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Mittel der Darstellung

Von Studienrat Dr. Max Finke

Mit Genugtuung habe ich im Jahrbuch 1924 Mays Schreibart als eine im wesentlichen gesunde, ja hervorragend flüssige und kraftvolle nachweisen können.

Noch mehr als die Schreibart beherrscht May alle übrigen Mittel der Erzählungskunst und Darstellungsweise. Wie meisterhaft ist z.B. die Eröffnung der »Sklavenkarawane«, Bd. 41, die auch sonst unter den sieben ausdrücklichen Jugendschriften Mays (Bd. 35 - 41) hervorragt, und zwar besonders durch die Gediegenheit der Vorbereitung!

Die Erzählung beginnt mit einer arabischen Gebetsaufforderung und dem seltsamen Vorgang des El Asr-Gebetes. Sie versetzt uns wie auf einem Zauberteppich in eine Lage, die unsre Wißbegier reizt. Wir sehen die Betenden knien, mit dem Gesicht nach der Gegend von Mekka gerichtet, sich verbeugen, sich mit Sand waschen. Der Sand als Ersatz für Wasser führt zwanglos zur Schilderung des Schauplatzes. Hierbei wendet May das Kunstmittel des Gegensatzes an. Er sagt erst, wo der Schauplatz  n i c h t  war. Es war  n i c h t  die Sahara, nicht die Hammada, die er schildert. Unsre Neugier wird gereizt dadurch, daß die gewünschte Auskunft vorenthalten wird. Er begnügt sich vorläufig zu sagen: »Aber ein Stück Wüste war es doch, das rundum vor dem Auge lag.« Schatten war nur hinter einer zackigen Felsengruppe zu finden. In diesem Schatten hatte sich die Karawane gelagert.


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So sind Mays Uebergänge fast immer geschickt und ungezwungen. Die Erzählung wächst aus einer Keimzelle heraus und folgt einem Gesetz gesunden, inneren Wachstums, das keine Sprünge, kein Spalier kennt, aber freilich auch die Gartenschere vermissen läßt, die wild wuchernde Triebe kappt.

Nun wird die Karawane geschildert. Fünf von den sechs Teilnehmern sind Araber, und zwar »übertrieben strenggläubige Muselmanen«. Wer ist der sechste Teilnehmer? Wie geschickt lenkt May auf ihn unsre Aufmerksamkeit. Der Araber-Scheik murmelt: »Allah verderbe den Hund, den Christen!« Es heißt nun weiter: »Dabei warf er einen verborgnen bösen Blick auf den sechsten Mann, der hart am Felsen saß und damit beschäftigt war, einen kleinen Vorgel auszubalgen.« Jetzt wird das Aussehen dieses Mannes geschildert, und zwar, worin er abwich und worin er übereinstimmte mit seiner Umgebung. Der erregende Umstand ist da, die Spannung wächst, Spieler und Gegenspieler sind in künstlerischer Weise ohne jeden Zwang eingeführt. Nun spinnt sich der Rocken der Handlung flott weiter ab.

Die eingestreuten Belehrungen und Betrachtungen empfinde ich selbst mehr als Ruhepunkte, als wohlbekömmliche Verdünnungsmittel des Trankes seiner Erfindung, der leicht überscharf werden könnte.

Zweifellos ist May nicht freizusprechen von einer gewissen Neigung, Seiten zu füllen, ja Zeilen zu schinden, wie der Fachausdruck lautet: die Folge jener auch heut noch herrschenden Unsitte, geistige Leistungen, die doch nichts mit Ausdehnung, sondern nur mit Kraft und Lebenserzeugung zu tun haben, mit der Elle zu messen. Hierzu kommt noch, daß der


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mit Hochdruck arbeitende Schriftsteller hin und wieder gleichsam sich Leerlaufstellen verordnen mußte, um einer Ueberlastung des Bewußtseins vorzubeugen. Daher manche handlungsleere und scheinbar überflüssige Stelle, manche Weitschweifigkeit der Wechselrede. Doch was den Schriftsteller während der Dauer seiner Schaffenswehen innerlich bedingt, die Notwendigkeit der Atempause, das bedingt nicht den Leser. Deswegen ist es gerechtfertigt, die Werke Mays, wie schon bei einer Reihe von Bänden geschehen, anläßlich neuer Auflagen von diesen handlungsleeren Stellen zu befreien. Doch ist Vorsicht geboten, da nicht abzuleugnen ist, daß solche Stellen bisweilen auch als Kunstmittel, nämlich als verlangsamende, bremsende oder spannende Umstände, zu bewerten sind, wie ja auch in der Musik die Pausen eine hervorragende und unersetzbare Bedeutung für den Bau der Motive und Themen besitzen. Man denke an den Pausenkünstler Beethoven, bei dem manche Pause in dem genauen Ausmaß ihrer Länge eine Offenbarung ist.

Die Kraft und Schärfe des Mayschen Vorstellungsvermögens reißen immer wieder zur Bewunderung hin. Wie ist alles innerlich gesehen, beobachtet, gegenständlich mit der Fülle aller Merkmale einer Sache, dem Auge des Lesers vorgestellt! Er beschreibt z.B. die Bestattungsfeierlichkeiten für Pir Kamek, den Priester der Dschesidi (Bd. 2, S. 106 ff.):

Die Urne wurde abgeladen und an die Seile befestigt. Ein andres Seil, unten an die Urne gebunden, diente dazu, das zerbrechliche Gefäß von den Steinen abzuhalten.

Ist es nicht ein Zeichen einer im Gegenständlichen des Lebens ganz verwurzelten Innenwelt des Dich-


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ters, wenn er hier, sorgsam wie seine ganze Art, nicht versäumt, die gebrechliche Urne durch ein unten befestigtes Seil von dem Felsen abziehen zu lassen?

May schreibt nicht einfach: »Während wir rauchten ...«, sondern belebt den Vorgang durch eine Einzelheit: »Während wir den starken, rauhen und nur wenig fermentierten Tabak von Kelekowa in Brand steckten ....« (Bd. 2, S. 126).

Beherzigt May überall die bekannte Regel, derzufolge ein guter Schriftsteller ins Einzelne gehen muß, um zu fesseln? Der Sprachwelschling sagt: »Wer detailliert, interessiert.« May begnügt sich z.B. nicht, einfach zu sagen, daß ein Schriftstück des greisen Dschesidi-Priesters Pir Kamek (Bd. 2, S. 88) im Innern des hohlen Baums versteckt gewesen sei. Nein, er spricht von einer besonderen Baumart, von dem Thinar-Baum. Er weiß jede Handlung mit einer Fülle gegenständlicher Anschauungen im Kleinsten zu beleben, so wenn er schildert, wie eine geheime Schrift entziffert wird (z.B. Bd. 2, S. 93; Bd. 3, S. 640/41). Er löst, worauf schon  F r i t z   P r ü f e r  in seinem aufschlußreichen Aufsatz über den Wert des »Blauroten Methusalem« (Jahrbuch 1918) vom Standpunkt des Lehrers und des Unterrichts hinwies, überall Beschreibung in Handlung auf und befriedigt damit ein schon von Homer durchgehend erfülltes Gesetz der Darstellung.

Mays Schriften sind vielfach, z.B. auch in erd- und völkerkundlicher Hinsicht, belehrend, doch mehr durch allgemeine Kennzeichnungen und treffende Stimmungsbilder als in allen Einzelheiten.

Die fremdsprachlichen Wechselreden und sonstigen Bestandteile haben nur eine schwache innere Be-


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ziehung. Sie wirken als Reize, als Köder der Einbildungskraft, als Theaterflitter. Daher auch die Fülle sphinxartiger Kapitelüberschriften. So in Bd. 10 und 23. -

Daß May dennoch scharf schaute, fein schilderte, wahrheitsgetreu malte, Gestalten richtig zeichnete, bekennt ja auch der aus dem Weltkrieg als Berichterstatter bekannte Schriftsteller  E .   G e r m a n  in seinem Aufsatz »Auf den Spuren Kara Ben Nemsis« (Jahrbuch 1918). Aehnlich der Hauptmann Hans-Erich  T z s c h i r n e r - B e y  (Jahrbuch 1919) und andre Sachkenner.

Man geht fehl, wenn man bei May völlig zuverlässige Belehrungen überhaupt auf allen Gebieten des Wissens fordert. Erwartet man denn bei einem Schriftsteller, der sich selbst als Hakawati, als Märchenerzähler, ausdrücklich bezeichnet, die Sachlichkeit der Wissenschaft? Wenn nun auf der einen Seite die Prüfung der Einzelheiten bei May seinen Ruhm einwandfreier Sachlichkeit hier und da zerbröckeln mußte, so lernte man ihn auf der andern Seite als erfindungsreichen Erzähler und einen grundgütigen Menschen um so höher schätzen. Ueberdies werden die neuen Auflagen allmählich auch nach der sachlichen Seite hin verbessert, so daß die Schulen Mays Werke nicht nur als Träger sittlicher Hochziele, sondern auch als Mittel sachlicher Belehrung ruhig verwerten können.

Mays Schreibart (37) ist stellenweise hastig, ungepflegt, doch immer ehrlich. Sie ist vor allem nicht papieren, sie drückt seine innern Zustände und Ge-


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sichte immer leicht verständlich, oft sehr frisch und lebendig aus, während wir bei vielen höher geschätzten Schriftstellern oft Satzgebilde finden, die nur mit Anstrengung und Hemmung und dann noch unvollständig zu verstehen sind. Der gute Eifer für das Wohl der Jugend darf nicht dazu verführen, mit der roten Tinte schulmeisterlicher Einseitigkeit die Schönheitsfehler einer Schreibweise anzustreichen, die durch ihre Vorzüge, vor allem durch Klarheit, Verständlichkeit und wohlklingenden Fluß weit mehr als nur wettgemacht werden. Denn die schlimmsten Gebrechen unsrer Schreibweise sind: Gespreiztheit, unklare Gliederung, Bildervermengung, die stets auf Unehrlichkeit oder Unreife deuten, ferner unschöne Taktschrift und Fehlgreifen im Ausdruck. Von all diesen Gebrechen ist Mays Schreibweise im wesentlichen frei.

May ist wirklich, wie  H e r m a n n   H e s s e  in einem eignen Aufsatz über ihn bekannte, kein Macher, sondern ein Schriftsteller, der die verschiedenen Kunstmittel der Erzählung mit zunehmender Meisterschaft, freilich mehr unbewußt als planmäßig anwendet. Seine Kunst steht, wie bei allen Genies, mit der unbewußten Natur im innigsten Bunde. Verdient der als Schundschriftsteller, als Macher abgetan zu werden, der so entschieden für sittliche Hochziele eintritt, der in 40 Bänden das Kunststück fertig bringt, auf das Allerweltsmittel der spannungsuchenden Schriftsteller zu verzichten, das Liebesspiel? Welche Meisterschaft verrät sich in der Kunst der Darstellung, des Aufbaus und der Einführung der handelnden Personen (Exposition)! Hierfür noch ein Beispiel. Man lese im Bd. 3 »Von Bagdad nach Stambul« das siebente Kapitel »In Stambul«:


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Da saßen zwei in einem Zimmer des Hotel de Pest in Pera, tranken den famosen Ruster, den ihnen der Wirt, Herr Totfaluschi, eingeschenkt hatte, rauchten dazu und langweilten sich entsetzlich, wie es schien.

Sie sahen nicht gar sehr »geschniegelt und gebügelt« aus. Das Aeußere des einen bestand in langen, starken Juchtenstiefeln, einer braunen Hose, einer braunen Jacke, sonnenverbranntem Gesicht und braunen Beduinenhänden. Das Aeußere des andern war »grau in grau gemalt«, die Nase ausgenommen, die sich mit einem ausdauernden holden Erröten präsentierte. Sie tranken und rauchten, und rauchten und tranken in allertiefster Schweigsamkeit. War es wirklich aus Langeweile, oder trugen sie sich mit großen, weltbewegenden Gedanken, für welche die Sprache der Menschen glücklicherweise keinen passenden Ausdruck fand?

Es schien das letzte der Fall zu sein, denn plötzlich öffnete der Graue den Mund, schüttelte die Nase und schloß die Augen; er konnte es nicht länger verhindern, einer seiner großen Gedanken befreite sich und riß sich los in den siegreich hervorgestoßenen Worten:

»Master, was haltet Ihr von der orientalischen Frage?«

»Daß sie nicht mit einem Frage-, sondern mit einem Ausrufzeichen zu markieren ist,« lautete die Antwort des Braunen.

Der Graue tat seinen Mund wieder zu, riß die Augen auf und machte ein Gesicht, als habe er eben einen Band von Keladis »Sprüche eines Weisen«, Großfolio und in Schweinsleder gebunden, verschlingen müssen.

Der Graue war Sir David Lindsay, und der Braune, der war ich.

Man wird mir zugegen, daß Vorenthaltung der Namen hier wie sonst als ein spannungserregender Umstand wirkt. In geschickterer und ungezwungenerer Weise sind die beiden Personen kaum ins Spiel zu bringen.

Ein Mittel, die Spannung des Zwiegesprächs zu erhöhen, wird von May meisterlich gehandhabt: das der Enttäuschung. Er hält seinen Gesprächsgegner,


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auf seinen Gedankengang scheinbar eingehend, lange Zeit auf falscher Fährte, um dann auf dem Höhepunkt der Erwartung jäh mit dem Gegenteil des Erwarteten herauszuplatzen. Dies reichlich angewandte Mittel wirkt außerordentlich anregend auf das Vergnügen des Lesers. Als Beispiel für diesen Grundzug der Mayschen Romantechnik sei das Gespräch abgedruckt, das May in Amadijah, wo er die Befreiung Amad el Ghandurs, des Sohnes Mohammeds, des Scheichs der Schammar, betreibt, mit dem prachtvoll gezeichneten Mutesselim und dem Makredsch führt. Die beiden Ehrenmänner wollen ein Lösegeld von ihm erpressen.

»Ja. Der Mutesselim wird dich gefangennehmen und dich nach Mossul schicken, dich und alle, die bei dir sind. Es gibt nur ein einziges Mittel, dich und sie zu retten.«

»Welches?«

Er gab einen Wink und die drei Offiziere traten ab.

»Du bist ein Emir aus Frankistan, denn die Nemsi sind Franken,« begann nun der Makredsch. »Ich weiß, daß du unter dem Schutz ihrer Konsuln stehst, und daß wir dich also nicht töten dürfen. Aber du hast ein Verbrechen begangen, auf dem die Strafe des Todes steht. Wir müssen dich über Mossul nach Stambul senden, wo du dann allerdings ganz gewiß deine Strafe erleiden wirst.«

Er machte eine Pause. Es schien ihm nicht leicht zu werden, jetzt die richtige Wendung zu finden.

»Weiter!« meinte ich.

»Nun bist du aber ein Schützling des Mutessarif gewesen; auch der Mutesselim hat dich freundlich aufgenommen, und so wollen diese beiden nicht, daß dir ein so trauriges Log bereitet werde.«

»Allah denke ihrer dafür in ihrer letzten Stunde!«

»Ja! Darum ist es möglich, daß wir von einer Verfolgung dieser Sache absehen, wenn - - -«

»Nun, wenn?«


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»Wenn du uns sagst, wieviel das Leben eines Emirs aus Germanistan wert ist.«

»Es ist gar nichts wert.«

»Nichts? Du scherzest!«

»Ich rede im Ernst. Gar nichts ist es wert.«

»Inwiefern?«

»Weil Allah auch einen Emir in jeder Stunde zu sich fordern kann.«

»Du hast recht; das Leben steht in Allahs Hand; aber es ist ein Gut, das man beschützen und erhalten soll!«

»Du scheinst kein guter Moslem zu sein, denn sonst würdest du wissen, daß die Wege des Menschen im Buch verzeichnet stehen.«

»Und dennoch kann der Mensch sein Leben wegwerfen, wenn er diesem Buch nicht gehorcht. Willst du dieses tun?«

»Nun gut, Makredsch. Wie hoch würdest du dein eignes Leben schätzen?«

»Wenigstens zehntausend Piaster.«

»So ist das Leben eines Nemtsche gerade zehntausendmal mehr wert, nämlich hundert Millionen Piaster. Wie kommt es, daß ein Türke so sehr tief im Preis steht?«

Er blickte mich verwundert an. »Bist du so ein reicher Emir?«

»Ja, da ich ein so teures Leben besitze.«

»So meine ich, daß du hier in Amadijah dein Leben auf zwanzigtausend Piaster schätzen wirst.«

»Natürlich!«

»Und das deines Hadschi Lindsay-Bey ebenso hoch.«

»Ich stimme bei.«

»Und zehntausend für den dritten.«

»Ist nicht zu viel.«

»Und dein Diener?«

»Er ist zwar ein Araber, aber ein tapfrer und treuer Mann, der ebensoviel wert ist, wie jeder andre.«

»So meinst du, daß auch er zehntausend kostet?«

»Ja.«

»Hast du die Summe berechnet?«

»Sechzigtausend Piaster. Nicht?«

»Ja. Habt ihr soviel Geld bei euch?«


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»Wir sind sehr reich, Effendi.«

»Wann wollt ihr bezahlen?«

»Gar nicht.«

Es war spaßig zu beobachten, mit welchen Gesichtern die beiden Männer erst mich und dann sich ansahen. Dann fragte der Makredsch:

»Wie meinst du das, Effendi?«

May versteht sich überhaupt auf die Leserseele. Er hat die rechte Witterung für das Zeitmaß, in dem ihr Spannungshunger befriedigt werden muß. Er vermeidet mit richtigem Blick im allgemeinen ein Zuviel und ein Zuwenig an Spannung, er »dosiert« sie gleichsam richtig nach den Gesetzen, die zur »Diätetik« der Leserseele gehören. Ich habe in dieser Beziehung immer jene Stelle im Bd. 24 »Weihnacht« bewundert, an der May, vielmehr Old Shatterhand, der ausgewanderten Frau Hiller den auf Leder geschriebenen Indianerbrief deutet. Mit welcher Kunst bekommen wir hier (S. 200 - 210) nach und nach im Verlauf des Wechselgesprächs alles Wissenswerte zu erfahren!

Der Mann der Frau Hiller, ein Pelzhändler, ist in die Gefangenschaft eines Indianerhäuptlings geraten, der ihn als Geisel benutzt und seine Freigabe von der Lieferung einer großen Gewehrmenge abhängig macht. Sein erpresserisches Angebot hat er einem Lederbrief anvertraut, dessen Bedeutung die ahnungslose Frau gar nicht kennt. Schon das ist ein Kunstgriff des Schriftstellers, daß er die Empfängerin des geheimnisvollen Indianerbriefs auf die gleiche Stufe der Unkenntnis stellt, auf der sich der Leser befindet. Wie Old Shatterhand die um ihren so lange ausgebliebenen Mann bangende Frau schrittweise aufklärt über das Wesen des Stückchens Leder, die Art des Briefver-


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schlusses, wie er durch Aufweichen des zusammengelegten Lederstücks den Brief öffnet und schließlich die sichtbar gewordene Bilderschrift entziffert, und dabei in spannungsreichem Hin und Her von Frage und Belehrung allmählich alle Einzelheiten der Gefangennahme ihres Gatten erfährt: das alles ist so fabelhaft sicher aufgebaut, daß May auch der Anerkennung von Anspruchsvolleren sicher sein sollte. Keine trockene Belehrung, überall lebensvolle Handlung; überall wird das Wissen dem Leser in innigster Verbindung mit dem Schicksal von Menschen, ihren Leiden, Freuden und Erwartungen vermittelt.

Ein Schundliterat ergeht sich, mindestens dann und wann, in schwülstigen Gemeinplätzen und unechten Gefühlsduseleien. So gut wie nichts von alledem bei Karl May. Seine Sprache ist klar, knapp, hauptsatzliebend, hat Hand und Fuß, Anschauung und Bildhaftigkeit. Seine Beschreibungen haben immer die Form aufeinanderfolgender Beobachtungen.

Er schildert lebendig, immer sachlich und gibt stets greifbare Maßzahlen. Besonders gelingen ihm Menschenschilderungen, die mit einfachsten Mitteln oft wahre Kabinettstücke an Kunst der Darstellung bieten. Man lese daraufhin z.B. die Schilderung des Haushofmeisters Selim im ersten Band des »Mahdi«! May ist groß, ja in seiner Art einzig in der Kunst, Menschentypen zu schaffen und diese mit einfachsten, aber zwingend anschaulichen Mitteln zu kennzeichnen. Er erinnert in der Verwendung harmloser und urwüchsiger Mittel, vor allem der Situationskomik und Gestaltkomik, an Wilhelm Busch. Bei ihm kommt noch die Sprachkomik dazu. So sagt Selim immer: »Richtig, sehr richtig.« In den amerikanischen Erzählungen


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kommt ein an die Plakatreklame der »Stettiner Sänger« erinnerndes Freundespaar vor. Der Lange hat die ständige Redewendung: »Wenn du denkst, lieber Dick, daß ..., so habe ich nichts dagegen.« Mit zwingender Drolligkeit gezeichnete Käuze sind u.a. der Hobble-Frank und die Tante Droll in »Halbblut«, Gottfried von Bouillon, Kapitän Turnerstick und Mijnheer van Aardappelenbosch im »Blauroten Methusalem«, Hadschi Halef Omar - der freilich über alle bloße Komik weit hinauswächst, als Held und Mensch innerer Entwicklung - und viele, viele andre.

Wer könnte unsrer Schuljugend die bunte Eigenart orientalischen Straßenlebens so anschaulich vor Augen führen wie May?

Durch ein vernichtendes Urteil über May wurde ich vor Jahren veranlaßt, nach langer Zeit einmal wieder einen Band May zu lesen. Aber diesmal dämmte ich den Anteil am Stofflichen und am Handlungsablauf gewaltsam zurück und prüfte, sichtete, schürfte zweifelnd und forschte Zeile für Zeile nach einer Spur der Berechtigung, die jenem vernichtenden Urteil zukommen könnte. Auch grad vom Standpunkt des Lehrers fragte ich immer wieder nach Wert und Unwert, Nutzen und Schaden, förderlicher und verderblicher, volkserzieherischer und volksschädigender Wirkung der Mayschen Bücher. Nehmt alles nur in allem: sie sind schulwürdig.





[Anmerkung (Im Original am Ende der entsprechenden Seite.)]

37 Vgl. meinen Aufsatz im Jahrbuch 1924.


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