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Christoph F. Lorenz / Bernhard Kosciuszko

Hadschi Halef Omar

Die Genese eines Dieners


Die vielleicht originellste, unverwechselbarste und humorigste Diener- bzw. Gefährten-Gestalt, die Karl May schuf und deren langen Namen nebst fälschlich zugelegten 'Hadschi'-Titeln einst jeder jugendliche Karl-May-Leser auswendig hersagen können mußte, hat ihren Ursprung in einigen 'Prä-Halef'-Figuren des Frühwerks. In Leïlet (1876) ist Omar-Arha Ben Afradin der 'Freund und Beschützer' seines Sihdi. Wie Halef tut er sich gern mit der 'Nilpeitsche' in der Hand wichtig, verkündet in blumigen, stark übertreibenden Worten die Taten und Fertigkeiten seines Herrn, um von dessen Ruhm auch selbst einen Teil einzustreichen, ist aber trotzdem ein treuer, aufrichtiger und tapferer Diener (Minister "aller inneren und äußeren Angelegenheiten"1) und ein 'Spaßvogel' ('Mukle'). Insgesamt freilich bleibt Omar-Arha eine blasse Gestalt, ohne etwa auch nur das physiognomische Profil Halefs zu erhalten. Eine weitere Vorstufe zu Halef findet sich in der Erstfassung der Gum (1878) in Mahmud Ben Mustafa Jussuf Jaakub ebn Baschar, dem sprachkundigen und aufschneiderischen, aber trotz seiner Goliath-Gestalt feigen Diener des noch namenlosen, weltreisenden Ich-Erzählers.2 Mahmud wird in der erweiterten Fassung der Erzählung, in Unter Würgern (18793; 1894 als Die Gum in den Band X, Orangen und Datteln, der 'Gesammelten Reiseromane' übernommen) zu Hassan el Kebihr, der eigentlich den langen Namen Hassan-Ben-Abulfeda-Ibn-Haukal al Wardi-Jussuf-Ibn-Abul-Foslan-Ben-Ishak al Duli trägt, sich aber aus Großmannssucht 'Hassan, der Große' nennt. Er ist Begleiter eines Reisenden, der eine direkte Vorstufe zu Kara Ben Nemsi darstellt, denn er wird mit Old Shatterhand gleichgesetzt (X 28). Wenn Hassan auch von seinem Äußeren und seiner Feigheit her gerade das Gegenteil Halefs verkörpert, so sind doch auch Gemeinsamkeiten auszumachen: Hassans um den gesamten Stammbaum erweiterter Name, sein Hang, den Islam zu preisen, seine Vorliebe, Reden - auch Streitreden - zu halten und der Hang zur Prahlerei.

   Zwei weitere 'Halef-Vorbilder' sind zu erwähnen: 1878 erschien die Erzählung Die Rose von Sokna. Der mit "wirklicher



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Liebe" an seinem Herrn hängende Diener, der ausdauernd, kräftig, listig, mutig, sprachgewandt, aber ein wenig eitel ist4, heißt - wie der im 1879/80 erschienenen Kolportageroman Scepter und Hammer agierende Gehilfe Katombos - Ali-el-Hakemi-Ebn-Abbas-Ebn-er-Rumi-Ben-Hafis-Omar-en-Nasafi. Dieser besitzt eine "nicht zu hohe aber äußerst nervige und geschmeidige Gestalt". Ali

war nicht nur der treueste und zuverlässigste Diener, den es gab, sondern er zeichnete sich [...] durch eine ansehnliche Portion Lebhaftigkeit aus, die sehr oft geradezu in Frohsinn und eine Heiterkeit überging, welche sich in den possirlichsten Witzen erging. 5

Sein Hang zur Aufschneiderei provoziert groteske Szenen, aber er ist tapfer und avanciert später zum Schiffsführer Katombos. Einen nachhaltigen Eindruck beim Leser hinterläßt Ali jedoch nicht.

   Es gibt im Mayschen Oeuvre genug absonderliche Dienerfiguren, die vor allem die Funktion haben, dem Helden als Kontrastfigur zu dienen, damit neben der Spannung der Humor nicht zu kurz kommt. Urbild aller Diener und Begleiter der Helden in den frühen Reiseerzählungen Mays ist der komische Dienertypus der Commedia dell'arte, den Dienstbeflissenheit und Witz mit Unterwürfigkeit, je nach Sachlage Geschicklichkeit oder Ungeschicklichkeit, und vor allem ein schier ungeheures Vermögen, aus kniffligen Situationen heil herauszukommen, charakterisieren. Der Theaterfreund May hat die Typenkomödie für seine Zwecke recht erfolgreich geplündert.

   Im Dezember 18806 erscheint dann endlich Halef auf der literarischen Bühne:

[...] ein eigentümliches Kerlchen. Er war so klein, daß er mir kaum bis unter die Arme reichte, und dabei so hager und dünn, daß man hätte behaupten mögen, er habe ein volles Jahrzehnt zwischen den Löschpapierblättern eines Herbariums in fortwährender Pressung gelegen. Dabei verschwand sein Gesichtchen vollständig unter einem Turban, der drei volle Fuß im Durchmesser hatte, und sein einst weiß gewesener Burnus, welcher jetzt in allen möglichen Fett- und Schmutznuancen schimmerte, war jedenfalls für einen weit größeren Mann gefertigt worden, so daß er ihn, sobald er vom Pferde gestiegen war und nun gehen wollte, empornehmen mußte wie das Reitkleid einer Dame. Aber trotz dieser äußeren Unansehnlichkeit mußte man allen Respekt vor ihm haben. Er besaß einen ungemeinen Scharfsinn, viel Mut und Gewandtheit und eine Ausdauer, welche ihn die größten Beschwerden überwinden ließ. Und da er auch außerdem alle Dialekte sprach, welche zwischen dem Wohnsitze der Uelad Bu Seba und den Nilmündungen erklingen, so kann man sich denken, daß er meine vollste Zufriedenheit besaß, so daß ich ihn mehr als Freund denn als Diener behandelte.


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   Eine Eigenschaft besaß er nun allerdings, welche mir zuweilen recht unbequem werden konnte: er war ein fanatischer Muselmann und hatte aus Liebe zu mir den Entschluß gefaßt, mich zum Islam zu bekehren. Eben jetzt hatte er wieder einen seiner fruchtlosen Versuche unternommen, und ich hätte lachen können, so komisch sah er dabei aus.

   Ich ritt einen kleinen, halb wilden Berberhengst, und meine Füße schleiften dabei fast am Boden; er aber hatte sich, um seine Figur zu unterstützen, eine alte, dürre, aber himmelhohe Hassi-Ferdschahn-Stute ausgewählt und saß also so hoch, daß er zu mir herniederblicken konnte. Während der Unterhaltung war er äußerst lebhaft; er wedelte mit den bügellosen Beinen, gestikulierte mit den dünnen, braunen Aermchen und versuchte, seinen Worten durch ein so lebhaftes Mienenspiel Nachdruck zu geben, daß ich alle Mühe hatte, ernst zu bleiben. [...]

Bei diesen Worten zog er seine Stirn in sechs drohende Falten, zupfte sich an den sieben Fasern seines Kinns, zerrte an den acht Spinnenfaden rechts und an den neun Partikeln links von seiner Nase, Summa Summarum Bart genannt [...]. (I 1-3)

Bewaffnet ist Halef anfangs mit einer langen Flinte; später kauft er sich von seinem Lohn eine Nil(pferd)peitsche und hat dann auch Pistolen.

   Zum eigentümlichen Reiz der Halef-Figur, im Gegensatz zu den meisten der erwähnten 'Vor-Bilder', gehört ihre Mehrdimensionalität, also die Unmöglichkeit, Halef lediglich auf das Klischee des aufschneiderisch-komischen Dieners festlegen zu können. Insbesondere verbindet Halef mit Kara Ben Nemsi wirkliche Freundschaft, was gleich zu Beginn des Orientzyklus ausdrücklich erwähnt wird. Neben den mehr oder weniger standardisierten 'komischen Motiven', wie aufschneiderisches Reden, Prahlen mit den Taten und Fähigkeiten Kara Ben Nemsis und seinem eigenen (wirklichen und erfundenen) Anteil daran, blumiger Redestil, häufiger Ge- oder Mißbrauch der 'Kurbatsch' (Nilpferdpeitsche), die bis ins Spätwerk hinein mit dieser Figur verbunden bleiben, hat May dem treuen Gefährten des Helden seiner Orientromane in zunehmendem Maße auch gewichtige, ernsthafte Züge verliehen: Halef zeichnet sich durch absolute Furchtlosigkeit, Hilfsbereitschaft - auch unter Lebensgefahr - und durch Witz, Klugheit und eine bedeutende Anlage zur List aus. Wenn er auch nie das Niveau des Überhelden Kara Ben Nemsi erreicht, so wird er doch im Verlaufe des Zyklus den Westmännern 'zweiten Ranges' (Hobble-Frank, Dick Stone u.a.) vergleichbar. So reitet und schießt Halef sehr gut und lernt von Kara Ben Nemsi (wenn auch begrenzt) die Kunst des Spurenlesens.

   Halef, dessen Alter in Ardistan und Dschinnistan als das Kara Ben Nemsis angegeben wird (XXXI 48) (andernorts nennt May als Geburtsjahr 18487), stammt wohl aus Dschuneth (heute


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Dschanet - ein Ort, fast 1300 km südlich von Tunis). Er erzählt Kara Ben Nemsi seine Familiengeschichte: Sein Großvater, Dawud al Gossarah, "bewohnte mit dem berühmten Stamme der Uëlad Selim und Uëlad Bu Seba den großen Dschebel Schur-Schum [in Mauretanien]." (I 281; vgl. I 8f.) Somit gehört auch Halef eigentlich diesem Stamm (Stämmen) an, so wird es jedenfalls bei seiner Hochzeit dargestellt. Der Großvater

"machte sich als Jüngling auf die Pilgerreise. Er kam glücklich über el Dschuf, das man den Leib der Wüste nennt; dann aber wurde er krank und mußte am Brunnen Trasah zurückbleiben. Dort nahm er ein Weib und starb, nachdem er seinen Sohn Abul Abbas gesehen hatte."

Auch Halefs Vater begab sich auf die Pilgerreise nach Mekka

"und kam bis in die Ebene Admar, wo er zurückbleiben mußte. [...] Er erblickte da Amareh, die Perle von Dschuneth, und liebte sie. Amareh wurde sein Weib und gebar ihm Halef Omar, den du hier neben dir siehst. Dann starb er. [...] Als meine Mutter tot war, begab ich mich auf die Pilgerschaft. Ich zog gen Aufgang und Niedergang der Sonne; ich ging nach Mittag und nach Mitternacht; ich lernte alle Oasen der Wüste und alle Orte Aegyptens kennen". (I 9)

Obwohl Halef sich, seinen Vater und seinen Großvater großzügig mit dem Titel 'Hadschi' versieht, hat keiner von ihnen Mekka tatsächlich besucht. Kara Ben Nemsi findet hierin das Argument, mit dem er Halefs Missionseifer erfolgreich dämpfen kann. Das Verhältnis kehrt sich im Verlaufe des Zyklus sogar um: Durch den Umgang mit dem 'Vorbild-Christen' Kara Ben Nemsi wird Halef schließlich innerlich auch zum Christen: Anzeichen für die Abkehr vom Islam ist beispielsweise, daß Halef Schweinefleisch mit Genuß ißt, ja solches von Kara Ben Nemsi ausdrücklich erbittet (V 580, VI 66). Aber auch eindeutige Äußerungen belegen Halefs Christsein: Anläßlich des Gedenkens an den Tod Mohammed Emins betet Halef am Grab von Bebbeh-Kurden. Kara Ben Nemsi gegenüber erklärt er:

"[...] kein solcher [Muhammedaner] betet am Grabe seines Feindes. Ich und mein Sohn haben als Christen hier gestanden und das heilige Abuna [Vaterunser] gebetet, welches ich von dir gelernt habe." (VI 580)

Besonderen Einfluß auf diesen Wandel hat allerdings auch Halefs Frau Hanneh ausgeübt.

   Diese lernt er durch den Besuch der heiligen Stadt Mekka, der ihn endlich zum richtigen 'Hadschi' werden läßt, kennen. Bis dahin hatte Halef als Freund und Diener Kara Ben Nemsis (dessen Name entstand, weil Halef den deutschen Namen Karl nicht aus-


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prechen [ausprechen] konnte, I 39) an dessen Abenteuern (Ritt über den Schott Dscherid, Rettung Senitzas) keinen rechten eigenständigen Anteil. In der Mekka-Episode gewinnt er jedoch größere Bedeutung: Er erhält Hanneh zur Frau, die Enkelin Maleks, des Scheiks der Ateïbeh. Zunächst heiratete er Hanneh nur zum Schein, um ihr den Mekka-Besuch zu ermöglichen. Beide verlieben sich jedoch ineinander. Nachdem Halef den berüchtigten Abu-Seïf im Zweikampf tötete, wird er in den Stamm der Ateibeh aufgenommen und Hanneh darf seine Frau bleiben. Die Ateïbeh senden Halef als Gesandten an die Schammar mit der Bitte, sich ihnen anschließen zu dürfen. Mohammed Emin, der Scheik der Haddedihn, einer Abteilung der Schammar, nimmt sie in seinen Stamm auf. Kara Ben Nemsi hilft den Haddedihn im Kampf gegen übermächtige Feinde. Dann zieht er weiter, den Sohn Mohammed Emins zu befreien. Halef bittet darum, ihn weiter begleiten zu dürfen, obwohl er gewissermaßen noch in den Flitterwochen ist. An der Seite Kara Ben Nemsis nimmt er am Abenteuer bei den Teufelsanbetern teil, hilft bei der Befreiung Amad el Ghandurs, begegnet in Kurdistan der alten Königin Marah Durimeh, kämpft gegen die feindlichen Bebbeh-Kurden Gasahl Gaboyas, erlebt Mohammed Emins Tod und begleitet mit Kara Ben Nemsi den vornehmen Perser Hassan Ardschir-Mirza nach Bagdad.

   Der Beginn des dritten Bandes des Orientzyklus, dessen erste Hälfte in der Zeitschriftenfassung den Titel Die Todes-Karavane trägt, stellt geographisch eine Abwärtsbewegung dar: von den Höhen Kurdistans geht es nun herab in die Ebene des Zweistromlandes. Dem entspricht ein 'Stimmungs- und Formtief' des Helden Kara Ben Nemsi. Damit einhergehend spielt Halef nun eine immer wichtigere Rolle im Abenteuer-Geschehen:

Halef, nicht Kara Ben Nemsi, entdeckt den heimlichen Lauscher im Busch (13); er wird von Kara Ben Nemsi ausdrücklich wegen seiner Umsicht gelobt (97); Halefs Treue und Anhänglichkeit trösten über das ungerechte Verhalten Mohammed Emins und sein Zurücknehmen des Rappen Rih hinweg (153-154); Halef wehrt die Hiebe ab, die Kara Ben Nemsi tödlich treffen sollen (169) [und tötet den gefährlichen Gasahl Gaboya]; er beweist trotz eigener Verwundung Umsicht nach dem Überfall (175) [...]; er erhält von Kara Ben Nemsi einen Vertrauensposten zugewiesen ("denn auf dich kann ich mich am besten verlassen", 222) und wird dem Perser als mustergültig empfohlen ("ziehe meinen Hadschi Halef Omar zu Rate [...]. Er ist ein treuer, kluger und erfahrener Mann, auf den man hören darf", 231). [...] Und in Bagdad gelingt Halef das Beschleichen und Belauschen der Feinde fehlerfrei (292-293),


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während Kara Ben Nemsi sich dort überrumpeln läßt und bekennen muß: "Ich bin unvorsichtig gewesen." (295)8

- ein Vorwurf, der sonst nur allzu oft dem übereifrigen Halef gemacht wird. Als Kara Ben Nemsi der Rappe Rih von Mohammed Emin genommen wird, steht Halef ihm in seiner tiefen Niedergeschlagenheit bei; und die Szene gerät zu einem Liebesgeständnis:

"[...] ist das Pferd dir lieber als dein treuer Hadschi Halef Omar?" "Nein, Halef. Für dich würde ich zehn und noch mehr solche Pferde hingeben." "So tröste dich [...], denn ich bin bei dir und bleibe bei dir [...]!" [...] das Herz wurde mir groß und weit unter der Gewißheit, die Liebe eines Menschenkindes zu besitzen, eines Menschenkindes, dem auch meine Zuneigung gehörte. (III 153f.)

In Bagdad wird Kara Ben Nemsi von der Pest befallen. Er liegt auf Leben und Tod. Halef pflegt ihn aufopferungsvoll, die Ansteckungsgefahr todesmutig nicht achtend. Kara Ben Nemsi ist noch nicht ganz genesen, da trifft es auch Halef; er erkrankt an einer besonders gefährlichen Art der Pest. Die beiden überleben die schreckliche Krankheit und kehren dann zu den Haddedihn zurück. Dort erfährt Halef, daß er inzwischen Vater geworden ist: Hanneh hatte ihm einen Sohn, Kara Ben Halef, geboren.

   Die Mitte des Orientzyklus ist fast erreicht9, die Figur Halef hat nun einen Status erreicht, der sich bis zum Spätwerk Mays nicht mehr ändert. Rekapitulieren wir: Ein mittelloser, kleiner, in Nordafrika herumziehender Araber trifft auf einen omnipotenten europäischen Helden. Er wird dessen Diener, Gefährte, in noch eingeschränktem Maße dessen Freund - vor allem aber dessen Lehrling. Die Lehrzeit endet mit Halefs 'Gesellenstück', dem Tod Abu-Seïfs.

   Zeichen der Reife Halefs sind der zu gleicher Zeit erworbene rechtmäßige Hadschi-Titel und die Heirat mit Hanneh. Die nun folgende Zeit ist geprägt von der Entwicklung Kara Ben Nemsis zum mythischen Halbgott; eine Entwicklung, die - auch geographisch - ihren Höhepunkt und Abschluß in der Begegnung Kara Ben Nemsis mit Marah Durimeh findet. Nach der Vollendung des Meisters kann dann auch der Geselle avancieren: Halefs Aktivitäten in der Todes-Karavane, von denen die zweimalige Lebensrettung Kara Ben Nemsis die bedeutsamste ist, lassen ihn über den Gesellenstatus hinauswachsen. Er wird Partner und Vertrauter (Halef kennt nun auch Rihs Geheimnis) seines Meisters. Und - nun erst - beginnt die wirkliche, tiefe Freundschaft der beiden; Beleg dafür sind die mehrfachen Liebes- und Zusammengehörig-


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keitserklärungen [Zusammengehörigkeitserklärungen], die in der Äußerung Halefs gipfeln, er habe Kara Ben Nemsi

"so lieb, so lieb, daß ich mein Leben tausendmal für dich hingeben würde, wenn das möglich wäre. Ich würde sogar vielleicht Hanneh verlassen, wenn es zu deinem Glück notwendig wäre." (VI 369)

Der Abschluß der Entwicklung der Figur Halef wird schließlich signalisiert durch die Geburt seines Sohnes: Nun ist er reif, selbst Autorität, Vorbild, Lehrer eines Menschen zu sein.

   Ein Vergleich Halefs mit Winnetou, dem Häuptling des [der; IR] Apachen, liegt nahe. Beide Figuren hat May seinem Ich-Helden als besonders nahestehende Gefährten an die Seite gestellt. Doch erreicht Halef im Mayschen Figuren-Kosmos nicht das Niveau, das der Ich-Held und Winnetou innehaben. Winnetou wird Old Shatterhands Blutsbruder, er wird eins mit ihm, beide bilden gewissermaßen ein mythisches Doppelwesen. Halef jedoch bleibt bei aller Intensität der Freundschaft immer eine Rangstufe unter Kara Ben Nemsi. Deutlicher Beleg dafür ist, daß zu Beginn des letzten Orientromans Mays (Ardistan und Dschinnistan) Halef im Palast Marah Durimehs bei den Dienstboten wohnen muß, während Kara Ben Nemsi bei der Fürstin logiert. Grund für den Unterschied zwischen dem Verhältnis Winnetou/Old Shatterhand und dem Verhältnis Halef/Kara Ben Nemsi ist, daß Winnetou und Old Shatterhand von Anfang an gleichwertig waren. Winnetou betritt als fertiger Held die Romanbühne; Old Shatterhand gleicht sich (in Winnetou I) in einer Blitzentwicklung dem Helden-Niveau des Apachen an. Wichtig dabei ist, daß Old Shatterhand eigentlich alle erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten schon besitzt, sie müssen nur noch - quasi sokratisch - ans Licht gebracht werden. Einen Qualitätsunterschied zwischen Winnetou und Old Shatterhand gab es in Wirklichkeit nicht. Bei Halef ist das anders. Er wurde tatsächlich von Kara Ben Nemsi erzogen/gebildet, er mußte umgeformt werden. So wie seine äußere Gestalt nie eine wahre Heldengestalt werden kann, so kann er seines Wesens wegen auch nie ein Über-Held werden.

   Bedeutsam erscheint in diesem Zusammenhang, daß der Konsolidierung des Verhältnisses des Ich-Helden mit seinem 'Intimpartner' jeweils eine Episode vorangeht, in der der Ich-Held mit dem Tode ringt. Auch dabei besteht ein gewichtiger Unterschied zwischen der Szene im Wilden Westen und der im Orient. Für Old Shatterhand ist der Kampf mit dem Tod Initiation, die Überwindung des Todes ist wichtiger Teil seiner Persönlichkeitsentwick-


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lung [Persönlichkeitsentwicklung]. Erst danach ist er würdig, Blutsbruder Winnetous zu werden. Für Kara Ben Nemsi ist die Todesgefahr durch die Pest (für die Romanhandlung) nur Krankheit, keine Initiation - er ist schon Held. Für Halef ist die Krankheit Kara Ben Nemsis Bewährungsprobe, die er besteht, da er sein Leben selbstlos aufs Spiel setzt, um den Gefährten zu retten. Er selbst wird nicht als wirklich gefährdet dargestellt (das ergibt sich schon daraus, daß Kara Ben Nemsi sein Pfleger ist). Halef fehlt die bewußt erlebte Überwindung des Todes. Doch gerade, daß Halef nicht zum Mythos gestaltet wird, macht die Faszination der Figur aus: Er bleibt Mensch.10

   Halef verläßt nach einigen Wochen seine Frau und seinen kleinen Sohn, um Kara Ben Nemsi nach Damaskus zu begleiten. Die Reise weitet sich aus, von Damaskus zu den Ruinen von Baalbeck nach Stambul, von dort quer durch den Balkan bis nach Antivari. Die Rückreise führt per Schiff nach Jaffa und nach Jerusalem. Aus dem touristischen Ausflug wird eine verwegene Verbrecherjagd. Zunächst geht es um Abrahim-Mamur, mit dem Kara Ben Nemsi und Halef schon in der Senitza-Episode zu tun hatten, dann ist es die Bande des Schut, die unschädlich gemacht werden soll. Auf dieser Reise wird Halef einige Male besonders herausgehoben oder hat 'große Szenen': Er wird während der Abwesenheit Kara Ben Nemsis ausdrücklich von diesem als Anführer der kleinen Verfolgergruppe eingesetzt (IV 29). Er rettet Kara Ben Nemsi aus der Hütte des Bettlers und Verbrechers Saban (IV 191-203). Dies ist die bedeutendste völlig eigenständige, gelungene Aktion Halefs, bei der er (sonst ein Kara-Ben-Nemsi-Motiv) mit dem Henrystutzen sechs Meisterschüsse abgibt. Die Episode im Taubenschlag beim Fruchthändler Glawa in Menlik (IV 379-386) ist eine der gelungensten humoristischen Szenen in Mays Werk überhaupt. Beim Schut-Komplizen Murad Habulam wird Halef gleich zweimal auf charakteristische Weise aktiv: einmal spielt er den auf einem Turm eingeschlossenen Verbrechern einen herrlichen Streich, indem er sie mit Hilfe einer Feuerspritze 'einwässert' (V 465-475), dann hat er entscheidenden Anteil am 'Festtag der Prügel' (s.u.). Als Halef kurz danach (VI 26-34) in die Hände der Verbrecher fällt, zeigt sich, daß er selbst in den gefährlichsten Situationen mit bewundernswerter Kaltblütigkeit den Gegnern die haarsträubendsten Geschichten 'verkaufen' kann. Seine größten Fehler, Voreiligkeit und Ruhmsucht, lassen ihn bei einer Bärenjagd (VI 130-140) in Lebensgefahr geraten, aus der


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ihn Kara Ben Nemsi rettet. Am Ende des Abenteuers, als der gefährliche Schut unschädlich gemacht ist, erhält Halef den Rappen Rih als Geschenk von Kara Ben Nemsi (VI 369). Von Henri Galingré wird er mit Banknoten im Werte von 3000 Franken bedacht und auch von Sir David Lindsay erhält er Geld (sicherlich nicht wenig), so daß er als für die Umstände seines Lebenskreises reicher Mann zu den Haddedihn zurückkehrt. Er wird dort in den Rat der Alten aufgenommen und nach dem Tod Maleks Scheik (XXVI 283).

   Die neue Gewichtigkeit der Figur Halef geht einher mit einer Zunahme der Bedeutung seines 'Markenzeichens', der Nilpferd-Peitsche, für die Handlung. Zwar hatte Halef sich die Peitsche schon früh zugelegt (s.o.), aber erst vom vierten Band des Zyklus an wird sie intensiv als Romanmotiv eingesetzt.11 Die Peitsche ist Herrschaftssymbol, Machtinstrument.12 Als 'rechte Hand' des Helden sorgt Halef mit ihr dafür, daß seinem Herrn angemessen Respekt entgegengebracht wird, vollzieht gerechte Strafen (für kleinere, spontan zu ahndende Vergehen)13 und verschafft auch sich selbst mit ihrer Hilfe die erforderliche Genugtuung, wenn beispielsweise allzu abfällig über seine kleine Statur geredet wird. In furioser Weise gestaltet May eine ganze Episode mit dem Peitschen-Motiv: Die Verbrecher um Murad Habulam bekommen sie - verdientermaßen - in mannigfaltiger Form zu spüren. Halef ist ganz begeistert von dem Vorhaben, dem Kara Ben Nemsi den Namen "Festtag der Prügel" verleiht; er drückt dies in seiner unnachahmlichen Redeweise in einer kleinen Ansprache aus:

"Sihdi, du hast jetzt ein großes, herrliches Wort gesprochen. Ueber dich wird Freude sein unter den Gläubigen und Wonne unter den Seligen der letzten drei Himmel. Endlich willst du einmal zeigen, daß du die Zierde des männlichen Geschlechtes und die Krone der Helden bist. Meine Muskeln werden zu Schlangen und meine Finger zu Scheren des schneidenden Krebses. Ich werde wüten unter den Räubern und toben unter den Mördern. Es wird ein Heulen geben in Kilissely und ein Zetern unter den Söhnen des Verbrechens. Die Mütter und Töchter derjenigen, die kein gutes Gewissen haben, werden jammern, und die Tanten und Schwestern der Ungerechten werden sich die Haare ausraufen und die Schleier zerreißen. Die Vergeltung öffnet ihren Rachen, und die Gerechtigkeit wetzt ihre Krallen, denn hier steht der Richter mit der Peitsche der Rache in der Hand, der Held des Tages der Prügel, Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ihn Hadschi Dawud al Gossarah!" (V 489f.)

In den folgenden Erzählungen, die für katholische Marienkalender geschrieben wurden14, und im Roman Im Reiche des silber-


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nen [silbernen] Löwen I/II (1898) wird Halef im Sinne der letzten Bände des Orientzyklus als dem Ich-Helden gemäßer Begleiter dargestellt; in den Kalendergeschichten betont May (dem Medium entsprechend?) Halefs (innere) Hinwendung zum Christentum stärker. Ein Wandel erfolgt in der Darstellung Hannehs, die im Orientzyklus als Figur keine besondere Kontur erlangt. Ab Im Reiche des silbernen Löwen I wird ihre bedeutende Rolle als Lenkerin des kleinen Hadschi hervorgehoben. Er ist zwar Scheik geworden, aber sie ist die "heimliche Beherrscherin der Haddedihn" (XXVI 369): Halef steht privat und als Scheik 'unter dem Pantoffel'. Da dieser Zustand von einem so ehrbewußten Mann wie Halef nicht ohne weiteres hingenommen wird, gibt es ab und an Probleme im Eheleben des Hadschis (XXVI 377). Hilfe bringen da (im Roman) zwei Gespräche Kara Ben Nemsis: ein Nachtgespräch mit Hanneh über die Frage, ob Frauen eine Seele haben (XXVI 370-376), und eins mit Halef über jenes Gespräch (XXVI 386-397), wobei Kara Ben Nemsi Halef zum ersten Mal erzählt, daß er auch verheiratet ist.

   Es fällt auf, daß in dem Maße, in dem das Eheleben des Schriftstellers Karl May mit seiner ersten Ehefrau, Emma May, problematisch und gestörter zu werden begann, auch zunehmend 'Ehegespräche' zwischen Halef und Kara Ben Nemsi oder Hanneh und Kara Ben Nemsi geführt werden. Halef wird zur Kompensationsfigur Mayscher Eheängste und -probleme, wodurch der 'Alter-ego-Charakter' der Figur stärker hervortritt.

   Parallel zu der Umdeutung der Gestalt Kara Ben Nemsis im Spätwerk hat auch die Figur des treuen Halef eine neue Sinngebung erfahren: May wollte Halef nun als die 'Anima', die noch unerlöste und unreife Seele des Ich-Helden, verstanden wissen, die noch auf den Weg nach Dschinnistan, auf den beschwerlichen Weg zum Edelmenschen gebracht werden muß. Folgerichtig sind Halefs Funktionen in den Werken Am Jenseits, Im Reiche des silbernen Löwen III/IV und in Ardistan und Dschinnistan I/II mehr innerer, seelischer, meditativer Natur.15

   Zu Beginn des Romans Am Jenseits, den May 1899 schrieb, knüpft May an die Gespräche über die Seele der Frau an und stellt Halef dem Leser ausführlich rückblickend vor. Aber es wird auch direkt klargestellt, was gegenüber den früheren Abenteuerfahrten anders ist: Halef und Kara Ben Nemsi ziehen nicht mehr alleine aus, sondern werden von Hanneh und Kara Ben Halef begleitet16, was ihnen die gewohnte Freiheit nimmt.


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Da die Figur Halef nun gewissermaßen dreifach aufgeteilt wird, in die energisch aber umsichtig und feinfühlig agierende 'Seele' Hanneh, in den jungen Helden Kara Ben Halef und den 'alten' Halef, bleibt für den letzteren in diesem schon recht handlungsreduzierten Roman kaum Raum für großartige Aktionen. Die wichtigsten Halef-Szenen in Am Jenseits sind Gespräche über seinen Charakter und der Wunsch und das Bemühen, diesen zu ändern: Kara Ben Nemsi hält ihm vor, sich stets für "einen ungeheuer bedeutenden Menschen" zu halten, der sein "liebes Ich ohne alle Ausnahme stets zuerst" bringt (XXV 70). Halef, den insbesondere stört, daß ein solches Bild von ihm in Mays Büchern verbreitet wird, bittet Kara Ben Nemsi, ihm zu helfen, sich zu bessern: "Ich habe mir vorgenommen, in diesen Büchern von jetzt an als leuchtendes Vorbild reiflicher Ueberlegung und ernster Behutsamkeit zu glänzen" (XXV 73). Im zweiten Gespräch bittet Halef Kara Ben Nemsi, ihm nicht nur hinsichtlich seiner überheblichen, ichbezogenen Reden zu helfen, sondern auch bezüglich seines übereifrigen Tatendrangs. Es wird deutlich, daß May hier eine seiner gelungensten Figuren gerade in ihren ureigensten Charakteristika zu ändern versucht. Daß dies nicht wirklich gelingen konnte, liegt auf der Hand.

   Im nächsten 'Halef-Roman', in Im Reiche des silbernen Löwen III/V (1902/03, also schon ganz dem Spätwerk Mays zugehörig), spielt Halef auf der Handlungsebene nur noch eine passive Rolle: Er erkrankt (wie Kara Ben Nemsi) an Typhus und liegt bis zum Ende des Romans auf dem Krankenlager. Kara Ben Nemsis Helfer ist nun Kara Ben Halef. Hanneh kommt zu Halef und pflegt ihn. Die Figur hat nur noch Bedeutung auf der autobiographischen Ebene: In den beiden 'Madenträumen' Halefs wird ganz deutlich der Abbau des alten Ich-Ideals des Schriftstellers May und dessen 'Sterben' als Abenteuerroman-Schriftsteller dargestellt, wobei die öffentlichen Gegner Karl Mays als Maden auftreten, die das 'alte Fleisch' Mays (seine bisherige Schreibweise) restlos auffressen (XXVIII 487 ff.). Der zweite Madentraum stellt eine Zukunftsvision dar. Er wird bezeichnenderweise nicht mehr als Halefs eigene Erzählung geboten, sondern ganz kurz von seinem Sohn mitgeteilt. In diesem Traum werden in euphorischer Vorausdeutung künftige Ereignisse dargestellt, wie May sie sich erhoffte: Die Maden fressen sich am Ende selbst auf, May aber steht "heiter und [...] rüstig" da, sozusagen neugeboren (XXVIII 632).


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   In seiner Selbstbiographie Mein Leben und Streben (1910) schreibt May:

[...] dieser Hadschi ist meine eigene Anima, jawohl, die Anima von Karl May! Indem ich alle Fehler des Hadschi beschreibe, schildere ich meine eigenen und lege also eine Beichte ab [...].17

Das ist zwar fast dreißig Jahre nach Halefs erstem Auftreten geschrieben, aber in diesem Fall stimmt die nachträgliche Stilisierung der Figur 'cum grano salis': Halef ist von Anfang an das Alter ego Karl Mays. Er repräsentiert den Schwadroneur, den Hochstapler, den Phantasten Karl May, der es durch sein Streben nach Idealen (Kara Ben Nemsi) schaffte, diesen 'dunkleren' Teil seines Ichs, der aber immer Kraft und Quelle seines Schreibens blieb, zu kultivieren. Biographisches haftete der Figur Halef stets an; vereinzelt auch über das konkret an den Menschen Karl May Gebundene hinaus (z.B. in der Mekka- oder der Pest-Episode). Insofern ändert sich im Spätwerk Mays nichts an der Figur. Doch May versuchte nun, den biographischen Bezug zu symbolisieren, und das mißlang. May konnte schon im Silberlöwen mit der Figur nichts Rechtes mehr anfangen. Er scheint geplant zu haben, Halef sterben zu lassen. Auch wenn den Erinnerungen von Klara May, Mays zweiter Frau, mit großer Vorsicht zu begegnen ist, könnte die von ihr überlieferte Anekdote im Kern stimmen, da sie zum Romanverlauf und zu Mays Verhältnis zu seiner Figur paßt:

Einmal, während er am III. Band seines 'Silbernen Löwen' schrieb, klagte er mir händeringend: 'Ich bringe es nicht übers Herz, meinen Hadschi Halef sterben zu lassen, es geht über meine Kraft. Ich habe den kleinen Burschen zu lieb, ist er doch ein Teil meines eigenen Ich.'18

So kommt es, daß Halef im Dschinnistan-Roman (1909) wieder als Begleiter Kara Ben Nemsis unterwegs ist. Aber der Roman ist kein Abenteuerroman im herkömmlichen Sinne. Es geht darin

einmal um die Veranschaulichung des Wesens und Werdens des Einzelmenschen und seiner ihm von der Menschheitsidee aufgetragenen Entwicklung vom primitiven Körper- und Gewaltmenschen zum Edelmenschen als dem Abbild des Göttlichen; zum anderen um die Entwicklung der Gesamtmenschheit aus dem Leid scheinbar unaufhörlichen Kriegszustandes zum "Weltfrieden". [...] Nun besteht Mays "neue Psychologie" darin, daß er den Menschen auffaßt als die Integration der vier konstituierenden Elemente Körper, Anima (= Triebleben), Geist und Seele. Diese vier werden allegorisch als Einzelfiguren verbildlicht, die zusammenkommen und zusammenwirken müssen, um den Menschen zu ergeben, der dann sein Ziel der Veredelung anzustreben vermag. [...] Halef figuriert in diesem allegorischen System ganz eindeutig als die Anima, das irrational Triebhafte im Menschen, das blindlings und ge-


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walttätig [gewalttätig] (Peitsche) reagiert, wenn es nicht vom Geiste geleitet und gezügelt wird.19

May hat hinsichtlich der Halef-Figur mit dieser Disposition im Rahmen des von ihm Gewollten das einzig Richtige getroffen: Halef kann so nämlich auf der Ebene der Abenteuerhandlung bleiben, was er schon im Orientzyklus war. Er spielt allerdings nur im ersten Teil des Romans eine größere Rolle, wenn auch keine heldenhafte. So scheitert sein Versuch, die Führung des Rittes zu übernehmen, kläglich, und übermäßiger Genuß von Alkohol läßt ihn auf die Stufe der Tiere (oder besser: noch darunter) fallen. Nur die Anerkennung der Führung des 'Geistes' (Kara Ben Nemsi) läßt ihn wieder einen adäquaten Rang einnehmen. Die Figur gerät so zum Demonstrationsobjekt Mayscher Besserungs- und Höherentwicklungskonzepte. Die Mischung aus Tradition und Konzept ermöglichte ein akzeptables 'Überleben' der Gestalt. Doch dem Lesepublikum, ob es nun dem Abenteuerroman-May oder dem Spätwerk-May die größere Bedeutung zuschreibt, wird in jedem Falle der Abenteuerroman-Halef die gelungenere und beliebtere Figur sein.


Anmerkungen

1M. Gisela [d.i. Karl May]: Leïlet. In: Feierstunden am häuslichen Heerde l (1876/77), Nr. l, S. 7 (KMG-Reprint, Hamburg 1972: Erstdrucke Karl Mays in Faksimile-Ausgaben, Serie V). Die Genese der Halef-Figur wurde zuerst dargestellt von Franz Kandolf: Von Hassan el Kebihr bis Hadschi Halef Omar. In: KMJb 1926, S. 357-368 (im vorliegenden Band S. 163-170).
2Karl May: Die Gum. In: Frohe Stunden 2 (1877/78), Nr. 12-14 (KMG-Reprint, Hamburg 1971: Erstdrucke Karl Mays in Faksimile-Ausgaben, Serie VI).
3Karl May: Unter Würgern. In: Deutscher Hausschatz 5 (1878/79), Nr. 40-49 (KMG-Reprint, Regensburg 1982: Kleinere Hausschatz-Erzählungen).
4Karl May: Die Rose von Sokna. In: Deutsche Gewerbeschau 1 (1878/79), Nr. 1-4, S. 14 (KMG-Reprint, Hamburg, Gelsenkirchen 2/1985: Der Krumir. Seltene Originaltexte, Bd. 1).
5Karl May: Scepter und Hammer. In: All-Deutschland / Für alle Welt 4 (1879/80), Nr. 1-52, S. 466 (KMG-Reprint, Hamburg, Gelsenkirchen 2/1982: Scepter und Hammer / Die Juweleninsel).
6Karl May: "Giölgeda padi[´s]hanün". Reise-Erinnerungen aus dem Türkenreiche. In: Deutscher Hausschatz 7 (1880/81), Nr. 16-52.
7In einem Brief an Baron Hans von Laßberg aus dem Jahre 1897 schreibt May, Halef sei 49 Jahre alt (JbKMG 1983, S. 78). Beide Altersangaben sind mit großer Skepsis zu bewerten, da sie einmal (1897) in die Zeit fallen, in der May sich öffentlich allzusehr persön-


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lich [persönlich] mit seinen Ich-Helden identifizierte und dadurch öfters in die Verlegenheit kam, Anfragen zur angeblich realen Biographie seiner Helden beantworten zu müssen, und zum anderen (XXXI) in die Zeit der symbolischen Werkumdeutung fallen.
8Walther Ilmer: Von Kurdistan nach Kerbela. Seelenprotokoll einer schlimmen Reise. In: JbKMG 1985, S, 267 - die Seitenangaben beziehen sich auf III.
9Ohne den nachgeschriebenen Anhang zu VI umfaßt der Zyklus 3655 Fehsenfeld-Seiten, bis zum Ende der Bagdad-Episode sind es 1619 Seiten.
10Die philosophische Dimension des Verhältnisses Kara Ben Nemsi/Halef untersucht Reinhard Tschapke: Überlegungen zum Verhältnis von Herr und Knecht in Karl Mays Abenteuerromanen. In: JbKMG 1988, S. 268-291.
11So beispielsweise IV: 6f., 215, 277, 336, 510f., 603; V: 6, 10, 26, 45, 109, 187, 488, 498; VI: 42, 64, 74, 432, 520; in den zeitlich folgenden Erzählungen und Romanen, in denen Halef auftritt, bleibt die Peitsche mit der Figur untrennbar verbunden.
12Ingrid Bröning: Die Reiseerzählungen Karl Mays als literaturpädagogisches Problem. Ratingen 1973, S. 149, weist auf den phallischen Charakter der Peitsche hin. Vgl. dazu auch Arno Schmidt: Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen, Werk & Wirkung Karl Mays. Frankfurt/M. 1969, S. 159 ff.
13Halef setzt die Peitsche bewußt ein: "Wo es gilt, uns mit der Peitsche Achtung zu verschaffen, da bin ich bereit, aber ein Khawaß mag ich nicht sein. Die Peitsche ist ein Zeichen der Herrschaft; sie schwinge ich, aber nicht den Stock. Einen Rechtsspruch zu vollziehen, ist das Amt des Henkers; ich aber bin kein solcher." (V 503).
14Der Anhang zu XVIII (Im Lande des Mahdi III) und die im Orient spielenden Erzählungen aus XXVI (Im Reiche des silbernen Löwen I) sind von der gleichen Art.
15Die Erzählungen Merhamehund Abdahn Effendi können außer acht gelassen werden, da sie keine neuen Aspekte der Figur bringen.
16Es reiten zwar auch im Orientzyklus und den Erzählungen Gefährten mit, doch könnten Halef und Kara Ben Nemsi sich von ihnen jederzeit trennen, was hier nicht möglich ist.
17Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg i. Br. 1910, S. 211.
18Klara May: Mit Karl May durch Amerika. Radebeul 1931, S. 27.
19Heinz Stolte: Werkartikel Ardistan und Dschinnistan I-II. In: Karl-May-Handbuch, hg. v. Gert Ueding. Stuttgart 1987, S. 315f.



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Sekundärliteratur


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