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Aus Karl Mays literarischem Nachlaß

Von Dr. Max Finke

Als Karl May am 30. März 1912, acht Tage nachdem ihm noch im Wiener Sophiensaale über 3000 Hörer begeistert zugejubelt hatten, ein Paar gütiger und zur Güte verpflichtender Augen für immer schloß, da war es kein feierabendlich Sterben, keins mit dem Bewußtsein, den Werkplan ausgeführt, die Lebensarbeit vollbracht, den Schlußpunkt gesetzt zu haben. Es war ein für unsere nach Kriegskrämpfen erlahmende Zeit wahrhaft vorbildlicher Schaffenseifer, der den nimmermüd in Arbeit Büßenden und Sichreinigenden glaubhaft versichern ließ: » - alle, alle Bücher, die ich, der Siebzigjährige, in meinem langen Leben geschrieben habe, alle meine Reiseerzählungen, alle meine Schöpfungen von Winnetou bis zu Marah Durimeh - sind nur skizzenhafte Vorstudien zu meinen eigentlichen Werken, die ich erst jetzt, im hohen Alter, schreiben werde! Erst jetzt beginne ich! Erst jetzt will ich - dichten!«

Der Tod ereilte ihn mitten in emsiger Vorwärtsbewegung. Noch ist die Arbeit der Nachlaßsichtung nicht vollendet. Neben einer Reihe von Bruchstücken unvollendeter Dramen - darunter »Schêtana« und »Kyros« - liegen Stoffsamm-


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lungen und Vorarbeiten für frühere und noch geplante Werke vor. May wollte zum D r a m a  übergehen. Die bisherige Form seines Schaffens, die vorzugsweise die »Reiseerzählung« war, wurde ihm zu eng, zu unzulänglich. Ein Greis, gedachte er noch, mit großen Würfen die weltbedeutenden Bretter zu erobern, um von höherer Warte, unmittelbarer, lebendiger, weiter und tiefer wirkend, an sein Volk, an die Menschheit die erziehende Frage zu richten: E d e l m e n s c h ,   w o   b i s t  d u ?

1.

Mit der 1906 bei F. E. Fehsenfeld in Freiburg i. Br. erschienenen - leider jetzt im Buchhandel vergriffenen (2) - zweiaktigen arabischen Phantasie »Babel und Bibel« sollte eine ganze Reihe von Dramen beginnen, die zeigen sollten, in welcher Weise die Kunst zwischen Religion und Wissenschaft zu vermitteln hat. Der innere Vorwurf dieser geplanten Anschauungs d r a m e n  sollte der nämliche sein wie der seiner bisher verfaßten Anschauungs b ü c h e r : Die Wandelung des Werte an sich reißenden Ich-Menschen in den Menschen der schenkenen Güte, des tätigen Wohlwollens;  d e s   G e w a l t m e n s c h e n   i n   d e n   E d e l m e n s c h e n . May fühlte sich berufen, ja heilig verpflichtet, wie er als Erzähler die Schundliteratur bekämpft hatte - und mit welchem nachhaltigen, ja immer noch wachsenden und reifenden Erfolge! -,


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so auch für die immer mehr sittlicher Entartung und Verflachung anheimfallende Bühne Pionierarbeit zu leisten. »Babel und Bibel« sollte nach seinem eigenen Worte der »Schneepflug« werden, der die seiner Geistesart versperrte Bahn freimachen sollte. Das Heil deutscher Zukunft ist nicht von Bildungs- und Aufklärungsarbeit zu erwarten. Wie haben gefehlt, wir sind gestrauchelt, schuldhaft geworden, wie es einst der junge May ward. Wenn wir wieder emporkommen wollen, dürfen wir nicht vom Intellektualismus und seiner müden Skepsis Kraftgewinn erhoffen. Wie May sich entsühnte, indem er die ihm auferlegten Freiheitsstrafen rechtschaffen abbüßte, im »Zucht«-Haus den Keim zur Güte züchtete, den er dann während eines arbeitssauren langen Lebens immer mehr entfaltete, so muß auch unser Volk durch Aufruf aller lebensgläubigen Kräfte aus dem Tiefenpurpur des Echt-Religiösen seine völkische Orestie erleben, seine seelisch-sittliche Genesung finden.

Diese »heilige Macht   d e r   w a h r e n   R e l i g i o s i t ä t, die Unwiderstehlichkeit   d e s   w a h r e n   G o t t v e r t r a u e n s, die Forderungen   d e r   e d l e n   M e n s c h l i c h k e i t   und die Möglichkeit eines   v e r n u n f t g e m ä ß e n   V ö l k e r f r i e d e n s« wollte May in »Babel und Bibel« zur lebendigen Entfaltung bringen. May war, obschon für die Seelenkunde des Gewaltmenschentums mit reizbarer Einfühlung als Schriftsteller begabt, überzeugter Pazifist. Die vielfachen inneren Beziehungen Mays zu jenem ernstzunehmenden Pazifismus darzustellen, wäre in einer Zeit leidenschaftlichen


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Streites über Wert und Möglichkeit einer universalen Völkerliga von Reiz und Nutzen, bleibe aber einer späteren Gelegenheit vorbehalten. Auch wäre es jetzt daran, die Aufführung des gedankenreichen Zweiakters endlich in die Wege zu leiten. Seine Bühnenwirksamkeit zu prüfen, scheint mir nicht Sache theoretischer Erörterung, sondern des praktischen Versuches.

»Babel und Bibel« wird noch geraume Zeit im Buchhandel fehlen, bis der Neudruck herauskommen kann. Gerade deswegen werden es viele Leser begrüßen, wenn das Karl-May-Jahrbuch mit der Veröffentlichung der Vorarbeiten des Dichters zu jenem Werke beginnt, das neben Band 30 der gesammelten Werke »Und Friede auf Erden« und neben den beiden Bänden 31 und 32 »Ardistan und Dschinnistan« die Sehnsucht aller Kulturwelt nach dem V ö l k e r f r i e d e n  künstlerisch gestaltet (3).

Es fanden sich im Nachlaß eine Reihe auf »Babel und Bibel« bezüglicher Handschriften mit dem Schlußdatum »Montag, den 1. 10. 1906« und den Ueberschriften:

1. B a b e l   u n d   B i b e l .   P l a n .   E i n   d r a m a t i s c h e s   V o r s p i e l   a u s   z w e i   W e l t e n , das ähnlich, wie Goethe im Vorspiel zu Faust Gott Vater handelnd einführt, A r d , den Herrn der


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Erde, und  M a r a h   D u r i m e h , die Menschheitsseele, außer  K a r a   B e n   H a l e f  und dem   S c h e i k    d e r    D s c h e s i r e h - A r a b e r  auf die Bühne bringt. Man darf annehmen, daß May dieses Vorspiel nach seiner Vollendung einer 2. Auflage von »Babel und Bibel« oder der eigentlichen Aufführung zugedacht ist.

2. B a b e l    u n d    B i b e l - S t r e i t . Enthält wissenschaftliche und sonstige Notizen zu dem durch   D e l i t z s c h  ins Leben gerufenen »Babel und Bibel«-Streit, u.a. aus Werken von H i l p r e c h t ,   H .   W i n k l e r ,   L e h m a n n ,   L e h m a n n - H o h e n b e r g ,    P u d o r . Ein aufschlußreicher Beitrag zu der Arbeitsweise Mays. Er verband mit schöpferischem Zeugungsdrange eine außerordentliche Aufnahmefähigkeit für die scheinbar entlegensten Stoffkreise, sammelte mit Bienenfleiß alles Zweckdienliche, verarbeitete es, nahm es in seinen seelischen Chymus und Chylus auf, um seine Idealwelt ganz mit Wirklichkeitsgeist sättigen, sie mit realen Bausteinen aufbauen zu können. Gerade der Vergleich dieser Aufzeichnungen mit dem ausgeführten Zweiakter zeigt, wie wenig May den gegen ihn erhobenen Vorwurf des Plagiates, also des dichterischen Diebstahls, verdient. Was er »entlehnte«, gestaltete er in organischem Wachstumsprozeß um,   e r l e b t e   er, ja verlieh ihm durch seine eigenartige persönliche Gestaltung erhöhtes Leben, farbigere, tiefere Wirksamkeit. Auch dieses in einer Zeit berechtigten Kampfes um das Recht der geistigen Urheberschaft doppelt wichtige Thema: »War Karl


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May ein Plagiator?« gehört in den Aufgabenkreis der künftigen Bände des Jahrbuches (4).

3.   » B a b e l    u n d    B i b e l « .    S k i z z e .

a) konkrete Tatsachen.

b) Abstraktes, Metaphysisches und Symbolisches.

c) (Ohne Ueberschrift): Ueber Ziel und das innere Wesen von »Babel und Bibel«.

d) Zur Bedeutung der Namen.

e) Innere Handlung: Sonstige Bemerkungen zu »Babel und Bibel«, betreffend Schauplatz, Deutung des Symbolhaften, Szenarisches, Mission des Ganzen.

Wir veröffentlichen im vorliegenden Jahrbuche Nr. 1 und 2 dieser Aufstellung, Nr. 3 behalten wir aus Platzgründen dem folgenden Bande vor.

1. Babel und Bibel. (Plan.)

Ein dramatisches Vorspiel aus zwei Welten.

P e r s o n e n .

Kara Ben Halef, der Scheik der Haddedihn, vom Stamm der Schammar.
Marah Durimeh, die Herrin von Kulub.
Ard, Herr der Erde.
Der Scheik der Dschesireh-Araber.
Marah Durimeh, die Menschheitsseele.

Scheik kann den höheren Zweck der Ausgrabungen nicht begreifen, glaubt, man grabe nach Schätzen.

Es gibt allerdings eine Sage, daß hier Schätze verborgen liegen. Er verhält sich feindlich zu ihnen. Da schickt Halef seinen Sohn, ihn aufzuklären.


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S c h e i k : Wie, wenn nun Gott die Poesie uns sendete, uns aufzuklären über ... Kein Mensch würde ihr glauben. So glaube ich dir auch nicht. Du bist Poet, und Poeten sind Phantasten.

Als die Poesie verschwunden war, trat die Verwirrung ein. Vorsitzender empfiehlt strengste Prosa, Wissenschaftlichkeit, Objektivität. Strengster Ausschluß der Phantasie.

Erste Szene Versammlung der Grabenden. Vorzeigen der Funde. Alle Nationen und Kulte anwesend.

Ihr schüttet nächtlich zu, was sie am Tag geöffnet.

Die Gräber suchen mit ihrer Wissenschaft vergeblich nach der Bibliothek des Alim. Kara findet sie durch Inspiration.

Wir würden wohl usw.! Jedoch die Angst vor den Konsuls und der fremden Macht!

Laßt sie nur immer graben, denn was sie finden, finden sie für uns. Der Fund bringt ihnen Tod.

Drei Ruhetage (haben sie von heute an) sind drei Seligkeiten.

(Das schwebt und schwebt.) Das will sich greifen lassen.

(Und kommt doch nicht herunter.) Und kann doch nicht ganz heran.

»Der Herr allein stand in dem eigenen Licht.
Da sprach das Licht . . .«

E r d e : So hört: Des Raumes Seele ist die Zeit,
Und stirbt der Raum, wird sie zur Ewigkeit.
Drum ist hier jedermann darauf bedacht,
Daß sich die Ewigkeit bei uns nicht mausig macht,
Denn, lassen wir sie nicht zu uns herein,
Wird's umgekehrt: wir werden ewig sein.

S c h l u ß w o r t : 

Heut ist der Tag der tausend Seligkeiten,
Der große Tag, den unser Herr gemacht.
So laßt uns denn zur Erde niederschreiten.
Es werde Licht - - - (Glocken klingen)
                                    Der Mensch ist aufgewacht!

Beim letzten Kampf um Kara erscheint Marah Durimeh, stellt sich zwischen und ruft Ard zu:


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Dein ist die Erde, aber nicht der Mensch.
Ich bin der Mensch, der nach der Wahrheit sucht
Und nach dem Ort, an dem ich ihr begegne.
Im Paradies hat mich der Herr verflucht,
Daß er mich hier nun in der Hölle segne!
                                    (Kam in d. Schweizermühle 9./10. 8. 05.)

Der blendend weiße Wüstensand verwandelt sich in schwarzes Früchteland (es Sawâd). Streck I. 4.
Wir spielen nicht, was wir uns selbst ersinnen;
Wir spielen das, was uns das Leben gibt.
Wir spielen auch das nach, was ihr uns vorgespielt.

Entdeckungen haben   e t w a s    B e r a u s c h e n d e s .
Denk nicht, es werde leichthin hier gewürfelt, wie - - -

Winkler, Babylon. Kultur 41.
Gefangene Gelehrsamkeit.
Materialisten.
Freie Wissenschaft.
Idealisten.
Begeisterung.
Phantast.

A r d : »Was ist der Mensch?«

K a r a :  »Der Mensch ist eine Monarchie, regiert vom Geist.«

A r d :  »Verdammt, das weiß der Kerl! Wo aber bleibt die Seele?«

K a r a :  »Sie ist die Sultana ...
Und alles, was sich tiefer unten regt - -

A r d :  »Das ist der Plebs, der - - -

K a r a :  »Das ist das Volk, auf dessen starken Schultern, der Thron des Herrschers ruht. (Das Verhältnis des Herrschers zu den Leidenschaften des Volkes; hat auch seine eigenen.)

Folgt uns hier aus dem Land gefangener Geister

Hinauf ins Reich der freien Poesie.

Schande, nur einen Augenblick in der Stadt zu wohnen!!!

Schammar = Ansar,

Da konnte man noch schlafen.

Humuskissen. Urwald = Lagerdecke. Man schlief Jahrhunderte


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lang (5) . Man wachte nur für Augenblicke auf, wenn kämpfende Gebirge einander anbrüllten oder Ozeane in wilden Träumen schnarchten. Kam mir ein Mastodon quer über die Nase gelaufen oder eine Urweltechse in das Ohr gekrochen, ich fühlte es nicht, das winzige Ungeziefer.

Heut aber irritiert mich jeder Menschenfloh. Man schläft überhaupt nicht mehr; man ist nervös geworden. Jetzt ackert mir die Menschheit übers Lager und pflanzt mir Zuckerrüben, Kartoffeln oder Gerste in das Bett. Und gar die Decke, wie hat man die zerrodet! Der schöne Filz ist hin. Und was noch übrig ist, das stinkt nach Latrinenjauche und Agrikultur. Lege ich mich trotzdem hin, so spieße ich mir einen Kirchturm in das Fleisch oder es rattert ein Schnellzug unter mir hin. Das halte der Teufel aus, nicht aber ich!

Steine, Pflanzen, Tiere, die können nichts verraten. Die lasse ich noch gelten. Aber die Menschen! Die denken nach, die stecken ihre Nase in alles. Sobald ein Mensch mir hier in diese Bude kommt, bin ich verloren. Das ist eine alte Prophezeiung.

Wohlan zum Kampf! Heut wurde präludiert, doch morgen schon ...

Man läutet auf der Erde. Karfreitag - Tag der Qual.

K a r a : »Schattenbilder? Die sollt ihr haben. Doch wer den Schatten sehen will, der hat das Licht mit in den Kauf zu nehmen. Wir zeigen euch also zuerst ...«

D e r    D u f t ,   d e r   ü b e r   d i e s e m   S t ü c k e   ruhen soll: Der Scheik haßt das Abendland. Und Marah Durimeh: Der Geist ging von euch fort, nach Westen. Ich ging ihm nach, ihn euch zurückzuholen, den Menschengeist. Er stand im Abendrot. Er kehrte um und kam mir entgegen, hochgestaltet und leuchtenden Angesichts.

Ard ist dem Menschengeiste tributpflichtig.

Will sich aber freimachen.

B a b e l :  Erst wollte ich nicht. Ich sträubte mich. Ich hielt es für verrückt. Nun aber ...


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Babel und Bibel-Streit

I .    H i l p r e c h t . Die Ausgrabungen im Bel-Tempel zu Nippur, S. 4.

Man hat Wissenschaft und Offenbarungsreligion mit einander verquickt und wird die Konsequenzen davon tragen müssen.

Gott offenbart nicht Lehren und Wahrheiten, sondern Gott offenbart sich selbst.

                                 Gegensatz
Verbalinspiration ----------------- - organische Auffassung.
                                heil. Schrift

Sterne 420. 10. Altebaran = Jeremias »Im Kampfe« 29. 37. 40. 41. 42. Alte Testament: 329. 335.

El = Gott, El-Schaddai, Gott der Allmächtige.

Die Vorfahren Moses und Abraham verehrten den »Gott  a l l e r  Menschen«; sie bekamen dann  » i h r e n «  Gott. Also ganz so, wie jetzt die Katholiken auch »ihren eigenen« Gott und Erlöser haben.

Gebet der Assyrer. 420. 25. (Hommel.) Engel des Himmels.

Engel des Abgrunds. Winkler »Babyl. Kultur« 28.

Das Gesamtbild unserer heutigen geistigen Bestrebungen ist zweifellos das der  Z e r f a h r e n h e i t .

Wir wollen nicht Zerstreuung, sondern Sammlung, nicht Entzweiung, sondern Vereinigung!

Laßt Glocken läuten, alle Erdenglocken!

Wir dürfen nicht zerstreuen, wir müssen sammeln. Wo alle Himmel ihrem Herrn frohlocken, versuch' die Menschheit wenigstens zu stammeln!

B a b y l o n :   W e l t a n s c h a u u n g 

H u g o   W i n k l e r . »Die babyl. Kultur.«

N u b a t t u m , der Unglückstag, der durch Gehorsam gegen Gottes Führung zum Segenstage wird. Jeremias, »Im Kampfe« 36.

I I .   H ö l l e   u n d   P a r a d i e s . Jeremias. (Irkalla 15.)

N e r g a l t e m p e l  v. Kutha. 17. Wenn er einst ausgegraben sein wird, werden wir Neues über babyl. Höllenphantasien erfahren. 3.

Unterarme der Leiche nach oben gerichtet. 9.


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Aralu Totenwelt 14.

Sie wollen die Unterwelt zertrümmern! Kraftszene! 15.

Da liegen am Boden Kronen 16. (Bild.)

Totenbefrager 20.

Ea, der Obermagier unter den Göttern. 26

Adapa (Bibliothek) 27.

»In Linnen von Eridu gehüllt«, 30. (Ausdruck!)

Marduk, der große Aufseher der himml. Geister. 30.

Seele, Leiche 31.

I I I .   W i n k l e r . Abraham als Babylonier.

                              Josef als Aegypter.

D e r   M e n s c h   s o l l   n i c h t   a u f   d i e   h e r a b b l i c k e n ,   d u r c h   d i e   e r   w u r d e ,   w a s   e r   i s t ! 

Abraham der Chelilu 'llah. Der  F r e u n d   G o t t e s . 7.

Die Summe des Lebenswerkes führender Geister vermag die Menschheit nicht im engen Zeitraume eines Menschenlebens zu ziehen. 24.

Für den Orient ist die Religion die geistige Begründung und Erklärung aller Weltordnung.

Der religiöse Mittelpunkt war von der 1. Dynastie an Babel.

Im älteren Reiche gab es zwei Mittelpunkte: Ur und Harran. Abraham war also Anhänger der  ä l t e r e n  Religion.

Die Götterspitze ist der Gott der Völker- oder Menschheitsspitzen!

I V .   L e h m a n n . Babyloniens Kulturmission.

F e u e r p o s t  11.

V .   L e h m a n n - H o h e n b e r g . Naturwissenschaft und Bibel 423.

Wir stehen im Morgengrauen eines anderen Weltentages 1.

Fernstenliebe 30.

Edelmenschen 30.

V I .   P u d o r .   B a b e l  -   B i b e l .

Welch eine ungeheure Spanne Zeit muß der Menschheit vor dem fünften Jahrtausend zugestanden werden, bis sie jene Werke der Kunst zu schaffen befähigt war!


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Außerordentliche Schamhaftigkeit der babyl.-assyr. Kunst. Nackte männliche Figuren finden sich nie, weibliche sehr selten.

Winkler.  G e s e t z   H a m m u r a b i s .

V I I .   S i n t f l u t u r g o l  42.

Marah Durimeh erzählt dem Babel: »Die Zeit ist die große Flut.«

Da plötzlich steigt es auf; es rollt und rollt heran. Herr hilf uns, wir verderben! Das ist die Zeit, die fürchterliche Zeit! Die alles, was zu messen ist, vernichtet und verschlingt! Und doch, und doch! Sie kam von Gott und rollt zu ihm zurück. Die Sintfluthügel fraßen nur die Körper, die sich weigerten, zu Geist zu werden...l

(Scharf nachdenken!)

»Ein ganz verrücktes Weib!« ruft Babel aus.  I I .   A k t . 

Die Zeit, die Flut, die uns die Sünde brachte und sie auch wieder mit sich nimmt.

         Wohl dir, wenn du die Zukunft schaust
         Und fleißig an der Arche baust.

V I I I .   J e r e m i a s ,   M o n o t h e i s t i s c h e   S t r ö m u n g e n . 

Gudea: Kein Verständiger wird den Tempel eines Zauberers betreten. 5.

H e p t a g r a m m  7.

Schicksalstafeln 8.

Bücher der Urzeit, die vor der Sintflut vergraben wurden. 8.

Hiervon spricht Babel. Marah sagt: »Dieses Buch, das ist das Firmament.«

Babel: »Diese Frau, die ist verrückt!«

Sintflut ist eben die Zeit.

Der Raum war geschaffen und belebt worden; dann kam die Zeit. Sie trennt sich von der Ewigkeit; das ist »Sünde«, der Irrtum, der sich an dem Ewigen vergeht, um scheinbarer zeitlicher Vorteile willen!

I X .   H i l p r e c h t . Ausgrabungen I.

Al Adschur, Backstein.12.

Etagenturm Ziggurat. 117. 140.

Königl. Ueberschrift. 117.


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2.

Charakteristisch für die hohe Auffassung Mays von der Zukunftsbedeutung der K u n s t , die berufen ist, alle bisherigen »Schattenspiele« abzulösen, ist der folgende  6 .   K u n s t b r i e f   vom 15. April 1907. Band 34 der »Gesammelten Werke« »Ich« enthält S. 241 - 266 die ihm vorangegangenen fünf anderen Kunstbriefe (1906/07). Dieser 6. wurde erst nach Herausgabe des »Ich«-Bandes aufgefunden. Er ist, wie die übrigen, an  L e o p o l d   G h e r i  (6), damaligen Schriftleiter des Innsbrucker »Kunstfreundes« gerichtet und blieb unabgeschickt, da Gheri die Redaktion niederlegte. May hatte 12 Kunstbriefe geplant, die monatweise, anfangend mit dem 2. Oktober 1906, im »Kunstfreund« veröffentlicht werden sollten. Außer in seiner Selbstbiographie und an vielen Stellen seiner Werke hat May sich zusammenhängend über seine Kunstauffassung in seinem letzten Wiener Vortrag (7) geäußert.

Sehr geehrter Herr Redakteur!

Wir stehen im April, jenem wetterwendischen Monat, dessen meteorologischen Behauptungen nie zu trauen ist; aber schließlich macht er die Prophezeiung,  d a ß   d e r   F r ü h l i n g   k o m m e n   w e r d e , doch immer wahr. Das Aprilwetter ist berühmt oder vielmehr berüchtigt. Da heißt es:


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Bald so, bald so! Aber wirklich verlassen kann man sich auf nichts, nicht einmal auf die Stunde, in der man lebt!

Ich meine, solchen April haben wir jetzt überhaupt, nicht nur in physikalischer Beziehung. Auf allen Gebieten alle möglichen Witterungen. Man kennt sich fast nicht mehr aus. Jeden Augenblick einen andern Wind. Barometer und Thermometer gefallen sich in Schulknabenstreichen. Wenn es schneit, ist es Wasser; wenn es regnet, ist es Schnee. Und scheint einmal die Sonne, so zieht man Hand- und Filzschuhe an, um nicht zu frieren - in Handel und Wandel, in der Politik, in der Wissenschaft, in der Kunst, ja sogar in der Theologie, die man augenblicklich fast mit einem Wetterhäuschen vergleichen möchte, aus dem bald der Herrgott und bald der Teufel, bald der Glaube und bald der Unglaube vor die Türe tritt. Man könnte an allem Gewesenen, Seienden und Erwarteten irr werden, wenn man nicht ganz genau wüßte, daß grad diese vielgestaltete Unzuverlässigkeit das sicherste Zeichen des nahenden Frühlings ist, wie im innern seelischen und geistigen Leben, so auch im großen, äußern Leben der Völker.

Auch die neuere Kunst steht im April. Es wäre überflüssig, dies besonders nachzuweisen. Aber dieses scheinbar unbeständige Stürmen, Stöbern, Wallen und Wehen ist kein schlimmes, sondern ein gutes Zeichen. Es ist ein Beweis des Lebens, der gärenden Zukunftskräfte, die nach Erlösung, nach Gestaltung streben. Geben wir ihnen Raum, lassen wir sie frei, so sprießt und grünt und blüht es allerorten und alles das, was uns als überraschende, vielleicht sogar als unberechtigte Sonderheit erschien, wird in die duftende Harmonie gezogen und stimmt in den allgemeinen Jubel ein, daß die große Zeit der Renaissance noch nicht vorüber sei,  s o n d e r n   h ö c h s t w a h r s c h e i n l i c h   e r s t   n u n   b e g i n n e . Denn die Perioden der Kunst spannen weiter, als man glaubt. Wer da meint, sie mit kurzen Jahrzehnten abfinden zu können, der irrt. Wer so Riesiges zu erreichen hat wie sie, bewegt sich nicht im Schritt der Zwerge, und ein Künstler ist nur dann als groß zu bezeichnen, wenn er nicht für die nächste Nähe, sondern für Entfernungen schafft.


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Und ein Lehrer der Kunst steht nur dann am rechten Platze und kann nur dann Bedeutendes erzielen, wenn er sich immer vor Augen hält, daß der Kunstbegriff nicht standesamtlich festzulegen ist, sondern sich mit den Jahrhunderten wandelt, weil er die Aufgabe hat, mit der Menschheit ununterbrochen in höhere Jahrtausende emporzusteigen. Darum kommt es vor, daß einer, der sich auf der Höhe glaubt, schon überwunden in der Tiefe liegt, und daß ein anderer, den er weit unter und hinter sich wähnt, ihn längst überholte und grad derjenige ist, dem er unterlag.

Was ist Kunst, und wer ist ein Künstler? Jedermann glaubt, die Antwort hierauf zu wissen, und doch ist es sehr leicht möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß keiner von uns allein sie weiß. W a s   i s t   K u n s t ,   i s t   g a n z   g e w i ß   e b e n s o   e i n e   T i t a n e n - F r a g e   w i e :   W a s   i s t   G l a u b e ? Sie ist himmelstürmennd, Wer noch nicht bewiesen hat, daß er Titane ist, der sollte sich hüten, zu glauben, daß er diese Frage lösen könne. Und hätte er es bewiesen, so müßte man ihn daran erinnern, daß es sogar auch den Titanen nicht gelang, den Sitz der Götter zu erreichen. Auch deutet das Wort Titane mehr auf praktisches Können als auf theoretisches Wissen. An der Unzulänglichkeit und dem Unverständnis der Theorie sind schon viele zugrunde gegangen, an der künstlerischen Tat aber wohl noch keiner. Die Kunst ist überhaupt nur Tat. Sie entsteht im Innern. Je größer und wertvoller sie ist, desto langsamer und bedächtiger reift sie nach außen heruas. Sie braucht Zeit, wie alles andere, ja, oft mehr Zeit als alles andere.  U n d   d i e s e   Z e i t   m u ß   m a n   i h r   g e w ä h r e n ,   o h n e   d r e i n   z u   r e d e n ,   o h n e   s i e   z u   s t ö r e n . Heutzutage aber ist es zur Gewohnheit geworden, über jedes Ei, kaum daß die Glucke es legte, in Eile herzufallen, um zu bestimmen, ob es ein Hühnchen, ein Hähnchen oder wohl gar ein Karnickel sei. Dann legt man es nicht der Henne, sondern dem künstlichen Apparate unter, und was da herauskommt, wird in irgend einem gedruckten Kunst-Restaurant als Back- oder Bratbhänderl mit Buttertunke und Beigemüse verspeist. Die meisten aber kommen noch nicht einmal in den Brutofen,


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sondern sie werden schon als Ei genossen, mit oder ohne Konfitüre. Man hat verlernt, zu warten. Wer mit achtzehn Jahren beginnt, ist mit zwanzig schon berühmt oder abgetan. Man läßt nicht reifen. Man schüttelt die Bäume zu früh. Daher das viele unreife Obst, auf das aber hunderte von Unternehmern warten, um es zu Gelee oder Marmelade einzukochen und an den Mann zu bringen. Damit züchtet man - fast hätte ich gesagt, Dilettanten, und damit etwas ganz anderes getroffen, als ich treffen wollte. Dilettanten sind achtbar, sind nützlich, sind uns nötig. Ich meinte vielmehr: Man züchtet ein künstlerisch impotentes Laientum heran, das sich einbildet, Kunst-Priesterschaft zu sein und in das Heiligtum zu gehören. Die Menge dieser an sich ganz braven Leute wächst von Tag zu Tag. Sie schwillt an. Sie füllt die Spalten der Zeitungen, der Blätter, der Revuen, der Journale und wie das alles heißt. Wer es nicht besser weiß, der glaubt wirklich an das »Volk von Denkern und von Dichtern«, als das man sich in diesen Kreisen betrachtet. Aber den wirklichen Denker lehnt man ab, und der wahre Dichter und Künstler wird entweder, wenn er nicht starke Ellbogen hat, von der Menge erdrückt oder er muß jahrzehntelang mit allen möglichen Widerwärtigkeiten und Hindernissen kämpfen, ehe es ihm einmal gelingt, sich bemerklich zu machen.

Dabei kommt der Kunstbegriff, anstatt im Kurs zu steigen, ins Fallen. Er verliert immer mehr an Inhalt und an Wert. Er strebt nicht mehr in die Höhe, sondern er fließt in die seichte Breite auseinander. Wer in dieser Seichtheit auf Händen und Füßen paddelt, es aber versteht, als wirklicher Schwimmer zu erscheinen, der ist der Held des Tages und wird um so lauter bewundert, je mehr er den Schlamm vom Boden rührt und das klare Wasser trübt. Jede besondere Kapriole erhält besonderen Lohn. Hierdurch verändern und verschieben sich die künstlerischen Maße. Sie werden kleiner. Die Ansprüche sinken. Das Auge gewöhnt sich derart an das Niedrige und Geringe, daß alles, was darüber hinausreicht, in die Gefahr kommt, als bedenklich und abnorm zu erscheinen. Man hört auf, dem Höheren,


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dem Großangelegten zu trauen. Ich glaube ja, daß der gute Wille und wohl auch das gute Gewissen vorhanden sind, aber indem man bei jedem einzelnen Schneeglöckchen stehen bleibt, um es als Frühlingswunder anzustaunen, hat man kein Auge für das gewaltige Knospen und Treiben hoch über diesen nebensächlichen Unbedeutendheiten, kein Ohr für den prophetisch sausenden und brausenden Chor der Lüfte und kein Verständnis für das wachsende Schwellen und Quellen im eigenen Herzensinnern.

Und wir haben doch schon April! Und es soll doch Frühling werden. Und wer nicht an eine Wiedergeburt, an eine Renaissance glaubt, der sage: Neugeburt; auch das ist richtig! Wir spüren ihren Hauch. Sie ist schon wahr, sie steht schon vor der Tür.  D e n n   d i e   S ü n d e r   m e h r e n   s i c h . Das ist das untrüglichste Zeichen, daß sie kommt. Die Wasser quellen. Auf den Waldwiesen platzt der Rasen. Das Neue bricht hervor. Die alten Rinnen und Furchen können es nicht fassen. Die Gräben werden zu eng. Alle Röhren und Mulden laufen über. Die Dämme reißen. Die Quellen werden zu Bächen. Sie achten nicht der bisherigen Ufer, sondern sie suchen sich neue Wege. Was ihnen hinderlich ist, wird zur Seite geschwemmt, wo es nichts mehr gilt, oder mit fortgenommen.  D a s   s i n d   d i e   S ü n d e r ,   a u c h   i n   d e r   K u n s t . Sie stammen nie aus niedriger Gegend, sondern stets aus dem Hochlande. Bei ihnen gibt es keine Bedenken. Sie lassen sich nur von ihrer eigenen Schwerkraft leiten. Andere Gesetze kennen sie nicht. Das Alte ist ihnen nur dann heilig, wenn es sie nicht hindert, sonst zerstören sie es oder graben sich andere Wege. Um sie an der Arbeit zu sehen, genügt es, in der heutigen Gegenwart Umschau zu halten. Früher durften sich nur Grandseigneurs, wie z. B. Goethe, gestatten, einen eigenen künstlerischen Willen zu haben. Heut ist das schon gewöhnlicheren Sterblichen erlaubt, dann man sieht, daß ihrer zu viele sind; man kann nichts dagegen machen. Die alten Regeln platzen. Die Gesetze werden morsch und fallen stückweise ab. Welcher Dramatiker glaubt noch an Gustav Freytags Technik? Man munkelt sogar von einem immer größer werdenden und sich


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immer weiter verbreitenden Zweifel an der Legitimität der jetzigen Regierungen im Reiche der Kunst. Der Respekt will schwinden. Man erlaubt sich, zu ketzern. Man wagt es, zu behaupten, daß der Natur des Göttlich-Menschlichen eine größere Autorität zukomme als den Konservatoren veralteter Anschauungen, die, selbst wenn sie aus Griechenland stammen, für unsere Zeit nicht mehr passen. Man behauptet, daß die von dieser Seite krampfhaft festgehaltene Kunst nicht mehr als  n a t ü r l i c h , sondern als  e r k ü n s t e l t  erscheine. Die wahre und die einzige Quelle der Kunst sei das Leben, aber  g r a d   d i e s e s   L e b e n   h a n d l e   n a c h   k e i n e m   e i n z i g e n   d e r   g e g e n w ä r t i g e n   K u n s t g e s e t z e . Seit die Erde steht, habe sich niemals irgend ein Ereignis in der Weise abgespielt, wie die Theorie es z. B. für die Kunst des Romanciers oder des Dramatikers gebietet.

Es ist richtig, daß derartige Darlegungen nicht unberechtigt sind. Man braucht sich von der Kunst und ihren Bedingungen keineswegs loszusagen, um neue Quellen springen und neue Wasser stürzen zu sehen. Die Axt schallt durch den Wald. Es wird abgeholzt, und frische Schonungen entstehen. Das düstere Nadeldickicht soll zum hellen Park, zum frohen Laubforst werden. Da sind wohl andere Maße und andere Formen und andere Farben nötig, nicht theoretisch ausgeklügelt und auch nicht konventionell gebieterisch oder gar diktatorisch prahlend, sondern der Natur im innigen und liebevollen Verkehr abgelauscht und der längst ersehnten, segensreichen Zeit entsprechend, der wir entgegengehen.

Ich sehe es schon blühen! Nicht nur in Garten, Feld und Hag, auch in der Kunst. Und das gibt dieses Mal ganz andere Knospen als die gewöhnlichen, alljährlichen! Sie sind von ganz besonderer Art und lassen auf Früchte schließen, die vorher nie geerntet worden sind. Und herzerhebend ist dabei, daß es grad an den Stellen am meisten, am schönsten und am hoffnungsvollsten blüht, die man bisher für unfruchtbar, für zurückgeblieben, für inferior gehalten hat. Da gilt es, unseren Blick nach vorn zu richten, vom Winter und über den eingetretenen Lenz hinweg in die kommenden Sommermonate hinein. Zwar ist nichts pietät-


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voller als die Kunst, und wir sind sehr gern bereit, der Vergangenheit ihren vollsten Wert zu zollen; aber wir haben der großen Männer mehr als genug, die dieses für uns alle tun, und fühlen uns berechtigt und verpflichtet, nun auch auf das, was nahen will, zu achten. Die jungen Künstler der Gegenwart streben alle der Zukunft entgegen. Keiner von ihnen ist so vergangenheitstrunken, daß er vor der »alten Zeit« und ihren steinernen Gesetzestafeln im Staube liegt und den Ruf nicht hört: »Mache dich auf und werde Licht!« Es scheint die Zeit gekommen zu sein, in der, wer groß werden will, auch in der Kunst, sich nicht mehr rückwärts, sondern vorwärts zu wenden hat. Und wenn wir unumwunden zugeben, daß wir in religiöser Beziehung alle unsere Hoffnung in die Zukunft richten, so ist es doch wohl selbstverständlich, daß auch die Kunst nicht nach dem vergangenen, sondern nach dem zukünftigen Leben strebt, das mit uns auch ihr verheißen worden ist.

Die griechische Kunst erreichte nur den mythologischen Himmel. Die heutige Kunst hat es nicht mit Göttern, sondern mit Menschen zu tun, die vom Staube zu erlösen und hoch über den »Olymp« emporzutragen sind. Das tut der Glaube, der zum Schauen führt. Der Kunst aber fällt die herrliche Aufgabe zu, uns die Seligkeit dieses Schauens vorahnen zu lassen, indem sie uns die irdische Form vergeistigt und beseelt. Man mag diese ihre Aufgabe begreifen oder nicht, sie wird sie lösen, wenn nicht durch uns, so dann durch andere, die nach uns kommen und einsichtsvoller sind als wir.

Radebeul-Dresden, den 15. April 1907.               Karl May.

3.

Kennst du die Nacht, die auf die Erde sinkt
Bei hohlem Wind und scheuem Regenfall,
Die Nacht, in der kein Stern am Himmel blinkt
Kein Aug' durchdringt des Nebels dichten Wall?
So finster diese Nacht, sie hat doch einen Morgen.
O lege dich zur Ruhe und sei ohne Sorgen.

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Kennst du die Nacht, die auf das Leben sinkt
Wenn dich der Tod aufs letzte Lager streckt
Und nah der Ruf der Ewigkeit erklingt,
Daß dir der Puls in allen Adern schreckt?
So finster diese Nacht, sie hat doch einen Morgen.
O lege dich zur Ruhe und sei ohne Sorgen.
Kennst du die Nacht, die auf den Geist dir sinkt,
Daß er vergebens um Erlösung schreit,
Die schlangengleich sich ins Gedächtnis schlingt
Und tausend Teufel ins Gehirn dir speit?
O sei vor ihr ja stets in wachen Sorgen,
Denn diese Nacht allein hat keinen Morgen.

In vorstehendem Gedicht aus Karl Mays Nachlaß werden die Sattelfesten seiner Gemeinde einen alten Bekannten wiedererkennen. Es findet sich im 2. Bande des »Winnetou«, S. 32. Der Winnetou-Kenner wird sich vielleicht des Zusammenhangs erinnern.

In New Orleans verliert May die Spur der beiden Flüchtlinge, W. Ohlerts und seines Verführers. Er findet sie wieder mit Hilfe eben des hier faksimilierten Gedichtes, das er gegenüber der im Nachlaß gefundenen Fassung stellen- bzw. wortweise geändert in der bereits damals in New Orleans erscheinenden »Deutschen Zeitung« las; d. h. nach der Darstellung des Dichtwerkes, also nicht in Wirklichkeit. Es war unterzeichnet mit »W. O.«, den Anfangsbuchstaben des Gesuchten und überschrieben: »Die fürchterlichste Nacht.« May sagt selbst: »Die Ueberschrift glich der Kapitelüberschrift eines Schauerromanes.« (Winnetou II, S. 31.) Das Gedicht (8) lautet in der Winnetou-Fassung:


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D i e   f ü r c h t e r l i c h s t e   N a c h t ! 
Kennst du die Nacht, die auf die Erde sinkt
Bei hohlem Wind und schwerem Regenfall,
Die Nacht, in der kein Stern vom Himmel blinkt,
Kein Aug' durchdringt des Nebels dichten Wall?
So finster diese Nacht, sie hat doch einen Morgen;
O lege dich zur Ruh, und schlafe ohne Sorgen!
Kennst du die Nacht, die auf das Leben sinkt,
Wenn dich der Tod aufs letzte Lager streckt
Und nah der Ruf der Ewigkeit erklingt,
Daß dir der Puls in allen Adern schreckt?
So finster diese Nacht, sie hat doch einen Morgen;
O lege dich zur Ruh, und schlafe ohne Sorgen.
Kennst du die Nacht, die auf den Geist dir sinkt,
Daß er vergebens nach Erlösung schreit,
Die schlangengleich sich um die Seele schlingt
Und tausend Teufel ins Gehirn dir speit?
O halte fern dich ihr in wachen Sorgen,
Denn diese Nacht allein hat keinen Morgen!    W.O.

Man möge die von der Verfolgung Gibsons und Ohlerts und der endlichen Unschädlichmachung des Hochstaplers und Rückgabe des Sohnes an den Vater handelnden vier ersten Kapitel des 2. Bandes Winnetou (Als Detektive. - Die Kukluxer. - Ueber die Grenze. - Durch die Mapimi.) selbst wieder einmal durchblättern. Die Fülle der in dieser Detektivgeschichte offenbarten Gestaltungskraft, der Handlungsreichtum der Erzählung reizen dazu. Ich erinnere nur daran, daß Gibson, der sich im Besitze der Legitimationen des geistesgestörten und von ihm hypnotisierten William befindet, dessen Namen angenommen hat, um als Sohn eines bekannten Bankiers überall den Kredit der Banken in Anspruch


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nehmen zu können. Dies gelang ihm umso leichter, als ja dem echten William, um psychiatrisch zu reden, das Ichbewußtsein »abreagiert« war.

May benutzt nun die drei Gedichtstrophen (9) dazu, um in dem Irren dieses Ichbewußtsein wieder wachzurufen. Er las die erste Strophe vor. Es gelang nicht. Ebensowenig bei der zweiten. Erst als er mit lauter Stimme die bilderreichen letzten vier Zeilen der dritten Strophe vorgelesen, flackerte mit der Erinnerung das Ichbewußtsein des Irren hell auf, freilich, um alsbald wieder zu erlöschen. Die Heilung gelingt erst später mittels eines - Kolbenhiebes, der die poetische Wahnsinnsmonomanie erschlagen zu haben schien, und durch die Kunst des Ordensbruders Benito in Chihuahua. Es sei nur noch hinzugefügt, daß bei der Unternehmung der lang vermißte Bruder Williams in der Gestalt des Gambusinos  H a r t o n  gefunden und daß der alte Scout  O l d   D e a t h ,  der an der Verfolgung und Auffindung des Schurken Gibson hervorragenden Anteil genommen, infolge eines Mißverständnisses von der Kugel eines Freundes getötet wird.

Soviel zu dem Zusammenhang, in den Mays Erzählergabe unser Gedicht hineinverflochten hat.

Das hier faksimilierte Gedicht wurde von dem Leiter des Karl-May-Verlages, Dr. E. A. Schmid, kurz nach Mays Tod im Nachlaß vorgefunden. Das


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Original ist sehr vergilbt und anscheinend uralt. Dieser Umstand und vor allem die Beurteilung der Handschrift und des Inhaltes legen den Schluß sehr nahe, daß es während der schlimmsten Zeit entstanden ist, die May erlebte (10), nach Abbüßung seiner zweiten Freiheitsstrafe in den 60er Jahren. Solche Nächte, wie die in der ersten Strophe des Gedichts beschriebene »bei hohlem Wind und schwerem Regenfall,« mag May von den höhnenden, versuchenden Stimmen seines entfugten Innern, ein unsteter Ahasverus, des öfteren, und zwar in der Einsamkeit der Natur und nicht nur vom Schreibtisch aus, erlebt haben. (11).

Dieses Gedicht scheint mir eine unmittelbare Bestätigung für die Auffassung zu geben, daß May, wie viele andere Dichter, in seiner dichterischen Tätigkeit die Entspannung seines reizsamen Trieblebens, den Ersatz der Tat-Wirklichkeit, die ihn straucheln ließ, durch die Gedanken-Wirklichkeit, die ihn emporhob und entsühnte, nicht nur suchte, sondern auch fand. Des weiteren wird diese Auffassung im vorliegenden Jahrbuch von Amtsrichter Dr.  A .   H e l l w i g  in seiner Studie über das Kriminalpsychologische bei Karl May mit Hinweisen auf Goethe (»Faust«), Lord Byron (»Manfred«) und


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das Gedicht G. Kellers »Der Schulgenosse« überzeugend ausgeführt, so daß ich mich begnüge, darauf zu verweisen (12).

May sucht sich durch seine umfängliche und alle Seiten des Trieblebens mit Ausnahme der geschlechtlichen umspannende schriftstellerische Tätigkeit von seiner kriminellen Vergangenheit zu befreien, die zu Tat und vielleicht neuem Konflikt mit dem Strafgesetz führenden versteckten Triebe seiner Willensnatur durch dichterische Gestaltung zu bezwingen, sich »abzureagieren«.

Ja, diese Selbstprojizierung seines vielgestaltigen Ich in die beiden Gruppen der Gewalt- und der Edelmenschen seiner Werkeserie geht, wie unser Gedicht beweist, soweit, daß er die Empfindungen des Schmerzes, der Verzweiflung, der Angst vor der Wiederkehr des Unbegriffen-Dämonischen, die Angst vor der Wahnsinnsnacht, die ihn in seiner schlimmsten Zeit so oft durchzittert haben muß (13), aus seinem eigenen Seelenbezirk abschiebt und bedenkenlos damit das Innere seiner Geschöpfe befrachtet. Fürwahr, die erstaunlich zweckmäßige Instinkthandlung einer biologisch urkräftigen, zu langer Lebensdauer und starkem Schaffen vorherbestimmten Seele! Ein Akt der Selbstbefreiung, der Entselbstung, der seelischen Entgiftung, der jene glückliche organische Heilkraft voraussetzt, die ein Seelenarzt manchem mit geringerem Genesungsdrang behafteten Patienten von Herzen wünschen möchte. Glückliche Dichter,


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ihr vervielfältigt euer Inneres, ihr sichert euch Genesung von büßender Reue, von dem bohrenden Schmerz der Erinnerung, von der Gewissenslast der Verfehlungen!

Ich zweifle nicht daran, daß wir in dem Gedicht einen Stimmungsniederschlag aus der seelischen Entwicklung Mays selbst und keineswegs nur ad hoc verfaßte Verse vor uns haben. Auf diesen subjektiven, unbewußt selbstbiographischen Charakter des Gedichtes weist schon das Zittrige, Beengende und Beängstigende der Urschrift hin. Man vergleiche nur damit die sonst fast kalligraphische Handschrift Mays, selbst aus den letzten Lebensjahren des Greises. Handschriftenproben bringen der Band »Ich« (Bd. 34) in der Wiedergabe des Testaments, ferner das Faksimile eines Romanserien-Entwurfes »Mensch und Teufel« im 2. Jahrbuch (1919, hinter S. 64), endlich Professor Gurlitts Werk »Gerechtigkeit für Karl May!«. Die erste und dritte Probe sind jünger, die zweite ist älter als die hier faksimilierte Urschrift. Im Gegensatz zu diesem Gedicht »Nacht« war Mays Handschrift sonst auch von Aenderungen frei (14). Doch soll auf die Handschriftendeutung nicht näher an dieser Stelle eingegangen werden. Prof. Dr. Gurlitt beschäftigt sich damit in seinem soeben erwähnten Werk (Karl-May-Verlag 1919). Die Ausnahmestellung, die unser Gedicht unter den sonstigen Urschriften einnimmt, dürfte aus dem bisher Gesagten schon hervorgehen.

Die Prüfung vom Standpunkt der Textkritik


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ebenso wie von dem der Seelenkunde zeigt, daß die Seelenstimmung, aus der heraus das Gedicht geboren wurde, von May selbst erlebt worden sein muß, nicht nur dichterisch, sondern sozusagen biographisch oder biologisch im Ablauf seiner eigenen Jugendentwicklung.

Die Urschrift enthält in der 3. Strophe das Wort »Gedächtnis«. Im »Winnetou« ist es in »Seele« geändert. In »Mein Leben und Streben« nennt sich May seelisch krank und macht einen scharfen Unterschied zwischen seelischer und geistiger Erkrankung. Mit der »Gedächtnis«-Nacht ist jene Verdunklung gemeint, die - zufolge seiner Selbstbiographie - in Auswirkung schmerzlichster innerer Verletzungen die Einheit seines Ich aufhob und jenen Dämmerzustand mit stark verminderter Zurechnungsfähigkeit in ihm erzeugte, in dem er Taten, sogar rückfällig, beging, die ihn vor den Staatsanwalt brachten.

Im »Winnetou«, S. 32, sagt May von dem Gedicht: »Mochte man es für literarisch wertlos erklären, es enthielt doch den Entsetzensschrei eines begabten Menschen, welcher vergebens gegen die finsteren Gewalten des Wahnsinns ankämpft und fühlt, daß er ihnen rettungslos verfallen müsse.« Dieses Urteil beweist übrigens, daß May die Bedeutung seiner in der Tat begrenzten Begabung für die Poesie im  e n g e r e n   S i n n e  keineswegs überschätzt hat. Er brauchte dies auch gar nicht, da das Plus an dramatisch-dialogischer Begabung und Erzählerkunst gewaltig genug erscheint.

Das Gedicht mit seiner scharfen logischen Dreiteilung bestätigt auch das von May in Band »Ich«,


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S. 379, gesagte: »Ich war seelenkrank, aber nicht geisteskrank. Ich besaß die Fähigkeit zu jedem logischen Schlusse, zur Lösung jeder mathematischen Aufgabe.«

Wenn Dr. Droop in: »Karl May. Eine Analyse seiner Reiseerzählungen«, S. 43/4, die Eigenart Mays, vor Abfassung eines Gedichtes erst eine feste, logisch klare Disposition zu suchen (Bd. 30, S. 50), zu einem Anathema über May als Lyriker benutzt (»Nein, so dichtet man nicht«), so kann diese auch im Hinblick auf andere Gedankenlyriker nicht stichhaltige Behauptung gerade mit dem Hinweis auf die angezogene Stelle aus Mays Selbstbiographie entkräftet werden. Alles Dichten ist Selbstheilung gereizter, geritzter, wenn nicht verwundeter Seelen, Selbstbehandlung eines im gewissen Sinne seelenkranken Zustandes, dem sich durchaus geistig-logisches Denkvermögen verbinden kann. Ueber Mays Lyrik ist zu bemerken, daß sie an den sprach- und reimrevolutionären Formen der Jüngeren gemessen - man denke nur an A. Holz, Stephan George, H. v. Hoffmannsthal, oder gar an Werfel, R. M. Rilke und die neuesten Expressionisten und Explosionisten - steifleinen, altfränkisch erscheint, bisweilen an die Lyrik des »geheimen Leierkastens« grenzt, die Arno Holz in seiner »Revolution der Lyrik« geißelt. Doch pulst in ihr ein Rhythmus der inneren Ausgeglichenheit, schöner, gut abgewogener Gedanken- und Gefühlsverhältnisse, der seinen Gedichten auch formell, nicht nur inhaltlich den Stempel des Seelisch-Gesunden, Tüchtigen verleiht.

Daß er das Gedicht dem geisteskranken William


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Ohlert zuschreibt, darin haben wir den Akt einer Selbst-Erlösung zu erblicken. Wie denn überhaupt Mays ganzes schriftstellerisches Wirken einen so durchaus elementaren, triebhaften Charakter trägt, daß der Schluß naheliegt:

In der Gestaltung der zahlreichen Gewaltmenschen hat sich der Dichter von jener eigenen Gewalttätigkeit, die ihn in dunkler Jugend straucheln machte, erlöst, befreit, wie er  a n d e r e r s e i t s  die Kraft zur Darstellung des Edelmenschen ebenso aus dem eigenen Busen nehmen konnte, in dem zeitlebens ein Streben wogte, sich dem Reinen, Edlen, Hohen hinzugeben.

4.

Welche Pläne trug der Greis noch im schöpferischen Hirn, als er, prozeßmeuten-umkläfft, ohne Bewußtsein seiner Sterbestunde überwechselte in das Reich, das frei von Erpressern, Ehrabschneidern, literarischen Neid- und Giftbolden dem Gehetzten endlich Ruhe gab?

Karl May wollte, wie Frau Klara May mitteilte, zunächst seine »Reiseerzählungen« noch um einige Bände vermehren (15), um dann erst - also nach einer kleinen Vorübung von schätzungsweise 60 000 Druckseiten Lehrlingsarbeit, die vielen schon hochwertig genug erscheint! - das Meisterstück, die Dramatisierung der »Menschheitsfrage«, in Angriff zu nehmen.

Unter den Kristallisationspunkten dieser dramatischen Gedankenwelt findet sich auch das Motiv des


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» A h a s v e r u s « ,  des »Ewigen Juden«, in dem May das eigene Ich nicht weniger als die ganze innerlich unstet schweifende, leidende, irrende Menschheit erblickte. Der Schlüssel zum Verständnis des Schriftstellers und des Menschen Karl May liegt in seinem triebartigen Drang nach Selbsterlösung. Ein besonders kriminelles Bewußtsein etwa vorhandener Minderwertigkeit oder Gemeingefährlichkeit als einen Bezirk seiner Seele vorauszusetzen, aus dem heraus May sich immer wieder zu betäubendem Schaffen gereizt fühlte - wie dies  W u l f f e n  und  H e l l w i g  (16) tun -, sehe ich keinen Grund. May war ethisch gerichteter Künstler, nicht Krimineller, womit nicht behauptet werden soll, daß beide sich ausschließen. Aber wir werdem dem Manne nur gerecht, wenn wir uns in sein wertvollstes Streben einfühlen. Der Künstler ist voll verborgener Energien. Ihrem Drängen und Stoßen entgeht er nur, indem er die Fülle der Gesichte mit Form, d. h. Gestaltung, bändigt. Es kann nicht nachgewiesen werden, daß in Mays schriftstellerischer Arbeit irgendwie kriminelle Seiten des Trieblebens - gleichsam tatflüchtig - sich literarisch auswirkten. Wie Hellwig ja auch betont, ist die Gestaltung von Gewalt-, Kraft- oder gar Greuelszenen - letztere werden, wenn nicht berechtigtes ethnographisches Interesse vorliegt, nirgends mit lustbetontem Eingehen ausgemalt, sondern nur skizziert, gestreift! - nie bei May Selbstzweck. Sondern jene Szenen bilden nur die dunkle Folie, auf der dann die


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Willens- und Herzensvorzüge des visionären Idealmenschen umso leuchtender sich abheben.

In Band 34 »Ich«, S. 578, teilt der Herausgeber mit, daß von den vielbegehrten Büchern »Mein Leben und Streben«, II. Teil, in dem May u. a. seine Auslandsreise nach der Entlassung aus der zweiten längeren Haft schildern wollte (»Ich«, S. 440), ferner von »Am Jenseits«, II. Teil (»Im Jenseits«), »Marah Durimeh« und »Winnetous Testament« nicht das geringste vorhanden sei. Eine Abhandlung zu letzterem aus der Feder Frau Klara Mays bringt das vorliegende Jahrbuch. Betreffs der Werke »Im Jenseits«, II. Teil, und »Marah Durimeh« ist nur nachzutragen, daß sich eine Mappe fand, die auf der Vorderseite die Aufschrift

Ich suche!
Von
Marah Durimeh

und auf der Rückseite die Worte

Im Jenseits

trägt. Inliegend fand sich nur der mottoartige Zweizeiler:

  • Ich sah den Busch im heil'gen Feuer brennen
    Und Moses zog die Schuhe aus,
  • sonst nicht das geringste. Es ist unwahrscheinlich, daß May die beiden Werke schon tatsächlich in Angriff genommen haben soll. »Ich suche« war vielleicht als eine lyrische oder didaktische Dichtung geplant, die dem Roman »Marah Durimeh« an passender Stelle eingegliedert werden sollte. Dieses Marah Durimeh-Motiv spannt sich vom 2. Bande (»Durchs wilde Kurdistan«) bis zum letzten Feder-


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    strich über Mays Schaffen als Gedankenträger wie das »Faust«-Motiv über das Goethes. Am Ende des 3. Bandes von »Im Lande des Mahdi« (Bd. 18), also mehr als ein Jahrzehnt vor seinem Tode, hatte May schon den Roman »Marah Durimeh« angekündigt. Im ersten Kapitel des 1. Bandes von »Ardistan und Dschinnistan« (Bd. 31), S. 2 u. 3, finden wir die Ankündigung, daß wir in Mays »späteren Erzählungen« dem Segelschiff »Wilahde«, das die Verbindung zwischen Ikbal, der Residenz Marah Durimehs mit der Außenwelt herstellt, noch »oft begegnen« werden. Ebenso würden die »künftigen Berichte« das Land Sitara und die Stadt Ikbal eingehender zu schildern haben.

    Von alledem muß man schließen, daß May die geplante große mehrbändige oder mehrstückige Dichtung von der Menschheits-Seele (17) keimartig, vielleicht schon bestimmter gestaltet, in sich getragen hat. Das letzte Lebensjahrzehnt häufte auf den Schamgefesselten ja Angriffe und Widerwärtigkeiten, die er - nach echter Schöpferart - durch Vermehrung seines inneren Gedanken-Arsenals beantwortete. Der Kreis seiner Edelgestalten schuf in ihm die Atmosphäre von Güte, die ihn vor seelischer Erstickung rettete.

    Auch zeigt das frühe Auftreten des Marah Durimeh-Motivs, daß in May die Neigung zum Symbolismus keineswegs sich erst »beim wachsenden Andringen der Gegner in der Gefahr der Verteidigung einstellte, um dem gesamten Werk ein


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    ethisches Rückgrat zu geben (18).« Sie ist von den ersten Phantasien an, die der Fünfjährige im Kirchtorbogen der um ihn gescharten Hohenstein-Ernstthaler Jugend zum besten gab, bis zum letzten Bande ein unveräußerlicher, völlig wesensgleicher, eingeborener, triebartiger Bestandteil der May-Seele gewesen. May ist Hakawati, ethischer Märchenerzähler, Symboliker großen Stils und voll blühenden Lebens, nicht bloß trockner Allegoriker (19). Er war Symboliker von Anfang an, mögen auch die symbolischen Hüllen seiner dämonisch-vielgestaltigen Seele je länger je mehr Schutz vor dem Andrang der Gegner geboten haben. Es liegt kein Grund vor, den Wahrheitsgehalt der Mayschen Selbstdarstellung von sich als Hakawati, Bd. »Ich«, S. 469 ff., anzuzweifeln.

    Der Roman »Marah Durimeh« wäre wahrscheinlich innerlich an »Ardistan und Dschinnistan« angeschlossen worden, zeitlich in der Abfassung vorausgegangen wäre wohl »Winnetous Testament«.

    An Dramen-Fragmenten sind gegenüber dem Stand von 1916 (Bd. »Ich«) noch einige hinzugekommen. So fand sich noch eine Mappe » W ü s t e « , eine » W e i b « 


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    und eine » E r l ö s t « . Ob wir hier die Keimbetten neuer selbständiger Dichtungen vor uns haben, oder ob eine stoffliche oder innere Beziehung zu den in Band »Ich«, S. 579 f., vom Herausgeber angedeuteten Kristallisationspunkten »Kyros«, »Schêtana«, »Ahasver« vorhanden ist, kann angesichts des sich immer stärker verzweigenden (und verwurzelnden!) Motivreichtums der Reifezeit Mays nicht mit Sicherheit entschieden werden.

    Das »Ahasver«-Fragment ist (s. »Ich«, Nachlaß S. 579) hinsichtlich des Umfanges das dürftigste. Von »Kyros« und »Wüste« liegt etwas mehr vor und von »Schêtana« sogar ziemlich viel, wenngleich nichts Greifbar-Dramatisches. In den um »Schêtana« gruppierten Fragmenten, zu denen vielleicht die Mappe »Weib« gehört, scheint stets auch Marah Durimeh aufzutreten.

    »Schêtana (20)« - gemeint ist Frau Emma Pollmer, Karl Mays erste Frau († 1917), oder besser: diese gab während der langen unglücklichen Ehe Mays mit ihr die Erlebnisquelle ab für jene Summe lebenhemmender Eigenschaften, die sich in May zu einer neuen weltsymbolischen weiblichen Gestalt »Schêtana« verdichteten. Die Veröffentlichung und Besprechung der »Kyros«- und »Schêtana«-Fragmente ist den folgenden Jahrgängen dieses Jahrbuches vorbehalten. Hier mögen die wenigen Zeilen aus der »Erlöst« betitelten Mappe folgen.


    //86//

    E r l ö s t ! 

    Ahasver fragt stets am Schluß: »Wer bist du?«
    Christus: »Dein Erlöser!«

                                       *

    Als Sultan, Bettler, Korsar, Bergmann (21),
    Doch niemals war ich - - - Weib!

                                       *

    Christus hebt das Kreuz auf und schleppt es fort.
    »Ich ruhte seitdem oft bei dir, so oft, so oft!«

                                       *

                  ich will
    Denn {                } Euch in alle Wahrheit leiten.
                 er soll  

                                       *

    Ahnenkultus.

                                       *

    Er war so verachtet, daß man das Angesicht vor ihm verbarg!

                                       *

    Mein Reich ist nicht von dieser Welt!
                Wirft den Säbel weg. (Christus und Jude einander gegenüber als Heerführer.)

    Offenbar gehören diese Bruchstücke zu jenem Werk, das nach Mitteilung Frau Mays »Ahasver« heißen sollte. Vielleicht ist »Erlöst« eine Titel-Variante oder ein Untertitel.

    Die schweifende Unrast des Ruhelosen schlüpft immer wieder in andere Hüllen, hinter andere Masken, immer auf der Flucht vor sich selbst. Selbst unter die Erde treibt es ihn. Nur eine Wandlung versuchte oder erzielte er nicht: die in das Weib. Soll


    //87//

    dieses zu Deutungen reizende Geständnis besagen, daß es May nie gelang, sich in die Wesenheit des Weiblichen einzufühlen? Ihm, der im zartesten Aquarell eine Nscho-tschi, Hanneh, Schefaka, Schakara und in monumentalem al fresco die greise Kurdin Marah Durimeh vor unser seelisches Auge stellte? Der das Innenleben der Orientalin wecken und unfreie Frauenwelt entfesseln wollte? Ja, sein geistiges Antlitz selbst trägt frauliche Züge neben den stark betonten männlichen. Man denke nur an die unverbesserliche, bis zur Selbstaufopferung und immer wieder neuer Gefährdung der Freunde führende M i l d e Old Shatterhands und Kara Ben Nemsis dem besiegten Feinde gegenüber, über die schon mancher lesende Knabe empört die Faust geballt haben mag. Christus steht dem Ewigwandelbaren als ruhender Pol gegenüber. Als sein »Erlöser« nimmt er ihm die Kreuzeslast ab. Die im Manuskript unmittelbar anschließende Zeile: »Ich ruhte seitdem oft bei dir, so oft, so oft!« bleibt dunkel nach jeder Richtung. Wer spricht sie? Ein Stichwort läßt vermuten, daß dem Ahnenkultus, den Karl May schon in Band 30 »Und Friede auf Erden!« verherrlicht und der u n s e r e m Volke so bitter not tut, wenn es genesen will, eine gewisse Rolle zugedacht war. Aus den Schlußworten etwas Antisemitisches herauszulesen, wäre angesichts des noch in Band 30 von May vertretenen Rassenversöhnungsgedankens ganz abwegig. Daß Christus und Jude (= Ahasver) sich als Heerführer gegenüberstehen, soll wohl nichts anderes als den Wesensgegensatz des Alten und des Neuen Testamentes symbolisieren. Unter »Heer« ist


    //88//

    die aktive Gefolgschaft zu verstehen. In dem Gegenspiel Christus-Ahasver kommt wieder der alle Werke Mays beherrschende Kampf der beiden Weltanschauungen (»Gebt Liebe nur allein!« - »Auge um Auge, Zahn um Zahn!«) zum Austrag. So sehen wir auch in diesem winzigen Torso »Erlöst« die Einheit der Mayschen Gedankenwelt gewahrt.





    [Anmerkungen (Im Original am Ende der jeweiligen Seite.)]

    2 Nach den Verlagsplänen kaum vor 1922 wieder vorliegend. (Bemerkt sei, daß May ursprünglich den Titel »Abu Kital« beabsichtigt hatte.)

    3 Vgl. Bd. »Ich«, S. 477: »Ich habe ein einziges Mal etwas Künstlerisches und Formvollendetes geschrieben, mein "Babel und Bibel". Was war die Folge? Es ist als "elendes Machwerk" bezeichnet und mit Spott und Hohn überschüttet worden. Da weicht man zurück und wartet auf seine Zeit. Und diese kommt gewiß!«

    4 Zur Frage des Plagiates vgl. Karl May: »Mein Leben und Streben.« Selbstbiographie. Neuherausgegeben von Klara May, Freiburg i. Br. 1912, (2. Auflage; vergriffen,) S. 218 - 223.

    5 Das Folgende spricht offenbar der »Herr der Erde«.

    6 Von L e o p o l d   G h e r i  brachte das erste Karl-May-Jahrbuch 1918 die Reiseerzählungen  » A u f   d e r   H a m m a d a   M o k a t t a m «  und » C h â b e t   e l   A k h r â « , außerdem die Wiedergabe eines Gemäldes Ali-el-iswud.

    7 Bd. »Ich«, S. 513 ff.

    8 Das Gedicht findet sich auch in Mays »Münchmeyer-Romanen«: »Waldröschen« und »Der verlorene Sohn«.

    9 Man vergleiche mit dieser geschickten romantechnischen Verwendung eines Gedichtes die noch kunstvollere eines anderen, friedensfreundlichen Gedichtes in Bd. 30 »Und Friede auf Erden!«, dessen einzelne Strophen die großen Themen der ganzen Band-Komposition bilden.

    10 »Ich«, S. 447: »Da begann es plötzlich in mir laut zu wüten und zu toben, zu schreien und zu brüllen wie in einem Dorfwirtshause, in dem die Bauernknechte mit Stuhlbeinen aufeinander schlagen.«

    11 »Ich«, S. 386: »Ich bin, um diesen Stimmen zu entgehen, aus dem Bett gesprungen und hinaus in den Regen und das Schneegestöber gelaufen.«

    12 Vgl. S. 236 f. dieses Jahrbuchs.

    13 »Ich«, S. 375, 387 u. a.

    14 Bd. »Ich«, S. 476: »Ich verändere nie, und ich feile nie.«

    15 Vgl. Bd. »Ich«, S. 578 - 81, Nachlaßschriften.

    16 Vgl. S. 238 f. dieses Jahrbuchs.

    17 Nie zu verwechseln mit der Menschen-Seele, der niederen Anima, die Hadschi Halef darstellt.

    18 2. Jahrbuch 1919: Dr. Karl Hans  S t r o b l  in »Das Tragische im "Karl-May-Problem"«, S. 236.

    19 Ausgezeichnete und für das ganze Verständnis Mays grundlegende Unterscheidung von »allegorisch« und »symbolisch« bei  B i e l s c h o w s k y ,  »Goethe« II, 625. Vgl. Dr.  D r o o p : »Karl May. Eine Analyse seiner Reiseerzählungen.« Cöln-Weiden 1909, S. 80. Vgl. auch Fr. G u n d o l f , »Goethe« (Berlin 1918, 3. unv. Aufl.) über Goethes S y m b o l i k  = Urerlebnisse, dargestellt im Stoffe einer Bildungswelt und Goethe A l l e g o r i k = abgeleitete Erlebnisse im Stoffe einer Bildungswelt.

    20 Vgl. auch: »Eine Lanze für Karl May.« Von Dr. jur. E. A. Schmid, Radebeul b. Dresden, Karl-May-Verlag 1918, S. 37.

    21 Schwer leserlich.


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