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Aus Karl Mays literarischem Nachlaß

Von Studienrat Dr. Max F i n k e 

(Schluß)

8.

Vorstehend findet der Leser eine märchenartige Erzählung Karl Mays »Der Zauberteppich« zum erstenmal abgedruckt. Ich wußte lange nichts damit anzufangen. Offenbar war sie ein Gleichnis; stammte sie doch aus einer Zeit - nach 1901-, da May sich immer entschlossener in Bildern äußerte. Ein Hinweis der Witwe und der Name Yussuf führten zur Lösung des Rätsels.

Yussuf? Josef? Und Kürkdschi? Seltsamer Anklang an den Namen des großen Herausgebers Kürschner! Halt! Was heißt denn Kürkdschi auf deutsch? Das türkische Wörterbuch belehrte:

kürkdschi = Pelzhändler, der Kürschner!
akle = akil (3) = Vernunft, Geist, Verstand.

Das arabische Wörterbuch förderte zutage:

lijar = Mai (Monat), der Name des Dichters selbst.
Maze = Ziege.
Musannif = Schriftsteller.

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Mazak wird etwa dem deutschen »Zieger« entsprechen. Dies ist der Name eines verstorbenen Leipziger Verlegers, mit dem Kürschner in Verbindung stand. Ich fand auch noch einen weißen Umschlag mit der Aufschrift: »Gleichnis für Zieger.«

Der »Zauberteppich« steht äußerlich wie innerlich im Zusammenhang mit der Entstehungsgeschichte der Erzählung »Und Friede auf Erden«.

Die Erzählung erschien, kürzer und in etwas anderer Fassung, unter der Ueberschrift »Et in terra pax!« in einem großen vaterländischen Sammelwerk des berühmten Herausgebers Geh. Hofrats Professor Josef Kürschner. Es hieß »China. Ein Denkmal den Streitern in der Weltpolitik. Schilderungen aus Leben und Geschichte, Krieg und Sieg« mit 30 farbigen Kunstblättern, 716 Textbildern und 2 Karten. Verlag Hermann Zieger, Leipzig, später: Berlin, Deutsche Kriegerbund-Buchhandlung Dr. Hans Natge. Vorwort von Ende 1901. Dieses Werk, ursprünglich in Lieferungen, erschien als Sammelband in kostspieliger, doch künstlerisch unwertiger Ausstattung. Seine Richtung ging darauf, den nach dem Boxeraufstand gegen die Chinesen errungenen Sieg zu verherrlichen, Deutschlands Ausdehnung zu fördern und das fremde Land fesselnd zu schildern. Mays Beitrag entsprach nun, wie sich in der Folge der Lieferungen immer mehr herausstellte, mit seiner Friedensfreundlichkeit keineswegs den Absichten des Herausgebers und der Mitarbeiter, unter denen sich auch höhere Offiziere befanden. Kürschner veranlaßte ihn deswegen, die Erzählung zu kürzen und mit einem passenden vorzeitigen Schluß zu versehen.


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Dies gelang denn auch May vortrefflich. Josef Kürschner entschuldigt sich im Vorwort zum Chinawerk gleichsam, wenn er, mit Beziehung auf die abgedruckte Erzählung »Et in terra pax!«, sagt:

Karl Mays Reiseerzählung, die erst während des Erscheinens der einzelnen Lieferungen des Buches vollendet wurde, hat einen etwas anderen Inhalt und Hintergrund erhalten, als ich geplant und erwartet hatte. Die warmherzige Vertretung des Friedensgedankens, die sich der vielgelesene Verfasser angelegen sein ließ, wird aber gewiß bei vielen Anklang finden.

Die Erzählung »Und Friede auf Erden«, vormalig also genannt: »Et in terra pax!«, ist von Karl May in der Weltabgeschiedenheit des Rigi-Kulmgipfels verfaßt worden. Dort weilte er mit seiner Gattin im Herbst 1901 vier Wochen. Während unten die Matten noch grün waren, schneite das Hotel hoch oben allmählich ein. Karl May wollte sein Werk von vornherein zu einem entschiedenen Widerspruch gegen die kriegsfrönige Weltanschauung säbelrasselnder Militaristen gestalten. Der »China«-Feldzug fand in ihm einen scharfen, ja leidenschaftlich aufgebrachten Gegner. May schätzte ja über alles die feine alte Kultur und das Glaubensleben der Chinesen. Welche liebevolle Einfühlung in die fremde Welt Ostasiens zeigt, wenn wir darauf verzichten, die Sonde der Sachverständigkeit anzulegen, das launige und so überaus spannende Werk »Der blautrote Methusalem« (Bd. 40).

Professor Josef Kürschner, der schon früher viel mit Karl May gearbeitet und den Dichter beispielsweise auch für die von ihm und Spemann gegründete Knabenzeitschrift »Der gute Kamerad« gewonnen


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hatte, erwartete, für sein China-Werk einen auf kriegerische Töne gestimmten Schlager aus der Feder des berühmten Schöpfers der »Old Shatterhand« und »Winnetou«-Gestalt zu empfangen. Er verkannte, daß May viel mehr als nur romantischer Phantast sein wollte, nämlich Träger einer großen sittlichen Sendung. May hat mit einer gewissen verzeihlichen Hinterhältigkeit von vornherein den Plan gehabt, mit der Gesamtrichtung seiner friedensfreundlichen Erzählung den Militaristen in die Parade zu fahren. Er wußte von Kürschner zu erwirken, daß ihm dieser völlig freie Hand ließ. Kürschner drängte nur immer voll unruhigen Verlangens, den heißbegehrten Beitrag zu erhalten. Der Schriftverkehr zwischen beiden erfolgte in Drahtnachrichten. Karl May hatte sich geweigert, die sehr schlechte Handschrift des berühmten Herausgebers zu lesen. Als Vergütung für die Erzählung waren 2000 Mk. ausgemacht. Diese Summe ging dem Dichter dann verloren, nachdem er zu seinem eignen höchsten Vergnügen und zu Kürschners Schmerz und Aerger dem kriegsfreudigen China-Werk ein Schnippchen geschlagen hatte. May wurde einigermaßen durch die Genugtuung entschädigt, daß der Streich gelungen war.

Erwähnt sei in diesem Zusammenhang, daß May mit seinem Friedensroman in der berühmten Friedensvertreterin Bertha v. Suttner eine warme Verehrerin gefunden hatte. Als er in Wien war, um seinen letzten Vortrag im Sophiensaal zu halten (22. März 1912), besuchte sie ihn zu einer längeren Unterredung im Hotel. Nach seinem Tod und nach


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Rückkehr von ihrer Amerikareise stattete sie der Villa Shatterhand ihren Besuch ab und hat auf dem Sessel vor demselben Schreibtisch gesessen, auf dem die versöhnungpredigenden Werke Mays entstanden sind. Ergriffen sagte sie mit Tränen der Rührung: »Wenn ich nur eins dieser Werke hätte gestalten können, dann hätte ich mehr erreicht!«

Die in dem Sammelwerk erschienenen 4 Kapitel, von Linder durch 60 mäßige Bilder belebt, entsprechen ungefähr den ersten 11 Kapiteln der nachmaligen Buchausgabe, die mit der verdeutschten Ueberschrift »Und Friede auf Erden« als Bd. 30 der Ges. Werke (4) erschien. Den Eingang des 12. Kapitels »Im Hafen von Ocama« (S. 414 - 420) benützte der Dichter zu einer Erklärung, die mit männlichem Bekennermut gegen die Richtung von Kürschners Sammelwerk angeht:

Ich hatte etwas geradezu Haarsträubendes geleistet: Das Werk war nämlich der »patriotischen Verherrlichung des Sieges« über China gewidmet, und während Europa unter dem Donner der begeisterten Hipp, hipp, hurra! Und Vivats erzitterte, hatte ich mein armes, dünnes Stimmchen erhoben und voller Angst gebettelt: »Gebt Liebe nur, gebt Liebe nur allein!« Das war lächerlich; ja, das war sogar albern. Ich hatte mich und das ganze Buch bloßgestellt und mir wurde bedeutet, einzulenken. Ich tat dies aber nicht, sondern ich schloß ab! Mit dieser Art von Gong habe ich nichts zu tun.

Man lese hierzu auch den in vorliegendem Jahrbuch stehenden Aufsatz des Stadtschulrats Dr. Buchenau über Mays Friedensgedanken. Man kann sich


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denken, daß der schon damals (1901) durch erhebliche buchhändlerische Erfolge verwöhnte Schriftsteller May durch Kürschners Forderung, die mißliebige Erzählung zu schließen, gekränkt wurde. Er fühlte sich in seinem Sendungsbewußtsein als überzeugter Christ getroffen. Wie äußert sich nun diese Empfindung?

Die Antwort darauf gibt die vorstehend abgedruckte Erzählung »Der Zauberteppich«, die ich mit Genugtuung im Nachlaß aufstöberte. Von der Witwe des Dichters erfuhr ich, die Erzählung sei einem langen Brief an den Leipziger Verleger Zieger beigelegt worden und von diesem auf Wunsch Mays zurückgesandt. Die Namen und die Zielrichtung des Märchens, die an die Zauberwelt der »Märchen aus tausendundeiner Nacht« erinnert, führten schließlich zur Lösung.

Der im ganzen Morgenland bekannte Teppichweber Ijar ist niemand anders als May selbst. Mit Yussuf el Kürkdschi meint er den durch seine ausgedehnte Herausgebertätigkeit (Kürschners Bücherschatz) verdienten, 1902 verstorbenen Geheimrat Josef Kürschner. Dessen Freund Mazak, der junge Kutubi, d. i. Buchhändler, ist Hermann Zieger, der frühere Verleger des Sammelwerkes »China«. Der bestellte Teppich, der in seinen Besitz übergehen sollte, ist dann natürlich die Erzählung »Et in terra pax!«, nachmalig »Und Friede auf Erden«.

May war damals (1901) dazu übergegangen, die ihn schmerzenden Erlebnisse in sinnbildlichen Erzählungen zu überwinden. Man denke nur an den 3. und 4. Band des Werkes »Im Reiche des silbernen


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Löwen«. Ein anderer Schriftsteller hätte, auf Ruhm und Erfolg pochend, gegen Kürschner aufbegehrt. May nimmt eine feine Vergeltung mittels einer Erzählung. Kürkdschi kommt mehrmals, um dem Teppichweber Ijar bei der Arbeit zuzuschauen. Das zielt auf die Art des Erscheinens in Lieferungen. Als er zum drittenmal kam, war der Teppich halb fertig, d. h. die Erzählung »Et in terra pax!« (im ganzen 4 Kapitel) beim 3. Kapitel. Er fürchtet, daß die eingewebten »Sprüche der Weisheit, Liebe und Barmherzigkeit« das »Mißfallen jedes wahren Gläubigen«, d. h. der Kriegsanhänger, erregen werden. Also: »Kürze das Werk und füge schnell den Rand hinzu! Da ich es bestellt habe, werde ich es behalten, obgleich es mir nicht gefällt.« Als Ersatz für die Kürzung will er auf dem »Basar«, d. h. dem Schriftsteller-Markt (d. i. die Leipziger Kantatemesse) andere Teppiche, d. h. Beiträge kaufen, um den »Kutubi« zu befriedigen.

Die ganze Erzählung verrät das wehmütige Lächeln des Enttäuschten, doch regt sich auch das berechtigte Selbstbewußtsein Mays. Ja, um den Vorwurf des Minderwerts aufzuheben, steigert es sich, fast krankhaft, zur Selbstüberhebung. »Du brauchst meine Arbeit nicht zu behalten und nicht zu bezahlen. Nicht mein Geschäft, sondern Allah sorgt für mich!«

Der Fortgang des Gleichnisses erschließt sich weniger zwanglos der Deutung. Wer ist El Akle, der weiseste der Kalifen, dem Ijar den vollendeten Teppich schließlich sandte? Offenbar Fehsenfeld. Wer sein Großwesir? Wer der Vorbeter? Sind hier auch


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bestimmte Zeitgenossen Mays gemeint? Man könnte bei dem Großwesir an den Buchdrucker Mays, den ihm befreundeten Kommerzienrat Felix Krais (Besitzer der Hoffmannschen Buchdruckerei) in Stuttgart denken. Oder ist es abwegig, nach weiteren Entsprechungen zu suchen? Jedenfalls entfaltet der Teppich Wunderkräfte. Er wird vor einem kriegerischen Unternehmen, das den Islam in alle Welt tragen soll, als Teppich der Beratung benutzt. Vor dem erstaunten Blick der Beter, die auf seinem Rand knien, erscheinen nacheinander Ijars goldene Weisheiten, dann die »grüne, wehende Fahne des Propheten«, offenbar das Sinnbild unduldsamen Eiferer- und Bekehrertums, das in der Erzählung »Und Friede auf Erden« der Missionar Waller vertritt. Dann zeigen sich die übrigen Gestalten der Erzählung, bis bei den Schlußworten der heiligen Fatha »Und führe uns nicht den Weg der Irrenden!« die Gestalten sich verwandeln in der Weise, daß jeder Beter grad vor sich sein eigenes Bild erblickt. Dies ist jedem zum Erstaunen ähnlich und doch das Zerrbild seines eigenen Glaubens. Ein Widerspruch, den Tiefsinn zu reizen. Der wirkliche Mensch und das innere Entwicklungsbild, dem er zustrebt, weichen ab wie Vorlage und Zerrbild. Der Spiegel des Teppichs wird zum Spiegel der Selbsterkenntnis. »Nein, nein, das bin ich nicht! O Allah, gib, daß ich ein anderer bin!« ruft der tödlich erschrockene Vorbeter aus, und mit ihm jeder, der sich ehrlich erkennt.

Nun erfolgt in der Art der Märchen aus »Tausend und eine Nacht« - alles baff! - die Verwandlung des Kalifen El Akle in den Teppichweber Ijar. Er


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gebietet - die Sprache erhebt sich hier zum Versmaß -, erst dann an Bekehrung anderer zu denken, »wenn dieser Teppich euch ein besseres Bild von euerm Glauben zeigt«. Der Teppich selbst verschwindet und erscheint in einer schiitischen Moschee unter der Gebetsnische wieder. May bezeichnet den Teppich als einen »großen, grauen«, womit er darauf anspielt, daß sich in der Erzählung »Und Friede auf Erden« vergleichsweise wenig bunte Handlung findet.

Alles in allem eine feinsinnige Antwort an Kürschner; die geistvolle Vergeltung des Schriftstellers, der sich dagegen auflehnt, nur Marktgängiges zu liefern, und wagen darf, gegen den Strom damals herrschender Anschauung zu schwimmen. Noch entschiedener bekennt sich May zum Frieden in »Babel und Bibel« (Bd. 49), einem Werk, dessen Abfassung im Jahre 1906 innerlich mitbedingt wurde durch den Widerstand der deutschen Gebildeten gegen Mays Herzens-Christentum.

9.

Weiter unten bringe ich die in Jamben gehaltene  E i n l e i t u n g   z u   d e n   » E r z g e b i r g i s c h e n   D o r f g e s c h i c h t e n «  zum Abdruck, jenen schon um 1876 erschienenen Erzählungen, in denen May sich seine Sporen als Volksschriftsteller erwarb. Das hier gedruckte Vorwort war ursprünglich der Sammlung »Erzgebirgische Dorfgeschichten« beigegeben worden, von der damals nur der erste Band erschien. Das vorige Jahr (1921) brachte nun die auf zwei Bände der Gesammelten Werke verteilte Neuaus-


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gabe der nicht unbedeutenden Erstlinge: Bd. 43 »Aus dunklem Tann«, und Bd. 44 »Der Waldschwarze«. Diese beiden neuen Bände enthalten sämtliche im Nachlaß aufgefundenen Dorfgeschichten, nicht nur die seinerzeit in Buchform gesammelten. Sie bergen viele Beiträge zum Verständnis der Jugend und der späteren Werke Mays.

In der Erzählung »Des Kindes Ruf« (Bd. 43, S. 49 ff.) wird ein unschuldig Verurteilter geschildert. Im »Herrgottsengel« (Bd. 44, S. 109 ff.) wird die Gestalt der Marah Durimeh vorausgeschaut; der Vorwurf des Lichts in der Geisterhöhle erscheint hier zum erstenmal, später wieder aufgenommen in Bd. 2 »Durchs wilde Kurdistan« (S. 533). In der Erzählung »Das Geldmännle« (Bd. 44, S. 323) begegnen wir der Spaltung des Innern, auf die May in seiner eigenen Lebensbeschreibung Bd. 34 »Ich« (S. 380) hinweist. Die Spaltung wird später überzeugender dargestellt in der Gestalt des Missionars Waller in Bd. 30 »Und Friede auf Erden«.

May spricht selbst von den »Erzgebirgischen Dorfgeschichten« in seiner Lebensbeschreibung Bd. 34 »Ich« (S. 381 und 386). Wir erfahren etwas über den Beweggrund seines Schreibens. Er schrieb, wie viele Schriftsteller vor und nach ihm, um seine Ueberspannungen und Verdrängungen loszuwerden. Die Stimmen in seinem Innern heischten von ihm, sich für erlittenes Unrecht zu rächen:

Das war es, was die Versucher in meinem Innern von mir forderten. Ich wehrte mich, soviel ich konnte, soweit meine Kräfte reichten. Ich gab allem, was ich damals schrieb, besonders meinen Dorfgeschichten, eine sittliche, eine streng gesetzliche, eine königstreue Richtung. Das tat ich, nicht nur


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andern, sondern auch mir selbst zur Stütze. Aber wie schwer, wie unendlich schwer ist mir das geworden.

Hier ist von Selbstzwang und Selbstführung die Rede, von Läuterung und dem Streben nach innerer Festigkeit. Danach scheint es, als ob seiner Feder die Fülle der Erzählungen nicht so hemmungslos entflossen sei, wie etwa die Aeußerung eines Mittlers anderer Welten, der sich im Bannschlaf, in Zwangsverzückung befindet.

Karl Mays Vorwort zu den »Erzgebirgischen Dorfgeschichten« 1903.

Komm, lieber Leser, komm! Ich führe dich hinauf in das Gebirge. Du kannst getrost im Geiste mit mir gehen. Der Weg ist mir seit langer Zeit bekannt.

Ich baute ihn nun vor fast dreißig Jahren, und viele, viele kamen, die meine Berge kennen lernen wollten, doch leider nur, um sich zu unterhalten! Daß es auch Höhen gibt, in denen man nach geist'gem Erze schürft, das sahen sie bei offnen Augen nicht, und darum ist es unentdeckt geblieben.

Ich führte sie dann einen andern Weg, der von der flachen Wüste aufwärts stieg, durch fremdes Land und fremde Völker führt und oben enden wird bei Marah Durimeh. Auf diesem Weg begann man, zu begreifen. Man sah nun endlich ein, was die Erzählung ist: nur das Gewand für geistig frohes Forschen. Man hat gelernt, zum Sinn hinabzusteigen, der uns des Erzes Adern, der Tiefe Reichtum zeigt. Wer das ihm Nahe nicht verstehen will, den muß man klüglich in die Ferne leiten, wenn auch auf die Gefahr, dabei verkannt zu werden!

Heut kehr ich nun ins Vaterland zurück, um jenen alten Weg aufs Neue zu betreten. Er ist nicht weit und auch nicht unbequem. Er führt nur auf ein kleines »Musterbergle«. Wir nehmen uns ein »Sonnenscheinchen« mit, so einen Seelenstrahl, der uns zu leuchten hat, bis wir an unser kleines »Häusle« kommen. Im »Bergle« gibt es


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Silber, wohl auch ein wenig Gold. Das wird bewacht vom Geist des Neubertbauers. Wer diesen Geist, den doppelten, begreift, der darf den Schatz un dann sich selbst auch heben!

R a d e b e u l , im Mai 1903.

Karl May.

10.

Wir haben die Genugtuung, unsern Lesern nachstehend ein Gedicht Karl Mays zu unterbreiten, »Weihnachtsabend«, das im ganzen 17 Strophen umfaßt. In seiner eigenen Lebensbeschreibung erzählt der Dichter, wie gerade der Weihnachtsabend durch eine Reihe erschütternder Vorkommnisse in seiner Erinnerung mit den traurigsten Vorstellungen verbunden blieb. Wer erinnert sich nicht der Einleitung zu Bd. 24 der Ges. Werke »Weihnacht«? Hier erzählt der Dichter, wie er, der Aermste unter den Schülern seiner Klasse, die Musik glühend liebte und außer dem gewöhnlichen Unterricht noch Privatstunden in der Harmonielehre nahm. Den Taler für die Stunde Harmonielehre mußte er bezahlen mit dem Ertrag von sechs Unterrichtsstunden, die er selbst erteilte. Als er in der Behandlung der Formen bei der Motette anlangte, setzte er sich eines Tages hin, über das Lieblingsthema »Ich verkündige euch große Freude« eine Weihnachtsmotette zu schaffen.

Wie gedacht, so getan! Das opus operatum sollte freilich tiefes Geheimnis bleiben, war aber schon bald nach seiner Vollendung aus meinem Kasten verschwunden. Später erfuhr ich, daß ein mir übelwollender Mitschüler es mir wegstibitzt und, um mich bloßzustellen, es meinem Lehrer, einem alten, braven Kantor, durch die Post zugeschickt hatte. Ich suchte lange nach dem verlorenen Heiligtum und gab es endlich auf, es jemals wiederzufinden.


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Wie nun selten ein Unglück allein kommt - und das eigenmächtige Ueberschreiten der einem Schüler gezogenen geistigen Grenzen kann leicht zum Unglück für ihn werden -, kam mir grad zu jener Zeit ein Unterhaltungsblatt zu Gesicht, worin ein Wettbewerb, ein Weihnachtsgedicht betreffend, mit drei Preisen zu 30, 20 und 10 Talern ausgeschrieben wurde. Mein Lieblingsthema, meine Armut und wer weiß was sonst noch für gute oder nicht gute Gründe, »drückten mir«, wie berufene Dichter zu sagen pflegen, »die Feder in die Hand«; ich setzte mich abermals hin und brachte ein Gedicht von 32, schreibe und sage mit Worten: zweiunddreißig vierzeiligen Strophen zu Papier. Es ist jedermann, besonders aber jedem Redakteur bekannt, daß ein Gedicht, je länger es ist, desto leichter in den Papierkorb wandert, und auch ich wußte wenigstens, daß der Wert eines Poems nicht mit seiner Länge zu wachsen pflegt; aber nach der Disposition, die ihm zugrunde lag, hatte es eben nicht kürzer werden können; im Gegenteil, wenn ich alle Gedanken, die mir gekommen waren, niedergeschrieben hätte, wären es wohl tausend Zeilen geworden. Ich fertigte also das verlangte Motto an, steckte dieses mit dem Gedicht in einen Umschlag für 3 Pfennige, siegelte es mit für 5 Pfennige Rotlack zu, klebte mein letztes Geld in Gestalt von Briefmarken in die Ecke rechts über der Anschrift der Redaktion und trug den Brief in höchst feierlicher Stimmung bis zur übernächsten Straße, wo der Briefkasten hing. Als der Brief mit hohlem Geräusch hineingefallen war, sah ich den Kasten noch lange an. Er kam mir jetzt ganz anders vor, als er früher ausgesehen hatte. Das war aber auch sehr leicht zu erklären, denn 32 Strophen auf einmal zu verschlingen, das hatte wohl noch kein vernünftiger Mensch von ihm verlangt.

In sehr launiger und fesselnder Weise erzählt May dann, wie er infolge des langen Wartens immer mehr abmagerte, bis er dann aus seiner Spannung erlöst wurde durch einen Brief der Schriftleitung, der an seinen Schulleiter gerichtet war.


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Dieser ließ May kommen und eröffnete ihm in bärbeißiger Art und mit Umschweifen, er erhielte für seine 32 Strophen einen Preis. Mit diesen Worten überreichte er ihm einen Umschlag und fügte mit polternder Gutmütigkeit hinzu, daß May für die zwei Nachhilfestunden, die er dem Sohn seines Schulgewaltigen wöchentlich erteilte, von jetzt an bar bezahlt würde, und zwar mit 10 Groschen, während er bis dahin dafür nur Sonnabends in der Küche Reis mit Rindfleisch bekam, und dann zum Nachgenuß der Lieblingskatze den Rücken krabbeln durfte. Der Sonnabendstisch verblieb dem jungen Dichter außerdem. Nachher, als er auf seiner »Bude« den Umschlag öffnete, da lagen - - - 3 Zehntalernoten drin, er war also Träger des ersten Preises. Wie stieg er da in der Achtung seiner Mitmenschen! Dreißig schwere Taler für ein Gedicht von 32 nur vierzeiligen Strophen! Das waren 28 Groschen die Strophe und 7 Groschen für jede Zeile, für jeden Vers. Dazu die Ehre, den ersten Preis errungen zu haben!

Mancher Leser wird gewiß die durch den Band sich leitgedankenartig hindurchziehenden verschiedenen Strophen des schlichten Gedichts gezählt haben. Es sind nicht mehr als 10. Wo bleiben nun die übrigen von den 32?

Die Sichtung des Nachlasses förderte noch eine Fassung des Weihnachtsgedichts zutage, die im ganzen 17 vierzeilige Strophen enthält, darunter also 7 noch unbekannte. Mein Urteil über den mäßigen Wert der Mayschen Lyrik gilt auch für diese schülerhaften Erzeugnisse, die mit ihren d und t


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gleichbehandelnden Endreimen unschön wirken. Dennoch drucken wir sie ab, weil sie einen Beitrag enthalten, die Seele des werdenden May besser verstehen zu lernen, und weil zahlreiche Leser immer wieder anfragen, ob sie die übrigen Verse nicht erhalten könnten.

Die vorliegende Fassung ist offenbar in der Strafzeit entstanden. Abgesehen von den Zeilen »An den kalten Eisenstäben kühlt er seine heiße Stirn«, stützt sich diese Annahme auf den Umstand, daß sich die Handschrift auf einem vergilbten Bogen fand, auf dessen Innenseite unter der Ueberschrift »Offene Briefe eines Gefangenen« eine zugehörige kleine Stoffeinteilung steht. Das doch immerhin sehr einprägsame Ereignis seiner Preiskrönung, die einen inneren wie äußeren Erfolg bezeichnet, wird in seiner eigenen Lebensbeschreibung »Mein Leben und Streben« mit keiner Silbe erwähnt. Auf Seite 384 von Bd. 34 »Ich« finden sich 12 Zeilen, die einer ähnlichen Gefühlslage ihre Entstehung verdanken. Es sind zwei Möglichkeiten: Entweder ist das eigentliche Weihnachtsgedicht ganz hinter Mauern entstanden, und May hat später bei der Abfassung des Bandes »Weihnacht« alles fortgelassen, was auf die Strafzeit Bezug hat. Diese Annahme ist wahrscheinlicher, als etwa die andere, nach der May hinter Eisengittern die in früher Jugend verfaßten Strophen vermehrt hätte durch solche, die er als Gefangener erlebte, obwohl die abgedruckte Fassung die rechte innere Verbindung der Strophen vermissen läßt. Wir hätten also in dem vergilbten Blatt eine ergreifende Erinnerung an jene Zeit des


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Dichters, die er im 5. Kapitel seiner eigenen Lebensbeschreibung unter der Ueberschrift »Im Abgrund« so erschütternd schildert. Von den ursprünglich 32 Strophen des Gedichts »Ich verkündige euch große Freude« fehlen also noch 15 Strophen, wahrscheinlich solche, die mehr Einblick in die traurigen Umstände ihrer Entstehung gaben. Scham beseitigte sie. Es liegt eben das innerste Erlebnis eines Unglücklichen vor, der hinter Mauern sich läuterte. Wie es auch sonst seine Gewohnheit war, hat May dann diese Verse zerpflückt und, um sich selbst und die Leser über die seiner bürgerlichen Ehre abträgliche Veranlassung des Gedichts hinwegzutäuschen, hat er in nicht ungeschickter, ja fesselnder und humorvoller Weise einen Anlaß dazu frei erfunden, den er in frühere Jugendzeit vorverlegt.

Man kann May nicht verübeln, daß er seine Reime, auch bei ihm »Bruchstücke einer großen Konfession«, und seine Gedanken allen möglichen Menschen in den Mund legt und sie als von ihnen selbst erlebt ausgibt. Das ist das gute Recht des Dichters, doch zeigt die Art, wie er das nachfolgend abgedruckte Weihnachtsgedicht verwendet, wie richtig Strobls Einstellung gegen May ist. In der Tat hier wieder »Scham und Maske.«

Das behandelte Gedicht wird von May noch an zwei andern Stellen seiner Werke verwendet. Einmal in den »Erzgebirgischen Dorfgeschichten«, die jetzt in dem Gewand der Bände 43 und 44 der »Gesammelten Werke« auftreten. Hier erscheinen die beiden ersten Verse und zwar in der Erzählung »Der Giftheiner« (S. 354/55) als Engelsarie. Ferner fand sich


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in dem seinerzeit bei H. G. Münchmeyer erschienenen »Sozialen Roman«: »Der verlorene Sohn« (5) ein Hinweis auf den Inhalt der uns fehlenden Strophen, von denen eine Reihe noch ursprünglich zwischen der 5. und 6. Strophe eingeschaltet gewesen sein muß, denn May sagt dortselbst im Anschluß an die Strophe »Unten zieht des Festes Freude« usw.: »Jetzt folgen die Parallelen zwischen dem wonnepulsierenden Leben der Freien und dem nagenden Kummer des kranken Gefangenen in der Zelle, Parallelen und Bilder erschütternden Inhalts.« In den folgenden Strophen unserer Fassung ist aber nur von dem Leid und der Fieberangst des kranken Gefangenen die Rede.

Das Gedicht »Ich verkünde große Freude« geht auf die frühesten Jugenderinnerungen Mays zurück. Die alte, fromme Großmutter war es, die dem blinden Knaben diese Worte des Weihnachtsengels schenkte. Wie der Dichter in Bd. 24 »Weihnacht«, S. 2/3 selbst erzählt, haben diese Worte neben dem Spruch bei Hiob 19, 25: »Ich weiß, daß mein Erlöser lebt« unauslöschlichen Eindruck auf ihn gemacht. »In noch ganz unreifem Alter« hat er beides in Töne gesetzt. Die ausgeschriebenen Stimmen einer auf jene Engelsworte - aber nicht auf das Gedicht - gemachten Weihnachtskantate, stark gealterte Blätter, fand ich selbst noch im Nachlaß (6). Zur Ver-


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öffentlichung sind sie, da auch unvollständig, nicht geeignet. Der Leser versäume nicht, in Band »Weihnacht« die köstliche, zugleich wehmütige Geschichte nachzulesen (S. 11 ff.), wie May, zum zweitenmal für sein Können fürstlich belohnt, von dem ihm wohlwollenden Kantor noch 25 Taler in Empfang nimmt, die dieser für den Druck der Weihnachtsmotette erlöst. Schon damals begann der Leidensweg Mays. Sein Mitschüler Krüger hinterging ihn in häßlichster Weise, ohne freilich verhindern zu können, daß gerade seine Arglist zum Segen ausschlug. Herzensgütig trat May dann für den Schuft ein (S. 24). Seine ganze Strafe bestand darin, daß er das dreistimmige Solo in as mitsingen mußte. Das Maysche Weihnachtsgedicht veranlaßte, wie May sehr launig in Bd. 24, S. 18 erzählt, eine wahre Dichtwut unter den dreiundzwanzig Klassengefährten, gegen die von seiten der Schule vorgegangen werden mußte. Die Kindheitserinnerung wirkte das ganze Leben hindurch nach. Der 55jährige liebt die kindlichen Verse noch so unvermindert, daß er durchaus den ganzen ersten Vierzeiler als Aufschrift für den Band »Weihnacht« benutzen will. Fehsenfeld, dessen verlegerisches Urteil sich gegen Mays Lyrik auflehnte, und der sogar gegen die Veröffentlichung der von May selbst so überschätzten »Himmelsgedanken« (1901) war, widerstand dem Plan. So wurde der Einband mit der »Heiligen Nacht« von Corregio geschmückt. Daß May selbst übrigens schwankte im Urteil über seine Gedichte, geht aus der Wendung hervor, er habe das Weihnachtsgedicht »verbrochen« (Bd. 24, S. 3).

Man lese zum besseren Verständnis des hier


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Gesagten die lichtvollen und einfühlsamen Ausführungen des bekannten Dichters Dr. Karl Hans Strobl (Wien): »Scham und Maske«, zur Psychologie des Karl-May-Problems im Jahrbuch 1921, S. 279 - 303, und »Das Energiegesetz des Abenteuers«, Jahrbuch 1922, S. 222 - 239.

Im »Verlorenen Sohn« werden die Verse - hier im ganzen 14 - in der Weise der italienischen Improvisation vorgetragen. May lobt hier seine eigenen Bekenntnisverse, die er also einem andern in den Mund legte, als »leichtfließende, wohltönende« und rühmt »Bilder erschütternden Inhalts, erschütternder Tragik«, weiter den »zauberischen Bilderreichtum des Dichters der Heimats-, Tropen- und Wüstenbilder«. Der den Weihrauch misset, streut ihn hier sich selbst. Mancher Leser dieser Strophen wird sich die Gestalt des ewig zerstreuten Carpio aus »Weihnacht« vergegenwärtigen und den beliebten Band wieder zur Hand nehmen. Dort lese man auch die weiteren Schicksale des Liedes nach.

Anschließend an die Verse wird zum erstenmal ein Schmerzensschrei Mays wiedergegeben, offenbar aus der Zeit seiner schlimmsten Bedrängung durch Prozeßsorgen, ein Gedicht: »Hiob«, das durch seine freiere odische Form seltsam aus Mays Lyrik herausragt. Etwas wie der Trotz einer Prometheusnatur ringt hier nach Ausdruck. - Zum Schluß eine kleine Handschrift, die der Mappe für »Winnetous Erben« (ursprünglicher Titel: »Winnetou« Bd. IV) entstammt.





[Anmerkungen (Im Original am Ende der jeweiligen Seite.)]

3 Der Bd. 25 »Am Jenseits« bringt als eine Hauptgestalt Akil Schatir Effendi (sonst Kara Ben Nemsi).

4 Siehe auch die Inhaltsübersicht und Deutung in Bd. 34 »Ich«, S. 572/3.

5 Im Buchhandel längst vergriffen. Neudruck unter Aufnahme in die Gesammelten Werke geplant; vgl. 2. Jahrbuch, S. 147 - 194.

6 Ob diese Blätter dieselbe Weihnachtsmotette enthalten (ganz oder teilweise), die May in Bd. 24 meint, ist kaum zu entscheiden.


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