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V. Staatsgewalt


Am 15. April 1907 hatte Rechtsanwalt Dr. Oskar Gerlach, Prozeßbevollmächtigter der Pauline Münchmeyer, Strafanzeige gegen - in dieser Reihenfolge - eine Rosa Freitag, Emma May, Johanne Spindler und Maximilian Dittrich wegen Meineides, verübt in jenem seit dem 12. März 1902 anhängigen Zivilverfahren May gegen Münchmeyer, sowie last but certainly not least, Karl May wegen Meineides und Verleitung zum Meineid erstattet.105

   Jeder Staatsanwalt, der eine solche Anzeige auf den Tisch bekommt, riecht den Braten sofort: da hat mal wieder jemand einen Zivilprozeß verloren, und jetzt soll es die Staatsanwaltschaft richten ... Die natürliche Reaktion auf eine derartige Instrumentalisierung der zu Objektivität verpflichteten Ermittlungsbehörde in solchen Fällen: wenn die Anzeige einigermaßen schlüssig klingt, Beiziehung der Zivilakten, Studium der zivil-


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rechtlichen Entscheidungen, und wenn diese keinen Hinweis auf dubiose Aussagen im Zivilverfahren oder Beweismittel enthalten, die die Strafanzeige stützen könnten, dann gibt es nur eine Entscheidung: ein möglichst rascher Einstellungsbescheid mit der Begründung, daß hier Aussage gegen Aussage stehe und schon das Zivilgericht keinen Anlaß gesehen habe, die Behauptungen der obsiegenden Partei für unwahr zu halten. Weitere Beweismittel stünden nicht zur Verfügung und so weiter und so weiter ...

   Die Zivilakten im Fall May gegen Münchmeyer dürften, nach mehr als fünfjähriger Prozeßdauer, einen erheblichen Umfang gehabt haben. Dieses Monstrum von Zivilverfahren durcharbeiten zu müssen, hätte in jedem durchschnittlichen Staatsanwalt einen solchen Ingrimm auslösen müssen, daß ein postwendender Einstellungsbescheid zu erwarten gewesen wäre. Dies um so mehr, als May der einzige lebende Zeuge (zugleich Partei) der mit Münchmeyer mündlich getroffenen Vereinbarungen über die Urheber- und Verlagsrechte an den Kolportageromanen der Jahre 1882-1887 war. Der einzige weitere Zeuge, Heinrich Münchmeyer selbst, war bereits am 6. April 1892 in Davos während einer Kur gegen Lungenschwindsucht gestorben.106 Alle anderen Zeugen, die nun als Beschuldigte wegen Meineids auftauchten, konnten naturgemäß nur Angaben vom Hörensagen machen, etwa, welche Erklärungen May ihnen gegenüber zu welchen Zeitpunkten über die Art seiner Abmachungen mit dem Münchmeyerschen Verlag abgegeben oder welche Bemerkungen Münchmeyer einstmals zu diesem Thema beigesteuert hatte. Jedem Kenner ist klar, daß ein solches Ermittlungsverfahren ein totgeborenes Kind ist. Der Nachweis, daß May seinen Parteieid wissentlich (oder auch nur fahrlässig) falsch geschworen hatte, war schlicht und einfach nicht zu führen. Und selbst wenn der indizielle Nachweis hätte gelingen können, daß May grundsätzlich ein unglaubwürdiger, da vor 37 Jahren verurteilter, Zeitgenosse sei und überhaupt gerne Zeugen beeinflusse; ja, selbst wenn die Art und Weise, wie er sein Scheidungsverfahren betrieben hatte, sich tatsächlich als dubios erwiesen hätte: damit allein wäre eine Überführung, nun auch in dem Münchmeyer-Verfahren die Unwahrheit gesagt oder zu unwahren Aussagen angestiftet zu haben, immer noch nicht geleistet. Das Sprichwort: ›Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht‹ ist nun mal kein Element einer juristischen Beweisführung.

   Diese Grundregeln des staatsanwaltschaftlichen Handwerks kannte auch Staatsanwalt Seyfert, der, keineswegs zufällig, für den Anfangsbuchstaben F wie ›Freitag‹ zuständig war.107 Sein dürrer, gleichwohl polemisch-vager, Antrag auf Einstellung des Verfahrens reflektiert genau diese schlichten Überlegungen: zwar erscheine Mays Glaubwürdigkeit - abgesehen von Vorstrafen wegen raffiniertester Straftaten (Akten Mittweida) - in bedenklichem Licht, denn er führte einstmals in rechtsverjährter Zeit unbefugt einen Doktortitel. Außerdem habe er in einem Schreiben, das vortäusche, von Klara May zu stammen, einem gewissen Krüger vorgeschrieben, was dieser an einen gewissen Eichler zu schreiben habe, um auf diese


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Weise von Eichler eine Antwort, Münchmeyer betreffend, zu erhalten, die er, May, von Eichler wohl nicht erhalten hätte ...

   Zu dem Problem, Alwin Eichler, Leiter der amerikanischen Dependancen des Münchmeyer-Verlages, zu fassen, hat May in seinem Flugblatt von August 1907, ›Die »Rettung« des Herrn Cardauns‹, einige erhellende Ausführungen gemacht.108 Das ist fürwahr bedenklich, denn List und Tücke sollte den Ermittlungsbehörden vorbehalten bleiben, wo kämen wir denn da hin, wenn auch ein Privatmann ...

   Außerdem, so Seyfert, sei May durch Klara May auffällig mit Personen, die als Zeugen im Münchmeyer-Rechtsstreit in Betracht kamen, in Kontakt getreten, habe sie eingeladen und ihnen Geld geschenkt; genau so auffällig sei auch, wie Klara May über die Aussage in jenem Prozeß korrespondiert habe (»›Anbei sende ich Dir Deine s. Zt. gemachte Aussage, damit Du genau weißt, was Du auszusagen hast‹«109), aber, aber ...

   Fast glaubt man, das Bedauern über diesen Umstand herauszuhören, und überhaupt: ›auffällig‹ bzw. ›bedenklich‹ wäre das nur, wenn die Zeugen zu Falschaussagen hätten bewegt werden sollen; einen Zeugen zu einer wahrheitsgemäßen Aussage zum Nachteil seines eigenen Arbeitgebers zu bewegen, ist tatsächlich in der Regel ohne geeignete Überredung und ›Pflege‹ von guten Beziehungen ausgeschlossen, wie gerade Staatsanwälte wissen, die oftmals vor demselben Problem stehen.

   Das alles, muß Seyfert konzedieren, reiche allerdings nicht aus; die in der Anzeige vorgebrachten Indizien seien nicht beweiskräftig genug, da der Hauptzeuge Münchmeyer tot sei und auch andere Zeugen (so Meißner, Buchbinder bei Adalbert Fischer) verstorben seien.110

   Der Zeuge Meißner, was immer er auch hätte aussagen können, war allerdings genauso wie der Zeuge Münchmeyer keineswegs überraschend nach Erstattung der nach Seyferts späten Einsicht unzureichenden Strafanzeige verblichen: er hatte nach Aussage seiner Witwe bereits am 13. Juli 1904 das Zeitliche gesegnet.111

   Tatsächlich gab es von Anfang an zahlreiche tote Zeugen in diesem Verfahren, und die übrigen waren Randfiguren allemal: die Beschuldigte Johanne Spindler konnte nur Aussagen machen, die sich auf das bezogen, was ihr der bereits am 7. Februar 1900 verstorbene Ehemann, Barbier, Schriftsteller und May-Fan, mitgeteilt hatte.112 Rosa Freitag war Tochter des Otto Freitag, Vorgänger von May als Redakteur des Münchmeyerschen ›Beobachters an der Elbe‹, eine Position, die May bereits im März 1875 übernommen hatte; zu diesem Zeitpunkt war die Zeugin und Beschuldigte Rosa Freitag ganze 5 Jahre alt!113 Der einzige Anhaltspunkt, welcher Art denn Rosa Freitags Zeugenaussage in dem Münchmeyer-Prozeß war, ergibt sich aus einer - wohl öffentlich verbreiteten - ›Rechtsanwaltlichen Bestätigung‹ der May-Anwälte Rudolf Bernstein und Ernst Klotz von Ende August 1907. Danach soll die Zeugin ›Freytag‹ am 11. Februar 1904, vereidigt, ausgesagt haben, daß Münchmeyer ihr gegenüber wiederholt davon gesprochen habe,


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daß die Schriften des Klägers May den Grund zu seinem Reichtum gelegt hätten und daß das ›Waldröschen‹ von May in einer halben Million Exemplare abgesetzt worden sei; wäre dieser Roman nicht erschienen, hätte er Bankrott machen müssen; auch in Amerika sei der Roman gut gegangen, Münchmeyer sei May daher »aufrichtig dankbar« und »schätze ihn hoch«.114 Eine klassische Aussage, die colorandi causa eingeführt wird und nicht, weil sie zu dem eigentlichen Beweisthema, nämlich dem der Rechteüberlassung nur bis zu einer bestimmten Auflagenhöhe, beitragen könnte. Denn die Frage, wie hoch die Auflage des ›Waldröschens‹ tatsächlich gewesen war, war für die vorrangige Frage, ob überhaupt Anspruch auf Auskunft und Rechnungslegung bestand, ohne wesentlichen Belang. Erst in dem nachfolgenden Verfahren, in dem Ansprüche wegen Überschreitens der Auflagenhöhe von 20.000 geltend gemacht werden konnten, hätte diese Aussage indizielle Bedeutung erlangen können: insbesondere für den Fall eines etwaigen Bestreitens dort gemachter (zu niedriger) Angaben der Verlegerin über die Verkaufszahlen wäre Rosa Freitag eine wertvolle Zeugin geworden.

   So also sah die Beweislage aus, und dies von Anfang an. Aber Seyfert formulierte keinen umgehenden Einstellungsbescheid, sondern stellte seinen Antrag auf Einstellung des Verfahrens erst am 8. Januar 1909. Er war eben kein ›durchschnittlicher‹ Staatsanwalt, sondern ein Freund des Münchmeyer-Anwalts Dr. Oskar Gerlach, und das seit Kindesbeinen. Es muß so kraß gesagt werden: wie er sein Amt ausübte, läßt sich nur als Mißbrauch der ihm zustehenden Machtbefugnisse bezeichnen.

   Zwar zögerte er zunächst, zu dürftig war offensichtlich der Inhalt der Strafanzeige, aber dann legten Oskar & Pauline nach, behaupteten am 25. und 30. Mai 1907, Klara May sei an den Packer Schubert und die frühere Packerin Olga der Firma Münchmeyer herangetreten, wohl, um sie - vergeblich - zu für Pauline ungünstigen Aussagen zu bewegen.115 Und obwohl auch dies vage genug war: am 12. Juli 1907 wurde die gerichtliche Voruntersuchung eröffnet, nachdem Seyfert die Akten mit entsprechendem Antrag gemäß § 177 der seinerzeit geltenden Strafprozeßordnung (StPO) dem Untersuchungsrichter Dr. Larrass vorgelegt hatte.116

   Auch Dr. Larrass, ein junger, offenbar mit dem Verfahren überforderter und daher später im Umgang mit Verfahrensbeteiligten rotzig auftretender Assessor, war kein ›üblicher Richter‹; ob er der Dritte im Bunde der zünftigen Männerfreundschaft zwischen Gerlach und Seyfert war, wie von Hans Wollschläger angenommen,117 läßt sich nicht beweisen. Sicher ist jedoch, daß er den Fall zunächst konzeptionslos und mit gravierenden ermittlungstaktischen Fehlern anging und im weiteren Verlauf, das Scheitern des Unterfangens vor Augen, den Fall als persönliche Herausforderung betrachtete, vielleicht gar seine richterliche Zukunft mit dem Ausgang des Verfahrens verband. Zwischen Staatsanwalt Seyfert und ihm entwickelte sich jedenfalls eine enge, allzu enge Kooperation, die ihn jeglicher Distanz beraubte. Und daß May ab April 1908 so unbeirrbar, so kämpferisch in Er-


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scheinung trat, ja, ihm sogar beschämende Rügen durch richterliche Kollegen bescherte, dürfte der Grund dafür sein, daß Larrass die Ermittlungsmaschinerie auch dann noch in stotterndem Gang hielt, als sie längst leerlief.

   Als erste Amtshandlung lud er Karl May zur Beschuldigtenvernehmung vor. Diesen Schritt könnte man noch als Signal werten, daß Dr. Larrass zu diesem Zeitpunkt an eine schnelle Erledigung glaubte: May kommt, bestreitet, Aussage gegen Aussage, Rücksendung der Akten an die Staatsanwaltschaft zur Stellung ihrer Anträge an die zuständige Strafkammer. So mag es sich der Untersuchungsrichter vorgestellt haben, denn es ist offensichtlich, daß er zu jenem Zeitpunkt noch nicht daran dachte, ernsthafte Ermittlungshandlungen zu unternehmen: eine Hausdurchsuchung, wie sie dann im November 1907 erfolgte, erst nach vorheriger Information des Beschuldigten, daß gegen ihn ermittelt werde, stellt einen Kardinalfehler im Handbuch der Ermittlungstätigkeit dar. Der Zeitpunkt, zu dem der Untersuchungsrichter seiner Pflicht gemäß § 190 StPO nachzukommen hatte, den Angeschuldigten zu vernehmen und ihm die Verfügung über die Eröffnung der Voruntersuchung bekannt zu machen, stand in seinem freien Ermessen ...

   Doch May läßt sich am 18. Juli 1907 durch Klara wegen Krankheit entschuldigen, zu angegriffen ist seine Gesundheit nach der anstrengenden Reise ins Riesengebirge, und zu sehr ist May von diesem erneuten Angriff des Gegners schockiert: Mein liebster Rudi, schreibt May am 23. Juli 1907 an seinen Rechtsanwalt Rudolf Bernstein,118


Ich bin krank, sehr krank. Ich sollte eigentlich nicht schreiben. Ich muss es aber thun. In Folge Deines mich erschreckenden Briefes. Seit jenen wenigen Tagen auf der Bastei habe ich keine Erholung gehabt. Jahrelang, auch zu den Festen nicht. Da schickte mich der Arzt nach Salzbrunn. Mit welchem Erfolge? Ich musste gleich nach der ersten Kraftprobe wieder nach Haus und ins Bett! So steht es nun mit mir. Der Arzt sagt, die Ursache sei nicht körperlich, sondern seelisch. Der Prozess reibe mich heimlich auf, heimlich, aber doch zusehens ...


Rechtsanwalt Bernstein dürfte May, bevor er diesen Brief verfaßte, davon unterrichtet haben, daß die Strafanzeige gegen ihn nur ein weiterer taktischer Winkelzug von Rechtsanwalt Gerlach in Verfolgung zivilrechtlicher Abwehrbemühungen sei, der aber keinerlei Aussicht auf Erfolg habe. Das Ermittlungsverfahren - und so hätte es jeder Jurist eingeschätzt, der die üblichen Abläufe kennt - werde mit Sicherheit ohne weiteres eingestellt. Und so regt May sich in seinem Brief mit großem Pathos und anrührend dargestelltem Leid auch lediglich gegen die Zumutungen des zäh sich dahinschleppenden Zivilverfahrens auf, das er zunächst bereits mit dem Sieg vor dem Reichsgericht für gewonnen gehalten hatte:


Als wir am Reichsgericht gewannen, glaubte ich, nun vor dem kurzen Ende zu stehen. Meine Kräfte waren hin. Um so schrecklicher war mir jener Abend, an dem Du mit Emmy bei uns warst, um mir zu erklären, dass es noch eine Reihe von Jah-


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ren dauern werde. ... Ich halte das einfach nicht mehr aus, denn ich bin kein Gott, sondern auch nur ein Mensch! Du bist ein starker Charakter, aber glaube mir, du wärst längst wahnsinnig oder todt, wenn du diese tödtlichen Stiche so immerfort und so lange zu ertragen hättest. Zumal wenn Du täglich sähest, daß alle Mühe, diese Qualen abzukürzen, vergeblich ist ...


Aber das gegen ihn gerichtete Ermittlungsverfahren selbst ordnet er zutreffend als bloßen Annex zu dem Zivilverfahren ein: Soll ich mich durch die auch nun noch fortgesetzten Niederträchtigkeiten doch noch zum Wahnsinn treiben lassen ... Eine ›fortgesetzte Niederträchtigkeit‹, nicht mehr und nicht weniger, ist diese Strafanzeige tatsächlich. Und May sieht auch sehr deutlich, welche Funktion das Ermittlungsverfahren darüber hinaus noch bekommen könnte, denn May sagt über Rechtsanwalt Gerlach:


Gerlach ist ein höchst scharfsinniger Jurist. Er weiss sehr genau, dass ich erst den literarischen Prozess gewinnen muss, ehe ich den juristischen gewinnen kann. Was die Oeffentlichkeit von mir denkt und sagt, ist von gewaltiger, unwiderstehlicher Wirkung auf das Bild, welches sich der Richter von mir macht. ... Darum habe ich mit derselben Energie für die Zeitungen gewirkt, mit der Du für die Akten wirktest. Wir marschirten getrennt, um vereint zu schlagen. ... Aber der Zeitungssieg verträgt keine so lange Pause wie der Aktensieg. Jedes Redacteurchen, und sei es noch so klein, kann mir Alles wieder zerstören, wenn es sich gegen mich stellt. Und das ist in der letzten Zeit wiederholt geschehen. Ich habe darum unbedingt Schluss zu machen. Ich habe neue, in die Augen fallende Erfolge zu bringen. Ich habe die Rechnungslegung und die Herausgabe meiner Original-Manuskripte schleunigst durchzusetzen. Unterlasse ich das, so schlüpft mir der Feind durch diese Lücken und streut der Oeffentlichkeit neuen Sand in die Augen. Du siehst ja, dass er schon so frech geworden ist, an den Untersuchungsrichter zu gehen. Er braucht nur zu veröffentlichen, dass eine Untersuchung wegen Meineid eingeleitet sei, so hat er seinen scheusslichen Zweck erreicht. Je langsamer wir vorgehen, desto gefährlicher wird er uns ...


Das Ermittlungsverfahren als solches: lediglich der ›freche‹ Versuch, Munition für Presseangriffe zu fabrizieren, völlig unabhängig von seinem letztlichen Ausgang, irgend etwas bleibt ja immer hängen ... In seinem Brief an Bernstein trägt May auch einen Konflikt über die prozessuale Taktik in dem Zivilverfahren aus, denn May drängt auf rasches Handeln, während der Rechtsanwalt offenbar das Ergebnis der eingeleiteten Zwangsvollstreckungsanträge zur Erwirkung der entsprechenden Auskünfte von Pauline Münchmeyer über die verkaufte Auflage abwarten will: ein juristisch durchaus vernünftiges Vorgehen. Aber May will mehr, und er scheut weder dunkle Andeutungen - Soll ich, obgleich ich Sieger bin, dieser Qual doch noch durch eine Kugel ein Ende machen? - noch die Androhung weitreichender Konsequenzen:


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... handelt es sich hierbei um Leben und Tod, literarisch ebenso wie auch vital. Der Prozess kostet mich schon volle sechs kostbare Lebensjahre, in denen ich für meine Lebensaufgabe nicht arbeiten konnte. Länger ertrage ich es nicht. Entweder er verschwindet, oder ich gehe. Und zieht gar mein Freund und Anwalt seine Hände von mir ab, so erkenne ich meinen Kampf als hoffnungslos und verzichte auf die ganze irdische Gerechtigkeit. ... Habe ich den Prozeß fallen lassen, so finde ich wohl einen stillen Ort, an dem ich meine Lebensaufgabe vollenden kann, ohne unter endlosen Gemeinheiten ersticken zu müssen und auf dem Prokrustesbette eines ebenso endlosen Prozesses martervoll zerrissen zu werden ... spätere Generationen aber werden erkennen, daß ich nicht dem Richterspruche der Justiz, sondern nur der menschlichen Schwäche wich. Die Entscheidung steht also bei Dir, mein lieber Freund, nicht aber bei mir!


Was May aber wirklich, tief im Innern bewegt, ist sein Bedürfnis, ein wirklich wichtiges, erfolgreiches Buch schreiben zu wollen und zu müssen, und zwar auch aus kommerziellen Gründen:


Ich habe seit 5 Jahren kein Buch geschrieben, welches mir Honorar gebracht hat. Meine Einnahmen aus den früheren Bänden sind in Folge der Hetze fürchterlich zurückgegangen. Ich persönlich bin bescheiden, aber ich habe Verpflichtungen gegen Arme ... die ich unmöglich zurücknehmen kann. Das Einkommen reicht nicht aus. Darum lebe ich schon seit längerer Zeit vom Kapitale. Mir wird da himmelangst. Ich muß schreiben, schreiben, schreiben und bringe doch nichts fertig. Der Prozeß vergiftet meine Seele; sie ist unfähig geworden, sich zur höheren Arbeit zu reinigen und zu befreien. Ich muß ein Werk schreiben, welches durchschlägt, und mit dieser Angst, mit dieser Sorge und diesem Gift im Herzen bringe ich das nicht!


Aber viel wichtiger als diese Erwägungen (die allerdings ein freiberuflich tätiger Anwalt leichter nachvollziehen kann als die ›eigentlichen‹ Gründe) dürfte Mays Angst gewesen sein, sein Meisterwerk, die Summe von all dem, was er sich vorgenommen hatte und was sein großer Wurf werden sollte, nicht vollenden zu können:


Es handelt sich nicht etwa nur um meine kleine, unbedeutende Person, sondern um das Gelingen eines Lebenswerkes, welches bestimmt ist, Millionen von Menschen zu beglücken. Wenn es nicht vollendet wird, so können Jahrhunderte vergehen, ehe selbst dem Herrgott, der uns alle leitet, eine Wiederholung möglich ist. Ja, vielleicht treffen sich die äusseren und inneren Umstände nie so wieder! Und das ist es, was mir die Pein verschärft und meine Angst fast zur Todesangst steigert!


Das gegen ihn anhängige Ermittlungsverfahren bereitete May also nicht etwa Angst, weil er eine Anklage oder gar eine Verurteilung fürchtete. Da war er vollkommen unbesorgt, da reinen Gewissens. Er befürchtete vielmehr, daß dieses Verfahren seiner selbstgestellten Aufgabe, nämlich, das  e i g e n t l i c h e  W e r k  zu schreiben, zu viel Energie entziehen würde. Die Hybris, mit der er das noch zu schreibende Werk als einmalige Menschheitsbeglückung


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feiert, läßt sich unschwer als Notwehrreaktion gegen die eingeleitete Untersuchung, die die Entschlossenheit seiner Gegner zur Ausschöpfung aller Mittel dokumentiert, enttarnen. May, der schon so viel Zeit mit Skizzen und Übungen, angefeindeten Broterwerbsarbeiten und mißverstandenem Spätwerk verbraucht hat, dessen Lebenszeit immer endlicher wird, will sich zu seinem Meisterwerk zwingen, gegen alles, was ihn ›hinunterziehen‹ will. Ohne künstlerischen Größenwahn kann das nicht funktionieren. May war, um Ruhe und Zeit zum Schreiben zu gewinnen, sogar bereit, das Zivilverfahren durch Klagerücknahme zu beenden - wertet man diese seine Ausführungen jedenfalls nicht ausschließlich als sanfte Erpressung seines Anwaltes, endlich etwas Entscheidendes zu tun ...

   Rechtsanwalt Bernstein dürfte May davon überzeugt haben, daß eine Beendigung des Zivilverfahrens gegen Pauline Münchmeyer seine Chancen mindere, mit den Erben von Adalbert Fischer einen öffentlichkeitswirksamen Vergleich schließen zu können; denn insbesondere durch den Druck, daß in dem Münchmeyer-Verfahren festgestellt werden könnte, daß die an Fischer mitverkauften Romane seinerzeit gar nicht im Eigentum der Verkäuferin gestanden hatten, ließ sich eine Vergleichsbereitschaft des Fischer-Lagers fördern. Eine Klagerücknahme gegen Pauline Münchmeyer zu  d i e s e m  Z e i t p u n k t  wäre mithin schädlich gewesen. Und Mays Brief dürfte Bernstein dazu bewogen haben, mehr als Freund und weniger als Anwalt zu handeln und, völlig verfrüht, ohne eine faktische Grundlage für die geltend gemachten Ansprüche zu haben, einen bezifferten Zahlungsantrag über 300.000 Mark zu stellen. Mangels Kenntnis der Münchmeyer-Akten ist letztere Annahme naturgemäß Spekulation; aber die Reaktion ist eindeutig: das gegnerische Lager war tatsächlich aufgescheucht.

   Denn schon am 16. August 1907 erschien ein neuer Schmähartikel von Mays altem Widersacher Hermann Cardauns (›Die »Rettung« des Herrn Karl May‹ in den Historisch-politischen Blättern, Heft 140/4), in dem prompt der Umstand erwähnt wurde, daß May nunmehr Zahlungsantrag auf 300.000 Mark gegen Pauline Münchmeyer gestellt habe.119 May, getreu seinem Wort vom ›getrennten Marschieren‹, reagierte mit vier Flugblättern vom 19., 26. und einem von Ende August 1907;120 in seinem wichtigsten und längsten, dem undatiertem Flugblatt, ›Die »Rettung« des Herrn Cardauns‹, geht er auf die Rolle ein, die seine Frau bei der Entstehung der zweiten Geschäftsbeziehung zu Münchmeyer im Jahr 1882 spielte. Mays Verteidigung ist auf psychologisierende Betrachtung des Gegners gerichtet, wobei er eine geradezu alptraumhafte Szene eines mörderisches Kasperletheaters mit Fischer als Aufreißer und Profiteur, Fedor Mamroth als Puppenspieler und Cardauns als May-Töter, honoriert durch einen von Mamroth verliehenen absurden Professoren-Titel, entwirft: Dies zur psychologischen und moralischen Bewertung der Verhältnisse und der handelnden Personen,121 so May. Er erwähnt seine Kindheit in bitterster Armut, spricht von seinem Lebensleid und resümiert dann:


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Es ist mir nichts erspart geblieben, was es an Leibesnot und Seelenqual in unserer Erdenhölle gibt ... und wenn das Herz mir schwer und schwerer wird, so daß es brechen und sterben will, so greife ich zur Feder und wandle meine Qual in Glück für Andre um, in Glück auch für die Toren, die mich hassen! Warum hassen sie mich? Warum haßt mich Herr Cardauns?122


Ein Hinweis darauf, wie seine eigentliche Bewältigungsstrategie gegen die fortdauernden Niederträchtigkeiten aussehen wird.

   Objektiv mußte ihn dieser Artikel von Cardauns, der sich kritisch mit der naiven Jubelpresse zu Mays ›Sieg‹ in dem Münchmeyer-Verfahren sowie dem ›faulen‹ Kompromiß mit Adalbert Fischer aus dem Jahr 1903 (Einigung, daß in Mays Romane von dritter Hand unsittliche Stellen eingefügt wurden, die Fischer nach Belieben zu entfernen habe, bevor er weiterdrucken dürfe) auseinandersetzt, tatsächlich alarmieren: denn Cardauns' Erklärungen zu einer so späten Reaktion auf die Jubelartikel in der ›Passauer Donauzeitung‹, der ›Augsburger Postzeitung‹, dem ›Bayerischen Kurier‹ und dem ›Radebeuler Kurier‹ seit Februar 1907 überzeugen keineswegs. Allenfalls der Passus: »und später hat die Beschaffung des aktenmäßigen Beweismaterials noch längere Zeit erfordert«123 klingt überzeugend; denn es liegt nahe, daß Cardauns von Rechtsanwalt Gerlach gezielt zur publizistischen Unterstützung seines Rechtsstreites mit entsprechendem Material, insbesondere dem sicherlich nicht öffentlich verbreiteten Urteil des LG Dresden vom 26. September 1904, versorgt worden war. Dieses Urteil ist eines der wenigen Dokumente, die Cardauns in seinem Artikel ohne öffentliche Quellenangabe zitiert; insbesondere aber die Information, daß May nunmehr einen Zahlungsantrag in Höhe von 300.000 Mark gegen Pauline Münchmeyer gestellt habe, kann nur von der Gegenseite Münchmeyer-Gerlach stammen. Finanzielle Interessen des Herrn May also, der bislang immer vorgegeben habe, aus Gründen der Ehre wegen unsittlicher Einschübe in sein Kolportagewerk durch Münchmeyer zu klagen - das ließ sich weidlich ausschlachten ...

   Die auf diesen Artikel von Cardauns - wenn überhaupt - erforderliche intellektuell-polemisch-juristische Reaktion gelingt May in höherem Maße in den Flugblättern ›Ist Cardauns rehabilitiert?‹ vom 26. August 1907 und ›An die deutsche Presse‹ von Ende August 1907. Der persönliche, waidwunde Ton seiner langen Erwiderung dagegen belegt neben seiner tiefen Verletztheit durch das ihm bekanntgewordene Ermittlungsverfahren zugleich aber auch schon die Wahl seiner wichtigeren ›Verteidigungsmittel‹, nämlich die Hinwendung zum Werk und die psychologische und literarische Beschäftigung mit seiner eigenen Vita, insbesondere mit seiner früheren Ehefrau Emma.

   May jedenfalls setzt sich (abgesehen von einem Schriftsatz in dem Ermittlungsverfahren von Dezember 1907, auf den noch einzugehen sein wird) effektiv und angemessen erst mit einem wohl ab März 1908 entstandenen Text, ›Zur Abwehr‹, mit dem Cardauns-Artikel auseinander, juri-


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stisch geschickt, voll herzerfrischender Polemik, und es fehlt dort auch nicht die Andeutung einer moralisch fragwürdigen Kooperation Gerlach-Cardauns:


Der Dank wurde ihm [May] von beiden Seiten in der wohlbekannten Form erstattet[:]  » W e n n  S i e  v e r k l a g e  n,  m a c h e n  w i r  S i e  i n  a l l e n  Z e i t u n g e n  v o r  g a n z  D e u t s c h l a n d  k a p u t ! «  Man hat diese Drohung ausgeführt, vom ersten Augenblicke des Prozesses an bis auf den heutigen Tag. In welcher Weise und mit welchen Mitteln dies geschehen ist und inwieweit Herr Cardauns dabei betheiligt war, das haben wir später, nicht aber heut zu erörtern.124


Möglicherweise trug, neben der freundschaftlich-anwaltlichen Betreuung und seiner Arbeit an dem ›Mir von Dschinnistan‹, der Besuch des Psychiaters Dr. Paul Adam Näcke aus Hubertusburg am 16. November 1907 in der Villa Shatterhand zur weiteren Ablenkung, weg von den bedrängenden äußeren Geschehnissen hin auf eine Konzentration auch auf die ›Studie‹, bei, wie Udo Kittler vermutet. Näcke, mit dem Karl May seit Juli 1907 in Briefwechsel stand, konnte May danach ein Exemplar der ›Zeitschrift für Religionspsychologie‹, Heft 6, erschienen 1907, überreichen; ein Aufsatz von Näcke in diesem Heft beschäftigt sich positiv mit Mays ›Und Friede auf Erden!‹, der als »religionspsychologisch hochbedeutsamer Roman« bezeichnet wird. Karl May wird sich durch diesen Besuch und den Artikel nicht nur als Autor, sondern auch als Psychologe zutiefst respektiert und bestärkt gefühlt haben; und so belegt Dr. Näckes Eintrag in Mays Gästebuch vom 16. November 1907 auch die friedlich-gelöste Stimmung dieses Treffens: »In dem Hause des Herrn Dr. May u. Frau Gemahlin habe ich mich gleich von der 1. Minute so wohl gefühlt, daß ich hoffe, recht bald wieder hier einkehren zu können (...)«125

   Im Jahr 1907 waren Mays Energien jedenfalls eindeutig vorrangig auf sein Werk gerichtet. Im Zeitraum vom 8. Juli 1907 bis Ende September 1907, so ein überzeugender Datierungsversuch von Dieter Sudhoff,126 entstand die Erzählung ›Abdahn Effendi‹, die in der Zeit vom 22. März bis 22. April 1908 im Grazer Volksblatt veröffentlicht wurde. Sie soll die Reiseeindrücke aus dem Riesengebirge und, nach Sudhoffs Interpretation, auch eine Auseinandersetzung mit Cardauns und den Münchmeyers spiegeln. Dann, am 13. September 1907, schloß Karl May in München mit Otto Denk vom ›Hausschatz‹ die Vereinbarung, dort den neuen Roman ›Der Mir von Dschinnistan‹ zu veröffentlichen.127 Eine Karte von Karl und Klara May aus München vom 16. September 1907 an Babette Kopp belegt, daß May zu dieser Zeit tatsächlich prozeßmüde war: »Vielen Dank! Wir wissen, was Prozeß heißt und fühlen mit Ihnen. Kann die Sache nicht noch durch einen Vergleich beigelegt werden? Es ist immer besser als ein langer Prozeß. (...) Ihre alten Mays«128

   Es kann davon ausgegangen werden, daß May sich nach dem ersten Schock auf dieses ›eigentliche‹ Werk konzentrierte, das ab November 1907


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im ›Hausschatz‹ erschien, und das laufende Ermittlungsverfahren als bloßen Nebenkriegsschauplatz des tatsächlich bedeutsamen Zivilverfahrens schlicht verdrängte.

   Daß es auf der Stelle trat und von Dr. Larrass, der ersichtlich keine Ahnung hatte, was und wie er jetzt eigentlich ermitteln sollte, ziemlich konfus weiter betrieben wurde, konnte May nicht wissen. Sein Alltagskampf gegen die äußeren Zumutungen richtete sich erst einmal auf den Fischer-Prozeß und seinen Hauptfeind Lebius, den er Anfang September 1907 in Berlin getroffen hatte, um etwas über Fischer herauszubekommen. Bereits am 27. Oktober 1907 schrieb Klara May an die Lebius-Gattin Marle, daß es für das von letzterer am 26. Oktober 1907 brieflich erbetene Treffen seitens der Mays keinen Anlaß mehr gebe, denn Frau Fischer habe 14 Tage vor ihrem Tode durch ihre Bevollmächtigten eine Erklärung abgeben lassen, die das weitere Forschen in dieser Angelegenheit erledigt habe. Dennoch kam es am Dienstag nach dem 26. Oktober 1907, dem 29. Oktober 1907, zu einem Treffen der Lebius-Gattin und ihrer Schwester mit Klara May in Radebeul - aber das ist eine weitere, wiederum prozeßträchtige Geschichte.129

   An der Fischer-Front trat dann aber tatsächlich Ruhe ein. Am 8. Oktober 1907 war von Arthur Schubert, Fischers Schwiegersohn und Erben, und anderen Beteiligten vor dem Landgericht Dresden eine Erklärung abgegeben worden, wonach die Münchmeyer-Romane im Laufe der Zeit durch Einschiebungen und Abänderungen von dritter Hand eine derartige Veränderung erlitten hätten, daß sie in ihrer jetzigen Form nicht mehr als von Karl May verfaßt gelten könnten; diese Erklärung wurde im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel Nr. 253 vom 19. Oktober 1907 veröffentlicht und muß als die eigentliche ›Ehrenrettung‹ Mays gelten.130

   Das Ermittlungsverfahren gegen ihn dümpelte derweil vor sich hin: Am 11. Oktober 1907 vernahm Larrass eine Zeugin namens Bormann, deren Relevanz schon deshalb nicht festzustellen ist, weil Lebius in seiner Auswahl der veröffentlichungswürdigen Prozeßakten-Bestandteile auf den Abdruck dieser Aussage verzichtet hat - ein sicheres Zeichen dafür, daß diese Vernehmung völlig unergiebig gewesen sein muß. Dann wird Rechtsanwalt Kohlmann, Dresden, am 11. Oktober 1907 herbeizitiert - dieser war von Emma Pollmer am 18. März 1903 mit der Prüfung einer Anfechtung der rechtskräftig ausgesprochenen Scheidung beauftragt worden, der da aber leider keine rechtlichen Möglichkeiten sah und daher ganz froh war, daß ihm alsbald das Mandat entzogen wurde. Dann war am 12. Oktober 1907 sein Sozius Thieme an der Reihe, der aber mit Emma am 17. März 1903 nur flüchtig gesprochen hatte.131 Welche Erklärungen die beiden Herren Rechtsanwälte vor Dr. Larrass an jenen Tagen im Oktober 1907 tatsächlich abgegeben haben, ist unbekannt, weil Lebius ihre Aussagen nicht abgedruckt hat. Wenn alles mit rechten Dingen zugegangen sein sollte, hätten die beiden lediglich mit den Achseln zucken und auf die nicht vorhandene


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Schweigepflichtsentbindungserklärung von Emma verweisen dürfen, an die Dr. Larrass bestimmt nicht herangetreten war.

   Larrass stocherte also mit einer Stange im Nebel - und bedenklich stimmt nur, in welche Richtung seine Ermittlungen gingen und daß er die Scheidungsakten Mays beigezogen haben muß; auch diesen Akten konnte aber sicherlich nicht entnommen werden, daß die Anwälte Kohlmann und Thieme von Emma im Jahre 1903 zwecks Scheidungsüberprüfung konsultiert worden waren: denn sie hatten ja, folgt man ihren späteren Angaben, keinerlei nach außen erkennbare Tätigkeiten für sie entfaltet. Die Frage muß daher offenbleiben, auf welche inoffizielle Weise der Richter überhaupt an diese Zeugen gekommen sein mag.

   Weitere Aktivitäten des Untersuchungsrichters sind nicht ersichtlich, als am 30. Oktober 1907 der Beschluß über eine Briefsperre gegen Emma Pollmer und Karl May verhängt und zugleich Durchsuchungsbeschlüsse gegen beide erlassen werden.132

   Der Inhalt der Strafanzeige und das Resultat der bis zu diesem Zeitpunkt vorgenommenen Beweiserhebungen sind nicht bekannt; dennoch muß im Hinblick auf das Ergebnis des Verfahrens stark bezweifelt werden, daß ein für eine Durchsuchung hinreichender Tatverdacht gegen Emma und Karl vorgelegen hat: die völlig desolate Beweislage war ja von Anfang an ersichtlich - es gab in keinem Verfahrensstadium mehr als die bloße, aus durchsichtigem zivilrechtlichen Interesse resultierende Behauptung, May und die anderen hätten einen Meineid geleistet.

   Unprofessionell wie das gesamte Verfahren wird auch die Vollstreckung der Durchsuchungsbeschlüsse realisiert: statt der gebotenen zeitgleichen Durchsuchung wird bei Emma in Weimar am 7. November 1907 durchsucht, bei Karl May aber erst am 9. November 1907, gar einem Samstag! - theoretisch genug Zeit also für die Mitbeschuldigte, um telegraphisch (wenn schon nicht telefonisch) ihren Ex-Gatten zu warnen, wenn denn das Verhältnis zwischen den Ex-Gatten entsprechend gewesen wäre.

   Die Durchsuchung, die laut Protokoll von 10 Uhr bis 14.20 Uhr dauert133 - und von May als eine Tortur von 8 Stunden Dauer empfunden wird -, ist dann wirklich ein Schock, wie sich aus zahlreichen Schreiben von Karl und Klara May ergibt. Der junge, angesichts der Prominenz seines Opfers zweifellos unsichere Dr. Larrass ist zwar ebenfalls in der Villa Shatterhand anwesend, hält sich aber zurück. Wortführer ist Staatsanwalt Seyfert, den man sich wohl als klassischen Vertreter des geflügelten Wortes von der Staatsanwaltschaft als der ›Kavallerie der Justiz - schneidig aber dumm‹ vorzustellen hat. Es kommt offenbar zu einer Diskussion darüber, wo denn nun Mays Münchmeyer-Beweise seien, die man nicht finden kann. May erklärt zwar, daß Emma, als er auf Reisen gewesen sei, Münchmeyer-Korrespondenz verbrannt habe, dies aber wohl, weil sie geglaubt habe, sie sei wertlos; außerdem habe der angeblich vorhandene Brief von Münchmeyer, der sich explizit mit den getroffenen Abmachungen befasse, niemals existiert. Seine entsprechende


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Behauptung über die Existenz eines solchen Schreibens in seinem Brief an Adalbert Fischer vom 30. April 1899 sei »›eine Diplomatie‹«134 gewesen. Während ein Gerichtsschreiber sogar in der Asche des Kamins nach Beweisen stochert, kommt es zu einem Wortwechsel mit Staatsanwalt Seyfert, der trotz der reichen Beute (das Verzeichnis der ›freiwillig‹ herausgegebenen Gegenstande umfaßt Bl. 88-97 der Gerichtsakten) nicht zufrieden zu sein scheint.

   In seiner Beschwerde von Dezember 1907 gegen Staatsanwalt Seyfert, den May mit der ihm eigenen Menschenkenntnis als spiritus rector dieses Ermittlungsverfahrens erkannt hat, wird Staatsanwalt Seyfert beschuldigt, während der Durchsuchung folgende drohende Sätze gesagt zu haben: »›Nun können Sie es nicht mehr verhüten, daß Ihre Vorstrafen in die Oeffentlichkeit kommen! Darauf machen Sie sich gefaßt.‹«135

   Während der Untersuchungsrichter Larrass sogleich »›Unwahr!‹«136 an den Rand von Mays Beschwerde schrieb, mit Staatsanwalt Seyfert hierüber Rücksprache nahm und ihm die Beschwerde zwecks Stellungnahme zuleitete, bemühte sich Seyfert in einer dienstlichen Erklärung vom 19. Dezember 1907, die Sache aus seiner Sicht darzustellen. Zwar räumt Seyfert eine Auseinandersetzung mit May über die gegen ihn erhobene Beschuldigung ein; sinngemäß habe er aber lediglich gesagt: »›Herr May, die Sache soll eingehend untersucht werden, wir wollen weiter nichts[,] nur Klarheit. Freilich wird es sich zur Feststellung Ihrer Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit nicht vermeiden lassen, Ihr Vorleben von Grund auf aufzurollen.‹«137 Er sei nicht hart an ihn herangetreten und habe auch nicht in drohender Weise gesprochen. Überdies sei eine Erörterung der Vorstrafen in der Öffentlichkeit ja erst erforderlich, wenn Anklage erhoben werde - ob dies der Fall sein werde, sei weder damals noch heute bekannt; und dann fährt er entlarvend emotional fort: »Der Wortlaut, den May der von mir getanen Aeußerung in seiner Eingabe verliehen hat, beweist aber, mit welchem Geschick er es versteht, Tatsachen zu entstellen und zu verdrehen, indem er einen wahren Vorgang in einem wesentlichen Punkte in gänzlich anderem Sinne darstellt.«138

   Selbst die Richter am Landgericht Dresden, die am 12. Juni 1908 auch über die von May als Lüge bezeichnete Erklärung von Larrass, Seyfert habe niemals mit der Veröffentlichung von Mays Vorstrafen gedroht, zu entscheiden hatten, glaubten Seyferts allzu gewundener, lebensfremder und parteiischer Stellungnahme nicht. Sie führten vielmehr aus - und hier muß man zwischen den Zeilen lesen, um den derben Tadel gegenüber dem Richterkollegen wahrzunehmen -:


Daß die Aeusserung, die der Staatsanwalt Seyfert gelegentlich der beim Angeschuldigten May vorgenommenen Haussuchung hat fallen gelassen, verschieden aufgefaßt und gedeutet worden ist, erscheint bei der Erregung, die derartige Situationen mit sich bringen, erklärlich. Wenn andere Beteiligte sie anders ver-


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standen haben, wie Dr. Larrass, so kann daraus doch nicht auf eine Voreingenommenheit oder Parteilichkeit dieses richterlichen Beamten geschlossen werden.139


Er war ja, als junger, unerfahrener Kollege, nur erregt, da kommt es schon mal zu Mißverständnissen ...

   Diese Sätze unter der Überschrift: »In anderen Punkten entspricht die Darstellung Mays zwar den tatsächlichen Verhältnissen, doch sind die Schlüsse, die er daraus zieht, nicht gerechtfertigt«140 sind eine schallende Ohrfeige für Larrass, der ja ausdrücklich die Unwahrheit von Mays Behauptung über Seyferts Ausspruch bestätigt hatte ...

   Wie May später, in seinem hochwichtigen Schriftsatz von Dezember 1907, ausführt, hat Seyfert ihn während der Hausdurchsuchung auch gefragt, wie es denn komme, daß er, May, im Scheidungsverfahren - das also auch Seyfert zu diesem Zeitpunkt schon kannte - so gegen seine Frau, die er am liebsten gleich in Haft nehmen wolle, gesprochen habe, sie hier nun aber verteidige?141 Tatsächlich stellt es ja eine Verteidigung Emmas dar, wenn diese die Münchmeyer-Korrespondenz lediglich aufgrund der Fehleinschätzung ihrer Wichtigkeit verbrannt haben soll. Und eine Verteidigung von Emma ist es auch, wenn May einräumt, daß unter diesen Briefen dieses eine, entscheidende Dokument mit der schriftlichen Bestätigung der mündlichen Abmachungen niemals existiert habe.

   Jene ausnahmsweise berechtigte Frage von Staatsanwalt Seyfert könnte eine neue Initialzündung für May dargestellt haben, sich mit dem Charakter seiner früheren Frau zu beschäftigen, die er jetzt, als Mitbeschuldigte, zu verteidigen hatte und die doch irgendwie an allem Unglück seines Lebens Mitschuld trug. Und auf diese vertrackte Weise hat jenes Ermittlungsverfahren damit zu tun, wie alle die alten Geschichten, die Straftaten und die Haftzeiten, die Kolportagezeit, seine nicht enden wollende Verkettung mit Emma (nun als ›Tatgenossin‹), wieder hochkommen und nach Verarbeitung drängen; nur im Roman gab es für ihn ja die Möglichkeit der Wunscherfüllung - so hatte er 1903 im 4. Band des ›Silberlöwen‹ versucht, sich Emma von der Seele zu schreiben, indem er ihre Spiegelung Pekala bei ihrem Aufbruch in eine neue voluminöse Eßwarenliebe die goldenen Worte sagen läßt: »Mich seid Ihr los, ganz gründlich, gründlich los!« (Silberlöwe IV, S. 558)

   Das Leben will es aber anders, und spätestens nach dieser Hausdurchsuchung wendet er sich der Arbeit an seiner ›Studie‹ wieder oder - folgt man der These eines Beginns der Arbeit bereits im Juni/Juli 1907 nicht - auch erstmals zu. Mit ein wenig spekulativer Phantasie läßt sich aber auf S. 830 der Faksimile-Handschrift der ›Studie‹ feststellen, daß die Niederschrift unterbrochen worden und neu angesetzt sein könnte. Der erste Absatz auf dieser Seite endet mit den Worten: Diese Reise sollte mir wichtiger und verhängnißvoller werden, als ich es jemals für möglich gehalten hätte.


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   Nebenbei: ein schöner Satz, um eine Arbeit einstweilen abzubrechen, denn er erinnert den Autor bei der Wiederaufnahme der Schreibarbeit sofort daran, wie es weitergehen muß - sowohl inhaltlich als auch emotional. Und es ist auch die richtige Stelle, um einstweilen abzubrechen; was jetzt folgt, nämlich die durch Emma forcierte neue Zusammenarbeit mit Münchmeyer im Jahr 1882, katapultiert den Autor mit Macht in die Gegenwart des Münchmeyer-Prozesses, dessen Ende er nicht mehr erleben sollte. Und während der Kur in Bad Salzbrunn war May diesen aktuellen Erschütterungen sicherlich noch nicht gewachsen.

   Das Wort hätte ist mit vollem Tintenstrahl geschrieben.

   Der folgende Absatz: Wir wohnten in Dresden im Trompeterschlößchen, damals ein sehr gutes, besonders von meiner Heimath aus viel besuchtes Gasthaus. beginnt mit einem Wir, in dessen ersten Buchstaben wenig Tinte geflossen ist, als ob neu zur über längere Zeit unbenutzten Feder gegriffen worden sei. Als Beweis für eine monatelange Pause zwischen Absatz 1 und Absatz 2 taugt diese Beobachtung selbstverständlich nicht; aber es gibt weitere Hinweise auf einen veränderten Charakter der ›Studie‹, von denen nachfolgend zu sprechen sein wird.

   Einen so schlichten Zusammenhang zwischen Ermittlungsverfahren und Entstehung der ›Studie‹, wie ihn Stolte konstruierte, nämlich, daß May ›gegen‹ Emma schrieb, weil er sie als Kronzeugin gegen ihn, gar als »tödliche Bedrohung« fürchten mußte, denn sie habe »sich schon vorher in einer sehr feindseligen Haltung gegen ihren ehemaligen Gatten exponiert und zu entsprechenden Äußerungen verleiten lassen«,142 gab es jedenfalls nicht.

   Es trifft bereits nicht zu, daß Emma sich vor November 1907 zu feindseligen Äußerungen gegen ihren ehemaligen Gatten hatte verleiten lassen, sieht man davon ab, daß sie sich natürlich privat bei ihren Freundinnen Dietrich und Häußler (›Kaninchen‹) sowie Selma vom Scheidt ausgeweint, dabei allerdings vorrangig gegen die treulose Verräterin Klara und weniger gegen May gehetzt hatte. Ihr damaliger Rechtsanwalt Dr. Neumann hat vielmehr ausgesagt, daß Emma »außer sich« darüber gewesen sei, daß ihre Freundin Louise Häußler am 9. Oktober 1903 gegen Emmas Willen Strafanzeige gegen Karl und Klara May wegen Betruges im Zusammenhang mit dem Scheidungsverfahren erstattet habe; er habe Emma damals auch nicht empfohlen, die Aussage zu verweigern, habe seiner Mandantin aber die Konsequenzen einer solchen Verhaltensweise, nämlich, daß es dann zu keiner Überführung kommen werde, dargestellt.143 Und Emma, laut Dr. Neumann von »leidenschaftliche(m) Hasse und leidenschaftliche(r) Liebe« zu Karl ergriffen144 - also nicht ausschließlich aus Rücksicht auf die zu diesem Zeitpunkt noch nicht notariell beurkundete, von Klara an sie schenkweise gewährte Rente ab Juli 1903 handelnd -, hatte am 3. November 1903 tatsächlich das Zeugnis verweigert und Rechtsanwalt Dr. Neumann nicht von der Schweigepflicht entbunden, wodurch das Ermittlungsverfahren gegen Karl und Klara beendet war.145


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   Außerdem war die Ehe- und Scheidungsgeschichte für das anhängige Ermittlungsverfahren sowohl objektiv als auch subjektiv von absolut sekundärer Bedeutung: Im Zentrum von Mays Angst und von Mays Empörung stand eindeutig Seyferts Drohung, man werde seine Vorstrafen öffentlich machen. Diese Drohung war von anderer Qualität als die frühere gleichlautende des Privatmannes Lebius, dem es ja nicht gelungen war, Konkretes über Mays Vorleben ans Licht des Tages zu befördern. Da verfügte die Staatsanwaltschaft über andere Mittel und Methoden, sich Vorstrafakten zu beschaffen und diese öffentlichkeitswirksam zu lancieren. Seyfert als Gegner war eine ernsthafte Bedrohung.




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