aber als meine Frau diese glückliche Wandlung bemerkte, verbot sie es uns, im Hôtel zu essen. Sie wollte uns nur Aschingers Bierhalle erlauben, wo es nur Speisen gab, die mich vollends hingerichtet hätten. Natürlich wehrte ich mich gegen diese Teufelei, und Frau Plöhn gab mir Recht. Hierauf gab es die gewöhnliche, entsetzliche Scene .... Ich, dem sie soeben erst 6000 Mark und dann noch einen Hundertmarkschein gestohlen hatte, wagte es einmal, für 30 Pfennige Himbeeren zu kaufen, und hatte da einen Skandal und Widerstand zu überwinden, der nicht mehr menschlich, sondern thierisch war! ... Es wurde immer klarer und offenbarer, daß sie wünschte, es möge mit mir alle werden. Sie that alles Mögliche, was sie hierzu beizutragen vermochte, und es wäre ihr wohl auch gelungen, wenn nicht Frau Plöhn über mich gewacht hätte wie eine Tochter über ihren Vater, der ermordet werden soll. ... Von nun an erschien es mir nicht mehr gerathen, mein Hôtelzimmer neben das meiner Frau zu legen. Es war mir zu gefährlich. (Studie, S. 918f.)


Das also ist der wahre Grund, die Verbindungstür zwischen den Zimmern zu verriegeln oder gar nicht mehr neben Emma zu wohnen: nicht der oder die ›Diebstähle‹ von Geld, sondern die Angst vor der Frau und ihren thierisch(en) Szenen. In der Eingabe schildert May die Atmosphäre vergleichbar, aber weniger plastisch:


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Sie verbot mir und Frau Plöhn den Wein, weil er zu teuer sei, und doch wußte sie, daß mir wegen meiner Körperschwäche befohlen worden war, täglich eine Flasche Wein zu trinken. Sie ging allein aus, und zwar in Bierlokale unbekannten Ranges, wohin zu gehen, ich und Frau Plöhn uns schämten.385


Es sei erwähnt, daß Aschingers seinerzeit für deftige Erbsen- und Linsengerichte bekannt war. Die Auswirkung von Hülsenfrüchten auf eine gestörte und reduzierte Verdauungsleistung ist unschwer vorstellbar und die Abwehr daher verständlich ...

   Die Himbeer-Episode hat mitsamt den mitgeteilten gefühlsmäßigen Anteilen Eingang in den ›Silberlöwen IV‹ gefunden, sowohl der Widerstand als auch die genesungsfördernde Wirkung der Beeren sind literarisch dargestellt; Klara-Schakara als Spenderin der Frucht, die um deren segensreiche Wirkung weiß, fehlt natürlich ebenfalls nicht. Und wie bildlich, manchmal die Kontrollinstanz des Bewußtseins unterlaufend, May diese kleine, in der ›Studie‹ geschilderte, Szene im Juli 1903, also nach viermonatiger Ehe mit Klara,386 umsetzt, ist für jeden, der immer schon einmal einen Blick in die kreative Künstlerwerkstatt werfen wollte, von hohem Interesse: Das Ich, das sich schon am Donnerstag, dem 5. Tag der Romanhandlung, die mit dem sonntäglichen Nachtgespräch zwischen dem Ustad und Kara Ben Nemsi einsetzt, »vollständig gesund« fühlt (Silberlöwe IV, S. 370), sieht am nächsten Tag, einem Freitag, wiederum Schakara. Ein Auszug aus dem dritten Kapitel ›Vor dem Rennen‹, das in kürzester Zeit, nämlich in zwölf Tagen, verfaßt wurde und daher so einiges an unbewußten Anteilen enthält:


Sie war drüben in den Ruinen, auf dem wüsten Vorhofe der zweistöckigen Etage, über deren schmaler Tür sich die zwei zerbrochenen Tafeln befanden. Da ich grad am Schlusse eines Kapitels angekommen war, legte ich das Buch weg, um sie zu überraschen. Sie hatte ein Gefäß in der Hand und schien Brom- oder Himbeeren zu pflücken, die es dort in Masse gab. Daß dieser Vorhof voll dorniger Sträucher und Stachelranken war, habe ich bereits gesagt.

   Ich stieg also meine Stufen zum Glockenwege hinüber und ging von hier aus auf dem schmalen Ruinenfelde nach dem Turme, in welchem wir den Aschyk festgenommen hatten. Hier war eine Treppe gewesen, welche in den Vorhof, wohin ich wollte, hinuntergeführt hatte. Jetzt war sie kaum noch zu erkennen, verwittert, zerbröckelt und mit allerlei Geröll ausgefüllt, aber für bedächtige Füße doch noch gangbar. Ich glitt mehr, als ich stieg, diese Steilung hinab und wand mich zwischen den Beerenranken hindurch, um zu Schakara zu kommen. Da sah sie mich. Sie deutete nach der entgegengesetzten Seite und sagte:

   »Wärest du doch von daher gekommen; da ist es viel bequemer. Da findet man sich sogar des Nachts zurecht!«

   Ich sah freilich, daß von dem breiten Steinbruchwege der Zugang zu diesem Vorhofe ein viel kürzerer und leichterer war. Das hatte nichts Auffälliges. Dennoch hielt ich ihre letzten Worte fest und fragte, als ich sie erreichte:

   »Des Nachts? Weißt du das so genau?«


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   »Wie aufmerksam du bist und Alles gleich bedenkst!« antwortete sie, indem sie das Gefäß zu Boden setzte. Es waren wirklich Hubub [Fußnote: Beeren] darin. (Silberlöwe IV, S. 384f.)


Das Ich ›gleitet‹ die verfallene Treppe verschütteter Gefühle, für bedächtige Füße gerade noch geeignet, hinab und windet sich gar durch dornige Beerensträucher, um zu Schakara zu kommen. Die ihn allerdings gleich darauf aufmerksam macht, daß es einen bequemeren Weg zu diesem Vorhofe für ihn gegeben hätte, selbst zu nächtlicher Stunde ... Da ist einiges an aktueller zärtlicher Annäherung an die neue Ehefrau eingeflossen, für die er real Widerstand erst zu brechen hatte, bevor der Lohn der Himbeere - auch dies eine symbolische Frucht - winkte. Am 17. Juli 1903 hatte May das vorangegangene zweite Kapitel abgeliefert, das erst lange nach Abbruch des Schreibprozesses bei S. 176 im Januar 1903 entstanden war; einen Tag später, am 18. Juli 1903, hatte er seinem Verleger Fehsenfeld geschrieben: Mit gleicher Post gehen 272 Seiten Manuscript (13 Druckbogen) »Silberlöwe« nach Stuttgart ab. Er konnte nicht eher kommen, weil sein Inhalt mit den Ereignissen läuft.387 ... mit den Ereignissen: das meint hier offensichtlich seine behutsam sich entwickelnde erotische Beziehung zu Klara, deren reale Person den programmatischen Entwurf der Schakara als ›Geistesseele‹ mehr und mehr überlagert.

   Vollkommen in der nahen Vergangenheit von Juli/August 1902 ist er dann aber wieder in der Fortsetzung der Beeren-Szene, nach einem vertrauten Bruder-Schwester-Gespräch mit Schakara, die gesteht, daß sie Angst um sein Leben hat:


»Effendi, nie, nie wieder so etwas Fürchterliches! Das mußt du mir versprechen!«

   »Ich denke, du hast weder Furcht noch Angst?« antwortete ich.

   »Nur um mich selbst! Für Andre aber kann und muß ich zittern! Komm schnell hinaus! Ich muß dich draußen sehen!« (Silberlöwe IV, S. 395)


Sie hatte sehr ernst gesprochen. Nun nahm sie das Gefäß auf und fügte mit herzlichem Lächeln hinzu:

   »Diese Beeren pflückte ich für dich und den kranken Hadschi. Natursäfte! Besser als Alles, was die Kochkunst unverständig mischt!«

   »Gib sie ihm alle, Schakara! Ich habe Charakter und pflücke mir jetzt selber!«

   Da verwandelte sich ihr Lächeln in jenes kurze, wohlklingende Lachen, welches ich so gern von ihr hörte.

   »So gehe ich voran«, sagte sie. »Hanneh weiß, daß ich komme.«

   Ich blieb noch eine ganze Weile, um mir die großen, weißen Himbeeren schmecken zu lassen. (Silberlöwe IV, S. 396f.)


Daß Schakara lächelt, wenn das Ich behauptet, Charakter zu haben und sich die Beeren jetzt selber pflücken zu wollen, versteht man schon: denn in Wirklichkeit war sie es ja, die über ihn wachte wie eine Tochter über ihren Vater, der ermordet werden soll. Während er widerstandslos eine furiose


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Szene über sich ergehen ließ, nur weil er es wagte, für 30 Pfennige Himbeeren zu kaufen (Studie, S. 919).

   Emma schildert die Umstände des Aufenthalts in Berlin in ihrer Beschuldigtenvernehmung am 13. Dezember 1907 aus ihrer Sicht:


In Berlin wohnten wir, wie immer, im »Zentral-Hotel« in der Friedrichsstraße und zwar bewohnten wir drei Zimmer. Mein Zimmer befand sich in der Mitte zwischen dem meines Mannes und dem der verw. Frau Plöhn. Ich schlief damals auf Reisen nie mit meinem Manne in einem Zimmer, und zwar weil er nachts arbeitete und mich nicht stören wollte.388


Damit, nämlich mit dieser harmlosen Erklärung für die getrennten Zimmer der Eheleute, kommt sie bei dem Untersuchungsrichter Dr. Larrass - der irgendwelche Nachfragen nie dokumentiert hat, die aber durch den Gang der Vernehmungen deutlich reflektiert werden - allerdings nicht durch, also räumt sie, vermutlich widerwillig und den Zeitraum leicht verkürzend, ein, daß Karl den Geschlechtsverkehr mit ihr schon seit ungefähr einem Jahr »aufgegeben« habe.389


Schon in Berlin fing die Plöhn an, mich gegen meinen Mann aufzuhetzen. Ich mußte auf ihre Veranlassung bald das, bald jenes an ihm tadeln, sodaß er böse auf mich wurde und wenig mit mir sprach. Weiter verstand es die Plöhn, mich in Berlin immer und immer wieder zu Einkäufen fortzuschicken, um nur mit meinem Manne zusammen allein sein zu können.


Hier muß der Untersuchungsrichter nach Beweisen für diese Behauptung gefragt haben, aber die hat Emma leider nicht, denn sie fährt, nur leicht variierend, fort: »Sie hat mich zu wiederholten Malen meiner festen Ueberzeugung nach lediglich aus diesem Grunde zur Besorgung von Einkäufen zu Wertheim geschickt.«390

   Ihre Überzeugung: mehr teilt sie in ihren gesamten Vernehmungen über diese entscheidende Zeit, soweit es um bedeutsame emotionale Vorgänge geht, nicht mit ... Aber sie weiß aus ihren Erinnerungen von damals noch allzu genau, daß Karl sich über ihre luxuriösen Einkäufe immer aufgeregt hat, und so macht sie Klara dafür verantwortlich. Klara ist es natürlich auch, die für die ungemütliche Stimmung sorgt.

   Aber dann sagt Emma dieses eine Wort, das entscheidende, das Wort ... wie ein ... Pistolenschuß (Silberlöwe III, S. 191), wenn es auch nicht so direkt wirkt wie das Wort hilflos auf Halef. Aber der Querschläger trifft dann doch die richtige Person.

   Das Ende der Ehe wird durch folgende Szene in Berlin eingeläutet:


Sie machte in Berlin die unsinnigsten Ausgaben. Kaufte seidene Blousen, die man nur 3-4 mal tragen konnte, zu außerordentlichen Preisen. Verwendete Hunderte auf höchst auffallende Promenadenmäntel, die nur von Straßendirnen getragen werden, um die Blicke der Lüsternen auf sich zu ziehen. Das Schlimmste war, daß


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sie die gute, bescheidene und sehr schamhafte Frau Plöhn zwang, einen dito Mantel zu tragen, und mir, als ich in meinem einfachen Anzuge hinter ihnen herging, vor allen Passanten zurief: »Du siehst aus wie unser Louis!« Mit diesem einen Worte, dem auf der ganzen Erde kein Anderes gleicht, war für mich die Scheidung ausgesprochen ... (Studie, S. 918)


Louis, der Zuhälter der beiden Frauen.

   Übertreibt May hier? Was ist für ihn so schlimm an diesem Wort? Zunächst ist es wohl wieder die verstörende Allianz der Frauen. Emma ›zwingt‹ Klara, die noch Trauerkleidung trägt, wie wir von Emma wissen, einen auffälligen Mantel nach Emmas Geschmack anzuziehen. Beide tragen ihre Sexualität zu Markte, und Emma macht mit dem Wort ›unser‹ (unser Louis) auch Klara zur Prostituierten, deren Zuhälter May ist.

   Ein Zuhälter lebt von seinen Damen, und überwiegend lebt er nicht schlecht von ihnen. Das paßt nicht zu Mays einfache(m) Anzuge; es paßt auch sonst nicht, denn er ist es ja, der das Leben beider Frauen finanziert bzw. finanziell absichert, und nicht umgekehrt. Aber der Louis trifft doch bis ins Mark, denn May versteht das Wort ›Zuhälter‹ (abgesehen von der Beleidigung, die ganz grundsätzlich darin steckt) in einem tieferen als dem landläufigen materiellen Sinn: schon Heinz Stolte war der Gebrauch des Wortes Zuhälterin in Mays ›Studie‹ als so unpassend aufgefallen, daß er mutmaßte, es könne sich um ein veraltetes Wort für ›Haushälterin‹ handeln.391 Die betreffende kommentierte Stelle bezieht sich auf die Konkubine von Emmas Großvater, die zuvor wie folgt beschrieben wurde:


Sie [Emma] hatte gesehen, daß die Haushälterin ihrem Herrn zwar geschlechtlich jederzeit mit Wonne zu Diensten gestanden, ihn aber dafür beherrscht, regirt, geschimpft, gequält und herzlos ausgebeutet hatte. Und ebenso wenig war es ihr entgangen, daß dieses Frauenzimmer die Erfüllung aller Wünsche umso leichter erreichte, je sinn- und rücksichtsloser sie darauf bestand. Das Schlimmste dabei war, daß die Dirne sich mit teuflischer Berechnung dem Mädchen an- und einschmeichelte, um mit dieser Hülfe bei dem Großvater Alles zu erreichen. ... Sie [Emma] hat ihren Großvater nie geliebt, sondern nur verachtet und ausgebeutet. Sie hat, als sie dann ihre eigenen Reize besaß, die Zuhälterin aus dem Hause getrieben, um nun allein an ihm zu zehren. Sie ist das ganze Jahr hindurch fast keinen Abend daheim geblieben und hat den alternden Mann sich selbst überlassen. (Studie, S. 816f.)


May faßt den Begriff des Zuhälters in einem realistischen und seinen Wesenskern erfassenden Sinn auf. Er denkt an den seinerzeit wohl vorherrschenden nicht-gewalttätigen Typus des Zuhälters, jenen, der seine Huren zunächst mit sexuellen Mitteln bis zur Hörigkeit an sich bindet, sie später bei Bedarf auch immer mal wieder sexuell belohnt und der dadurch überhaupt erst in die Lage versetzt wird, die Frauen herzlos, rücksichtslos, verachtend auszubeuten, indem er sie auf den Strich schickt. ›Du tust es doch für uns und unsere Zukunft‹, sagt dieser softe Stenz, der im brutaler gewordenen Milieu der Jetztzeit fast ausgestorben bzw. aus emanzipatorischen


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Gründen abgeschafft ist, zu jeder seiner Damen, ihre Hörigkeit ausnutzend. Und ein solcher Zuhälter soll May sein? Er, der Emma hörig war (und nicht umgekehrt)? Und dann auch noch der Zuhälter von Klara Plöhn? Dieses Wort, öffentlich ausgesprochen, so daß Passanten es hören können: es regt ihn mächtig auf, vielleicht auch, weil das Bild auf einer tieferen Bedeutungsebene nicht ganz falsch ist. Er profitiert ja tatsächlich von der Sexualität der Frauen, die wie ein Puffer befriedende Wirkung auf sein Zusammenleben mit Emma hat ...

   Das Wort verletzt ihn so tief, daß er es in der Eingabe von 1911 schlicht wegläßt: Sie kaufte sich vier Blusen und einen kostbaren Demimonde für die Promenade.392 Das ist alles. Er verzichtet in dieser Prozeßschrift, in der er nur andeuten will, darauf, sich dieser Szene und den mit der Szene verbundenen Gefühlen erneut auszusetzen. Im Zusammenhang mit der juristischen Zielsetzung der Eingabe von 1911 in dem Berufungsverfahren gegen Lebius wegen dessen Beleidigung, May sei ›ein geborener Verbrecher‹, war es auch unnötig, jegliche Kränkung durch Emma auszubreiten. Welche Gefühlsbeteiligung dagegen in der ›Studie‹, wo er nach Auflistung aller seiner ›Beweise‹ eines Liebesverhältnisses zwischen Max Welte und Emma ausruft: Vor allen Dingen ist es mir hierauf erklärlich, daß diese Frau den Ausdruck »Louis« haben konnte! (Studie, S. 943)

   Im Scheidungsverfahren hat diese Szene mit diesem Wort, mit dem für mich die Scheidung ausgesprochen (war), zögerlich eingeführt zwar, aber dann tatsächlich entscheidungserhebliche Bedeutung: Mit Schriftsatz vom 7. November 1902 findet der Vorfall in folgenden knappen Worten seinen Niederschlag. »Als der Kläger einmal in Berlin im bescheidenen Anzug hinter der Beklagten herging, hat sie ihm erklärt: ›Du siehst genau so aus, als ob Du unser Louis wärst.‹«393

   Klara hat hierzu am 22. Dezember 1902 als Zeugin bestätigende Ausführungen gemacht:


Bei dem bereits erwähnten Aufenthalt in Berlin hatte sich die Beklagte einen eleganten auffälligen Mantel gekauft. Der Kläger ging in seinem schlichten Anzug neben uns her. Vor dem Bismarkdenkmal [!] trat sie abseits von ihm und schrie ihm so laut zu, daß ich es hörte: »Weißt Du, Du siehst aus wie unser Louis.« Als ich sie hierüber zur Rede stellte, äußerte sie: »So muß man es dem Kerl sagen. Das Derbste ist gerade gut für ihn, sonst zieht es nicht.« Dieser Vorfall war der Anlaß zum Bruch zwischen den Parteien. An diesem Abend blieb der Kläger für sich allein im Zimmer und weinte. Ich drang vergeblich in die Beklagte, Abbitte zu leisten. Sie erklärte mir: »Nein, so muß es kommen, nur so kann man den Kerl klein kriegen und durchsetzen, was man will. Nur das zieht, wenn man ihm so gemein kommt.«394


Eine interessante Aussage, gerade wegen der beiden einzigen Abweichungen und der Ergänzungen zu Mays Darstellung: denn Klara läßt das Detail weg, das den Ausdruck ›unser‹ Louis erst nachvollziehbar macht, nämlich


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den Umstand, daß sie selbst denselben Mantel trug wie Emma. Ihrer weiblichen Einschätzung, daß der Mantel zwar auffällig, aber elegant gewesen sei, ist im übrigen eher zu trauen als der Beschreibung durch den nicht gerade als Modeexperten ausgewiesenen May.

   Klara bestätigt auch, wie tief erschüttert May über diesen Ausspruch war, denn er weinte in seinem Zimmer, und sie bestätigt indirekt, daß es diese seine Erschütterung war, die sie - vergebens - gegen Emma aufbegehren ließ. Der Pistolenschuß traf über Bande, zunächst Karl May, dann aber auch Klara, weil Mays Reaktion bei ihr Mitleid und zugleich Kritik an Emma hervorrief.

   Auch dieser Vorgang ist, man darf fast schon ein ›selbstverständlich‹ anfügen, wahr.

   Emma hat ihn, wie üblich beschönigend und rechtfertigend, in Kenntnis der Schriftsätze und des Urteils aus dem Scheidungsverfahren, im Kern bestätigt, und auch hier gelingt es ihr, eine Wendung zu finden, die Klara für ihren Ausbruch verantwortlich macht:


In Berlin kaufte ich mir einen keineswegs auffälligen Mantel für 125 Mark. Die Frau Plöhn bekam im Einverständnis meines Mannes einen Mantel für denselben Preis. Beide Mäntel hat mein Mann bezahlt. - Mein Mann zog sich immer sehr nachlässig an. So trug er meistenteils zusammengesetzte Anzüge und nur selten einen kompletten Anzug. Ich habe ihn wiederholt darum gebeten, einen kompletten Anzug anzuziehen. Ich meinte es damit nur gut mit ihm. Eines morgens kam auch die Plöhn in mein Zimmer in Berlin und sagte zu mir: »Nein! Du sollst einmal sehen, wie der Kerl sich wieder angezogen hat. Er sieht schauderhaft aus.« Beim Mittagessen habe ich mich auf diese Hetzereien der Plöhn dazu verleiten lassen, zu meinem Manne zu sagen: »er solle sich doch nicht so anziehen, er sehe wirklich so aus, wie unser Louis.« Diese Aeußerung ist mir nur so herausgefahren. Ich habe sie gar nicht so gemeint, wie sie später aufgefaßt worden ist. Ich habe mich zu ihr nur durch die Bemerkung der Plöhn am selben Morgen hinreißen lassen. Mein Mann war natürlich über diese Aeußerung sehr gekränkt und verstimmt. Später in München und in Bozen habe ich ihn dann deswegen um Verzeihung gebeten, die er mir auch hat zuteil werden lassen.395


Eigentlich hat sie nur das Herzstück des Vorwurfs, nämlich den beleidigenden Satz selbst, eingeräumt, nicht aber den Lebenssachverhalt, aus dem heraus der Ausspruch entstanden ist: während demgegenüber bei Mays Darstellung in der ›Studie‹ - auch im Gegensatz zu Klaras reduzierter Aussage - einfach alles stimmt. Man kann sich die Szene, wie May sie schildert, bildlich vorstellen: Da gehen die beiden hocheleganten Damen in ihren neuen, ziemlich teuren Mänteln (nach der Scheidung sollte Emma von einem Monatsbudget von 250 Mark leben, just jener Betrag, den beide Mäntel gekostet hatten) vorneweg, im Hochgefühl, ihre Neuerwerbung gemeinsam in der Öffentlichkeit vorführen zu können, und hinter ihnen schlurft der Mann, der dies alles finanziert, in seinem ›einfachen‹ bzw. unmöglichen


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Anzug. Er paßt einfach nicht zu den Frauen, aber man muß sich schließlich zusammen mit ihm präsentieren, man hat ja keine Wahl, man braucht ihn eben. Das Bewußtsein dieser Konstellation, die ohne Alternative ist, vergiftet Emmas freudige Stimmung. Das ist genau der Hintergrund, vor dem die ärgerliche und herabsetzende Beschimpfung Emmas nachvollziehbar erscheint. Dagegen: beim Mittagessen, bei dem die Frauen die Mäntel für die Promenade mit Sicherheit nicht getragen haben, ein setting, bei dem der Auslöser, nämlich der öffentliche Kontrast zwischen den luxuriös, im letzten Schrei des Hauptstadt-Chics gewandeten Damen und dem schlicht bis geschmacklos gekleideten Mann, fehlt, soll der Satz gefallen sein? Und dann auch noch auf Grund einer mit stundenlanger Zeitverzögerung ausgelösten ›Aufhetzung‹ durch Klara?

   »(...) nur so herausgefahren«, »nicht so gemeint«, das sind Ausflüchte und Bagatellisierungen, die darauf hindeuten, daß Kraftausdrücke für Emma tatsächlich nichts Besonderes waren. Und, impulsiv wie sie ist, bestätigt sie sogleich, sich selbst widersprechend, Mays Reaktion, die damit gerade keine ›spätere‹, für das Scheidungsverfahren konstruierte, ›Auffassung‹ darstellt: denn »natürlich« war er »sehr gekränkt und verstimmt«. Unwahr ist allerdings, daß May ihr gleich zweimal, nämlich in München und in Bozen, diesen Ausspruch verziehen habe. Warum sollte er gleich zweimal verzeihen? Und warum verzeiht er ihr erst in München, wo sich die drei nach einem zweiwöchigen Aufenthalt in Hamburg sowie nach drei Tagen in Leipzig frühestens ab dem 21. August 1902 bis zum 27. August 1902 aufhielten? Tatsächlich fehlt dann auch in Emmas Schilderungen des Kurz-Aufenthalts in Bozen und auf der Mendel jeglicher Hinweis auf eine Entschuldigung Mays für ihr Verhalten. Und selbst die von Emma auf Sonntag, den 24. August 1902, datierte angebliche Verzeihung Mays in München, die Wunschdenken entspringt, bezieht sich nicht ausdrücklich auf den ›Louis‹-Ausspruch.396

   Die Wahrheit ist, daß Emma sich für ihre Worte so schämt, daß sie - kurzfristig durch das ›Kaninchen‹ zur Aussage gegen May verleitet - in ihrer späteren Zeugenvernehmung vom 22. Juni 1909, mit der sie eigentlich das bereits seit langer Zeit, nämlich seit Dezember 1903, eingestellte Verfahren gegen Karl und Klara May wegen betrügerisch herbeigeführter Ehescheidung wiederbeleben will, sogar eine falsche, die Realität schlicht verdrängende Aussage macht. Unfreiwillig verifiziert sie dabei in der Schilderung der Randdetails allerdings Mays Darstellung in der ›Studie‹ sowie Klaras Aussage, was deren Wahrheitsgehalt deutlich macht:


Die ganze Geschichte mit meinem eleganten Mantel und die daran anknüpfende Scene vor dem Bismarkdenkmal ist das reine Luftgebilde. Richtig ist nur daran, daß mein Mann mir einen neuen Mantel gekauft hat, und daß ich mir in diesem Mantel und in Begleitung meines Mannes und der Plöhn das Bismarkdenkmal ansah. Alles andere ist Phantasie. (...)


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   Nach der Verhandlung erklärt Zeugin noch:

   Wenn die Untersuchung sich gegen meinen Mann richten sollte, würde ich von meinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen.397


Klara, die Verräterin, die sie verlassende Geliebte, will sie vernichten, obwohl perfiderweise Klara zugleich die ›Schenkerin‹ ihrer Rente ist, von der sie lebt, und nicht Karl, den sie schonen will.

   Gott sei Dank gibt es da noch die besonnene junge Freundin Emmas aus Weimar seit September 1903, die zur Zeit der Vernehmung zweiunddreißigjährige Selma vom Scheidt, die bei der Wahrheit bleibt, intelligent genug ist, immer auch kenntlich zu machen, was Vermutung, was Kenntnis vom Hörensagen, was eigenes Wissen und was eigene Wertung ist, und die erfrischend aufrichtig von vorneherein ihre Parteilichkeit zugunsten von Emma darlegt: eine Idealzeugin mithin in jenen zahlreichen Verfahren, in denen subjektive Deutungen den Blick auf die Wahrheit verstellen. Und Selma fällt Emma in diesem Verfahren mit ihrer Aussage vom 21. September 1909 in den Rücken; was sie erzählt, weiß sie von Emma, und das macht die Wertung leicht:


Sie gab dabei zu, daß sie manches in ihrer Ehe nicht Recht gemacht hätte, so z. B. habe sie seine Heftigkeit auch ihrerseits mit Heftigkeit erwidert. Auch die Affäre mit dem »Louis« hat sie mir erzählt. Er habe sich immer sehr wenig nett angezogen, z. B. habe er Rock, Weste und Beinkleid aus 3 verschiedenen Stoffen zu gleicher Zeit angehabt. Da sie selbst Sinn für Eleganz habe, habe sie sich hierüber geärgert. Als nun ihr Mann damals bei dem Spaziergange in Berlin wieder einmal so unvorteilhaft angezogen sei, habe sie in ihrem Aerger zu ihm gesagt: »Du siehst aus wie ein Louis.« Wegen dieses unpassenden Ausdrucks habe sie ihn jedoch gleich darauf in einem Restaurant um Verzeihung gebeten. Hierzu sei sie aber nicht erst von Frau Plöhn aufgefordert worden, sondern sie habe es aus eigenem Antriebe getan. Auf jener Reise nach Berlin sei sie überhaupt sehr aufgeregt gewesen, weil ihr im Hotel ein Zimmer weit ab von demjenigen ihres Mannes, der Frau Plöhn dagegen ein solches direkt neben letzterem zugewiesen worden sei. Infolgedessen seien z. B. die an sie gerichteten Postsachen vom Portier immer in das Zimmer der Frau Plöhn, die an Frau Plöhn adressierten Sachen aber in ihr Zimmer gebracht worden. Ihren Aerger hierüber habe sie nun allerdings nicht der Frau Plöhn gegenüber, die an diesen Zuständen doch eigentlich schuld gewesen sei, sondern ihrem Manne gegenüber Luft gemacht. Sie habe eben Frau Plöhn sehr lieb gehabt und infolgedessen wohl zeitweise ihren Mann etwas vernachläßigt.398


Diese Aussage, die wiedergibt, was Emma ihrer neuen Freundin in ihrer Wertung der Ereignisse von Juli/August 1902 mitgeteilt hat, bestätigt die von May und Klara bekundeten Umstände des Ausspruchs in eindeutiger Klarheit. Das Restaurant fungiert dabei lediglich als Ort der sofortigen Entschuldigung (die Emma vor dem Richter, da kraß falsch, nicht wiederholen mag, die sie aber gegenüber ihrer Freundin Selma zur Abwehr von Klaras


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Aussagen durchaus angegeben haben dürfte). Selma vom Scheidt berichtet auch von Emmas damaliger Liebe zu Klara, die zur ›Vernachlässigung‹ von Karl führt. Ihre Ausführungen über die voneinander entfernt liegenden Hotelzimmer und die Postverwechslung treffen zwar erst für die Reisestation München zu; aber insoweit kann es dahingestellt bleiben, ob die Zeugin hier einer Erinnerungstäuschung unterliegt oder ob Emma sie in ihrem Rechtfertigungsdrang in diesem Punkt ebenfalls falsch unterrichtet hat.

   Die Episode um den Mantel und die verletzende Äußerung Emmas ist damit unzweifelhaft wahr, was dazu einlädt, im ›Silberlöwen IV‹ nach Spuren dieses für May erschütternden Ereignisses zu suchen. Wenig überraschend findet man sie auch, wenn auch diskret versteckt. Aber sie existieren an der entscheidenden Stelle, nämlich bei der ersten Begegnung mit der ›Festjungfrau‹ und Köchin Pekala, deren in Band III literarisch behauptete nette Harmlosigkeit ja auch dort bereits stellenweise abgründig scheiterte. Durch die vorangegangene Romanhandlung in keiner Weise motiviert, taucht der erste befremdlich unpassende Kommentar des Ich zu Pekala als Reaktion auf eine absolut ›harmlose‹ Äußerung von Pekala auf, der alle weiteren negativen und literarisch in keiner Weise erklärbaren Wertungen dieser Figur einleitet:


»Weißt du, Effendi, um was ich den Ustad gebeten habe, was er mir aus der Hauptstadt mitbringen soll?«

   »Nun?«

   »Eine Kasawaika!« [Fußnote: Polnischer Aermelmantel für Frauen]

   Bei diesem Worte strahlte ihr Gesicht in einer auffälligen, mir krankhaft scheinenden Wonne. (Silberlöwe IV, S. 198)


Alle Schlüsselworte zum Verständnis des Dialogs als Nachhall der ›Louis-Szene‹ sind enthalten: Hauptstadt, Mantel, den der Ustad (als May-Abspaltung) bezahlen wird, Wonne - ein Ausdruck, der in der ›Studie‹ immer im Zusammenhang mit Emmas Freude an geschlechtlichem Genuß und an Grausamkeit verwandt wird - sowie die durch den Text nicht gedeckte Bewertung von Pekalas Freude als krankhaft. Und May wird noch deutlicher:


»Eine Kasawaika?« fragte ich, »woher kennst du das? So etwas wird doch hier gar nicht getragen!«

   »Ich habe es gesehen, als ich noch beim Schah-in-Schah mit kochte. Die russischen Madama hatten es. Ich muß so eine haben! Rot und blau, grün und gelb. Das sieht so schön im Fackellicht.« (Silberlöwe IV, S. 198f.)


Ob das fehlende ›aus‹ in dem letzten Satz auf einen Fehler des Setzers zurückzuführen ist oder ob es bereits im Manuskript fehlt, wäre gezielt zu überprüfen; eine zu Flüchtigkeiten führende Aufgeregtheit des Autors wäre jedenfalls verständlich; denn hier beschreibt er Emmas Anspruchshaltung: »Ich muß so eine haben!« (wie sie ja auch Klara zur Freundin haben


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mußte) und die schreiend bunte Auffälligkeit des Mantels, den Pekala in der Hauptstadt Isphahan, Sitz des Schah-in-Schah, gesehen hat.


»Fackellicht? Hm! Ich denke, du gehst stets weiß?«

   Da kam sie die Stufen vollends herab, trat nahe zu mir heran, legte das fette Händchen auf meinen Arm und sagte in ehrfurchtsvoller Duzbrüderlichkeit:

   »Ja, immer weiß! Zuweilen aber auch bunt, ganz bunt! Das steht mir besser, viel, viel besser! Der Aschyk [Fußnote: Türkisch = Geliebter] sagt das auch!«

   »Du hast einen Geliebten, Pekala?« (Silberlöwe IV, S. 199)


Und schon ist das Symbol des auffälligen Hauptstadtmantels mit sexueller Bedeutung aufgeladen. ... höchst auffallende Promenadenmäntel, die nur von Straßendirnen getragen werden, um die Blicke der Lüsternen auf sich zu ziehen. (Studie, S. 918) Literarisch verweist der Mantel auf einen Geliebten Pekalas:

   Da errötete sie bis zur Farbe der persischen Mohnblume, nahm einen geheimnisvollen Ton an und raunte mir zu:

   »Ich vertraue es nur dir, Effendi, allein nur dir! ...« (Silberlöwe IV, S. 199) In diesem Satz fehlt das ›an‹; das sind denn doch der zufälligen Druckfehler zu viele. Zur Begründung, daß Pekala neben ihrem Dauerbegleiter, dem Kind Tifl, nun auch noch einen Geliebten hat, erklärt sie:


»Ein edles Frauenherz muß unbedingt ein edles Männerherz haben, von dem es ganz und gar verstanden wird. Und Tifl ist zwar ein liebes, folgsames Kind, jedoch ein edles Frauenherz, das kann er nicht begreifen!«

   Sie schaute so ganz zerflossen und »edel« zu mir auf, daß sie mir gewiß sehr spaßig vorgekommen wäre, wenn ich nicht das zwar noch unbestimmte aber doch sehr deutliche Gefühl gehabt hätte, hier vor einer vielleicht sehr wichtigen Entdeckung zu stehen. Psychologisch zweifelhafte Personen sind stets mit Vorsicht zu behandeln. (Silberlöwe IV, S. 199)


Der letzte Satz und alle weiteren Passagen, in denen Pekala bewertet wird, sind niemals durch die Romanfigur evoziert, die, einfältig und naiv, eigentlich nur die betrogene Betrügerin ist: sie weiß ja nicht, daß der Aschyk ein feindlicher Spion ist, der ihr Geschwätz über den Ustad und seine Pläne mit den Leser-Dschamikun in das Lager der Gegner trägt ...

   Sowohl die Himbeer- als auch die Mantelszene fügen sich nicht in die Chronologie der Reise ein, wie sie in Wollschlägers Interpretation des ›Silberlöwen IV‹ abgebildet sein soll. Nach seiner Lesart beginnt die Romanhandlung am Sonntag, den 3. August 1902, dem letzten Tag in Berlin, bevor es für 14 Tage nach Hamburg geht.399 Beide zitierten Episoden haben sich nämlich vor jenem Sonntag ereignet. Eine zeitliche Einordnung dieser in den übrigen Dokumenten nicht exakt datierten Vorkommnisse erscheint möglich, wenn man den Freitag der Romanhandlung (Himbeerszene) und Mays in der ›Studie‹ erwähnte Konsequenz dieses Skandal(s) zugrunde legt, denn: Von nun an erschien es mir nicht mehr gerathen, mein Hôtelzim-


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mer neben das meiner Frau zu legen. (Studie, S. 919) Emma beschreibt die tatsächlich erfolgte Umquartierung im Centralhotel wie folgt:


Eines nachmittags, nachdem wir schon ungefähr zwei Wochen in Berlin waren, kam die Plöhn plötzlich ganz aufgeregt in mein Zimmer und erklärte mir, ihr Zimmer wäre ihr zu laut, sie könne nicht schlafen und ich müßte mein Zimmer mit dem ihrigen vertauschen. Sie erklärte mir ferner, daß sie des Nachts, wenn der Einfluß über sie käme, bei Lärm nichts schreiben könne. Dies bewog mich, mein Zimmer mit dem ihrigen zu vertauschen, sodaß sich ihr Zimmer nunmehr zwischen meinem und meines Mannes Zimmer befand.400


Was Datierungen und Lokalisierungen angeht, ist auf Emmas Gedächtnis in der Regel Verlaß. Ob Klara, die Emmas schwachen Punkt, nämlich ihren spiritistischen Glauben, sehr gut kannte, Mays Wunsch nach einer räumlichen Entfernung von Emma tatsächlich auf die beschriebene Art und Weise umsetzte, läßt sich nicht beweisen: aber ausgeschlossen erscheint dies im Lichte der nachfolgenden Ereignisse keineswegs. Nach Emmas Datierung (»schon ungefähr zwei Wochen in Berlin«) könnte der Zimmertausch demnach durchaus am Freitag, den 1. August 1902, stattgefunden haben. Diese Prämisse führt zu dem weiteren Schluß, daß sich die ›Louis-Szene‹ danach, nämlich am Samstag, den 2. August 1902, ereignet haben muß: denn wenn Klaras Zimmer nicht unmittelbar neben dem von Karl May gelegen hätte, hätte sie nicht hören können, daß er am Abend nach diesem Auftritt nebenan in seinem Zimmer weinte.

   Dieser Samstag - und auch das spricht für einen Tag der Entscheidung gegen Emma, wie in der ›Studie‹ im Zusammenhang mit der Louis-Szene ausgeführt - ist für May auch ein Tag der rastlosen Schreibproduktion und fieberhaften literarischen Planungen. Ein Energieschub, der sich als Abfuhr und Verarbeitung jenes erschütternden Erlebnisses deuten läßt und der die unglaublichen Kräfte belegt, die ihm immer wieder aus noch so tiefer Verzweiflung zuwuchsen.

   An jenem Samstag schreibt er an seinen Verleger Fehsenfeld:


Es freut mich herzlich, daß Sie den Band so beeilen. Es beginnt in ihm, zu wetterleuchten. Wo mag das in den nächsten Bänden sich entwickelnde Gewitter noch auftreffen? Arme Bauern, die schuld am eigenen Hagelschaden sind! / Jetzt eine Bitte. Ich brauche umgehend: / 1.) alle 28 Bände in besserem Bande, der 28te aber auch schon mit, weil ohne ihn mein Zweck nicht erreicht würde. 2.) Sechs gebundene »Himmelsgedanken« und 3.) Sechs Bände 28, gewöhnlicher Einband. Bitte, haben Sie die Güte, mir dies nach Hamburg, Hôtel St. Petersburg, am Jungfernstieg, zu senden! Ist von Bd. 28 noch kein besser gebundenes Exemplar vorhanden, so kann der Buchbinder ja schnell eines einhängen. Ich brauche diese Bücher sehr eilig und sehr nöthig!401


Was genau er mit diesen Bänden vorhatte, insbesondere mit dem Band 28, dem ›Silberlöwen III‹, dessen Manuskript er ja gerade erst am 15. Juli 1902


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zum Drucker geschickt hatte, ergibt sich aus diesem Schreiben nicht. Aber es kann spekuliert werden, daß er das reinigende Gewitter in seinem Privatleben sogleich zum Anlaß nahm, auch eine literarische Inventur, eine Generalabrechnung mit seinem bisherigen Wirken, vorzunehmen, wie er sie dann später tatsächlich im ›Silberlöwen IV‹ verwirklichte. Und um den ›Silberlöwen III‹ fortzusetzen, benötigte er mangels Manuskript das gedruckte Werk. Aus welchen rätselhaften Gründen er die ›Himmelsgedanken‹ und den Band 28 gleich sechsmal, und zwar in gewöhnlichem Einband, erbat - um irgendwelche weiterführenden Anmerkungen in die Bücher zu schreiben, sie fortzuschreiben, sie auszuwerten, hätte wohl jeweils ein einziges Exemplar ausgereicht -: das muß hier offenbleiben.

   Hochgespannt jedenfalls waren seine kreativen Ziele; in der Nachlaßmappe ›Wüste‹ findet sich eine May-Notiz aus dem Centralhotel vom 2. August 1902: Das höchste Ziel erreichen, was je ein Mensch erreicht!402

   Wahrscheinlich ist auch, daß noch etwas geschah an jenem Abend des 2. August 1902, was May in seiner ›Studie‹ nicht erwähnt (behandelt sie doch einzig und allein Emma, Klara dagegen ganz bewußt nur am Rande): Klara wird sein Weinen nicht nur gehört, sondern hierauf auch reagiert haben. Sie wird aus einem natürlichen Impuls heraus - denn welche Frau könnte einem weinenden Mann einfach nur zuhören? - zu ihm gegangen sein und ihn getröstet haben. May schreibt jedenfalls ein Gedicht, unter das er die Notiz Sonnabend, den 2. August 02. Abends 10 3/4 Uhr. Berlin, Centralhotel. Zimmer 330-332 anbringt und das sich einzig und allein als Dank für eine Zuwendung Klaras lesen läßt, die aber zugleich auch eine Entscheidung herbeigeführt hat: Was du mir gabst, das ward noch nie gegeben; / Was du mir nahmst, das gabst du doppelt mir. / Was du mir gabst, ist ein vereintes Leben; / Was du mir nahmst, das bin ich nun mit Dir!403

   Was Klara ihm nahm? Die letzte in einem heimlichen Winkel des Herzens genährte Hoffnung vielleicht, es könne, trotz allem, doch noch eine Verständigung mit Emma möglich sein. Vielleicht hat Klara, nicht ohne Hintergedanken, ihm schon damals genau das mitgeteilt, was sie im Ehescheidungsverfahren dann als Zeugin beschwor: nämlich Emmas störrische Ablehnung einer von Klara angeregten Entschuldigung. Scheidung: das war für May eine grauenvolle Vorstellung; eine Zeit, in der mich schwere, innerliche Kämpfe derart beschäftigten, daß ich für Anderes weder Zeit noch Raum zu finden vermochte. Das war die Zeit meiner Ehescheidung, führt er in seiner Selbstbiographie zur Erklärung aus, warum er sich dem gleichzeitig stattfindenden Prozeß mit Adalbert Fischer nicht mit der gebührenden Konsequenz gewidmet hatte.


Aufrichtig gestanden, neige ich sehr zu der katholischen Betrachtung der Ehe, daß diese ein Sakrament sei. Wenn ich nicht dieser Ansicht wäre, so hätte ich diesen Schritt schon längst getan und nicht erst dann, als es meine Gesundheit, mein Leben und meine ganze innere und äußere Existenz zu retten galt.404


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Sonntag, der 3. August 1902 in Berlin dann, der Tag, an dem zum erstenmal in einem Gedicht Mays die in nachfolgenden Notizen und Gedichten ständig wiederholte Formulierung von dem Tag der tausend Seligkeiten auftaucht. Wollschläger deutet das lange Nachtgespräch zu Beginn des ›Silberlöwen IV‹, das das begonnene Gespräch am Ende von Band III fortsetzt, als Spiegelung eines an jenem Sonntag geführten Gespräches zwischen Karl und Klara,405 in dem es um die eigentlichen Sinnfragen des Menschseins, Religion, um den (symbolischen) Tod und die mit diesen Fragen verbundene Position des Literaten in der Welt geht. In der Entwicklung dieses Dialoges zwischen dem Ustad und dem Ich nimmt das Ich endgültig Abschied von seinen Masken Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand, von denen es sich in Band III nur vorsichtig distanziert hatte: »Ich habe aufzuhören, zu sein, der ich war, und ich habe anzufangen, ein ganz Anderer zu werden«, ließ er da zwar Hadschi Halef Omar stellvertretend für sich sagen (Silberlöwe III, S. 72). Aber als der Bismarck in orientalischem Anzuge, Richard Plöhn als der Gesangslehrer, der Chodj-y-Dschuna, ihn fragte: »Du bist Kara Ben Nemsi Effendi?«, antwortete das Ich noch schlicht mit »Ja« (Silberlöwe III, S. 479).

   Jetzt macht er öffentlich, daß diese Namen und die mit ihnen verbundene Literatur ausgedient haben: »Ich war es«, antwortet das Ich nun auf die Fragen des Ustad, ob er Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi sei.


»Seit wann? Sage es mir!«

   »Seit diese beiden Namen das geleistet haben, was sie leisten sollten und leisten mußten! In diesen zwei Namen habe ich denen, die es lösen wollen, ein Rätsel aufgegeben, aus dessen Thür das von seinen psychologischen Fesseln befreite Menschheits-Ich wie ein im Freudenglanze strahlender Jüngling hervorzutreten hat. ... Dieses so oft verspottete und so leidenschaftlich verhöhnte ›Ich‹ in meinen Werken war nicht die ruhmeslüsterne Erfindung eines wahnwitzigen Ego-Erzählers, welcher ›unglaubliche Indianer- und Beduinengeschichten‹ schrieb, um sich von den Unmündigen und Unverständigen beweihräuchern zu lassen ...« (Silberlöwe IV, S. 67f.)


Der Ustad, der nicht mehr der feierliche Patriarch Abraham aus dem vorangegangenen Band ist, sondern ein Mann mit denselben Erfahrungen und Niederlagen, geschlagen mit demselben Problem des Unverstandenseins von der Welt wie das Ich, fordert diese neue Entwicklung und warnt sogleich vor ihr: »Bedenke aber, Effendi: Wenn du nicht mehr in dieser deiner bekannten Weise schreibst, wird man gar, gar nicht mehr von dir sprechen! Dann bist du tot, tot, tot!« (Silberlöwe IV, S. 70) Und mehr und mehr übernimmt das Ich in diesem Gespräch die dominante Rolle, verwirft die Rechtfertigungs-Biographie des Ustad, betitelt mit »Mein Leidensweg« (Silberlöwe IV, S. 166), als überflüssige Reverenz vor den Gegnern und weist dem Ustad am Ende der langen Nacht gar den richtigen Weg, bis dieser einräumt:


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»Effendi, du hast recht: Wir haben lange, lange Stunden mit einander geflackert und irrlichteriert: es mag auch heilsam gewesen sein, der stechenden Insekten und des Nachtgewürmes wegen; aber jetzt, jetzt erst, nachdem es Tag zu werden beginnt, hast du mir endlich das klare Wort und richtige Licht gegeben, in welchem ich erkenne, daß es nur an mir liegt, ob ich der Narrheit den Gefallen tun will, tot zu sein!« (Silberlöwe IV, S. 193)


Das Wort und das Licht: Das war des Ichs spöttischer Kommentar, ob denn das himmelwärts strebende Alabasterzelt des Ustad, sichtbares Symbol für dessen Ideale des ›Empor‹, »(e)twa das Mausoleum über der geliebten Gruft« sein solle, wobei die geliebte Gruft Mays Arbeitszimmer und Bibliothek verdächtig ähnlich sieht (Silberlöwe IV, S. 192).

   Der Rollentausch zwischen dem Ustad und dem Ich deutet auf einen Gesprächspartner in gleicher Augenhöhe, im weiteren Verlauf gar auf einen gesellschaftskonform argumentierenden advocatus diaboli hin, der von dem Ich überzeugt werden muß und auch überzeugt wird. Wie May selbst im Jahr 1910 öffentlich erklärt hat, handelt es sich bei dem Ustad - jedenfalls bei dem Ustad gegen Ende des Bandes III, als er zum ersten Mal menschliche Gestalt gewinnt, und bei dem in dem Nachtgespräch von Band IV - um ein Selbstportrait des an sich und der feindlichen Welt (ver)zweifelnden Autors: Mit dem Ustad meine ich mich selbst, den vielverfolgten, ausgestoßenen Karl May, während dem Ich eine höhere Aufgabe zukomme:


Alle meine Leser wissen, daß das »Ich« in dem ich schreibe, mit meiner Person nichts zu tun hat, sondern daß ich damit die Menschheitsfrage meine, welche die Aufgabe hat, den Menschheitsrätseln nachzugehen, um sie zu ergründen.406


Bereits gegen Ende von Band III war der Ustad von seinem Podest des alttestamentarischen Übervaters seiner Leser-Dschamikun herabgestiegen, indem er bewundernd zu dem Ich sagte:


»Wie unendlich glücklich bist da du, Effendi! Du besitzest diesen Glauben; ja, er ist sogar doppelt dein: Was deine Seele glaubt, glaubt auch dein Geist. Was sie erstrebt, wird auch von ihm ersehnt. Du wirst es erreichen!«

   Er senkte den Kopf und schwieg eine kleine Weile. Dann sprach er mit leiserer Stimme weiter:

   »So war es nicht bei mir! Mein Wesen war nicht ein vereintes wie das deinige; es war geteilt. Der Zwiespalt wohnte zwischen meiner Stirn und meinem Herzen. Ahnst du wohl, wie er hieß?«

   »Ahriman Mirza?« wagte ich zu raten.

   »Ja; er war es! Er ist's zu jeder Zeit, der sich zwischen Geist und Seele drängt, um wo möglich beide zu vernichten. Du kennst ihn nicht in dieser fürchterlichen Thätigkeit, weil bei dir Geist und Seele einig sind. Er konnte nicht zwischen sie treten. Und aber dennoch solltest du ihn kennen. Er griff bei dir an anderer Stelle zerstörend ein. Er drängte sich zwischen sie beide und den Körper! Dein leibliches, dein äußeres Leben war es, welches er vernichten wollte, um dadurch auch sie bis auf den Tod zu treffen!« (Silberlöwe III, S. 635)


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Insoweit erscheint die Gesprächsführung zwischen dem kranken Effendi und der zunächst nur als Idol aus der Ferne erlebten Figur des Ustad ab jenem Moment, in dem beide über ihre äußeren Rollen hinaus Individualität gewinnen, auch literarisch konsequent motiviert.407

   Sollte mit Klara ein vergleichbar tiefes Gespräch über den Sinn des Lebens möglich gewesen sein, dann wäre es für den einsam-angefeindeten May wirklich ein Tag der tausend Seligkeiten gewesen. Denkbar erscheint jedenfalls, daß sie, die Angepaßte, die ›alte‹ Position des May/Ustad einnahm, der zunächst vor den kommerziellen Folgen eines Abschieds von alten Schreibgewohnheiten warnte und Rückzug in die ›Gruft‹, Rechtfertigungsschriften und vehemente Verteidigung auf niveaulose Angriffe für sinnvolle Reaktionen eines angegriffenen Autoren gehalten hatte - Positionen, die May sämtlich selbst eingenommen hatte, wie Klara als seine Sekretärin sehr wohl wußte. Vielleicht folgte sie seinen im Gespräch entwickelten neuen Ideen des Vortages auch nur, geduldig, interessiert und aufmerksam: Sie hörte still zu, ohne Unterbrechung, wie das so ihre liebe, verständige Weise war, wie er später in dem von der Ehezeit mit Klara geprägten dritten Kapitel über Schakara schreibt (Silberlöwe IV, S. 388). Und das wäre für den des Kampfes mit der Frau müden May, der nichts so sehr braucht wie Ruhe, Frieden und die Illusion einer alles-verstehenden und akzeptierenden Partnerin, die ihn in seiner singulären Literatenexistenz begleitet, auch schon Grund genug zur Freude gewesen.

   Die Realität der Reise reflektiert zunächst nichts von diesen inneren Vorgängen des Aufbruchs und der seelischen Übereinstimmung. Es sind die beiden Frauen, die sich auseinandersetzen, was verständlich ist: denn zwischen ihnen existiert die tiefste Bindung in diesem Dreieck.


In Hamburg wiederholte sich genau dasselbe Spiel. Sie kaufte sich sofort noch mehrere schandbar theure Blousen. Sie saß nicht mit im Hôtel, um nicht sehen zu müssen, daß ich einen Willen hatte und das bekam, was ich wollte. Sie ging allein in den theuren Rathskeller speisen und spie dann in den Zwischenzeiten die angesammelte Galle über uns aus. Frau Plöhn begann wohl zu ahnen, daß dies zum Schlusse führen müsse. Sie gab gute Worte; sie bat für die Bestie. Ich war still dazu. Bei diesem Schweigen wurde ihr bange. Sie bat mich, ihre Mutter nach Leipzig kommen lassen zu dürfen; vielleicht gelinge es der alten, guten Frau, das drohende Unheil abzuwenden. Ich erfüllte diesen Wunsch. (Studie, S. 920)


In der Eingabe von 1911 klingt das folgendermaßen:


In Hamburg trieb sie es ebenso. Sie kaufte wieder Blusen, aß nicht mit uns, ging nicht mit uns, besuchte Stehbierhallen mit geschmierten Brötchen, und als ich von einem Hamburger Senator zur Soirée geladen und gebeten wurde, meine Frau mitzubringen, schickte sie an ihrer Stelle Frau Plöhn mit und mutete ihr zu, sich für meine Frau auszugeben. Das war denn doch zu toll, und es kam noch so viel anderes hinzu, daß ich mir vornahm, nur noch einen einzigen Versuch zu machen und dann weiter keinen. Ich bat Frau Plöhn, ihrer Mutter zu schreiben, daß sie nach


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Leipzig komme und mit uns zusammentreffe, um mit der Pollmer ein letztes, eindringliches Wort zu reden. Diese alte, vielerfahrene Dame war nämlich nicht ohne Einfluß auf die Pollmer, und ich hoffte, daß dieser Einfluß doch vielleicht eine Wirkung zum Guten haben könne.408


In der öffentlichen Eingabe behält er natürlich das Heft des Handelns in der Hand. In der ›Studie‹ betont er Klaras Einfluß, was realistischer erscheint. Denn trotz der von May so empfundenen ›Entscheidung‹ von Berlin: Klara kann für sich und ihre eigene Zukunft erst dann eine klare Perspektive gewinnen, wenn der Bruch zwischen den Eheleuten entweder endgültig oder aber öffentlich gekittet ist. Seelengespräche mit dem Mann: sind nichts Eindeutiges, und schon gar keine Entscheidungsgrundlage für die eigene Lebensplanung, die auch materielle Aspekte berücksichtigen muß. Klara forciert konsequent eine Situation, in der Emma sich vor Zeugen entscheiden muß.

   Das sieht Emma ähnlich:


Von Berlin reisten wir dann nach Hamburg, woselbst wir uns ungefähr 14 Tage aufhielten. Auch dort verstand es die Plöhn, es so einzurichten, daß sie das Zimmer bekam, das in der Mitte zwischen meinem und meines Mannes Zimmer lag. - Die Verhetzungen der Plöhn meinem Manne gegenüber gingen immer weiter. Ins Gesicht war sie zu mir sehr liebenswürdig und hinter meinem Rücken hat sie mich, wie ich fest überzeugt bin, meinem Mann gegenüber immer schlecht gemacht. Sie machte mich dann glauben, daß mein Mann sehr böse auf mich und verstimmt sei, sodaß ich nicht den Mut fand, mich einmal mit ihm auszusprechen. (...) Als mich die Plöhn einmal fragte, was mir sei, und ich antwortete, ich hielte den Verkehr zwischen ihr und meinem Manne, sowie ihre ganze Art nicht mehr aus, erklärte sie mir: »Sei nur gut, meine Miez, es bekommt jeder das, wonach er strebt.«409


Immer wieder dasselbe ermüdende, aber stringente und in langen Jahren verfestigte Szenario: Klara ist schuld, diesmal an der Zimmerwahl und daran, daß Emma sich auch in den nächsten zwei Wochen für den ›Louis-Ausspruch‹ nicht entschuldigt. Die tiefere Wahrheit ist wohl: Emma hat die Annäherung zwischen den beiden mitbekommen, Klara entgleitet ihr, sie ist verstimmt, weil ihre alte Taktik, Klara als Verbündete gegen den Mann zu vereinnahmen, nicht mehr funktioniert. Einen neuen Weg zu ihrem Mann kennt sie aber auch nicht: soll sie etwa um ihn kämpfen? Soll sie sich demütigen lassen, indem sie um Verzeihung bittet? Was geht da vor? Emma ist zunächst ratlos.

   May derweil gibt sich der Illusion hin, er könne in die Literatur flüchten. Aber es entstehen in der Reisezeit nur fragmentarische Dialoge, in denen Fakira, die Gute, gegen Scheitana, die böse, antritt und spricht: Ich gehe suchen nach dem Menschenkinde, / Das mir der Herr, ich weiß nicht, wann, gezeigt, / Und selbst wenn ich es in der Hölle finde, / So hab mit ihm den Himmel ich erreicht.410


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   Am Montag, den 18. August 1902, geht es dann nach Leipzig, und die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Von außen bedrängt, sich einem Versöhnungsritual unter Eingeständnis eigenen Fehlverhaltens zu unterwerfen, verweigert sich Emma natürlich.


Die Mutter kam. Sie wohnte bei uns im Hôtel. Sie sprach in herzlicher, aufrichtiger, ehrlicher Liebe auf das unglückselige Frauenzimmer ein. Sie versuchte, unsere Hände in einander zu legen - - - vergeblich! Und als auch Frau Plöhn das Wort ergriff, um sie zur Abbitte zu bewegen, rief sie zornig aus: »Ich mag ihn nicht! Nimm doch Du ihn, wenn er Dir so gefällt! Ich werfe ihn Dir hin. Gieb ihm einen Kuß, und hebe ihn auf!« Dann ging sie hin und kaufte sich noch einige luxuriöse Blousen! Die Mutter von Frau Plöhn reiste unverrichteter Sache heim. Sie wollte ihre Tochter mitnehmen; diese aber sah, daß es mit meiner Gesundheit nicht besser, sondern schlimmer wurde. Das Wohlerbefinden in Berlin war nur ein Aufflackern gewesen, welches der Pollmersche Dämon sofort wieder niedergetreten hatte. Uebrigens war sie ja meine Sekretairin. (Studie, S. 920)


Emmas Worte, die ihren Zorn über die öffentliche Versöhnungsinszenierung genau so ausdrücken wie ihre Eifersucht angesichts Klaras Überlaufen zum Feind, der im Moment, unterstützt durch Klaras Mutter, das stärkere Bataillon zu stellen scheint: sie passen einfach. Sie entsprechen ihrem Charakter und sie folgen der Dynamik der Entwicklung; Emma hat es über zwei Wochen lang nicht geschafft, gegenüber ihrem Mann einen Fehler einzugestehen, eben weil die Atmosphäre niemals die richtige war. Jetzt soll sie unter Zwang, öffentlich, Abbitte leisten? Und ihr Geschöpf Klara, das sie immer im Griff hatte, stellt sich plötzlich gegen sie und fordert sie auf, sich bei Karl zu entschuldigen, nimmt also seine Interessen wahr und nicht mehr Emmas? Klara, die für diese peinliche Situation verantwortlich ist und sich damit als ihre Feindin etabliert, tut so, als ob ihr an einer Versöhnung der Eheleute gelegen wäre? Dann soll sie ihn doch gleich selbst nehmen, sie wird schon sehen, was sie an ihm hat ...

   Da ist er, ihr eigener, durch Klara provozierter öffentlicher Bruch mit May, der sich bestätigt fühlen darf in seiner Entscheidung. Und jetzt, an dieser Stelle, muß er auch vor sich selbst begründen, warum Klara dennoch weiter bei ihm bleibt. Das Vorzeichen, unter dem diese Reise angetreten worden war, die Prüfung, hat sich ja entscheidend geändert. Nun kann es nur noch darum gehen, Konsequenzen zu ziehen und die Beziehungen in dem Dreieck neu zu definieren. Eigentlich darf Klara nicht bleiben, der ja gerade das unsittliche Angebot gemacht worden ist, den Ehemann der Freundin wie eines ihrer abgelegten Kleidungsstücke zu übernehmen. Mays Rückfall in die Krankheit und Klaras Sekretärinnenstellung fallen ihm dazu ein, letzteres Argument wenig überzeugend eingeleitet mit dem Wort ›übrigens‹. Eine Wendung, die zwar seit Cato als rhetorischer Kunstgriff der nur scheinbaren Nebensächlichkeit eingeschätzt werden kann (›ceterum censeo Carthaginem esse delendam‹); hier aber erzeugt die Beiläu-


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figkeit der Satzeinleitung eher Zweifel, ob May die ganze Wahrheit sagt, wie immer, wenn es in der ›Studie‹ um Klara geht. In Wirklichkeit, und das hat er in der literarischen Verarbeitung dieser Szene dann auch deutlich gemacht, ist May psychisch und physisch viel zu angeschlagen, um die notwendigen praktischen Konsequenzen allein zu ziehen. Er braucht jemanden, der Emma gut genug kennt, um sie in Schach halten zu können. May zieht bei der mitgeteilten Begründung für Klaras Bleiben auch nicht in Betracht, daß sie ihre eigenen Gründe gehabt haben könnte, für klare Verhältnisse zu sorgen.

   Der Kern der Darstellung in der ›Studie‹ jedenfalls stimmt; in der Eingabe wird er, knapp, wesentlich böser und abschließend, ähnlich wiedergegeben:


Die Pollmer erklärte, daß sie keine Bevormundung brauche, sondern selbst wisse, was sie zu tun habe. »Los will ich ihn sein!« rief sie. »Frei will ich sein! Mein Leben will ich genießen! Nehmt ihn hin!«

   Frau Plöhn und ihre Mutter gaben sich die größte Mühe, sie dazu zu bringen, mich um Verzeihung zu bitten; dann sei ja alles gut! Aber sie riefen damit nur eine derartig laute Szene hervor, daß ich mich gezwungen sah, schnell abzureisen, um mich im Hotel nicht noch mehr zu blamieren.411


Das ganz intime Detail, Emmas Angebot an Klara, den Mann zu übernehmen, fehlt natürlich; »Nehmt ihn hin!«, das ist ja an Klara  u n d  ihre Mutter adressiert, beide mögen sich seiner erbarmen, eine Variante, bei der die sexuelle Komponente ausgeblendet ist. Ersetzt wird sie durch die Darstellung einer Entschlossenheit Emmas, sich von ihm zu trennen, die in der präzisen ›Studie‹, die lediglich einen situationsgebundenen impulsiven Ausbruch Emmas schildert, nicht vorhanden ist.

   Emma berichtet von zwei Tagen - was allerdings nur stimmt, wenn man den An- und den Abreisetag außer Betracht läßt - im Hotel Hauffe in Leipzig mit der üblichen Zimmerverteilung.


Nach Leipzig ließ die Plöhn ihre Mutter, die verwitwete Beibler, nachgekommen [!]; zu welchem Zwecke, weiß ich nicht. In Leipzig versuchte ich zweimal, eine Aussprache mit meinem Manne herbeizuführen und mich mit ihm wieder zu versöhnen. Das zweite Mal war die verwitwete Beibler zugegen. Auf ihre Aufforderung an meinen Mann, wir sollten uns doch versöhnen, erklärte er mir: »Das ist gar nicht nötig.« Dies ärgerte mich so, daß ich sein Zimmer verließ und zur Plöhn ging. Auf ihre Frage, wie es stände, ob wir uns versöhnt hätten, antwortete ich ihr. »Nein. Du kannst ihn ja kriegen, wenn du ihn haben willst.« Auch diese Aeußerung, die ich in Erregung tat, war nicht so gemeint, wie sie mir in dem Ehescheidungsprozeß ausgelegt worden ist. (...) Auch in Leipzig hat es die Plöhn verstanden, mich immer wegzuschicken, um Einkäufe zu machen, nur, damit sie mit meinem Manne allein bleiben konnte. Ueber diese Einkäufe, die nach der Ansicht der Plöhn für den Aufenthalt auf der Mentel gemacht werden mußten, war mein Mann auch immer sehr böse. In Leipzig begann die Plöhn, auf den Bruch zwischen mir und meinem Manne hinzuarbeiten.412


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Nach diesem dramatischen Ereignis auch setzen Emmas Vermutungen ein, Klara würde mit May schlafen, wie bereits zusammenfassend erörtert.

   Zutreffend, da mit Mays ›Studie‹ übereinstimmend, sind Emmas Aussagen, daß Klara (und nicht etwa May) ihre Mutter kommen ließ, daß die Versöhnung scheiterte, daß Emma ihren Mann der Freundin Klara ›anbot‹ und daß sie wiederum Kleidung kaufte, über deren Preis May sich aufregte. Denn diese Übereinstimmungen sind um so bedeutungsvoller, als es gerade nicht stimmt, daß die gescheiterte Versöhnung von Leipzig in dem Ehescheidungsprozeß eine Rolle gespielt hat, wie von Emma erklärt; weder in den beiden Schriftsätzen noch in den Zeugenvernehmungen oder gar in dem Scheidungsurteil selbst fand diese Szene Erwähnung. Ihre Einführung in den Prozeß war juristisch auch nicht geboten, denn Emmas Einverständnis mit der Scheidung hätte May problemlos mit Emmas entsprechender, am 29. August 1902 unterschriebener, Erklärung belegen können (Studie, S. 935). Dieses Schriftstück ist aber offenbar nicht zu den Scheidungsakten gelangt, vermutlich, weil es weder ausreichte, um eine Scheidung herbeizuführen, noch weil eine Einverständniserklärung erforderlich war, um das erstrebte Urteil einer schuldhaft durch Emma verursachten Scheidung zu erhalten. Emma hat also ihre Version des Leipzig-Aufenthaltes nicht zur Verteidigung gegen Akteninhalte formuliert, die sie belasteten; aus demselben Grund muß die Möglichkeit ausscheiden, daß der Richter Dr. Larrass sie aufgefordert haben könnte, zu diesem Punkt Stellung zu beziehen. Emma hat sich vielmehr tatsächlich an die Begebenheit erinnert und sie in der für sie üblichen Weise, nämlich unter Schuldzuweisung an Klara und inhaltlich verharmlosend, dargestellt, ohne dabei ganz und gar von der Wahrheit abzuweichen.

   Nicht von der Hand zu weisen ist im übrigen Emmas Wertung, Klara habe auf den Bruch hingearbeitet. Klara dürfte Emma gut genug gekannt haben, um zu wissen, daß Emma viel zu stolz war, um sich, und das auch noch unter öffentlichem Druck, für ihr vorangegangenes Verhalten zu entschuldigen. Warum sollte sie sich auch für ein Verhalten entschuldigen, das nach Emmas eigener Auffassung von Klara zu verantworten war, auf deren Hetze ihre impulsive Reaktion in Berlin ja beruhte, und, folgt man Mays ›Studie‹, auch nicht wesentlich von ihrem üblichen Verhalten abwich? Mit Konsequenzen: hat Emma jedenfalls nicht gerechnet, schließlich war es jahrelang gutgegangen mit ihrem passiven Ehemann; ein Brief von Klara an Selma vom Scheidt, den Klara gegen Ende 1909/Anfang 1910, jedenfalls, nachdem Emma unter der Regie von Lebius Zahlungsklage gegen May wegen der seinerzeit beiseite geschafften 36.000 Mark erhoben hatte, geschrieben haben dürfte, könnte auf diese entscheidende Fehleinschätzung Emmas an jenem Tag in Leipzig hindeuten:


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Gott gebe, dass sie jetzt klar sieht und nicht wie früher meine Warnungen in den Wind schlägt. Sie sagte mir damals, als das - - über sie herein brach und es zu spät war: »Mausel, warum hast du mich - - - - - - - - - dann hätte ich Dir doch vielleicht gefolgt.«413


Daß Emma von sich aus in Leipzig eine erste Entschuldigung ›versucht‹ haben will, über deren Ablauf sie bezeichnenderweise nichts mitteilt, muß bezweifelt werden, ebenso, daß Wilhelmine Beibler zufällig ›zugegen‹ gewesen sein soll, als sie gerade aus eigenem Antrieb zum zweitenmal einen Entschuldigungsversuch unternahm; schließlich war Klaras Mutter als Vermittlerin gerufen worden, nachdem Emma mehr als zwei Wochen keinerlei Anzeichen von Konzilianz gezeigt hatte. Insbesondere aber stehen diese Bekundungen in scharfem Widerspruch zu Emmas einen Tag zuvor erfolgter Aussage, sie habe ihren Mann erst in München und in Bozen um Verzeihung gebeten. Über innere Kämpfe um eigene Versöhnungsbereitschaft dürfte Emma mithin in Leipzig nicht hinausgekommen sein.

   Unglaubwürdig ist Emma auch, wenn sie das Scheitern der Versöhnung allein Mays Verhalten zuschreibt. Seine von ihr zitierten, die Versöhnung verweigernden, vagen Worte: »›Das ist gar nicht nötig‹« widersprechen ihren eigenen weiteren Bekundungen. Sollte May mit diesen auslegungsbedürftigen Worten gemeint haben, daß die öffentliche Versöhnung mit dem symbolischen, von Wilhelmine Beibler initiierten Akt des Ineinanderlegens der Hände nicht nötig sei, weil man sich auch ohne dieses Ritual versöhnen könne: dann wäre Emmas Verärgerung über seine Worte nicht nachvollziehbar. May kann aber auch nicht gemeint haben, daß dieser Akt unnötig sei, weil es mangels Zerwürfnisses einer Versöhnung nicht bedürfe; Emmas angebliche Bemühungen, Verzeihung für ihren Louis-Ausspruch zu erhalten, weil May tief gekränkt und verstimmt gewesen sei, passen ganz und gar nicht zu dieser Auslegung. Sollte May allerdings gemeint haben, daß eine Versöhnung ausscheide, weil er zu einem Verzeihen nicht mehr bereit sei, hätte er nicht den falschen Ausdruck ›nicht nötig‹ verwandt, vielmehr eine klarere Formulierung wie ›unmöglich‹ oder gar: ›Es ist zu spät‹. Tatsächlich wollte er es aber gerade von Emmas Verhalten abhängig machen, ob man noch einen Weg zueinander finden könne, um die verhaßte Scheidung zu vermeiden. Seine beobachtende passive Rolle hat er konsequent durchgehalten; mehr, als mit inneren Entscheidungen zu reagieren, hat er während der gesamten Reise, weder vor noch nach Leipzig, nicht unternommen.

   Mit ihrem Ausbruch, ihm indirekt Klara als Ersatz anzudienen, war allerdings der point of no return erreicht. Er sollte ihre abgelegte Geliebte als Frau übernehmen? Klara sollte ihn, der er von Emma vor ihre Füße geworfen worden war, auf Emmas Befehl hin ›küssen und aufheben‹? Unglaubhaft ist jedenfalls auch Emmas Bekundung, lediglich Klaras Mutter, nicht aber Klara habe diesem Versöhnungsversuch beigewohnt. Durch die Auf-


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splittung eines einheitlichen Lebenssachverhalts - schließlich hatte Klara ihre Mutter herbeizitiert, weil sie ein originäres Interesse an dem Vorgang hatte - in zwei getrennte Ereignisse soll Emmas Angebot an Klara, den Mann doch gefälligst selbst zu nehmen, lediglich in einen intimeren Zusammenhang gerückt werden: der eigene Mann hört es ja nicht, und unter Freundinnen sagt man schon mal etwas Unbedachtes ... Tatsächlich belegt der Ausspruch eine derartig spontane Reaktion der befremdet-überraschten Emma - die nach eigener Aussage ja nicht wußte, aus welchen Gründen Wilhelmine Beibler plötzlich in Leipzig auftauchte -, daß er nicht anders als sofort und unmittelbar nach Klaras öffentlicher Parteiergreifung für May gefallen sein kann.

   Die endgültige Entscheidung von May war jedenfalls an diesem ersten Tag in Leipzig, Montag, den 18. August 1902, gefallen. Daß die durch ihre Tochter alarmierte Wilhelmine Beibler ohne Zeitverzug sogleich am Ankunftstag der drei in Leipzig erschienen sein dürfte, liegt nahe. Als weiteres Indiz für diese Annahme könnte auch Emmas verdrängende Reduzierung des Leipzig-Aufenthalts auf zwei Tage dienen.

   Am Montag der Romanhandlung im ›Silberlöwen IV‹, nach dem Nachtgespräch mit dem Ustad, wird die Abkehr von Emma und die geschwisterliche Nähe zu Klara jedenfalls durch ›höhere Entscheidung‹ legitimiert: Relativ unmittelbar nach der ersten Begegnung mit Pekala, die mit der bitterbösen Bewertung endet:


Solche Menschen gleichen freundlichen Schmetterlingen, die um ihrer Raupen willen unschädlich gemacht werden müssen. Es tut einem leid, doch man hat sich zu wehren. ... Das ganze Lebenswerk des Ustad hing also von der Schwatzhaftigkeit einer Person ab, die weiter nichts, als eine Törin, eine Närrin war! Wer weiß, wieviel sie bisher schon geschadet hatte! Stand sie allein mit ihrem Verrate, oder besaß sie noch andere Vertraute? (Silberlöwe IV, S. 203),


kommt es auch zu der zweiten Begegnung mit Schakara, die die erste wirklich ›private‹ ist:


Da wollte ich mich niedersetzen und das Gemäuer in Augenschein nehmen. Aber es saß schon jemand da - - Schakara. ... Sie zeigte nicht die geringste Spur von Verlegenheit, während ein europäisches Mädchen, in derselben Beschäftigung überrascht, gewiß aufgesprungen und davongelaufen wäre. Sie hatte nämlich ihre langen, schweren, dunkeln Flechten geöffnet und war soeben dabei, dieses fast überreiche Haar durch den Kamm zu glätten. (Silberlöwe IV, S. 206f.)


Ein vertraut-intimes Gespräch (Wie hell und sorglos sie mich dabei anschaute! Silberlöwe IV, S. 207) beginnt, bei dem Schakara ihre Nähe zu der ehrwürdigen Greisin Marah Durimeh, der Menschheitsseele und zugleich ihrer Lehrerin, bekennt und gesteht, im Auftrag Marah Durimehs den Ustad zu prüfen: denn: »Mir ist, als ob ich vor dir kein Geheimnis haben dürfe, als müsse ich dir alles sagen, was in mir ruht, und auch was mich bewegt.«


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(Silberlöwe IV, S. 211) Schakara spricht in wunderschöner rhythmischer Rede von Mays neuem Literaturideal, »Das war das Roß der Himmelsphantasie, der treue Rappe mit der Funkenmähne, der keinen andern Menschen trug als seinen Herrn, den nach der fernen Heimat suchenden ...« (Silberlöwe IV, S. 208), und am Ende dieses Gespräches sagt sie:


»Man sagte mir, daß du heut' den ganzen Tag zu schlafen haben werdest. Effendi, thue es! Es kommen schwere Tage, und du hast stark zu sein. Die Kraft, welche du heut' verschwendest, kann dir schon morgen fehlen. Glaube mir, ich meine es gut!«

   Das klang so besorgt, so mütterlich, daß ich antwortete:

   »Ich werde diesen deinen Rat befolgen, doch nicht sofort, erst nach der Mittagszeit, wenn Pekala - - -«

   »Pekala?« fiel sie da rasch ein. »Du wolltest sagen, daß sie dir das Essen bringen werde. Du irrst. Von jetzt an werde ich es sein, die für dich sorgt. Ich lasse dich in keiner andern Hand.«

   Ich wollte das nicht acceptieren und brachte meine Gründe dagegen vor. Da öffnete sie das kleine Dschasaltäschchen, welches an ihrem Gürtel hing, nahm ein Pergamentkärtchen heraus, gab es mir und sagte:

   »Am Tage nach der Nacht, in welcher man dich und Halef zu uns brachte, sandte ich einen Boten an Marah Durimeh, denn ich hielt es für nötig, daß sie wisse, wie es um euer Leben stand. Ich habe ihr seitdem wiederholt berichtet und Antwort von ihr erhalten. Das Letzte, was sie schrieb, sind diese Worte.«

   Ich las:

   »Er sei der Geist; du aber sei die Seele, seine Schwester. Das zeige ihm und grüße ihn von mir.

   Marah Durimeh.«

   Da gab ich ihr das Pergament zurück, legte die Hand auf ihr Haupt und sprach:

   »Was meine Freundin sagt, ist immer richtig. Ich will dein Bruder sein; so sorge denn für mich!« (Silberlöwe IV, S. 218f.)


Wollschlägers Deutung dieser Textstelle als Spiegelung der Reisestation Leipzig, »wo Klaras Mutter die Ratschlüsse Marah Durimehs ausspricht«,414 erscheint zwingend. Diese Stelle im Roman besiegelt eine mütterlich gefärbte Vertrautheit zwischen Schakara und dem Ich, wobei die unterschwellige Erotik in dieser und mehr noch in den folgenden Begegnungen bereits von Mays Eheerfahrungen mit Klara gespeist sein dürfte. Denn auch das 2. Kapitel ›Unter Ruinen‹, aus dem dieser Textauszug stammt, wird frühestens Mitte Mai 1903, nach Eheschließung mit Klara am 30. März 1903, begonnen worden sein.415

   Weitaus klarsichtiger als in der ›Studie‹ sieht May im Roman Klaras aktiven Part bei der Ordnung seiner komplizierten Verhältnisse: Das Ich trifft lediglich negative Wertungen über Pekala und muß sich seine Einschätzungen am nächsten Tag auch noch von Kara Ben Halef, dem Chodj-y-Dschuna und sogar von Halef und Hanneh bestätigen lassen, um wirklich sicher zu sein:


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Ich war still. Etwa aus Beschämung? Warum hatte ich Tifl und Pekala gegenüber nicht sogleich dasselbe Gefühl gehabt wie Halef und Hanneh? Wahrscheinlich weil diese beiden Letzteren Naturmenschen waren, welche die Instinkte noch besitzen, die uns im Verlaufe unserer »Bildung« mehr und mehr verloren gehen. Die immer strahlende »Festjungfrau« und ihr »originelles Kind« waren mir so außerordentlich »natürlich« vorgekommen, während ich jetzt immer mehr einzusehen begann, daß eine künstliche, eine nachgeäffte Natürlichkeit nicht mehr natürlich ist. Denn daß ich es hier mit Schauspielereien zu tun hatte, das war mir sehr wahrscheinlich. (Silberlöwe IV, S. 247)


Danach wird der Erfinder der künstliche(n) ... Natürlichkeit Pekalas (und diese Figur war ja tatsächlich Produkt eines künstlerischen Kraftaktes gegen die Wirklichkeit) auch gleich wieder sehr persönlich und tritt als das Ich des Autors hervor:


Darüber, daß ich mich einmal in einem oder zwei Menschen geirrt hatte, kam ich sehr leicht hinweg; um so fürchterlicher aber waren mir die kindlich naiven, rührseligen Masken, von denen ich mich hatte täuschen lassen. ... Es gibt in Persien eine große Menge von Sekten. Eine derselben, die Schujuch, lehrt, der menschliche Körper sei nur dazu da, daß die Geister einander täuschen; das Erdenleben sei ein großer, ununterbrochener Maskenball, doch keineswegs zum Vergnügen, und je schöner, freundlicher und liebenswürdiger ein Maskenbild erscheine, desto mehr habe man sich vor ihm in acht zu nehmen. Die Kinderlarven aber seien am allerschlimmsten. Ich bin weder Perser noch Sektierer, aber es wurde mir nun gar nicht schwer, mich in den Gedanken zu versetzen, daß Pekala und Tifl hier bei den Dschamikun Redoute spielten. Und ich, der ich die Kinder herzlich liebe, war diesen »allerschlimmsten« in das Garn gegangen. (Silberlöwe IV, S. 247f.)


Die kindliche Maske, hinter der sich erfolgreich die Diabolin versteckt, wird später auch in der ›Studie‹ wieder eine Rolle spielen ...

   Während das Ich über Bewertungen und abschweifendes Räsonieren also nicht hinauskommt, übernimmt Schakara, mütterlich und resolut, die leibliche und seelische Versorgung des Helden; sie ist es, die Pekala aus ihrer Schlüsselrolle als Ernährerin des Helden verdrängt; sie mahnt ihn, sich zu schonen, denn die folgenden Tage werden an seinen Kräften zehren, aber die Rettung ist da. Das Ich steht unter dem Schutz von Marah Durimeh und Schakara. »Ich lasse dich in keiner andern Hand!« (Silberlöwe IV, S. 219)

   Die praktische Umsetzung gefühlsmäßiger Entscheidungen übernimmt sie selbst.

   Als Beziehungsmuster setzt sich übrigens durch den Romantext fort, daß Schakara immer unmittelbar vor oder nach Begegnungen mit Pekala auftaucht, es aber nie zu einer Konfrontation der beiden Frauen kommt: einer solchen Darstellung, die Schakara in Gefahr gebracht hätte, auf Pekalas Niveau heruntergezogen zu werden, war May weder als Literat noch als Mann gewachsen. Am Schluß, nach der heftigen, stellvertretenden Konfrontationsszene Schakaras mit der Gul, einer Figur, in der Emma und Pauline


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Münchmeyer zur Karikatur einer Domina mit Peitsche verschmolzen sind (und hier wird Schakara, die unterliegen müßte, durch den Ustad aus der Schußlinie genommen): erst an jenem Samstag also, an dem Pekala verschwindet, kann er beide Figuren zusammen auftreten lassen:


Zu meiner Ueberraschung wurde mir heut das Mittagessen nicht von ihr allein gebracht. Pekala kam mit. Sie hatte das gewünscht, um mir Etwas mitteilen zu können. Da stand sie nun vor mir, glühend vor Verlegenheit und nach den passenden Worten suchend. (Silberlöwe IV, S. 556)


Und Pekala versichert ihm in dieser Szene: »Aber ich komme nicht wieder, gar nicht!« (Silberlöwe IV, S. 557)

   May braucht Klara, und Klara braucht May, um nicht schon wieder Emmas ›Wesen zu unterliegen‹. Jeder für sich allein wäre dem, was jetzt kommen muß, nicht gewachsen gewesen.

   Praktische Konsequenzen aus dem Fiasko in Leipzig zieht May natürlich nicht. Er wendet sich vielmehr in einer seiner eingeschliffenen Fluchtbewegungen vor der Realität wiederum literarischen Plänen zu: am 20. August 1902, dem Tag vor der Abreise aus Leipzig, telegraphiert er jedenfalls an Fehsenfeld: Haben Sie keine Sorge um Manuskript.416 Daß er mit diesen Worten lediglich seinen Verleger beruhigen wollte, ist natürlich nicht auszuschließen; aber nachdem für May und Klara in Leipzig die Entscheidung gegen Emma gefallen war, gab es Licht am Ende des Tunnels und Hoffnung auf einen kreativen Neuanfang. May schreibt ein Gedicht, unter dem sich die Notiz befindet: Speisewagen Leipzig-München 21./8.02., in dem er Fakira sprechen läßt: Es war am Tag der tausend Seligkeiten, / Als ich zu dir, dem Vielgesuchten kam. ..., ein Hinweis auf jenen Sonntag vor gut zwei Wochen in Berlin, der in Leipzig endgültige Bestätigung gefunden hat. Zugleich belegt das Gedicht aber auch, daß es für May um eine asexuelle, geradezu weltentrückte und vorherbestimmte Verbindung geht, die an jenem Tag entstanden ist, denn die weibliche Stimme spricht weiter: Du folgtest mir, du hast dich mir ergeben; / Nun bist du endlich, endlich wieder mein. / Ich bin bei dir in diesem Erdenleben, / Und dann wirst du bei mir im Himmel sein.417 Wie sich Fakira, das Himmelswesen, ja konsequenterweise auch dem sinnlichen Zugriff von Scheitana entzieht: Fakira, einmal mehr wunscherfüllend, weist die Dämonin in ihre Schranken:


Nicht diesen Kuß! Es ist der Kuß der Erde, / Den die Verführerin dem Himmel gibt, / Damit er irdisch, sündhaft wie sie, werde,/ Die ja im Kuß nur mit dem Munde liebt. / Gib mir dein Herz! Den Leib will ich nicht haben; / Vergänglichkeit ist weder dein noch mein. / Doch, hat der Trug die Lüge hier begraben, / So darf in Wahrheit ich die deine sein.418


München, Hotel Leinefelder; Mays Gesundheitszustand hat sich rapide verschlechtert:


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Ich war wie ein Licht, welches im letzten Flackern ist. Dieses Weib, dieses Scheusal aber that nicht dergleichen. Sie spazirte fröhlich in der Stadt herum und wenn sie dann in das Hôtel kam, führte Sie Scenen auf, die mehr als widerlich waren. Sie verlangte, als ich mich einmal mit einer Frage in ihr Zimmer verirrte, von mir geküßt zu werden. Ich verwies ihr solche Scherze. Da ging sie zu Frau Plöhn und erzählte ihr, daß es soeben ein Liebesabenteuer zwischen ihr und mir gegeben habe, mit Küssen und so weiter. Daß sie Lügen gestraft wurde, beschämte sie nicht im Geringsten. Aber sie nahm Rache dafür, indem sie die freche Behauptung aufstellte, daß wir mit einander Ehebruch trieben. Wir Beide! Ich, der ich so nahe am Tode stand, daß ich schon nicht mehr laut reden konnte, sondern nur noch halb hörbar hauchte! Und die arme Frau Plöhn, die von all den Verrücktheiten, Vorwürfen, Kämpfen und Sorgen, die sie in dieser Zeit ertragen hatte, so angegriffen und niedergedrückt war, fast am Verzweifeln stand! Und Ehebruch! (Studie, S. 921)


Bis auf die arme Frau Plöhn, eine Wertung, die Klara Plöhn weniger Energie zubilligt als angemessen wäre, eine konsequente Darstellung, die Emmas reichlich spät erwachenden Kampfgeist beschreibt. Sie hat nun endlich begriffen, daß es ernst ist, daß Karl sich trennen will, schlimmer noch: daß auch Klara mit ihr bricht. So hat sie sich ihre Zukunft jedenfalls nicht vorgestellt. Sie wählt die Waffen einer Frau, die einzigen, die sie kennt. Nach mehr als einem Jahr ohne Geschlechtsverkehr, sicherlich auch ohne Berührungen und Zärtlichkeit zwischen den Eheleuten, bedenkt man, daß Karl sogar Angst hatte, sie könne ihn vergiften, verlangt sie einen Kuß. Das muß für Karl May tatsächlich eine absurde Situation gewesen sein. Und daß sie gegenüber Klara, um einen Keil zwischen Klara und Karl zu treiben, aus der Verweigerungsszene den Triumph der ihren Mann wieder erobernden rechtmäßigen Ehefrau macht, ist eine hübsche Taktik; sie läßt sich als ein auf der gleichen Ebene angesiedeltes Rückzugsmanöver von der unbedachten Überlassung des Ehemannes an die Freundin deuten. Und als die Basis dieser Taktik als Lüge entlarvt ist, unterstellt sie den beiden Ehebruch. Sämtliche Strategien bedienen sich sexueller Elemente, eine Ebene, auf der sie Karl und Klara allerdings nicht (mehr) erreichen kann, so lange deren geistig-seelische Nähe andauert. Im Gegenteil, ihr letzter Vorwurf, den Emma zwar gegenüber Richter Dr. Larrass wiederholt, aber nur mit Vermutungen und Schlußfolgerungen belegen kann, schweißt beide nur um so stärker zusammen.

   Emmas weitere Aussagen zu den Geschehnissen in München, sind, gelinde gesagt, eine Mischung aus abenteuerlichster Wunscherfüllung und Wahrheit, zugleich aber in ihrer Tendenz eine Bestätigung ihrer in der ›Studie‹ beschriebenen Kampfmethoden. Zunächst beklagt sie sich, daß Klara, nachdem Karl nur zwei nebeneinander liegende und ein weit entferntes Zimmer bekommen habe, es schafft, das neben Karls Zimmer gelegene zu erhalten - ein Hinweis auf Klaras tatkräftige Umsetzung der jetzt gefestigten Trennungsabsicht Mays. Post für Frau Plöhn wird in ihrem Zimmer abgegeben, weil man Frau Plöhn für Mays Frau und Emma für Frau Plöhn hält, was Emma sich angeblich stillschweigend gefallen läßt; wiederum eine


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unglaubhafte Aussage, bedenkt man Emmas entsprechende Schilderung, verbunden mit ihren heftigen Attacken auf May, gegenüber Selma vom Scheidt. Am Sonntag, den 24. August 1902, dann das von May beschriebene Ereignis in ihrer Version:


Eines Sonntags brachte mir die Plöhn in München Rosen in mein Zimmer. Kurze Zeit darauf trat mein Mann in mein Zimmer. Ich ging auf ihn zu und küßte ihn. Als die Plöhn das sah, wurde sie bleich und verließ sofort das Zimmer. Ich bat darauf meinen Mann, er solle mir doch verzeihen. Ich würde ihm in Zukunft alles zu liebe tun. Darauf küßte er mich, verzieh mir und sagte: »Deinen Körper habe ich besessen, nicht Deine Seele, die muß ich haben, die lasse ich nicht.« Als ich ihm dann noch etwas liebes sagte, meinte er: »Dafür mußt du noch extra einen Kuß haben,« drückte mir die Hand und weinte.419


So erfolgreich mag sich Emma die Szene bei der geistigen Generalprobe vorgestellt haben, und so bricht der Wunsch die Realität, so glaubt sie selbst daran, nachdem sie die Szene wieder und immer wieder mit ihren Freundinnen durchgespielt haben wird: und zumindest der Anfang dürfte in etwa stimmen: zwischen den Formulierungen des Mannes: Sie verlangte, ... von mir geküßt zu werden und der Beschreibung der Frau: »Ich ging auf ihn zu und küßte ihn« liegen keine unüberbrückbaren Welten. Auch der ungewollt empfangene Kuß ist schließlich eine nonverbale Aufforderung, (wieder)geküßt zu werden. Aber daß May hierauf eingegangen sein soll - dafür sprechen nicht die geringsten Anhaltspunkte. Wiederum in der Sammelmappe ›Wüste‹, die Sätze, Gedichtfragmente, Skizzen enthält, die zur Zeit der Reise und der Scheidung entstanden sind, notiert May zunächst Sätze wie: Die niedre Schönheit schwelgt in Grausamkeit! und: Sie herrscht durch den Rausch und saugt die Seele leer sowie: Dein Kuß hat mir die Seele leer gesaugt. Gedankensplitter, die dann in folgendes Gedicht münden, das von ängstlicher, fast resignativer Abwehr geprägt ist: Wenn sich dein Auge in das meine taucht, / Wird mir vor dir und deiner Liebe angst. / Dein Kuß hat mir die Seele leer gesaugt, / ... / Nun sag', Schetana, was du noch verlangst!420 Vergangene Niederlagen spiegelt dieses Gedicht; noch einmal wird er sich auf einen so gefährlichen Kuß nicht einlassen.

   Ein Abbild dieser München-Szene, die von May in der ›Studie‹ kurz als Scherz abgehandelt wird, findet sich im ›Silberlöwen IV‹ als die Komödie einer Begegnung zwischen Pekala und dem Ich, die am 8. Tag der Romanhandlung, ebenfalls an einem Sonntag, spielt. Folgerichtig hat er den Dialog zeitlich weit nach hinten verlegt, denn zu diesem Zeitpunkt ist alles schon zu spät: Pekala als Problemfall ist bewältigt; der Aschyk ist bereits gefangen, bestraft, er hat gebüßt, ihm wurde verziehen. In seiner übergroßen Reue hatte der Aschyk sich selbst auf eine derartig alleinschuldige Weise angeklagt, daß Pekala zu einer uninteressanten Nebenfigur schrumpfen konnte: denn die Emotionen des Ich und die Geständnisse des Aschyk waren erschöpft und erschöpfend:


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»Ich bin ein Dieb, ein Fälscher, ein Betrüger, ein Helfershelfer der Mörder! Ich habe dich und Euch alle mit vernichten wollen. Ich habe Pekala verführt und Tifl verführt, welche gute Menschen waren und noch gute Menschen sind, welche Euch liebten und immer, immer lieben werden!« (Silberlöwe IV, S. 431)


... so begann nun auch der Aschyk zu erzählen: Ein Menschenleben nur, und aber doch ein Menschheitsleben! ... Er schonte sich selbst nicht im Geringsten, aber er schonte auch keinen Andern. (Silberlöwe IV, S. 435)


Am nächsten Tag, dem Sonntag, will das Ich zu den Pferden:


Schon war ich an der Küchentür vorüber, da hörte ich mich hinter mir rufen. Ich drehte mich um. Pekala kam mir nach. Sie tat sehr heimlich.

   »Effendi, weißt du, daß heute Sonntag ist?« fragte sie halblaut.

   »Natürlich!«

   »Und daß da mein Aschyk kommen wollte?«

   »Ja.«

   »Er kommt aber nicht!«

   »So? Warum nicht?« (Silberlöwe IV, S. 450)


Mit dieser Frage provoziert das Ich lediglich Pekalas nun vollkommen belanglos gewordene Geständnisse: denn der Effendi weiß ja längst schon alles. Pekala, deren Schuld der Aschyk auf sich genommen hat, geht ihn nichts mehr an. Sie darf wieder zur grotesk-komischen Lachnummer mutieren.

   »Ich ging in den Garten, um Soghanlar [Fußnote: Zwiebeln] zu holen«, so stürzt sich Pekala in ihre peinliche Geschichte, und diese vom Autor so listig plazierten Zwiebeln, sie gehen dem Leser nicht mehr aus dem Kopf.


»Aber es war sehr rührend, als er [der Aschyk] ging, sehr!«

   »Wieso?«

   »Er ergriff meine Hand und streichelte mir mit seiner andern Hand über den Kopf, so - - so - -«

   Sie zeigte mir, wie er es gemacht hatte, und fuhr dann fort:

   »Und dazu sagte er: ›Pekala‹, sagte er, ›wir haben im letzten Jahre viele, sehr viele Lügen gemacht, und der Ustad und der Effendi sind doch so liebe und so gute Menschen, die man auf keinen Fall belügen oder gar betrügen sollte. Versprich mir, daß du ihnen von heute an die volle Wahrheit sagen willst, wenn sie dich nach mir fragen!‹ Da habe ich es ihm versprochen und ihm auch die Hand darauf gegeben, daß ich es halten werde, denn - - -«

   Sie hielt inne, weil ihr die Tränen kamen. Da wischte sie sich die Aeuglein und auch das kleine Näslein an die Schürze


- in der sie sicherlich ihre Zwiebeln in die Küche transportiert und an der sie sich bei der Kochvorbereitung die vom Zwiebelsaft benetzten Hände getrocknet haben wird, funkt die unwillkürliche Assoziation des Lesers dazwischen -


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und fuhr hierauf fort:

   »Denn mit dem Lügen ist es - - - verzeihe mir, Effendi! Ich nehme dann nachher zum Kochen gleich eine andere, eine neue Schürze - - - denn mit dem Lügen ist es eine schlimme Sache. Man kann nämlich nicht schlafen, wenn man dich oder den Ustad belogen hat, und so will ich dir denn jetzt ganz offen sagen - - -«

   Sie wischte sich jetzt abermals, und zwar sehr nachhaltig, was sie jetzt nun doch wohl durfte, weil sie ja nachher eine neue Schürze nehmen wollte, und sprach weiter:

   »- - - will dir ganz offen sagen, daß die Sache anders gewesen ist, als ich dir erzählt habe. Es muß vom Herzen herunter, sonst halte ich es nicht aus! Mein Aschyk ist nämlich nicht nur alle Monate gekommen, sondern - - -« (Silberlöwe IV, S. 451f.)


Jetzt allerdings wird es gefährlich, denn der Aschyk sollte seine anfängliche Lüge, daß er vor einem Jahr das erste Mal und seitdem in jedem Monat nur einmal da gewesen sei (Silberlöwe IV, S. 361), erst am vorletzten Tag der Romanhandlung, als Pekala schon längst verschwunden ist, revidieren: »Ich bin öfters bei Euch gewesen, als Ihr denkt,« sagte er, »und von Allem sehr gut unterrichtet.« (Silberlöwe IV, S. 612)


Da unterbrach ich sie:

   »Laß das jetzt, Pekala! Ich wünsche nicht, daß du dir wehe tust.«

   »Ich soll es dir nicht erzählen?«

   »Nein.«

   »Aber da bringe ich es doch nicht herunter und kann heute Nacht wieder nicht schlafen!«

   »Doch, doch! Es ist nämlich genau so gut, als ob du es erzählt hättest. Der Ustad und ich verzeihen es dir. Wenn wir es einmal wissen wollen, werden wir dich schon selbst fragen. Dann aber mußt du uns freilich die volle Wahrheit sagen, keine Lüge mehr!«

   Da wurden ihre Aeuglein wieder klar; das Näslein verlor die Lust, sich kummerfeucht zu zeigen, und sie antwortete schnell:

   »Lüge? Nie wieder, nie, niemals!« (Silberlöwe IV, S. 452)


Nach dieser zwiebelinduzierten Rührszene, den Quasi-Offenbarungen aus Eigeninteresse an gutem Schlaf, die genau an der Stelle abgebrochen werden, an der sie dem Ich und nicht etwa Pekala wehtun würden, und dem inhaltslosen Verzeihen kippt die Szene ab in klamottiges Torte-ins-Gesicht-Werfen, was hier allerdings zum Eierkuchen mutiert, den Pekala liebend gerne dem Scheik-ul-Islam ins Gesicht werfen möchte. Sie machte mir mit den Händen die betreffende Bewegung vor. Ich mußte lachen; sie aber meinte es ernst. (Silberlöwe IV, S. 453)

   Wenn es denn an jenem Sonntag in München eine große Szene mit Tränen, Geständnissen und allzu schnellen Versprechungen zukünftigen Wohlverhaltens gegeben haben sollte (und Bruchstücke von Emmas Variante des Geschehens lassen sich der literarischen Entstellung ja zwanglos entnehmen), dann kam sie jedenfalls zu spät. Für May war das nach alldem, was


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geschehen war, eine durchsichtige Farce mit einem Übermaß an Krokodilstränen.

   Aber in Emmas Aussage geht es noch wunscherfüllender weiter, immerhin die von May beschriebene Taktik, Klara ihre unterlegene Position als bloßer Seelenschwester des Mannes gegenüber derjenigen der sexuell siegreichen legitimen Ehefrau klar zu machen, bestätigend; nach einer Kutschfahrt zu dritt, bei der May sehr gut aufgelegt und scherzend gegenüber Emma gewesen sein soll, was nach all der Selbstquälerei Mays bis zur Entscheidung schlicht nicht vorstellbar ist:


Die Plöhn dagegen saß im Wagen, trübsinnig und grübelte. (...) Als ich ihr dann erzählte, daß ich mich mit meinem Manne versöhnt habe und sehr glücklich sei, machte sie ein geradezu teuflisches Gesicht, küßte mich aber auf mein Verlangen. Wir fuhren dann weiter und wollten auf einem Schloß im Isartal Kaffee trinken. Die Plöhn trennte sich dann von uns und blieb längere Zeit weg. Mein Mann ging sie suchen. Als Beide wiederkamen, sagte sie mir, sie habe sich das Leben nehmen wollen. Nach dem Grunde fragte ich sie nicht. (...) Noch auf der Rückfahrt war mein Mann trotz des Wesens der Plöhn sehr gut aufgelegt und scherzte viel.421


Auch wenn diese Szene von höchster Unwirklichkeit ist, ja, gar Traumqualität aufweist - der scherzende May angesichts einer Klara, die Suizidabsichten äußert; Absichten, für deren Gründe Emma nicht genug Interesse aufbringt, um sich danach zu erkundigen (diese letzte Auskunft Emmas wurde wohl auf Nachfrage des Richters erteilt) -, ist es aufschlußreich, Emmas Wunschtraum näher zu analysieren. Denn was ihr als geglückte Versöhnung vorschwebt, ist der entspannt-harmlose Ehemann, den sie durch erotische Aktivität wieder erobert und im Griff hat, sowie eine Klara, die für ihre Manipulationen abgestraft wird bis an den Rand der Selbstzerstörung: die von Emma mithin wieder dirigiert werden kann, die sie gar auf ihr Verlangen küssen muß, obwohl Emma die Ursache für das Scheitern ihrer auf den Mann gerichteten Pläne gesetzt hat. Zur neuen heilen Welt gehört auch, daß Karl der seelische Zustand von Klara gleichgültig ist, er soll sie scherzend ignorieren. Ein längeres Gedankenspiel Emmas, das alle diejenigen Züge aufweist, die May in seiner ›Studie‹ beschreibt: Lust an Machtausübung und Beherrschung ihrer beiden Liebespartner, gepaart mit Grausamkeit und Lust am Quälen.

   Emmas Traum platzt so schnell, wie Träume eben immer platzen; da es letztendlich ja zur Scheidung gekommen ist, was sowohl der Vernehmende als auch die Vernommene weiß, muß sie nun eine Erklärung dafür aufbieten, warum dieses Idyll nicht andauerte. Und nach ihrer Aussage war es bereits am selben Abend beendet.

   Der nichtige Anlaß allerdings widerlegt eine ernsthafte Versöhnung zwischen den Eheleuten, wie zuvor geschildert, und selbstverständlich ist es die urplötzlich aus tiefster Depression erwachte Klara, die alles zunichte macht:


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»Als ich in mein Zimmer kam, fand ich ein für die Plöhn bestimmtes Paket ihrer Mutter vor. Ich öffnete es, um zu sehen, ob die Beibler vielleicht auch Briefe für mich mitgeschickt hatte.« Die Rechtfertigung für ihre nahezu gewohnheitsmäßige Kontrolle fremder Post wird also gleich mitgeliefert ...


In diesem Moment stürzte die Plöhn wie eine Furie in mein Zimmer, nahm mir das Paket weg und beschwerte sich bei meinem Manne. Gleich darauf kam auch mein Mann in mein Zimmer und machte mir Vorwürfe.


Danach belauscht sie zwei Stunden lang, wie May und Klara in ihrem Zimmer miteinander flüstern.


Plötzlich kam mein Mann aus dem Zimmer und ich fragte ihn, was er zwei Stunden lang bei der Plöhn gemacht habe. Er antwortete, er habe sich einmal aussprechen müssen. Ich ging darauf in sein Zimmer, er lehnte es aber ab, sich mit mir zu unterhalten, weil er, wie er vorgab, müde war und schon jetzt, um zehn Uhr schlafen wollte. Ich solle ihm keine Szene machen, sagte er, weil das Zimmer neben dem seinigen besetzt sei.422


Die nun wieder vollkommen realistische Episode liest sich wie eine natürliche Ergänzung zu Mays Schilderung, denn obwohl May nicht die geringste Ahnung davon haben kann, was Emma nahezu zeitgleich mit der Niederschrift der ›Studie‹ gegenüber dem Untersuchungsrichter aussagt, hat er das von Emma bekundete ›Flüstern‹ beiläufig erklärt: er war ja so angegriffen, daß er schon nicht mehr laut reden konnte, sondern nur noch halb hörbar hauchte (Studie, S. 921). Seine Angst vor ihren Szenen hat Emma unfreiwillig auch gleich noch bestätigt; und seine Erklärung gegenüber Emma, er habe sich mit Klara aussprechen wollen, erscheint mehr als nur nachvollziehbar: wie es denn angesichts dieser emotionalen Attacken Emmas, die alle unterhalb der Gürtellinie liegen, überhaupt noch zu einer irgendwie einverständlichen Scheidungsregelung ohne öffentlichen Skandal kommen könne, bedurfte nur allzu dringend der Diskussion.

   Emmas in München ausagierte Einschätzung von Karl als einem Mann, der sich durch nichts von anderen Männern unterscheidet und daher auch mit klassisch weiblichen Methoden erobert werden kann, hat der Pekala im ›Silberlöwen IV‹ eine hübsche Dialogstelle beschert. Am 4. Tag der Romanhandlung, einem Mittwoch (der im Rahmen der realen Reise dem letzten Tag in München, dem Abreisetag nach Bozen am 27. August 1902, entsprechen würde), belauscht das Ich ein Gespräch zwischen dem feindlichen Scheik ul Islam, der sich dem Helden gegenüber noch hinter der Maske des subalternen ›Schreibers‹ verbirgt, und Pekala. Der Scheik will sich vergewissern, ob Pekala in der Lage ist, ihrem Geliebten (zugleich seinem Spion) Gastrecht im Hohen Haus des Ustad zu verschaffen, um Einblick in dessen - durch den Aschyk zu fälschende - Unterlagen zu erhalten. In einer Mischung aus gröbster Schmeichelei und immer wieder durchbrechender tief-


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ster Verachtung für die unwissende Verräterin verlangt er von ihr eine Charakterisierung des Ichs, das während der Abwesenheit des Ustad dessen Position und Machtfunktionen übernommen hat:


»Du bist die Herrin dieses Hauses, Pekala. Das weiß ich ganz genau. Und deiner Freundlichkeit kann Niemand widerstehen. ... Nun sag: Glaubst du, ihn bewegen zu können, den Beglücker deines edlen Frauenherzens in den Räumen des Ustad wohnen zu lassen?«

   »Sogleich, sogleich wird er es mir erlauben!« jubelte sie so unvorsichtig auf, daß er ihr in schnellem Zorne befahl:

   »Schweig, unvorsichtige Katze! Dein falsches Maul hat schon genug verraten; mich aber soll es nicht - - -« (Silberlöwe IV, S. 268)


Katze, Miez: wir wissen ohnehin, von wem hier die Rede ist. Aber daß der Scheik ul Islam die von seinem eigenen Spion Verführte derartig haßt, deutet darauf hin, daß die Figur des Scheiks auch als Sprachrohr ihres Autors genutzt wird. Als literarisch herzuleitendes Motiv für dieses widersprüchliche Verhalten konnte die Bigotterie des Scheiks dienen, der, selbst der Verstellung mächtig und Auftraggeber des kundschaftenden Aschyk, einerseits bewußte Hinterlist schätzt, andererseits aber die durch stasimäßige Romeo-Methoden geköderte Gehilfin brüsk ablehnt.


»Den Ustad kenne ich, doch den Effendi nicht. Was ist er für ein Mann? Welcher ist der klügere von beiden?«

   »Kein Mann ist klug. Man hat sie alle zu erziehen. ... Der Ustad ist mir lieber als der Effendi.«

   »Aus welchem Grunde?«

   »Weil der Effendi mich fortjagen will.«

   »Warum?«

   »Wenn ich es Jemandem verrate, daß er mit meinem Aschyk sprechen wird.«

   »Oh Allah, welche Dummheit sondergleichen! Und so ein Weib will Männer erziehen und - - -«

   Wieder brach er mitten im Satze ab, um sie nicht zu beleidigen. Dieser Mann verstand es nicht, sein Temperament zu beherrschen. Oder nahm er sich nur deshalb nicht besser in acht, weil er wußte, es mit einer »leeren Null« zu tun zu haben? (Silberlöwe IV, S. 269)


»Ich habe von diesem Effendi schon oft gehört, werde ihn aber heut zum erstenmale sehen. Ist er gutmütig?«

   »Sehr!«

   »Scharfsinnig?«

   »Ganz und gar nicht! Er glaubt Alles, was man sagt!«

   »Kennt er die hiesigen Verhältnisse?«

   »Nein. Da ist mein Tifl hundertmal gescheiter!«

   »Wie steht es mit seiner Religion?«

   »Der hat gar keine. Es gibt hier gewiß Niemand, der ihn schon einmal beten sah.«


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   »Ist er ein schöner Mann?«

   Sie schwieg, wahrscheinlich um über diese Frage nachzudenken. Der sie aussprach, war ganz gewiß kein schlechter Menschenkenner, und die Köchin ahnte nicht, was er mit dieser höchst überflüssig erscheinenden Erkundigung eigentlich bezweckte. Dann antwortete sie:

   »Er ist nicht schön und auch nicht häßlich. Er hat ein ganz gewöhnliches Gesicht. Ich glaube, wenn er kein Fremder wäre, würde man ihn gar nicht beachten.«

   »Maschallah! Das klingt nicht gut! Mir wäre es lieber, du hättest ihn schön genannt. Doch antworte mir weiter: Hat er Eigentümlichkeiten? In der Stimme, in der Sprache, in der Haltung, im Gange oder sonst irgendwie?«

   »Nein, gar nicht. Er ist ein Mann wie alle andern Männer. Du brauchst dich ganz und gar nicht vor ihm zu fürchten.« (Silberlöwe IV, S. 269f.)


Das ist die Botschaft: der Effendi, das Ich, ist ein Mann wie alle Männer, keine körperlichen Vorzüge, ohne Besonderheiten, leicht lenkbar, glaubt alles, hat keine Kenntnis von den »hiesigen Verhältnisse(n)«: und fürchten muß man sich schon gar nicht vor ihm. Das entspricht Emmas Einschätzung, die Karl mit Küssen und guten Worten wieder einfangen will. Pekala wird, nachdem sie sich von dem Scheik als Belohnung für ihre Dienste eine Naddara, eine Brille, gewünscht hat (»Es sieht so vornehm aus und so gelehrt. Ich sah in Isphahan sehr oft eine Madama aus Rußland. Die hatte stets zwei Gläser vor den Augen, wenn sie aus der Sänfte stieg. Das war so stolz«), von ihm übel beschimpft: »Weib, du bist verrückt! Es wohnt ein böser und dabei ungeheuer lächerlicher Geist in dir, den ich zerdrücken werde, sobald - - -« Und nach einer kurzen Unterbrechung sagt der Scheik streng zu ihr: »Du sollst die Naddara haben, Pekala, und zwar eine so scharfe, daß dir die Augen übergehen!« (Silberlöwe IV, S. 271f.)

   Das ist wohl wahr, die Augen sollen ihr übergehen ... Dem Scheik ul Islam aber auch. Das Ich spielt die Komödie des Scheik ul Islam, der die Pose des Unbedeutenden mit mühsamer Beherrschung durchhält, an jenem Tag zwar noch eine Weile mit, aber nur, weil das Ich klüger ist als der eitle Religions-Scharfrichter, der sein Temperament kaum zügeln kann: ... es lag ja in meiner Absicht, nicht für scharfsinnig und energisch zu gelten, und so hielt ich es für geraten, zu schweigen. (Silberlöwe IV, S. 282) Natürlich zeigt sich die wahre Natur des Ichs schon nach dem Mittagessen desselben Tages:


Da sprang der »Schreiber« schnell wie eine Spannfeder auf. Seine Augen waren jetzt ganz andere. Sie blitzten mir in plötzlich offenem Haß entgegen, und er rief aus, indem auch die Andern sich erhoben:

   »Das, das ist also der wahre, der wirkliche Effendi, nicht der kranke, schwache, der sich so wunderbar zu verstellen wußte!« (Silberlöwe IV, S. 295f.)


»Der wahrhaft Kluge scheut sich nicht, für übertölpelt angesehen zu werden, weil er schweigt. Er ist nur still, die Feinde zu durchschauen. Doch kommt dann seine Zeit, so schont er selbst den Höchsten nicht ...«,


offenbart das Ich selbstgewiß (Silberlöwe IV, S. 297).


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   In der bewußten Verschlüsselungsebene des Romans soll der Scheik ul Islam, Oberhaupt der bigotten Taki-Kurden, Karl Muth, einen der journalistischen Protagonisten aus dem katholischen Lager der May-Feinde, darstellen, der sich unter dem nom de plume ›Veremundus‹ - mithin maskiert - 1898 als erster katholischer Kritiker überhaupt und dann mit dem Artikel ›Ein entlarvter Jugendschriftsteller‹ in der Wiener ›Zeit‹ vom 14. Juni 1902 ungut profiliert hatte.423 Aber die Figur taugt auch als bösartiger Verkünder Mays eigener vernichtender Werturteile über Emma, was nebenbei die Heuchelei dieses Obermoralapostels trefflich abbildet. Zudem läßt sich an diesem ersten der nach und nach offiziell auftauchenden Gegenspieler des Ustad Mays neue waffenlose Strategie ausprobieren, als da wären: das scheinbare Nachgeben, das Schweigen, obwohl die Komödie des Gegners durchschaut ist, das Enthüllen der eigentlichen Bedeutung seiner zunächst als nachgiebiges Akzeptieren gegnerischer Pläne aufgefaßten Worte ...

   Auch May schweigt zunächst auf die aktivste Art und Weise; aber die Augen werden Emma schon noch übergehen, denn irgendwann kennt er keine Schonung mehr. Die Zeit, sie muß nur noch kommen.

   Sie kommt, beschleunigt durch ein Geständnis von Klara Plöhn, mit dem sie sich Karl ganz und gar ausliefert; im Anschluß an den in der ›Studie‹ geschilderten Vorwurf Emmas, sie und Karl begingen Ehebruch, treibt es May zu dem emotionalen Höhepunkt der ›Studie‹ schlechthin:


Das war so fürchterlich schlecht, so kolossal undankbar und so unbeschreiblich gemein, daß die ebenso empörte wie schwer beleidigte Frau nun endlich die Fesseln zerriß, mit denen sie in jahrelanger Hypnose an diesem dämonischen Ungeheuer gehangen hatte, und mich mit thränendem Auge bat, ihre Beichte anzuhören; dann wolle sie gehen, nach Hause, zu ihrer Mutter, denn dann sei es ja doch mit ihr als meiner Sekretairin aus. Sie erzählte mir von den 36 Tausend Mark. Sie ahnte nicht, wie licht es dadurch plötzlich in mir wurde und welche Ungeheuerlichkeiten sich mir in diesem Lichte nun offenbarten. Welch ein verlorenes Leben! Welche Hoffnungen! Welche Liebe, Geduld und Güte! Welche arbeitsschweren Tage und fleißig durchwachten Nächte! Und das Alles umsonst, umsonst! Für einen Dämon, eine Furie, eine Bestie, in deren Körper, Seele und Geist nicht eine einzige Spur von Besserungsmöglichkeit sitzt!


(Hier gerät May unversehens ins Präsens, mitgerissen von den aufbrechenden eigenen Gefühlen, die Klaras erniedrigende Rolle in ihrer Beziehung zu Emma die ganze Zeit über, mühsam unterdrückt, begleitet haben. Und daß auch Emmas Körper, dieser sogar an erster Stelle, erwähnt wird, wenn es um die völlige Aussichtslosigkeit irgendwelcher ›Besserungsversuche‹ geht, benennt das niemals ausgesprochene Motiv seiner Empörung überaus deutlich.)


Und hier die arme, gute, brave, von dieser Bestie hypnotisch beherrschte und tyrannisirte Frau, die ohne diese unglückselige Suggestion gewiß lieber zehnmal gestorben wäre, als daß sie in die Unterschlagung meines Geldes gewilligt hätte! In


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diesem Augenblicke sah ich nicht die Höhe der mir genannten Summe, sondern nur die Größe der Niedertracht und Verworfenheit meines Weibes, die mir, seitdem ich sie kannte, nichts weiter als ein saugender Vampyr oder vielmehr ein ekelhafter, ewig spulender und fressender Wurm im Darm gewesen war, für den es keine Rücksicht und keine weitere Frist mehr geben konnte. Erbarmen mußte hier zur Sünde und Mitleid nur zur eigenen Schande werden! Auch schon um Frau Plöhns, ihres spiritistischen Opfers, willen galt es, hier Schluß zu machen, aber ja in vorsichtiger Weise ... (Studie, S. 921f.)


Eine Steigerung der Gefühle erscheint undenkbar; nicht einmal bei den Passagen, in denen er seine Befürchtungen schildert, Emma könne auf seinen eigenen Tod hinarbeiten, ist ein solches Übermaß an von Ekel geprägter, unmittelbar körperlich wirksamer Erregung zu spüren. Nicht ein einziges Mal auch taucht der ansonsten inflationär benutzte Begriff ›pervers‹ auf, den May immer im Sinne von ›unnatürlich‹ gebraucht und der daher an dieser Stelle viel zu schwach gewesen wäre. Daß die Szene im ›Silberlöwen IV‹ nicht verarbeitet werden konnte, dürfte angesichts dieser mächtigen, erst fünf Jahre später wirklich zugelassenen Gefühle nachvollziehbar sein. Die auffällige Vermeidung von Begegnungen zwischen Pekala und Schakara belegt jedoch, wie ängstlich May bemüht war, jeder Figur die ihr gemäße autonome Handlungsebene zu verschaffen. Schakara wenigstens sollte nicht ›heruntergezogen‹ werden. Ein Ergebnis seiner in der ›Studie‹ beschriebenen Willenskraft, meine glückliche, selige Arbeitswelt und die armselig häßliche, traurige Welt der Pollmerschen Dämonen vollständig auseinander zu halten (Studie, S. 849).

   Der Zeitpunkt von Klaras Geständnis scheint gut gewählt: denn so lange sie sich nicht selbst offenbart, bleibt sie erpreßbar. Emma könnte jederzeit in ihr Arsenal vergifteter Pfeile greifen und May eröffnen, daß seine Seelenschwester Klara keinen Deut besser sei als sie, ja, undenkbar wäre es noch nicht einmal, daß sie Klara nicht nur als Komplizin, sondern schon damals als Anstifterin der heimlichen Geldanlage hätte denunzieren können, wie es im Jahr 1909 dann tatsächlich geschehen sollte. Dem muß Klara vorbeugen, und sie geht dabei ein hohes Risiko ein. Alles oder nichts, scheint ihre Devise: entweder Karl verurteilt sie in derselben Schärfe wie Emma, oder aber er versteht ihre damalige Situation als Emmas abhängige Freundin, die sie mit diesem ›Verrat‹ nicht mehr sein wird, ein für alle Male. Dieses Geständnis wird, so oder so, ein Katalysator sein.

   May bezieht eindeutig Position; für ihn überwiegen die positiven Aspekte dieses Geständnisses, nämlich die damit vollzogene Trennung Klaras von Emma, die Lieferung eines Scheidungsgrundes und Klaras ihm gegenüber bewiesenes Vertrauen. Danach will er endlich zur Tat schreiten, aktiv werden, will Schluß ... machen, wenn auch vorsichtig: Ich nahm sie vor, steht dann in der ›Studie‹, der aktive Höhepunkt des Helden in dem Trennungsdrama (Studie, S. 922). Was er sagte, was er machte, er beschreibt es nicht, und nach all dem Zögern und Zaudern, dem Beobachten und bloßem Rea-


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gieren ist es auch schwer vorstellbar, daß er plötzlich, entschlossen und mit großer Geste der Empörung über Emmas Missetat, die Scheidung fordert. Wie energisch oder wie umständlich-leise er auch immer das Thema endlich angesprochen haben mag, Emma nimmt das Heft des Handelns sofort in die Hand: Die Wirkung war ächt Pollmerisch. Anstatt Schreck und Reue zu zeigen, nahm sie die Sache mit lächelnder Frechheit hin. (Studie, S. 922f.) Dann setzt sie ihm ihre Bedingungen auseinander, Geld will sie haben, so viel sie wolle, ihre Möbel und ihre Wäsche, sie werde später in Dresden wohnen, jetzt aber wolle sie nach der Mendel, wo sie die Scheidung abwarten werde. May könne ja Frau Plöhn heiraten, die werde ihre eigenen Möbelstücke und Bettwäsche mitbringen ...


Als ich das Alles hörte, fragte ich mich, ob ich wache oder träume! Frau Plöhn und ich! Uns heirathen! So oft ich an eine Scheidung gedacht hatte, war es stets mein erster und mein Hauptgedanke gewesen, nie wieder eine Frau, niemals! Am allerwenigsten die Wittwe eines Andern! Und nun grad diese Frau und Wittwe, die ein volles Jahrzehnt lang die willenlose Schwester und Gehülfin meiner Bestie gewesen war! Der Gedanke kam mir so ungeheuerlich vor, daß ich nur staunte und staunte und ihn kaum zu fassen vermochte! Und den gab sie mir selbst, sie selbst! Ich hielt es nicht für nöthig, über ihn auch nur ein einziges Wort zu verlieren. (Studie, S. 923)


May mag einem hier etwas naiv vorkommen, denn Klara (Frauen sind immer praktischer, und eine Frau im 19. Jahrhundert hatte durchaus zwingende Gründe, über ihre Lebensgestaltung sehr genau nachzudenken) dürfte diesen Gedanken für nicht gar so ungeheuerlich gehalten haben. Aber eine kleine Freudsche Fehlleistung beweist, wie absurd ihm dieser Gedanke tatsächlich vorgekommen war: die Wittwe eines Andern ist ja ein vielsagender Fauxpas, die eigene Witwe kann man schließlich auf gar keinen Fall heiraten. Aber May benutzt die Formulierung im Sinne von: ›die Frau eines Anderen‹. Für ihn ist es eben selbstverständlich, daß die Verbundenheit zwischen Eheleuten den Tod des Partners überdauert, wie Klara es beispielhaft vorgelebt hat. Hinsichtlich Emmas Geldforderungen will er nur die Zusage gemacht haben, sie auf der Mendel reichlich zu versorgen; über das Spätere wolle er sich keine Vorschriften machen lassen, denn das werde von ihrem Wohlverhalten abhängen. Sie solle dort oben bleiben, denn er müsse wegen der gerichtlichen Zustellungen immer wissen, wo sie sei. Im übrigen:


ich ... verhehlte aber nicht, daß es mir unendlich leid thue, den Ort, an dem ich Genesung suchte, dann schnell wieder verlassen zu müssen, denn wir Beide an einem und demselben Orte wohnen, das sei von jetzt an unmöglich. (Studie, S. 923f.)


In der ›Eingabe‹, in ihrem geschlossenen narrativen Teil, erwähnt er die Scheidungserörterung von München - dies als einzige Erwähnung des München-Aufenthalts - nur kurz und knapp:


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Wir machten den nächsten Halt in München. Dort gab es im Hotel Leinefelder die entscheidende Aussprache. Die Pollmer war mit der Scheidung einverstanden. Sie stellte nur die eine Bedingung, daß sie völlig frei sein und so viel Geld erhalten werde, wie sie zu einem sorgenlosen Leben brauche. Als ich ihr das zusagte, fragte sie gar nicht, welche Scheidegründe ich angeben werde, und versprach sogar, sich gar nicht zu wehren, nur um baldmöglichst geschieden zu sein. So waren wir also einig! Aber als ich sie fragte, wo sie bis zur Scheidung zu bleiben gedenke, antwortete sie: »Natürlich auf der Mendel!«

   ... Sie sah mir triumphierend ins Gesicht; ich aber tat, als ob ich ganz ohne Ahnung sei. Also selbst jetzt noch eine der berüchtigten Pollmerschen Komödien! Sie wußte, daß ich auf die Mendel wollte, um zu gesunden. Dazu gehörten wenigstens sechs bis acht Wochen. Nun gab sie dieselbe Mendel auch als ihren Wohnort an, weil sie hoffte, mich während dieser sechs oder acht Wochen wieder zurückzugewinnen oder doch wenigstens noch bessere Vorteile herauszuschlagen, als ich ihr jetzt gewährte. Ich sollte also übertölpelt werden. Ich erklärte meine Zustimmung und gab ihr meine Absicht kund, morgen abzureisen. Sie war über diesen vermeintlichen Sieg so entzückt, daß sie seit langer Zeit nach dem Essen wieder an unsern Tisch kam und sich eine halbe Flasche Deidesheimer kommen ließ. »Seht Ihrs«, sagte sie, indem sie sich das Glas füllte, »daß ich auch Wein trinken kann? Aber wollen muß ich nur!«424


Diese Darstellung ist erwartungsgemäß weniger intim; da er Klaras Geständnis weggelassen hat, kann es natürlich auch nicht zu einer Erörterung des Scheidungsgrundes der Geldunterschlagung kommen (auf die sie ja mit Schreck und Reue hätte reagieren sollen). Jeglicher Hinweis auf Emmas Ratschlag, er solle Klara Plöhn heiraten, fehlt ebenso selbstverständlich. Widersprüchlich ist die Schilderung, wenn er Emma zunächst das gewünschte finanzielle Arrangement rückhaltlos verspricht, dann aber ihren Wunsch, auf die Mendel zu fahren, damit begründet, sie wolle noch bessere Konditionen herausschlagen; warum auch sollte sie zunächst mit der Scheidung voll und ganz einverstanden sein, um dann den Plan zu hegen, einen etwaigen gemeinsamen Aufenthalt auf der Mendel dazu zu nutzen, May wieder zurückzugewinnen? Überzeugend ist das alles nicht, und gewisse romanhafte Wendungen wie Komödie, Ich aber tat, als ob ich ganz ohne Ahnung sei, übertölpelt, das nur scheinbare Nachgeben und der vermeintliche Sieg erinnern doch zu sehr an die entsprechenden, bereits erörterten Passagen im ›Silberlöwen IV‹, in denen May die neuen Ich-Strategien an dem Scheik ul Islam ausprobiert. Die nur noch ungenaue Erinnerung im Jahr 1911, die insbesondere zeitliche Einordnungen betrifft, setzt sich in den matt und routiniert wirkenden späteren Wiederholungen zu dem Scheidungsdrama fort: Danach will May von den unterschlagenen - insgesamt - 42.000 Mark erst nach der Rückkehr von der Mendel erfahren haben. Im Anschluß an die Suche im eigenen Haus nach von Emma versteckten Dokumenten will May Klara und ihrer Mutter erzählt haben, aus welchen Gründen Emma den Vertrag mit Fehsenfeld versteckt habe, weil sie nämlich, als May Geld vermißt habe, einen Betrugsverdacht auf Verleger und Drucker gelenkt habe:


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Da konnten die beiden nun nicht mehr schweigen. Die Pollmer hatte mir jahrelang ganz bedeutende Summen unterschlagen, wieviel, das war von ihr wohl nie zu erfahren, aber zu Plöhns hatte sie nach und nach 42000 Mark gebracht, und diese hatten es angenommen, natürlich um mir es wiederzugeben und damit sie ja nichts zu anderen Leuten, bei denen es verschwinden würde, trage.425


Ganz offensichtlich verwechselt May hier die entsprechende Offenbarung von Wilhelmine Beibler, die kurz vor Reiseantritt 6000 Mark von Emma erhalten hat (wovon Klara nicht unbedingt etwas gewußt haben muß), mit der während der Reise erhaltenen Information von Klara, die in langen Zeiträumen vor der Reise 36.000 Mark entgegengenommen und an ihren Mann weitergeleitet hat. Beide Vorgänge verschmelzen genau wie die Geldsummen zu einem einzigen, der ohne Gefühlsaufwand reproduzierbar war: denn zu dem von May angegebenen Zeitpunkt waren die größten Aufregungen vorbei, nur das juristische Procedere mußte noch in die Wege geleitet werden.

   Das verläßlichere Dokument ist und bleibt daher die um Wahrheit bemühte ›Studie‹, wobei folgende Übereinstimmungen in beiden Darstellungen erwähnenswert sind: In München wurden Einzelheiten der Scheidung besprochen, mit der Emma grundsätzlich einverstanden war; es ging um finanzielle Arrangements nebst Emmas entsprechenden Forderungen, und es entsprach Emmas Wunsch - wo sollte sie auch hin? - das ursprüngliche Reiseziel im luxuriösen Hotel Penegal beizubehalten.

   Emma: schweigt über all diese Dinge; im Anschluß an die sonntäglichen Tagträume und ihrer jähen abendlichen Zerstörung erwähnt sie lediglich die nächsten beiden Nächte von Montag auf Dienstag und von Dienstag auf Mittwoch, die mit der ergebnislosen, für Emma allerdings gelungenen ›Beweisführung‹ von Geschlechtsverkehr zwischen Karl und Klara vergehen. Auf Mittwoch, den letzten Tag in München, datiert sie dann die Kußszene, wie sie im Ergebnis Mays Schilderung in der ›Studie‹ entspricht, lokalisiert sie aber anders: »Am nächsten Tage bat ich meinen Mann auf seinem Zimmer um einen Kuss. Er aber erklärte: ›Die Toten küssen nicht.‹ Damit hat er meiner Ansicht nach im spiritistischen Sinne sagen wollen, daß er für mich tot sei.«426

   Ihre über die Jahre nach der Scheidung in zahlreichen Gesprächen mit ihren Freundinnen und ihren Anwälten verfestigte Opferrolle wird sie danach konsequent durchhalten: Klaras, von May nur halbherzig vertretenes, Scheidungsverlangen bricht über sie, die passiv Erduldende, herein wie aus dem Nichts; und wahr daran dürfte sein, folgt man Klaras Brief an Selma vom Scheidt, daß Emma mit dieser Konsequenz tatsächlich nicht gerechnet hatte.

   Am Mittwoch, den 27. August 1902, fährt man mit dem Zug nach Bozen, und die Situation erreicht tragikomische Höhepunkte, die die letzten Kräfte abverlangen:


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Am Mittwoch fuhren wir mit dem Orient-Express nach Bozen. Ich mußte allein in einem Abteil fahren, während mein Mann mit der Plöhn zusammen in einem anderen Abteil fuhr. Allerdings hat mein Mann zunächst, aber nur zum Schein zehn Minuten mit mir zusammen gesessen. In Bozen wurden sofort zwei Wagen genommen. In dem einen sollte ich allein fahren, während in dem anderen die Plöhn mit meinem Manne zusammen nach der Mentel fahren sollte. Als ich mich daraufhin weigerte, versprach mir die Plöhn, daß sie nur die erste Hälfte des Weges mit meinem Manne zusammen fahren werde und daß ich die zweite Hälfte mit ihm fahren sollte.

   Daß die Plöhn aber gar nicht die Absicht hatte, mir meinen Mann für die zweite Hälfte des Weges abzugeben, geht schon daraus hervor, daß sie mich unter der Angabe, noch etwas Obst besorgen zu wollen, in Bozen vorausschickte. (...) Aus der Zusage der Plöhn, daß ich die zweite Hälfte des Weges mit meinem Manne fahren dürfte, wurde nichts. Auf der Rast während der Reise erklärte mir die Plöhn: »Aus dem Zusammenfahren von Dir mit Karl wird nichts, meine Miez! Wir wollen uns heiraten.« Ich wußte einen Moment nicht, was ich sagen sollte und sagte harmlos: »Was wollt Ihr? Heiraten wollt Ihr Euch?« Als sie »Ja« sagte, erklärte ich ihr, daß ich meine Rechte bis zum letzten Atemzuge verteidigen würde. Mein Mann kam dazu. Auf seine Frage, weswegen wir uns zankten, antwortete die Plöhn: »Wir sprechen von der Heirat.« Mein Mann sagte: »Sprich nicht davon.« Dann setzte er hinzu, mit mir würde er »kurzen Prozeß« machen.427


Soweit also Emma, die Klara Plöhn die aktive Rolle zuschreibt, die die Scheidungsdiskussion auf den spätestmöglichen Zeitpunkt verlegt und Klara diejenigen Heiratsabsichten unterstellt, die May als ihren eigenen Vorschlag darlegt. Eine nicht inkonsequente Fortführung von Emmas - ja eingestandenem - Angebot an Klara, den Mann zu übernehmen. Selbst wenn Klara aber diesen Gedanken gehegt haben sollte, was nicht abwegig erscheint: niemals hätte sie den sensiblen Karl mit einem solchem Vorschlag verschreckt; Klara hatte einen guten Sinn für das richtige timing. Sexualität, Bindung an eine Frau, und dann noch an eine Frau, die gerade erst den Fängen seiner ›Bestie‹ entkommen war: das waren für May zu diesem Zeitpunkt schlicht Horrorvorstellungen. Ihm ging es einzig und allein um Klaras schwesterlichen Beistand bei der Verfolgung des Ziels, von seiner Frau endlich loszukommen.


Es ging also von München direct nach Bozen. Dort angekommen, beschloß ich, die Stadt gar nicht zu berühren, sondern direct per Geschirr hinauf nach der Mendel zu fahren. Ich war zum Sterben schwach, nahm aber dennoch diese Anstrengung auf mich, weil ich fühlte, daß es mit mir nur schlimmer anstatt besser werden könne, so lange dieser auch jetzt noch unaufhörlich saugende Vampyr in meiner Nähe sei. Ich nahm zwei Wagen, da ein einzelner die Personen und Koffer unmöglich fassen konnte. Dennoch machte sie mir da wegen angeblicher Geldverschwendung vor allen Leuten eine so unbeschreibliche, über den ganzen Bahnhof hinweg zu beobachtende Scene, daß ich vor lauter Scham von dannen lief. Die Wagen waren nur zweisitzig; wir mußten uns also theilen. Trotz Allem, wie es stand und was geschehen war und trotz des soeben gemachten, wüthenden Skandales verlangte


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sie, mit mir in meinem Wagen zu sitzen. Ich weigerte mich. Sie hätte die ganze, lange Fahrt nur allein dazu benutzt, mir das letzte Bischen Athem abzustehlen. Frau Plöhn wollte sich aufopfern und sich zu ihr setzen; ich gab dies aber nicht zu, weil ich die Krallen meiner Bestie kannte. Trotz dieser meiner Vorsicht gab es auf halbem Wege, wo wir die Pferde ausruhen zu lassen hatten, schon wieder einen wüthenden Skandal, der wo möglich noch größer und schlimmer als der vorige war und mich derart aufrieb, daß ich den letzten Rest von Lebenskraft zusammenraffen mußte, als wir das Hôtel Penegal erreichten. (Studie, S. 924f.)


Eine nach Schilderung beider Parteien unerträgliche Situation, die May in seiner Eingabe knapp und lakonisch zusammenfaßt: Das war eine höchst widerliche Fahrt, von München bis nach Bozen und zur Mendel! Man kann es unmöglich erzählen. Ich dankte Gott, als wir an das Ziel gelangten.428

   Es bleibt allerdings zu konstatieren, daß Mays Darstellung die glaubhaftere ist. Emma gibt nicht kampflos auf, auch wenn sie sich bereits mit den für sie materiell bedeutsamen Arrangements befaßt hat. Mays Ängste, sie könne ihre Krallen wieder in die leicht beeinflußbare Klara schlagen, sind jedenfalls berechtigt. Emma wird es noch mehrfach und nicht ohne Erfolg tun ... Eine einzige Andeutung zur im Dunkeln liegenden Biographie des Ustad, der an einer unglücklichen Liebe zu leiden scheint, macht May im ansonsten rein philosophisch gehaltenen Nachtgespräch, und diese Andeutung verweist wiederum auf die Krallen einer Frauenhand: »Die Liebe hört nimmer auf!« hatte eine Frauenhand auf die grüne Seide eines Lampenschirms gestickt, Schirm einer Astrallampe, die auf dem Schreibtisch des Ustad steht (Silberlöwe IV, S. 3). Der Ustad kommentiert diese Worte später mit unverhohlener Bitterkeit:


»Jawohl, die göttliche! Aber diese hier, sie ging für mich zu Ende. Oder hatte sie überhaupt niemals bestanden? Waren diese herrlichen Worte nicht mit dem Herzen, sondern nur mit der Hand gestickt worden? Mit dem kleinen, zarten, schönen Händchen, welches für mich zur Kralle wurde, obgleich ich es so oft, so oft an meine wahrheitstreuen Lippen gedrückt hatte?« (Silberlöwe IV, S. 14f.)


Dieter Sudhoff kommentiert diese Stelle als Beleg für das geheimnisvolle Eheunglück des Ustad, das sich ansonsten im jährlichen, von Pekala serviertem ›Leichengedeck‹ für die gestorbene Liebe offenbare sowie »im Bild der Gul-y-Schiras, das der Ustad alljährlich einmal auf dem Herzen« trage.429

   Als May Emma später, am 12. Oktober 1902, nach ihrem Umzug von der Mendel nach Bozen, noch einmal aufsucht, zeigt sie ihre Krallen wieder:


... da sprang sie wieder auf und warf mir Drohungen in das Gesicht, von denen ich nur eine einzige, die letzte, hier festhalten will. Sie lautete: »Gut, wenn ich einmal so ein ehrloses Weibsen bin, so soll die Plöhn, die Alles verrathen hat, auch nichts Anderes sein! Ich bin niemals Deine wahre, wirkliche Frau, sondern immer nur Deine Haushälterin, Deine Hure gewesen; so mache ich nun auch die Plöhn zur Hure!


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Lach nicht; ich kanns! Ich brauche nur zu schwören!« Ich entgegnete entsetzt: »Das kannst Du nicht, denn es ist kein Wort, keine Sylbe davon wahr!« Da hob sie die Schwurfinger in die Höhe und sprach: »Aber ich beschwörs!« Da ging ich fort. (Studie, S. 930)


Daß Emma Klara zur Hure machen könnte, indem sie ihre - mit Sicherheit falschen - Unterstellungen, Klara schlafe mit Karl, öffentlich, vor Gericht, mit erhobener Schwurhand, verbreitet: das ist Mays Alptraum. Und er ahnt auch, was passieren würde, wenn er Klara unbeschützt mit ihr allein ließe.

   Es ist an der Zeit, die Dämonin im ›Silberlöwen IV‹ näher zu betrachten, denn in ihr bündeln sich Mays wahre, in der ›Studie‹ beschriebenen Ängste; nachdem die von Anfang an auf komische Verkleinerung angelegte Pekala nicht dazu taugte, sich freizuschreiben, schiebt sich kurz vor Pekalas Abgang eine andere Frauenfigur in den Vordergrund, auf deren Erscheinen der Leser schon seit längerer Zeit mit Spannung gewartet hat. Denn die Gul-y-Schiraz, die ›Rose von Schiraz‹, um die es hier geht, taucht ja bereits im anfänglichen Nachtgespräch zwei Mal als Symbol für Mord auf: zunächst noch ohne Individualisierung in der Botschaft des ›Bluträchers‹ Ghulam el Multasim an das Ich, in der in einer Perversion des ›Rosenliedes‹ der Dschamikun »›Brich auf, mein Herz, der Rose gleich, in der sich alle Düfte regen‹« ein Mordanschlag angekündigt wird: »›Sage im Duar, daß die Rose noch heut aufbrechen werde!‹« (Silberlöwe IV, S. 46) Nachdem der Bluträcher gefaßt ist und ein Entschlüsselungscode bei ihm gefunden wird, kann endlich eine von Kara Ben Nemsi abgefangene Botschaft des Schattenherrschers an Ghulam el Multasim, der nun als »mein Henker« (= Cardauns) angeredet wird, entziffert werden: »Es ist die Zeit gekommen, daß die Gul-î-Schîraz auf der Brust von Rafadsch Azrim zu erblühen hat.« (Silberlöwe IV, S. 98) Dschafar Mirza, so wird die Botschaft entschlüsselt, soll am Tag des Wettrennens - des literarischen Kräftemessens mit den Gegnern - ermordet werden (Silberlöwe IV, S. 109-112).

   An jenem Sonntag, noch bevor Pekala zu ihrem überflüssig gewordenen Geständnis ansetzt, studieren der Ustad, Dschafar Mirza und das Ich die Dokumente, die der Aschyk ihnen überlassen hat und die die Pläne der Feinde offenbaren. Der Größenwahn der Feinde tritt zutage: »Ich habe von ihm erfahren, daß es sich nicht nur um unsere Existenz, sondern auch um die seinige handle«, berichtet da der vom Schah-in-Schah heimgekehrte Ustad (Silberlöwe IV, S. 441), und hier hat man zu berücksichtigen, daß der Schah-in-Schah laut May, in einer seiner »lapidaren und etwas ungeduldigen Andeutungen«430 zu seinem Alterswerk, nichts Geringeres als Gott ist: Spreche ich vom Schah-in-Schah, so meine ich Gott.431


»Es wird ein allgemeiner Aufstand der Babi vorbereitet. Der erste Schlag soll hier bei uns fallen. Das Volk soll glauben, daß wir ihm gefährlich sind und daß der Schah ein Verräter am Glücke seiner Untertanen ist, weil er in jeder Beziehung sich als unser Gönner zeigt. Man will sich als Retter des Vaterlandes aufspielen, indem


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man den ersten Hieb gegen uns richtet. Hierauf wird der Schah-in-Schah abgesetzt. ... Nur hat er nicht erfahren können, wer sein Nachfolger werden soll.«


Soweit der Ustad (Silberlöwe IV, S. 441f.). Das Ich weiß aber noch viel mehr; es kennt nicht nur den Nachfolger, es kennt sogar die neue Kaiserin, deren Bild es hat; und es weiß auch um die eigentliche Intrige hinter der offensichtlichen:


»Man hat nämlich die Babi nur zu dem Zwecke mit herbeigezogen, um die Schuld, falls der Aufstand mißlingen sollte, ihnen in die Schuhe schieben zu können. Auch ist man auf einige Forderungen der Babi zurückgekommen, weil sie den Zwecken der eigentlichen Macher gut entsprechen. ... Und ebenso soll die Stellung der Frau eine freiere sein, ja noch viel freier, als die Babi jemals gefordert haben. Die Haremswirtschaft hat aufzuhören, weil man Eingang in die Familie und Einfluß auf die Frauen haben will. Darum ist auch dem neuen Kaiser, wie jedem seiner Untertanen, nur eine einzige öffentliche Frau erlaubt, welche den Titel Kaiserin zu führen hat ....« (Silberlöwe IV, S. 442f.)


Und dann zeigt er das Bild, auf dem Dschafar Mirza und die Schahzadeh Khanum Gul zu sehen sind. Dschafar reagiert,


als ob er von einer Natter gestochen worden sei. Dann ließ er die Hand mit dem Bilde sinken, sah mich mit einem ganz eigenartigen Blicke an und fragte:

   »Effendi, bist du hierhergekommen, um mich abermals zu retten? Aus einer noch viel, viel größern Gefahr, als alle die damaligen waren? Woher hast du dieses Bild? ... Welch ein Glück, welch ein Glück für mich! Dieses Weib hat es hergegeben, um mich zu verderben, weil ich nichts mehr von ihr wissen wollte! ... Man wollte jedenfalls beweisen, daß ich an der Empörung mit beteiligt sei. Denn nun weiß ich es: sie soll die Kaiserin und Ahriman Mirza der Kaiser sein!« (Silberlöwe IV, S. 444)


Ahriman Mirza, der Große Gegenspieler und Gottesherausforderer, auf der literatur-biographischen Ebene Fedor Mamroth, der einst den Pressekrieg in der Frankfurter Zeitung begonnen hatte.432 Dschafar ist fassungslos, nachdem er die Gesamtpläne der Feinde, unter Einschluß der fanatisch-bigotten Taki-Kurden mit ihrem Scheik-ul-Islam kennt:


»Und diese Menschen nehmen es dem Schah-in-Schah übel, daß bei uns die Familie ein Heiligtum ist, vor dessen Tür sie mit ihren salbungsvollen Schritten innehalten müssen! Der Hausherr soll nicht mehr Herr des Hauses sein, sondern sie, sie, sie wollen es regieren! Besonders aber haben alle Frauen durch das geheimnisdüstre und verschwiegene Bab [Fußnote: »Tor«] zu gehen, von welchem diese Babi ihren Namen herleiten!« (Silberlöwe IV, S. 447)


Auf diese Frau, die Gul, die neue Kaiserin, wartet man dann mit sich steigernder Spannung, wenn man noch am selben Tag erfährt, daß Ahriman Mirza bei dem entscheidenden Pferderennen das Pferd ›Teufel‹ reiten wird.


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»Eine Khorassan-Schecke von wunderbarer Schnelligkeit und Ausdauer. ... Es heißt ›Teufel‹ und ist ein Teufel, der oberste aller Teufel. Darum heißt die Schecke nicht bloß Schetan oder Scheitan, sondern ›Iblis‹. Und bezeichnender Weise ist dieser Iblis nicht im Besitze eines Mannes, sondern eines Weibes. Du wirst staunen. Seine Herrin ist nämlich jene Schahsadeh Khanum Gul, die sich ›Rose von Schiras‹ nennen läßt ...« (Silberlöwe IV, S. 459f.)


... bezeichnender Weise: das ist so deutlich, daß man die spätere Beschreibung jenes Tieres, dem wir uns aber nicht ganz nähern (konnten), denn die Bestie duldete das nicht. Sie biß und schlug nach Jedem, den sie erreichen konnte. War das natürliche Bosheit oder Dressur?... Das Auge boshaft, aus dem Weißen schielend (Silberlöwe IV, S. 595f.) schon gar nicht mehr abzuwarten braucht. Der Teufel, die Bestie, der empörende Aufstand gegen die gottgewollte Ordnung, widernatürliche, geheimnisdüstre Emanzipation, die den Hausherrn nicht mehr Herrn im Haus sein läßt, und die Verbündung mit den Feinden, all das umwittert diese Frauenfigur, die verderben will, weil man sie nicht mehr will (oder aber ihre Schwester seinerzeit nicht wollte?). Ein Doppelporträt von Emma und Pauline Münchmeyer, die als Eigentümerin des Pferdes Iblis - und hier geht es um den Wettstreit zwischen literarischen Werken, zwischen dem Teufel und dem Himmelsgeheimnis des von dem Ich gerittenen Syrr, zwischen dem angeblichen Schundroman Kiss-y-Darr und dem Turkmanen-Fuchs des Henkers Cardauns - zwanglos als Verlegerin diabolischer Werke, gar des Venustempels?, zu identifizieren ist. Emma als das unbewußte Werkzeug ihrer Rache, wie in der Studie beschrieben, liefert für die Verschmelzung beider Personen in einer Figur auch eine psychologisch stimmige Erklärung.433

   Der erste Auftritt der Gul nun, von dem Ich vom Dach herab (vom Balkon der Villa Shatterhand?) so beobachtet, daß man den Effendi nicht sehen kann:


Die Prinzessin war eine hohe, volle Gestalt. Sie hatte ihre Kleidung überreich mit Schmuck beladen. Einen Schleier trug sie nicht, hatte sich also von der in ihrem Kreise gebotenen, schamhaften Zurückhaltung emanzipiert. Ihr Haar war vorn abgeschnitten und bedeckte die Stirn, ganz nach Art unserer sogenannten Simpelfransen, zuweilen auch Ponnyfrisur genannt. Die persischen Haremsfrauen lieben es nämlich sehr, ihrem Gesichte hierdurch einen zwar geistlosen, dafür aber umso begehrlicheren Ausdruck zu geben. Hinten hingen die Zöpfe fast bis auf den Boden herab. Sie waren mit goldenen Schnuren, Fransen und Trotteln durchflochten, also sehr wahrscheinlich nicht echt. Bezeichnenderweise trug sie in der Hand eine Reitpeitsche, ganz so, wie Ahriman Mirza auch. Sie schwippte mit derselben im Gespräche bald hin und bald her und war überhaupt in allen ihren Bewegungen so lebhaft, so bestimmt und so gebieterisch, so wegwerfend und, ich möchte sagen, so keck, wie ich bisher noch keine einzige Orientalin zu sehen bekommen hatte. (Silberlöwe IV, S. 551f.)


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Natürlich ist diese Gul keine Orientalin, dieses Hinweises hätte es nicht bedurft. Die peitschenschwingende, künstliche, emanzipierte und begehrliche Dame kennt May vom heimischen Herd ebenso wie von der Dresdner Verlagslandschaft her. Daß weder Emma noch Pauline Ponyfrisuren trugen, ist unschädlich; die künstliche Haartracht soll hier nur den Charakter der Frau(en) unterstreichen, vor dem das Ich solche Angst hat, daß er die gesamte nun folgende Szene nur aus der Ferne betrachten mag. Bezeichnenderweise fehlt bei der Beschreibung der Gul, ebenso wie bei Pekala, ein Hinweis auf die Haarfarbe, denn beide reale Frauen waren unbestimmbar dunkelblond, während man in Persien doch wohl eher schwarzhaarige Frauen antreffen dürfte. Und wenn Pekala immerhin noch unbeschreibliche Äuglein haben durfte, hat die Gul, der man einen wahren Medusa-Blick zutraut, überhaupt keine mehr. Erst später, zur Illustration ihres Zorns, dürfen ihre weiterhin unbeschriebenen Augen immerhin ›funkeln‹. May kann sich hier nur zu einer Karikatur aufraffen, und es stört ihn auch nicht, wie weit er bei der Charakterisierung dieser Gul im Jahr 1903 von der faszinierenden Beschreibung ihres Bildes mit Dschafar Mirza abweicht, wie er es 1898 noch im ›Silberlöwen II‹ leisten konnte:


Neben ihm sah ich ein wunderschönes, orientalisches Frauenangesicht mit geheimnisvollen Dunkelaugen, aber kalten, unerbittlichen Lippen und rätselhaften Sphinxzügen, ein Gesicht, welches mich sofort, doch nicht etwa den Menschen, sondern den Psychologen in mir, gefangen nahm. Das Original zu diesem weiblichen Porträt war sicher keine im Harem psychisch vernachlässigte, sondern ganz gewiß eine geistig bedeutende Persönlichkeit.434


Was für eine Figur hätte er aus diesem an Emmas Foto als junge Frau erinnernden Porträt entwickeln können; aber die Darstellung von Dunkelaugen und Geist, also sogar noch eine Potenzierung von Emmas Suggestionskräften durch eine (real nicht vorhandene) dominante geistige Persönlichkeit: das war ihm jetzt so wenig möglich wie die Distanz des Psychologen einzunehmen, die diese Aufgabe abverlangt hätte.

   Guls erste Tat besteht darin, in Begleitung von Pressemacht (Ahriman Mirza) und Geistlichkeit (Scheik ul Islam), die gegnerischen Pferde - Konkurrenzprodukte - einer Inspektion zu unterziehen.


Da trat die Prinzessin zu Assil heran und faßte ihn am Maule, um es zu öffnen und seine Zähne zu sehen. Er wollte das nicht dulden. Da schrie sie ihn zornig an und schlug ihn an die Ganaschen. Im nächsten Augenblicke lag sie am Boden, von einer kräftigen Kopfbewegung des Rappen niedergeschleudert. (Silberlöwe IV, S. 552)


Diese hübsche Szene war sicherlich bewußt als Illustration rüdester Prüfung kommerzieller Brauchbarkeit von Literatur gesetzt. Der archetypische Symbolgehalt des Pferdes - und hier irrt weder Jung noch die qualifizierte Mehrheit pubertierender Mädchen - geht aber weit über Mays be-


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wußte Zeichensetzung hinaus: »(...) das schwarze Pferd, welches schon im platonischen Gleichnis die Ungebärdigkeit der Leidenschaftsnatur ausdrückt. Wer ihm folgt, kommt in die Wüste (...).«435 Laßt wiehern die Rappen, die Rappen die Nacht! / Das ist ... - damit bricht Mays Manuskript in der Mappe ›Weib‹ aus dem Jahr 1902436 ab, und man beginnt zu ahnen, zu welchen Einsichten May fähig war.

   Denn so, als Kontrastbild zu der zärtlichen Annäherung von Schakara und dem Ich an das Geheimnis des Glanzrappen Syrr, erweist sich die Gul nebenbei auch noch als dominante Testerin männlicher Virilität. Die gegnerische Dreifaltigkeit trifft dann auf den Ustad und Schakara, die den Ort der Begegnung sorgsam arrangiert hat, denn das Ich »möchte die Gul kennen lernen und darum gern hören, was und wie sie spricht.« (Silberlöwe IV, S. 551) Heimliches Belauschen, hören, was und wie die Frauen reden, ist immer noch die beste Erkenntnisquelle ...


Nun kamen die Drei heran. Sie blieben vor ihnen stehen. Ein eigenartiges Zusammentreffen! Es wurde zunächst kein Wort gesprochen; aber Auge tauchte sich in Auge. Dann begann die Prinzessin zu fragen:

   »Von wem werden wir hier empfangen. Wer bist du?«

   Ihre Stimme klang hart, hochmütig, verächtlich.

   »Ich bin der Ustad der Dschamikun,« antwortete er gelassen.

   »Und wer ist das Geschöpf an deiner Seite?«

   »Geschöpf?« wiederholte er ihren beleidigenden Ausdruck, aber lächelnd. »Ja, du hast recht gesagt, ohne es zu wollen: Sie ist ein Geschöpf Gottes, des Allerhabenen, des Allreinen; sie wurde von ihm erschaffen in seiner Weisheit und Güte. Du aber bist kein Geschöpf. Du wurdest nicht von dieser Weisheit und Güte erschaffen, sondern von sündigen Menschen in Sünde erzeugt und geboren. Darum wird sie, die körpergewordene Reinheit der Frauenseele, sich jetzt von uns entfernen, weil die Tugend geht, sobald das Laster naht.«

   Er trat zur Seite, um Schakara an sich vorüberzulassen. Sie senkte errötend das liebe Gesicht und ging. Die Prinzessin schien vor Erstaunen über diese Verwegenheit keine Worte finden zu können. Sie schnappte förmlich nach Luft. Ihre Augen funkelten; ihre Lippen bebten; die Peitsche zitterte in ihrer Hand; die Antwort aber blieb aus. (Silberlöwe IV, S. 553f.)


Hier kann Emma ihre Krallen bzw. ihre Peitsche nicht gegen ihr Geschöpf richten, der Ustad ist beneidenswert gelassen, lächelnd, souverän, ein Beschützer der reinen Frauenseele, und in dieser Rolle so erfolgreich, daß gar der erwartete Zornesausbruch ausbleibt. In dieser Begegnung überwiegt der Emma-Anteil, erkennbar an der Anspielung auf ihre uneheliche Geburt ebenso wie durch den Ausdruck Geschöpf für Klara-Schakara. Aber als dann der Scheik ul Islam zur Ehrenrettung der Gul antritt, zieht der Ustad eine deutlich abgestufte Parallele zwischen der Gul (als Pauline) und Pekala (Emma) als gegnerische Verbündete:


»Ich weiß sogar noch mehr, nämlich daß auch du sie [die Gul] kennst und dich trotzdem nicht schämst, ihre Gegenwart beglückend zu nennen. Wehe dem Volke,


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dessen geistliche Väter, deren Obersten einer du bist, sich mit den Töchtern des Fleisches verbinden, um dann die Männer beherrschen zu können! Scheik des heiligen Islam lässest du dich nennen? Und nimmst dich, schlau berechnend, des geraden Gegenteils von heilig an? Erscheint dir die Schande nur deshalb so verdienstlich, weil du sie durch die goldene Naddara betrachtest, mit welcher du leichtsinnige Köchinnen zu belohnen pflegst? Dort steht die Tür zu meiner Küche offen. Deine Freundin Pekala und dein Vertrauter Tifl sind bereit, den Segen des heiligen Mannes und des unheiligen Weibes zu empfangen!« (Silberlöwe IV, S. 554)


Zwanglos stehen bei dieser Auseinandersetzung beide Frauenfiguren in ihren jeweiligen Funktionen zunächst scharf getrennt nebeneinander; die katholische Presse als Verbündete der Kolportage-Produzentin Pauline, Emma als von beiden May-Gegnern lediglich instrumentalisierte »leichtsinnige Köchin«, um dann in ihrer gemeinsamen dämonischen Sexualität wieder miteinander zu verschmelzen: denn der Ustad benutzt ja bezeichnenderweise den Plural, beide Frauen sind Töchter des Fleisches, die den Mann beherrschen wollen ... So schillernd in ihrem zum Teil gleichzeitig stattfindenden Bedeutungswechsel sind nahezu alle Figuren der beiden letzten ›Silberlöwe‹-Bände; in ihrer Apotheose am Ende des Kampfes darf die säbelschwingende Gul sogar zum Sinnbild der Feldherrin Pauline mutieren, die auch dann noch zur Attacke ruft, wenn die Männer den aussichtslosen Kampf bereits nicht mehr wollen: ein prophetisches Bild, denn Pauline Münchmeyer kämpfte noch, als ihre wechselnden publizistischen Mitstreiter die Fehde, nach und nach, beendet hatten und Mays Tod sie alle verstummen ließ. Zugleich steht sie für aggressives Suffragettentum, dem May nichts abgewinnen konnte: seinem Bild von weiblicher Emanzipation entsprach eine Bertha von Suttner ...

   Schakara ist beiden Gegenspielerinnen nicht gewachsen; Pekala wird sorgfältig vermieden, und vor der Gul wird sie in Sicherheit gebracht.

   Emma hat ein einziges Mal im Verlaufe ihrer zahlreichen Vernehmungen einen Erklärungsversuch gewagt, aus welchen Gründen Klara in der Lage gewesen sein soll, sie, Emma, zu beherrschen, was ja nach allem, was wir über den Charakter von Emma und Klara wissen, vollkommen unwahrscheinlich ist; und sie beginnt mit Klaras unstreitiger und auch in der ›Studie‹ beschriebener Funktion als spiritistisches Medium:


Später dann, und zwar noch lange vor dem Tode Plöhns, sind diese sogenannten Tischsitzungen aufgehoben worden, als wir merkten, daß die Plöhn als Medium im stande war, in einer gewissen Benommenheit, unter höherem Einfluß, bestimmt und interessierend Fragen zu beantworten, so z. B. Fragen über das Jenseits und so weiter. Die Fragen wurden ihr von uns mündlich mitgeteilt, worauf sie, wenn der Einfluß über sie kam, diese Fragen schriftlich beantwortete. Diesen Zustand konnte sie künstlich nicht herbeiführen. Der Anfang des Zustandes bei ihr machte sich dadurch bemerkbar, daß ihr rechter Arm in Zuckungen geriet.437


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Bis jetzt eine zutreffende Beschreibung eines von fremden Einflüssen regierten durchlässigen Mediums im Zustand der Trance, das nach Erwachen aus dieser Benommenheit nicht mehr und nicht weniger Kräfte auf andere auszuüben vermag als jeder andere Mensch; im Gegenteil, nach einer solchen Séance tritt üblicherweise ein Zustand von höchster psychischer und physischer Erschöpfung bei Unkenntnis derjenigen Aussagen auf, die zuvor unter fremdem Diktat - und May meint, daß es sich nicht um ein Diktat übersinnlicher Mächte, sondern um Suggestionen Emmas gehandelt habe - entstanden sind. Jetzt allerdings geht Emma einen Schritt weiter, und nun haben wir es schlicht mit der Zuschreibung übersinnlicher Kräfte durch Emma zu tun: »Weiter besaß die Plöhn als Medium eine Kraft in sich, dazu geeignete Personen auch aus der Ferne derartig zu beeinflussen, daß sie sie vollständig in der Hand hatte.« Das grenzt an Hexerei, Voodoo fällt einem dazu ein, und darüber hätte man schon gern Aufklärung erlangt. Aber Emma vermag leider kein einziges Beispiel zu nennen, das diese unerhörte Fähigkeit einer Fernhypnose illustrieren könnte. Gleichwohl fährt sie fort, und die vom Richter gewählten Formulierungen für das Protokoll sind von distanzierender Skepsis:


Ich muß wenigstens behaupten, daß sie mich aufgrund der ihr innewohnenden Kraft zu wiederholten Malen vollständig in ihrer Hand gehabt hat und daß ich nicht meinen eigenen Willen durchsetzen konnte. Ihr Einfluß bei mir war dann so stark, daß ich nur tat, was sie wollte.438


Mehr als eine Behauptung ist das wirklich nicht, und wenn man nach Rudimenten von Realität in dieser Wertung sucht, kann es sich nur um Emmas Liebe zu Klara handeln, die sie ›schwach‹ machte, wie jede Liebe den schwächt, der sie empfindet, denn mit der Liebe kommt die Angst vor Verletzungen und vor Verlust. Emma im Hotel Penegal ist tatsächlich schwach, denn sie verliert beide, den Mann wie die geliebte Freundin; sie schwankt zwischen Wut wegen Klaras Verrat und quälenden Schuldgefühlen, ist weit weg von ihren üblichen Ratgeberinnen, und das Scheidungsrecht ist gegen sie: wenn sie vor Gericht kämpft, könnte sie die Scheidung zwar möglicherweise verhindern, aber sie trüge das Prozeßrisiko allein. Wenn sie verliert, steht sie am Ende ohne Unterhalt da. Wehrt sie sich nicht, ist die Scheidung (und die schmerzt sie weniger als die Trennung von Klara) zwar unvermeidlich, aber sie wird gnadenhalber - und May wird schon deshalb nicht kleinlich sein, weil es für seinen Ruf schlecht wäre - eine auskömmliche Rente beziehen.

   Die Atmosphäre im Hotel Penegal ist grauenvoll, und man kann den Dokumenten entnehmen, daß dies für beide Parteien gilt:


Sie nahm während der kurzen Zeit, die ich mich dort befand, ihr ganzes Gift für mich und ihre ganze hypnotische Macht für Frau Plöhn zusammen. Die Hölle goß sich noch einmal über uns aus, bis auf den allerletzten Qual- und Feuertropfen. Ich


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konnte trotz meiner tödtlichen Schwäche nicht schlafen. Ich hatte es unentkleidet versucht, stand aber wieder auf und saß während der ganzen Nacht draußen auf dem Balkon. Das Fenster von Frau Plöhns Zimmer stand auf. Ich hörte die ganze Nacht hindurch ihr von Zeit zu Zeit hervorbrechendes, bitterliches Weinen. Am Morgen sah ich dann, daß auch sie im vollen Anzug gewesen war, auf einem Stuhl sitzend. Die Bestie aber schien vorzüglich geschlafen zu haben. Doch ohne eine perverse, lüsterne Teufelei und Schweinerei konnte sie uns ganz unmöglich scheiden lassen. Sie behauptete, sie wisse, daß wir mit einander geschlafen hätten, denn sie habe gehört, daß ich mit einem lauten »Hurrah!« zu Frau Plöhn in das Bett gesprungen sei. Um Gotteswillen! Das war ja gar nicht auszuhalten, wie das nach seelischem Mist und moralischer Jauche stank! Ich ließ mir nur noch einige Zeilen unterschreiben, daß es mit unserer Liebe aus sei und daß sie in die Scheidung willige. Das geschah nicht etwa des Scheidungsprozesses, sondern meiner Seelenruhe wegen. Diese Zeilen waren für meinen innern Richter, auf den ich mehr als andere Leute gebe. Dann reisten wir ab, und zwar direct nach Radebeul, nach Hause. Ganz selbstverständlich traf ich vorher da oben die Anordnungen, die mir als nöthig erschienen. (Studie, S. 925f.)


Die Einwilligungserklärung trägt das Datum von Freitag, den 29. August 1902, und ist mit dem Zusatz, daß Emma sie bereitwillig, nicht etwa gezwungen unterschrieben habe, als erste der Notizen ab S. 935 der ›Studie‹ abschriftlich wiedergegeben. Emmas Behauptung über vollzogenen Geschlechtsverkehr mit Klara entrüstet May derart, daß er das Beweisstück N° 4., eine Postkarte von Emma an Max Welte vom 26. März 1898 aus München - nach längerer Reiseverzögerung durch Krankheit Mays in Wien - erbittert kommentieren muß; denn der Text lautet: »Hurrah, jetzt sind wir wieder auf deutschen [!] Boden, u. zwar in dem schönen München [.] Endlich ein Hoffnungsstrahl auf baldiges frohes Wiedersehen.« (Studie, S. 951). Hierzu schreibt May, der als Autor sensibel auf Sprache reagiert und den daher Schlüsselworte ganz besonders elektrisieren:


N° 4. Dieses »Hurrah« und dieser »Hoffnungsstrahl« sprechen ganze Bände! Ich erinnere daran, daß ich als todtkranker Mann auf der Mendel mit einem lauten »Hurrah« in das Bett der Frau Plöhn gesprungen sein soll. Das soll im Jahre 2 geschehen sein. Die Pollmer aber schreit schon 98 »Hurrah!« Der Schluß ist leicht zu ziehen. (Studie, S. 942)


Als sie mir die schon erwähnten Zeilen unterschrieben hatte, und ich nun gehen wollte, fiel sie vor mir auf die Kniee nieder und bat mich, ihr zum Abschiede doch die Hand und einen Kuß zu geben. Sie werde den Gang der Scheidung nicht im Geringsten stören und überhaupt zu keinem einzigen Menschen von dieser Sache sprechen! Und zwei Stunden, nachdem ich abgereist war, telegraphirte sie bereits an ihren lieben Strohmännlemenschen, und sandte ihm eine Karte

[hier folgt einer der seltenen Korrekturen, nämlich der Einschub] und sogar auch noch Brief!

hinterdrein, in der sie ihm Alles berichtete, auch das von den unterschriebenen Zeilen, und um Auskunft [hier folgen auf Erschöpfung hindeutende Schreibfehler]


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anging erhaltungsmaßregeln anging, ob sie sich das gefallen lassen müsse! Das war die umgehende, postwendende Rache für den verweigerten Kuß! Weiter nichts! Und das nannte sie »zu keinem einzigen Menschen von dieser Sache sprechen«! Ich war überzeugt, daß sie mich von nun an mit dem mir wohlbekannten, scheußlichen Gemisch von brünstiger Liebe und mittemang Haß und Rache überschütten werde, und das hat sie denn auch mehr als reichlich gethan.

   Ich kam beinahe als Leiche heim. (Studie, S. 927f.)


In der Eingabe hat er sich solcherart entnervender Emotionen enthalten; hier gibt er eine Rede an Emma wieder, die er so ganz bestimmt nicht gehalten hat, die aber die Rechtslage und das, was er damals bezweckte, in totaler Sachlichkeit zusammenfaßt:


»Es ist mir unmöglich, mit Dir an einem Orte zu sein. Da Du hier bleibst, muß ich fort, ohne mich erholt zu haben. Hier hast Du tausend Mark; sind sie alle, sende ich mehr. Nun höre: Ich befehle Dir nicht, hier zu bleiben, aber ich bitte Dich darum. Ich leite unsere Scheidung ein und muß also stets wissen, wo Du bist, um Deine Adresse angeben zu können. Ich werde darum den Wirt ersuchen, mir sofort zu telegraphieren, falls Du die Mendel verlässest, ohne daß ich es weiß. Es bleibt Dir unbenommen, Dir einen Anwalt zu nehmen und Dich zu verteidigen. Geschieden aber werden wir doch! Meine Scheidegründe werden Dir zugeschickt. Nur allein auf Dich kommt es an, ob Du leugnest oder eingestehst, ob Du Dich verteidigst oder nicht und ob ich nur das Gericht oder auch meine Güte sprechen lasse!«

   Hierauf bat ich die Bedienung, sich der Pollmer anzunehmen und es ihr an nichts fehlen zu lassen. Dann reiste ich ab, direkt nach Dresden, Frau Plöhn, die hier oben vollständig überflüssig war, natürlich mit.439


In beiden Darstellungen spielt Frau Plöhn keine Rolle; und die - hier nicht wiedergegebenen - Instruktionen an die Wirtin, Frau Schrott, die in der ›Studie‹ aufgeführt sind, entsprechen in etwa denjenigen der Eingabe, wobei zusätzlich noch das Nachsenden von Post, bedenklicherweise auch die an ›Emma May‹ adressierte (Studie, S. 926) (man war unter dem Namen Dr. Friedrich abgestiegen), erbeten worden war.

   Naturgemäß ist Emmas Schilderung anders, wenn auch nicht weniger quälend; daß in solchen Krisenzeiten mehrere Wahrheiten nebeneinander existieren können und sogar müssen, ist auch für denjenigen, der sich nicht professionell mit der Bewertung von Zeugenaussagen zu befassen hat, unmittelbar einsichtig. Emmas Angaben aus dem Jahr 1907 allerdings weichen teilweise derartig bedenklich von einer möglichen Realität ab, daß man bereits Anzeichen der sieben Jahre später diagnostizierten geistigen Erkrankung zu spüren glaubt. Ihr magisches Denken im Jahr 1902/1903 hat bereits ihre Zimmerwirtin aus Bozen, die bei Lebius ›Josepha Roeßler‹ und in der ›Studie‹ (S. 936) ›Kößler‹ genannt wird, bestätigt: »Die May huldigte abergläubischen und spiritistischen Ansichten. Sie legte jeder Absonderlichkeit (einem unaufgeklärten Lärm und dergleichen) gleich besondere Bedeutung bei ...«440


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   Zur Mittwochnacht erklärt Emma nur lapidar, daß Klara und Karl nebeneinanderliegende Zimmer in der üblichen Zimmerverteilung hatten (also Klara in der Mitte), die durch eine Verbindungstür miteinander verbunden gewesen seien: »Nachts hörte ich wieder, daß die Plöhn und mein Mann zusammen waren.«441 Nach der aufreibenden Reise von München über Bozen nach der Mendel eine wenig glaubhafte Aussage, die auch zu wenig detailliert ist, um aussagekräftig zu sein, weshalb der nächste Morgen, Donnerstag, der 28. August 1902, Aufklärung bringen muß. Emma geht in Karls Zimmer:


Er stand gerade auf. In diesem Augenblick trat auch die Plöhn herein, trotzdem mein Mann noch nicht angezogen war. Sie warf mir einen vernichtenden Blick zu und rief: »Daß du es weißt, wir müssen fort von hier. Hier muß schnell gehandelt werden. Du darfst uns nicht mehr sehen, Du mußt uns überhaupt für tot halten. Du mußt dich ganz in den Gedanken hinein leben, daß wir beide tot für dich sind. Karl wird dich durch eine Rente so stellen, daß Du fein leben kannst und keine Sorgen hast. Du passest gar nicht für Karl, hast nie für ihn gepaßt.« Darauf schluchzte ich: »Mein Gott, wir haben doch zweiundzwanzig Jahre zusammen gelebt und immer zusammen gepaßt und sollen nun nicht mehr zusammen passen? Das ist ja furchtbar! Was soll denn da aus mir werden?!« Die Plöhn erwiderte kalt: »Ja, der Ertrinkende klammert sich ja immer an den Strohhalm.« Als ich mich mit Bitten an meinen Mann wandte, sagte er: »Es ist traurig, daß es soweit gekommen ist.«


Es folgen appetitlose Mahlzeiten, Briefeschreiben in verschlossenen Zimmern und dann die besagte Nacht auf Freitag, den 29. August 1902, in der Emma durch die Zimmerwand gehört haben will, wie Klara »›unter Einfluß‹« schreibt, May diese Blätter liest, um dann mit zweimaligem lauten »›Hurra!‹« in Klaras Bett, das an der Verbindungstür zwischen Klaras und seinem Zimmer steht, zu steigen ...442

   An dieser Stelle gleiten ihre Reminiszenzen in nachweisbare Unwirklichkeit ab (und daß für May eine sexuelle Beziehung zu Klara undenkbar war und tatsächlich erst lange nach Eheschließung vorsichtig begonnen wurde, dürfte durch die Syrr-Passagen bereits deutlich geworden sein und wird im übrigen noch anhand anderer Dokumente nachgewiesen werden). Ihre Darstellung von Klaras aktiverer Rolle bei Auseinandersetzung der Modalitäten und bei Erteilung von Ratschlägen, wie sie das Ganze bewältigen könne, sowie ihre Wiedergabe von Mays resigniertem Tonfall - der Mann kann einfach nicht mehr - klingen demgegenüber unbestreitbar realistisch. Diesen Donnerstag übergeht May in seiner ›Studie‹, und über Klara schweigt er nicht zum erstenmal.

   Der ›Silberlöwe IV‹ ist manchmal beredter; in der Fiktion sind Wahrheiten möglich, die in einem Text, der Wahrheit will, nicht ausgesprochen werden können. Jedenfalls dann nicht, wenn sie sich auf Personen beziehen, die verschont bleiben sollen: Klara nämlich. Wollschläger hat jenen Donners-


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tag, über den die ›Studie‹ schweigt, so gekennzeichnet: an diesem Tag »werden die Scheidungsgründe ausgetauscht (der Aschyk Pekalas ergriffen)«.443 An jenem Donnerstag, dem 5. Tag der Romanhandlung, geschieht aber noch mehr als nur die Ergreifung des Aschyk; Schakara wird in die weitere Planung einbezogen; der am frühen Morgen durch Kara Ben Halef gefaßte trotzige Aschyk soll für zwei Tage in dem unheimlichen Höhlenbassin zurückgelassen werden, aus dem er als ein neuer, reuiger Mensch hervorgehen wird, was Anlaß zur Diskussion des Unfugs nicht-individuell bemessener Freiheitsstrafen geben wird. Schakara wiederum soll sich, und diese Bitte wird noch am Morgen geäußert, um Pekala kümmern:


Hierauf trennten wir uns, und ich ging mit Schakara und Kara Ben Halef heim. Der Letztere hatte seinen täglichen Uebungsritt zu machen, und die Erstere bat ich, von jetzt an ein Auge auf Pekala zu haben und sie zu verhindern, etwa nach den Ruinen zu gehen. (Silberlöwe IV, S. 369)


Die Ruinen sind nicht nur Schauplatz der sonntäglichen Rendezvous zwischen Pekala und ihrem Geliebten, sondern auch Versammlungsort der Obersten der Sillan, der Schatten, die sich einmal im Monat, montags, dort treffen, um ihre Pläne gegen den Ustad zu schmieden (Silberlöwe IV, S. 137), wie Schakara, getreu ihrem Auftrag, später durch eigene Beobachtung herausfindet (Silberlöwe IV, S. 386). Pekala soll also keine Verbindung zu den Feinden aufnehmen und die Gefangennahme des Aschyk verraten; was übersetzt hieße, daß Emma keine Verbindung zu ihren gegen May hetzenden falschen Ratgeberinnen und zu Max Welte, der in seiner verirrten Verliebtheit zu Emma die falsche Partei ergreifen könnte, aufnehmen soll, wie May in der ›Studie‹ schreibt (Studie, S. 927). Und diese Aufgabe obliegt Schakara. Sie scheint sie zu erfüllen, obwohl der Roman hierüber ebenfalls schweigt. Aber Pekala kommt letztendlich nicht in die Quere ...

   Daß May die undankbare Aufgabe, Emma zu befrieden und peinliche Querschüsse zu verhindern, tatsächlich an Klara delegierte: es wäre ihm weder zu verdenken noch erscheint es unwahrscheinlich. Daß Klara den von Emma nachfolgend beschriebenen ›Geisterbrief‹ zur Unterstützung von Mays Anliegen geschrieben oder aber entsprechende mündliche Angaben gemacht haben könnte, erscheint damit nicht ausgeschlossen. Auffällig ist jedenfalls, daß weder in der ›Studie‹ noch in der Eingabe noch explizit im Beleidigungsverfahren Klaras Urheberschaft an diesem konkreten Schriftstück oder entsprechende mündliche spiritistische ›Befehle‹ bestritten werden. Maßgebliche Auswirkungen: hatten diese mögliche Aktionen aber nicht gehabt.

   In Emmas Vernehmung geht es nun um den besagten Freitag, den 29. August 1902, an dem sie das Einwilligungsschreiben in die Scheidung unterschrieb, in dem sie wegen »gegenseitiger, unüberwindlicher Abneigung« ein weiteres Zusammenleben mit May für »vollständig unmöglich« hielt und außerdem erklärte, sich aller Ansprüche zu enthalten und sich einzig


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und allein auf das ›Gerechtigkeitsgefühl‹ ihres Mannes zu verlassen.444 Dieses Schriftstück ist in der Welt, und nun muß sie erklären, warum sie es unterschrieb, obwohl sie doch angegeben hatte, noch am 27. August 1902 auf der Fahrt von Bozen zur Mendel erklärt zu haben, sie wolle ihre »Rechte bis zum letzten Atemzuge verteidigen«:445 »Acht Uhr morgens kam mein Mann in mein Zimmer und legte mir ein Paar Bogen vor mit dem Bemerken, die auf dem Bogen stehenden Worte habe die Plöhn in der Nacht ›unter Einfluß‹ geschrieben.«446 Das kann für Emma ja keine Überraschung sein, hat sie es doch in der Nacht bereits ›gehört‹, daß Klara unter Einfluß schrieb.


Auf diesem Bogen stand: »Wenn Du jetzt nicht unseren Willen tust und das unterschreibst, was dir Karl vorlegt, dann wehe! wehe! wehe! Du mußt bis zum 10. Oktober auf der Mendel bleiben.« Es stand noch mehr oben [, aber] auf den Inhalt besinne ich mich nicht mehr. Gleichzeitig verlangte mein Mann von mir, ich sollte ein Schriftstück unterzeichnen, auf dem es hieß, wir liebten uns nicht mehr und könnten infolgedessen nicht mehr zusammen leben; ich sollte es seinem Edelmute überlassen, welche Rente er mir in Zukunft aussetzen wolle und in welcher Weise er mir Unterhalt gewähren würde. Ich weigerte mich, dieses Schriftstück zu unterzeichnen (...). Mein Mann verließ mein Zimmer, ließ aber den Zettel zurück. Schließlich habe ich den Zettel doch unterschrieben. Wie ich dazu gekommen bin, ist mir heute noch rätselhaft. Ich kann es mir nur so erklären, daß ich in unzurechnungsfähigem Zustande war.447


Bemerkenswert an dieser Aussage erscheint, daß Emma sich nicht auf spiritistischen Zwang beruft, der sie zur Unterschriftsleistung veranlaßt habe, sondern auf ›Unzurechnungsfähigkeit‹. Den einzigen Einfluß, den sie diesem ›Geisterschreiben‹ Klaras in ihrer nächsten Vernehmung vom 16. Dezember 1907 beimißt, besteht darin, daß


an meiner Abreise (...) mich nicht nur das von der Plöhn »unter Einfluß« in der letzten Nacht verfaßte Schreiben ab(hielt), sondern auch die Hotelbesitzerin, Frau Schrott. Ich bin der festen Ueberzeugung, daß mein Mann und die Plöhn der Schrott Anweisung gegeben hatten, mich auf der Mendel festzuhalten.448


Ihre Kontaktaufnahme zu Max Welte bestätigt sie ebenfalls, wenn auch nicht eine sofortige:


Da ich Angst bekam, mein Mann könne sich vielleicht [sic!] auf grund des von mir unterschriebenen Schriftstücks von mir scheiden lassen, schrieb ich an den Ingenieur Welte nach Dresden und bat ihn, er möchte einen dortigen Rechtsanwalt zu meinem Schutze in Anspruch nehmen. Eine Antwort auf diesen Brief habe ich nicht bekommen, obgleich Herr Welte mir versichert hat, mir geantwortet zu haben.449


Und Frau Maria Schrott, die Hotelwirtin, bleibt in diesem speziellen Punkt merkwürdig vage, wenn sie in ihrer Vernehmung vom 9. April 1908 in dem Meineidsverfahren erklärt:


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Ich glaube kaum, daß ich mich hätte bestimmen lassen, Briefe an Frau May zu unterschlagen und an Herrn May oder Andere zu versenden. Ganz unmöglich ist es nicht, daß es vielleicht in einem einzigen Falle auf Ersuchen Mays geschah. ...450


Zumal dieser gebeten hatte:


Wenn etwas Verdächtiges vorkomme oder seine Frau sich entfernen wolle, möchte ich ihn telegraphisch benachrichtigen. ...... Seine Frau habe Verbindung mit  e i n e m  j u n g e n  M a n n e  ( o d e r  m i t  j u n g e n  M ä n n e r n ).451


Wenn sie einen Brief Weltes an Emma abgefangen haben sollte: dann hätte sie lediglich denjenigen Instruktionen Mays zufolge gehandelt, die in der ›Studie‹ - und nur hier - in so bemerkenswerter Offenheit eingestanden werden.

   Unerfreulich gehässige Briefe folgen, darunter einer, in dem May laut Emma erklärt haben soll, daß sein Haus ihr verboten sei, daß sie eine Verbrecherin sei und ins Zuchthaus gehöre und daß es gut sei, daß sie sich nicht, wie angekündigt, nach München begeben habe; dort hätte sie die Polizei in Empfang genommen. Bis zum 10. Oktober müsse sie im Hotel Penegal bleiben. Diese ihre Absicht, nach München zu gehen, könne nur Frau Schrott an ihren Ehemann weitergeleitet haben, so Emma. Über einen Brief von May vom 8. Oktober 1902, sie dürfe jetzt nach Bozen umziehen, habe sie sich so aufgeregt, daß sie sofort abgereist sei, aber erklärt habe, nach Dresden fahren zu wollen, was Frau Schrott sogleich nach Radebeul telegraphiert habe. In Bozen habe sie aber, energielos, den Entschluß aufgegeben und sei dort geblieben, wo sie den Justizrath Kutschenreuther aus Gotha aufgesucht habe, der sie nach Vorlage der Mayschen Briefe an seinen Sohn verwiesen habe.452

   Was sich zu diesen besagten ›Drohbriefen‹ heute noch objektiv feststellen läßt, ist gering; der erste, der die Briefe sah, war Justizrat Kunreuther (nicht: Kutschenreuther), der im Oktober 1902 wie Emma im Forsthaus ›Greif‹ logierte. Dieser konnte aber nicht für sie auftreten, weil er seine Anwaltspraxis nicht mehr ausübte; er habe ihr nahegelegt, einen beim Landgericht Dresden zugelassenen Anwalt zu nehmen, den sie sich, da sie »sich als zur Zeit nahezu mittellos (...) zu erkennen gab«, auch als Offizialanwalt zuordnen lassen könne, so Dr. jur. Kunreuther senior am 12. Februar 1908.453 Unter dem Vorbehalt von beschränktem Erinnerungsvermögen erklärte Kunreuther, daß Emma ihm mitgeteilt habe, daß sie


durch die Machinationen einer fremden Frau, die ihren (...) Ehemann beherrsche, sehr zu leiden habe und daß jene Frauensperson dahin trachte, die May'sche Ehe zu lösen, um den May heiraten zu können. Durch die mir vorgelegten Schriftstücke, deren detaillierten Inhalt ich nicht mehr anzugeben vermag, wurde das Vorbringen der Frau May mir glaubhaft gemacht. Ich erinnere mich auch, daß die Tendenz der Schriftstücke dahin ging, Frau May von Dresden fern zu halten, um ihrem Ehemann die Ehescheidungsklage zu erleichtern.454


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Die nächste, die die fraglichen Briefe sah, war - im Frühjahr 1903, nach Rechtskraft der Scheidung vom 4. März 1903 - Louise Dietrich, der Emma erzählt hatte, sie sei mit Drohungen auf der Mendel festgehalten worden, wobei die Hotelwirtin Helfersdienste geleistet habe:


Die May zeigte mir damals auch Briefe ihres Mannes, und der Plöhn an sie nach der Mentel, aus denen hervorgehen sollte, daß sie dort durch Drohungen festgehalten worden sei. Ich habe keine Einsicht in die Briefe genommen, weil mir bei Beginn des Lesens [i]hr Inhalt zu widerwärtig erschien (...). Ich gab der May den Rat, mit den Briefen zu Rechtsanwalt Dr. Thieme zu gehen und diesen um Rat zu fragen. Ich hatte ihr ausdrücklich eingeschärft, diese Briefe ja nicht wieder an ihren Mann und die Plöhn auszuhändigen (...). Frau May hat meinen Rat auch befolgt und zwar insofern, als sie sich an Herrn Rechtsanwalt Thieme gewendet hat.455


Bei Rechtsanwalt Thieme erschien Emma am 17. März 1903; allerdings erklärte dessen Sozius Kohlmann am 20. Februar 1908, Emma May habe an jenem Tag nur kurz mit Thieme gesprochen. Tatsächlich habe er selbst am 18. März 1903 die Anfechtung des rechtskräftigen Scheidungsurteils mit Emma besprochen, was nur gemäß § 580 Ziff. 4 ZPO, also durch den Nachweis einer durch die gegnerische Partei in Beziehung auf das Verfahren begangenen Straftat gelingen könne; da das Scheidungsurteil »ungeheuerliche Beschuldigungen« gegen Emma enthalte, habe er sich erkundigt, warum sie sich nicht verteidigt habe:


Sie berichtete mir, sie habe sich auf die Zusicherung  M a y ' s ,  er werde sie auch nach der Scheidung reichlich alimentieren, verlassen, sei von ihm auch durch Drohungen eingeschüchtert worden. Die Briefe  M a y ' s  legte sie mir vor; ich muß aus ihnen die Ueberzeugung gewonnen haben, daß eine Nötigung vorliege, denn ich habe in meinen Akten neben die Notiz über die Besprechung mit Bleistift geschrieben: »Nötigung.«

   Natürlich kann ich heute nicht sagen, ob allenthalben der Tatbestand der Nötigung vorgelegen hat. Ich habe den Rat zur Strafanzeige mit Rücksicht auf die beabsichtigte Restitutionsklage erteilt; es wäre Sache der Staatsanwaltschaft und des Gerichts gewesen, den Tatbestand namentlich in subjektiver Hinsicht - objektiv wird er gegeben gewesen sein - festzustellen.


Kurz darauf habe Frau May ihm das Mandat entzogen; sie habe mitgeteilt, ihr Ehemann habe mit ihr gesprochen und sie hierzu veranlaßt. Fazit von Rechtsanwalt Kohlmann: »Insbesondere in Sachen  M a y  -  M a y  habe ich den Auftrag um so lieber mir entziehen lassen, als die Aussichten, ein rechtskräftiges Scheidungsurteil umzustoßen, doch recht gering waren.«456

   Mit Mandatsbeendigung wird Kohlmann naturgemäß auch die Briefe wieder an Emma herausgegeben haben; dieser Vorgang allerdings ist, nachdem der konkrete Inhalt der Briefe nicht mehr feststellbar ist, bereits wieder Gegenstand von Legendenbildung Emmas, deren Entwicklung sich nur


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schwer nachzeichnen läßt, weil er mit einem zweiten Vorgang zusammenfällt: nämlich der Rückgabe dieser Schreiben an Karl und Klara zu einer Zeit, als Emma noch an ein Zusammenleben zu dritt glaubte. Selma vom Scheidt gibt das, was Emma ihr über diesen Vorgang erzählte, wie folgt wieder:


Schließlich sei sie doch nach Dresden gereist und habe die Briefe einem Rechtsanwalt gezeigt. Dieser habe ihr geraten, dieselben gut aufzuheben. Auch eine Freundin, eine Frau Oberlehrer habe ihr den gleichen Rat gegeben. Als sie dann am Hause ihres Gatten vorbeigekommen sei, habe sie der Versuchung nicht wiederstehen können, hineinzugehen. Hier haben ihr ihr Mann und Frau Plöhn solange zugesetzt, bis sie die Briefe herausgegeben habe. Beim Verlassen des Hauses habe sie sich bereits gesagt, daß sie mit der Herausgabe eine große Dummheit begangen hätte.

   (...) Sehr oft hat sie zu mir gesagt: »Wenn mir Frau Plöhn gegenübersteht, bin ich machtlos, ich bin gerade wie hypnotisiert!«457


Da hat Emma sich bei der ›Frau Oberlehrer‹ dann etwas weitgehender offenbart:


Als ihr dieser [Rechtsanwalt Thieme] aber sagte, daß ihr Mann auf diese Briefe hin sitzen müsse, hat sie sich durch die Plöhn und ihren Mann wieder beeinflussen lassen, die Briefe wieder herauszugeben. Dies hat sie mir erst erzählt, nachdem sie die Briefe bereits nicht mehr hatte. Die jetzt gesch. May stand damals meiner festen Ueberzeugung nach vollkommen unter dem Einflusse und im Banne der Plöhn,458


meint Frau Dietrich.

   Rechtsanwalt Giese, den Emma zu einem Zeitpunkt aufsuchte, als sie die Briefe bereits nicht mehr hatte, weiß sich noch am 25. Februar 1908 trotz dünnster Handakte »immerhin (...) bestimmt zu erinnern, daß die  M a y  mir allerdings von Briefen  M a y ' s  und seiner jetzigen Ehefrau gesprochen hat, die sie in einem hypnotischen Zustand Beiden wieder ausgehändigt haben will.«459 Es bleibt das Geheimnis von Rechtsanwalt Giese, wie er ohne »Beweismittel«460 Schritte unternommen haben will, eine Restitutionsklage wegen strafbarer Handlungen im Rahmen des Scheidungsverfahrens anzustrengen, die seinem Kollegen Kohlmann nicht einmal mit den fraglichen Beweismitteln erfolgversprechend erschien. Die Sache, so Giese, sei nur deshalb nicht erledigt worden, weil Frau May die Mittel hierzu gefehlt hätten.

   Welche Angaben Emma selbst während ihrer Vernehmungen im Dezember 1907 gemacht hat, ist unbekannt, weil Lebius sie nicht abdruckte; aus dem Schreiben von Kohlmann ergibt sich jedoch, daß Emma auch in jenem Verfahren hypnotische Beeinflussung durch das Ehepaar May vorgetragen haben muß.

   Als kleinster gemeinsamer Nenner all dieser indiziellen Aussagen läßt sich zusammenfassen, daß es Briefe von Karl und Klara bedrohlichen Cha-


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rakters gab, deren strafrechtlicher Gehalt überprüfungsbedürftig war (Nötigung ist ein offener Tatbestand, der tagtäglich von nahezu jedermann erfüllt wird; rechtswidrig ist sie nur bei Verwerflichkeit der Zweck-Mittel-Relation, was in jedem Einzelfall sorgfältig untersucht werden muß); bis zum Jahr 1907 existieren lediglich Aussagen, daß diese Briefe ›unter dem Einfluß‹ von Karl und Klara an diese zurückgegeben wurden. Im Laufe der Jahre, insbesondere ›unter dem Einfluß‹ von Rudolf Lebius, erfährt die Geschichte dann eine monströse Wendung; wie auch erstmals im Jahr 1909, nachdem Lebius Emmas ›berechtigte Interessen‹ wahrgenommen hatte, zwingende spiritistische Gründe für Emmas Passivität im Scheidungsverfahren vorgebracht wurden: dies eine über die Jahre kultivierte und von Lebius für seine speziellen Zwecke aufbereitete Variante. Es gibt keinerlei Aussagen von Rechtsanwälten, von Selma vom Scheidt, von Louise Dietrich oder auch von Emma selbst vor diesem Zeitpunkt, die den im Jahr 1907 erstmals behaupteten ›Geisterbrief‹ Klaras überhaupt nur erwähnen oder ihm die später zugeschriebene Bedeutung beimessen. Zurück zu den ominösen Briefen: »Als die Beschuldigte am 9. März nach Dresden geflohen sei, habe es mit dem May'schen Ehepaar stürmische Scenen gegeben. Es sei ihr befohlen worden, alle das Paar belastenden Schriftstücke herauszugeben, und sie habe es getan«, lautet die Wiedergabe des entsprechenden Artikels von Lebius in der Klageschrift gegen Emma vom 16. April 1909.461 In Lebius' Schriftsatz für Emma vom 6. September 1909 heißt es dann gar, daß Emma die Briefe bei Rechtsanwalt Thieme zunächst »im Zustand hypnotischer Willensunfreiheit« abgeholt habe, wonach ihr »durch Drohungen (...) diese Briefe aus den Händen gelockt worden« seien, »und jetzt hat sie Karl May wahrscheinlich verbrannt.«462

   Alle diese gewechselten ›Drohbriefe‹ wie auch der berühmte ›Geisterbrief‹ sind nicht mehr vorhanden, denn Emma hat diesen - so wollten es die Geister wohl - wie nahezu alle anderen ›Geisterbriefe‹ auch, sofort verbrannt.463 Als May die ›Studie‹ verfaßte, konnte er mithin sicher sein, daß keinerlei ›Beweise‹ für sein Verhalten während der Anhängigkeit des Scheidungsverfahrens vorhanden waren.

   In das Dickicht von gegenseitigen Vorwürfen eine Schneise der Klarheit schlagen zu wollen, wäre damit eigentlich aussichtslos gewesen. Aber May in seiner ›Studie‹ ist tatsächlich von einem Willen beseelt, so dicht wie möglich an der Wahrheit zu bleiben, auch wenn sie ihn belasten sollte:


Als ich sie dann infolge der Drohung, Frau Plöhn zur Hure machen zu wollen, und weil wir sie überhaupt jedes Attentates für fähig hielten, davon abhalten wollte, zu uns nach Dresden zu kommen, schrieb sie mir am 19./10.2 aus Bozen: »Deine Drohungen schrecken mich nicht. Es ist gar nicht daran zu denken, daß ich eine passive Rolle spiele.« Und als sie dann in Dresden war [nach Rechtskraft der Scheidung] und im Hospiz wohnte, schrieb sie: »Denn Karls wüthende Briefe haben mich nicht auf der Mendel zurückgehalten. Dazu habe ich gelacht. Seine ganzen Drohungen waren dummes Geschwätz!« Die Behauptung, daß ich sie da oben


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festgehalten habe, wird also von ihr selbst widerlegt. Zudem: Bei einer so perversen, eigenwilligen und hypnotischen Person sind ganz andere Maßstäbe nöthig als bei andern, normalen Menschen. Was bei den Letzteren beleidigend oder bedrohend wirkt, darüber wird von der Anomalie und Abnormität nur gespottet und gelacht, und wenn in unsern Briefen an diese Frau Pollmer einige starke Buchstaben vorgekommen sind, so haben sie bei dieser Dämonin höchstens grad entgegengesetzt, nicht aber einschüchternd gewirkt. (Studie, S. 930f.)


Der Notwehrcharakter etwaiger Bedrohungen wird hier betont, nicht aber bestritten, daß tatsächlich böse Briefe geschrieben wurden.

   Zu dieser Aufrichtigkeit hat er sich später, in ›wirklich‹ juristischen Schriftsätzen, nie wieder durchgerungen.

   In dem Beleidigungsverfahren gegen Emma läßt er, höchst pfiffig, seinen Anwalt am 5. Juli 1909 vortragen:


Der Privatkläger muß bitten, seine »Drohbriefe« vorgelegt zu bekommen. Uebrigens konnte man von Frau Pollmer nur im allerschärfsten Ton etwas erreichen und auch das half meist nichts. Der Privatkläger will sich hierüber nicht schriftlich, sondern höchstens mündlich in der Verhandlung äussern. ....464


Mit eigenhändigem Schriftsatz vom 26. Dezember 1909 behauptet May sogar: Frau Pollmer hat uns keine Drohbriefe zurückgegeben, sondern nur diejenige persönliche Korrespondenz, die man sich bei Auflösung von Verlöbnissen und Ehen gegenseitig wiedergibt.465

   In der Eingabe übergeht May diese Streßsituation zunächst: Frau Pollmer hat auf der Mendel und dann auch in Bozen ihre Schuld vollständig eingestanden und sich nicht gerichtlich gewehrt.466

   In einem gesonderten juristischen Scheidungskapitel wendet er sich später gegen den - ja gar nicht erhobenen - Vorwurf, Emma mit Gewalt auf der Mendel festgehalten zu haben, mit dem schlichten Satz: Das ist nicht wahr467 und zitiert aus zahlreichen Briefen der Gastwirte des Hotels Penegal und der Villa Lehner sowie einer Bozener Bekanntschaft Emmas namens Emilie Kundet, die allesamt Emmas Reueausbrüche bzw. ihre materialistische, auf möglichst großzügige Unterhaltsregelung abzielende, Einstellung bestätigen.468 Sowohl in der ›Studie‹ als auch in der ›Eingabe‹ belegt er Emmas aktiven Part, indem er ihren Expreß-Brief vom 19. Oktober 1902 aus Bozen zitiert, in dem sie konkrete materielle Forderungen stellt, ihm bis zum 24. Oktober 1902 Zeit zur Antwort gibt und erklärt, daß sie ansonsten sofort nach Dresden komme, um an dem Termin vom 29. Oktober 1902 teilzunehmen; nachdem sie bemerkt habe, daß dieser Brief für sie prozessual schädlich sein könne, habe sie sofort ein Telegramm hintergeschickt, er solle ihren Expreßbrief bis zum 24. Oktober 1902 zurücksenden, sonst sei sie wirklich am 29. Oktober im Termin (Studie, S. 937469). Nur in der ›Studie‹ (S. 930f.) aber zitiert er zusätzlich Emmas Worte: Deine Drohungen schrecken mich nicht, und auch Emmas Schreiben aus Dresden über die wüthende(n) Brie-


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fe Karls und seine Drohungen, die dummes Geschwätz gewesen seien, hat er in der juristischen Auseinandersetzung nicht verwandt.

   Offenbar wurde von beiden Seiten mit harten Bandagen gekämpft, zumal Emma in ihrer Beschuldigtenvernehmung vom 17. Dezember 1907 tatsächlich bestätigt hat, sie habe im Rahmen von Mays Besuch bei ihr am 12. Oktober 1902 in Bozen folgende (für May natürlich unerträglich bedrohliche) Bemerkung gemacht:


Hierüber [über seinen Vorwurf, sie habe ein Kind von ihm gehabt] geriet ich in große Erregung und warf ihm selbst Ehebruch mit der Plöhn vor und sagte, das würde ich, wenn ich nach Dresden zu dem Prozesse käme, erwähnen.470


Ein solcher, die Zeugin des Klägers diskriminierender, Vorwurf wiegt um so schwerer, als er nicht zu entkräften ist: daß etwas nicht geschehen ist, ist niemals zu beweisen, und die seelische Nähe zwischen Klara und Karl konnte nicht verleugnet werden, was ein gewichtiges Indiz zugunsten von Emmas Behauptung dargestellt hätte. Insofern bedeutete es für beide Parteien objektiv einen Glücksfall, daß Emma stillhielt (denn die Scheidungsgründe trafen zu) und sie damit ihre eigene materielle Zukunft und May einen schnellen juristischen Schlußstrich unter eine unerträglich gewordene Ehe sicherte.

   Im ›Silberlöwen IV‹ stellt sich die Trennung von Pekala schiedlich-friedlich dar, Reflex auf die trotz aller Aufregungen letztlich reibungslos geglückte rasche Scheidung: Pekala selbst will gehen, aus freiem Entschluß, und sie bedauert nur, daß jeder sie so ohne Bedauern gehen läßt. Am Samstag, dem 14. Tag der Romanhandlung (und dem realen Abreisetag von Karl und Klara von der Mendel), verabschiedet sich Pekala. Ihren neuen, von ihren Kochkünsten abhängigen, immer hungrigen und fetten Freund Kepek hat sie ebenso im Schlepptau wie den langaufgeschossenen dünnen Tifl (ebenfalls eine May-Abspaltung, der May der Kolportagezeit), der dem dicken Kepek bei der ersten Begegnung vom Mittwoch sogar noch die Pantoffeln hinterhertragen mußte:


So schritten Beide [Pekala und Kepek], eng aneinander geschmiegt, die eine Gestalt strahlend vor Wonne und Glück, die andere unter dem Keffije hustend und pustend, in seliger Eintracht über den Hof hinüber, um in der Sphäre zu verschwinden, der sie mit Leib und Seele angehörten [nämlich der Küche]. Ich aber lächelte ihnen mit innigster Befriedigung nach. Wer seinen Lebenszweck im niedern Stoffe sucht, den läßt man gern in diesem Stoff verschwinden! (Silberlöwe IV, S. 513)


Und Mays kleine Rache ist, daß dieser Kepek aufgrund seines Körperumfangs derartig geschlechtslos ist, daß Pekala ihn zunächst für eine Frau hielt und ihn mit ›Madama‹ anredete. Beim Abschied erklärt sie ihm dann - und damit verzichtet sie für alle Zeiten auf sexuelle Erfüllung -, welchen Schock ihr die Erkenntnis bereitet hat, daß die ›Madama‹ ein Mann ist:


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»... denn sie war ein Mann. Denke dir! Und sie hatte solchen Hunger! Und er aß so schön, und so schnell, und so viel! Und dann schlief sie ein! Und dann aß er weiter und schlief wieder ein! Sie aß mir fast Alles weg, was ich für Andere machte, denn er war ganz ausgehungert von der Reise. Nun ist sie endlich satt, und weil es ihm bei mir so schmeckt, sind wir mit einander übereingekommen, daß wir uns niemals, niemals wieder trennen werden. Was sagst du dazu, Effendi? Bist du einverstanden?«


Das ständige Changieren zwischen ›sie‹ und ›er‹ macht eines deutlich: hier geht es wirklich nur ums Essen. Aber im folgenden wird dann auch die Freiwilligkeit der Trennung thematisiert:


»Du bist doch deine eigene Herrin und kannst also machen, was du willst!«

   »Das weiß ich wohl. Und ich würde mir auch nicht dreinreden lassen; aber die Höflichkeit erfordert doch, daß ich wenigstens so tue, als ob ich frage. Darum bin ich schon beim Ustad gewesen. Er hat mich freigegeben, vollständig frei. Nun komme ich auch zu dir. Lässest auch du mich gehen?«

   »Sehr gern!«

   »Aber ich komme nicht wieder, gar nicht!«

   »Das wünsche ich auch!«

   »So! Also auch du! Ich dachte, man würde weinen. Aber es fällt keinem Einzigen ein, es zu tun. Und ich habe doch so gut gekocht! Darum räche ich mich. Ich gehe nämlich sofort.« (Silberlöwe IV, S. 557)


Nachdem ihr das Ich die Hand zum Abschied verweigert hat, und das spielt auf den im Hotel Penegal verweigerten, auf Knien erbetenen Abschiedskuß an (von dem Emma im Gegensatz zu May nichts erwähnt hat), ist Pekala zwar gekränkt, kommt aber schnell zum Wesentlichen:


»Aber der Ustad hat mir meinen Lohn gegeben und auch noch ein großes Bakschisch dazu. Nun bin ich mit Euch allen quitt und mag nie wieder Etwas von Euch wissen. Mich seid Ihr los, ganz gründlich, gründlich los!«

   So ging sie hinaus.

   Wie das so schnell gekommen war! Ob ein Aschyk oder ein Kepek, ist ganz gleich; nur die Kochkunst muß er bewundern, und erziehen muß er sich lassen! Auch eine Art derjenigen weiblichen Wesen, welche sich rühmen, die »Seelen« oder gar die »Engel« ihrer Männer zu sein! ... Kein einziger Dschamiki gab ihnen das Geleite. Das war die ganz natürliche Folge ihrer unbedachten Schwätzereien! (Silberlöwe IV, S. 558)


Das ist schon ein böses Fazit nach zweiundzwanzigjähriger Ehe.




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