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Amand von Ozoróczy

Karl May und sein Orient


Mays Liebe zum Orient ist alt, sie reicht bis in seine fernste Lebenszeit zurück. Die vier Jahre seiner Blindheit als Kind waren seelisch fast ganz mit Märchen orientalischer Prägung ausgefüllt, die ihm seine Großmutter - die man sich zu denken hat wie Hans Thomas Märchenerzählerin - aus dem im Jahre 1605 erschienenen Buch Der Hakawati, d. i. der Märchenerzähler in Asia, Africa, Turkia, Arabia, Persia und India sampt eyn Anhang mit Deytung, explanatio und interpretatio auch viele Vergleychung und figürlich seyn von Christianis Kretschmann der aus Germania war. Gedruckt von Wilhelmus Candidus vorlas und nacherzählte.* Diese Eindrücke blieben unverwischbar durch sein ganzes Leben; schon der Name des seinem Vaterstädtchen benachbarten Ortes Wüstenbrand mag dem Knaben phantastische Ideenverbindungen eingegeben haben.

   Freilich, mochte auch schon der Fünfjährige, noch mit halbverbundenen Augen, einem staunenden Kreise kleiner Sachsen unter dem Kirchentor von Ernstthal die gehörten Märchen nacherzählen - ihre Schauplätze wirklich zu betreten verhinderten lange Zeit die materiellen Verhältnisse seiner Familie, die mitschritt in der Sklavenkarawane unerbittlich ankettender Webersarmut. Weder der arme Seminarist noch der nicht reichere Lehrer der Alchemnitzer Fabrikschule konnte daran denken. Da kamen die entsetzlichen Erlebnisse einer trüben Leidenszeit; die Großmutter starb und ließ einen seelisch Vereinsamten zurück, der eine Art innerer Dämonie, einem Schreckgespinst halluzinatorischen Charakters zu unterliegen begann. May befreite sich gewaltsam und ging aus der Heimat fort, europamüde. Wohin? Das wissen wir nicht. Aber äußere Vermutungen, wie der feststehende Reiseweg über Italien, sowie innere Gründe - in Amerika war er schon gewesen - lassen mit der Sicherheit einer Wahrscheinlichkeitsrechnung den Schluß zu, daß es Nordafrika gewesen ist, das er - wie 1846 Dumas - kurz vor Ausbruch des deutsch-französischen Krieges besucht hat, wo er auch später seine ersten großen Reisenovellen-Serien - die unter dem Gesamttitel Giölgeda padishanün (Im


*Das Buch ist eine Mystifikation Mays in seiner Selbstbiographie (1910).



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Schatten des Padischah) 1879 begann - mit dem Todesritt über den Salzsee dramatisch kraftvoll einsetzen läßt.*

   Die Reise dauerte fünf Monate und hat ihm den praktischen Grund einer gediegenen arabischen Philologie gelegt.1 Dann zwang ihn der krankhafte Heimatstrieb, der ihn damals während jeder Reise beherrschte, nach Hause, zurück ins Elend. Erst genau dreißig Jahre später war ihm die große Orientreise in der Dauer von anderthalb Jahren beschieden, den äußeren Anstoß wohl von der aufsehenerregenden Orientfahrt des Deutschen Kaisers empfangend. Der alte Erzgebirgler reiste2 vom Dschebel Mokattam am 'Tore des Orients' nilauf, besuchte Syrien, Palästina, Damaskus, Bagdad, Persepolis und Pasargadä, Massaua. Von Ostindien kehrte er nach Ägypten und Palästina zurück, machte vor der Rückreise über Konstantinopel auch den Weg nach Damaskus ein zweites Mal.**

   Dort in der Damaszenerstadt, für den Moslem das schönste der vier irdischen Paradiese und schon im dritten Band der Reiseerzählungen Von Bagdad nach Stambul in den Gesichtskreis tretend, auch erst jüngst wieder von Oskar Seelig "die Sehnsucht und das Heimweh aller orientalischen Dichter" genannt3, schrieb


*Die These von Frühreisen Mays nach Amerika oder in den Orient kann heute als widerlegt gelten.
1Vgl. Ges. Werke Bd. 34 S. 555 [1. Auflage 1916].
2Reisebriefe veröffentlichten u.a. die 'Pfälzer Ztg.' (Speyer) im Juni 1899 und die 'Tremonia' (Dortmund) am 8. November 1899. Der Band "Ich" aus Karl Mays Nachlaß (Gesammelte Werke Band 34) veröffentlicht Nachbildungen des orientalischen Reisepasses und seiner beglaubigten Übersetzung auf Seite 304 und 400. Das Dokument ist von der ägyptischen Regierung in Port Said am 25. Juni 1899 ausgestellt, die Übersetzung von W. Holland, Lehrer des Türkischen am Seminar für orientalische Sprachen, Universität Berlin, am 5. Oktober 1916 angefertigt. Es finden sich außer dem Schein der Sanitätsadministration des Lazaretts Beirut vom 26. Juni 1899 die Stempelungen der Abreise von Beirut nach Haifa (5. Juli 1899), der Abreise von Jaffa nach Bagdad (19. August 1899), der Ankunft in Jaffa (17. April 1900), der Ankunft in Beirut (15. Mai 1900), der Abreise von Beirut nach Konstantinopel (5. Juni 1900) und der Polizeistempel von Galata-Serai (10. Juni 1900).
**Zum tatsächlichen Verlauf der Reise vgl. Hans Wollschläger/Ekkehard Bartsch: Karl Mays Orientreise 1899/1900. Dokumentation. In: JbKMG 1971, S. 165-215.
3Auch G. H. von Schubert, mit Karl May gleichen Geburtsorts - siehe Ges. Werke 34 S. 349 - hat die Stadt schon besucht und in einer Reise in das Morgenland beschrieben (Erlangen 1834).


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May das Gedicht, das, diesem Aufsatz vorangestellt, hier nach siebzehn Jahren seine erste Veröffentlichung findet.*

   Ist der Geldbeutel bei der ersten kurzen Orientfahrt sicher nur schmal gewesen, so war die Sehnsucht um so größer, und Schritt für Schritt kann man ihren phantasiebeflügelten Aufbau in den ersten sechs Bänden4 der Reiseerzählungen verfolgen, wie sie die Handlung von Tunis - fast auf demselben Reiseweg, den May als alter Mann eingehalten hat - nach Ägypten, durchs Rote Meer nach Mesopotamien und Bagdad, von Kurdistan nach Syrien und Konstantinopel führt und quer durch die ganze europäische Türkei über die jetzigen bulgarisch-französischen Schlachtfelder (Strumnitza, Bregalnitza, Wardar) gehen läßt5, um dort am Balkan mit dem endgültigen Untergang einer räuberischen Vereinigung, deren Anführer den serbischen Decknamen 'Schut' ('Der Gelbe') trägt, zu endigen. Aber Mays Abschied vom morgenländischen Schauplatz war nur ein vorübergehender. Immer wieder kehrt er aus der westlichen Hemisphäre, aus dem seinem Winnetou gegründeten Reiche dahin zurück, wo er sich durch den 'Kara Ben Nemsi' literarisch zum doppelgestaltigen 'Ich' - dessen in amerikanische Verhältnisse übersetzter Teil 'Old Shatterhand' heißt - ergänzen und auswirken kann.

   So lieb ihm der Redman, seit Schiller und Lenau ihn lyrikreif machten, als Romanstoff ist ( Winnetou und Old Surehand), er muß sich diese Interessenteilung gefallen lassen. Von den bisher erschienenen 41 Bänden der 'Gesammelten Werke' wurzeln 18 ganz und 7 teilweise in mohammedanischer Erde, und nicht umsonst hieß das Blatt 'Feierstunden', das zu ihrer ersten Veröffentlichung bestimmt und (Dresden 1876) gegründet war, als eben auch Gobineau mit Asiatischen Novellen erschien.

   Es ist unstreitig eine interessante literarische Parallelerscheinung, daß zur selben Zeit, da man Mays Erzählungsreihe nicht als wahllos-zufälliges Neben- und Nacheinander, sondern als kunstvolle Kette eines folgerecht zusammenhängenden Lebenswerkes zu betrachten beginnt, auch der Ariadnefaden durch das Märchenlabyrinth von 1001 Nacht gefunden worden ist. Nach zwanzigjähriger Forscherarbeit zeigt Dr. Adolf Gelber in seinem


*In Damaskus. In: KMJb 1918, S. 162f.
4Sie brachten es zusammen auf eine Auflageziffer von einer halbenMillion [Stand 1918].
5Z.B. Ges. Werke Bd. 5 S. 549. Auch das im Dezember 1915 von Todorow genommene Gilan wird genannt.


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jüngst im Verlag von Moritz Perles, Wien, erschienenen Werk Tausend und eine Nacht ihre Gloriole der Gerechtigkeit, gruppiert die 'Bücher von der Gnade' und weist die Gesamttendenz eines Fürstenspiegels nach, der durch Vorzeigung eines goldenen Zeitalters das gaukelnde 'Es war einmal' zum erzieherischen 'Es sollte so sein' hinüberleitet.

   Auf Mays Erzählungen wieder und ihren Geist könnte man die Worte anwenden, mit denen er einmal über Geschichte - die sich ja selbst von einem H. v. Sybel ein "Gewebe von Wahrheit und Dichtung" ansprechen lassen muß - urteilt:

"Eine Aufzählung derjenigen geschichtlichen Erscheinungen, derjenigen Ereignisse, die sich vor dem Zeitpunkte, von dem aus wir erzählen können, teils wirklich zugetragen haben, teils zugetragen haben sollen, - ist das Geschichte? Das ist nur einfache Chronik; denn wo bleiben die geschichtlichen Kräfte und Gesetze? ...erst dann, wenn unsere Erkenntnis hindurchgedrungen ist in jene geheimnisvollen Tiefen, aus denen von dem allmächtigen Schöpfer selbst angeordnete weltgeschichtliche Gewalten nach unumstößlichen weltgeschichtlichen Gesetzen weltgeschichtliche Tatsachen emporwachsen lassen, aus dem Boden, dessen Produkte wir bisher hinnahmen, ohne uns ihrer Erzeugung zu bemächtigen, dann erst können wir sagen: wir haben Geschichte. Dann werden wir Herren der Ereignisse sein; denn wir werden diese zu fabrizieren verstehen wie der Handwerker sein Werk und der Poet sein Gedicht, dann wird die Geschichte das Kind Politik gebären, das als Königin des Erdkreises den ewigen Frieden bringt und das Schwert in die Pflugschar verwandelt; denn der Streit, der Krieg, wird zur Unmöglichkeit werden, da jeder die Gesetze und Kräfte kennt, nach und mit denen der andere handelt. Statt der Konkurrenz der Waffe wird die Konkurrenz des Friedens walten und die Entwicklung des Menschengeschlechts wird auf Bahnen gelenkt werden, die so hoch über unserer jetzigen Kenntnis liegen, daß wir von ihnen nicht die mindeste Ahnung besitzen." 6

Mays Reiseerzählungen, die zwischen bloßen Reiseerinnerungen und reinen Erfindungen genial die Mitte zu halten verstehen, geben gerade damit manche Nuß zu knacken, oft in keckem literarischem Handstreich, oft nur den Probepfeil der Skizze versendend. Die Dumas-Romantik meistern sie wie ihr Held seinen edlen Renner, ohne je das Animal-Heldentum bloßer Muskeltiere zu pflegen. Auch in geistig-seelischem Betracht stellen sie May mit allen Vorzügen und Fehlern in die Reihe der ewig Unfertigen,


6Bd. 23 S. 68f. Auf Seite 64 bemerkenswerte Worte über England; May sieht - Anfang der 90er Jahre - den Burenkrieg vorher und verkündet das Ende der britischen Weltherrschaft. [Das Zitat aus der Erzählung Der Boer van het Roer, die 1879 zuerst im 'Deutschen Hausschatz' erschien und 1897 von May in den Sammelband Auf fremden Pfaden aufgenommen wurde, folgt der bearbeiteten Radebeuler Fassung (Das Kafferngrab).]


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der Romantiker. Sie haben Leser gefunden, die darin wie in einer Zimmerflucht zuhause sind bis in ihre heimlichsten Winkel.

   Das einzige Werk - Gedichte hat er schon früher eingestreut -, das sich durch seine Dramengestalt aus der Reihe der übrigen heraushebt, Babel und Bibel, ist wie ein echt deutsches Jedermann-Spiel in orientalischen Formen, die ja schon das Gewand Nathan des Weisen zu liefern hatten.

   Unmittelbar nach seiner Abfassung schrieb May seine Briefe über Kunst und aus ihnen wird verständlich, daß er sich nicht deshalb mit Vorliebe des Ländergebietes des Islams als Schauplatz bediente, um seine rein äußeren Reisefrüchte, Orangen und Datteln, darbieten zu können, sondern letzten Endes deshalb, weil es seiner Kunsttheorie von allen Stoffen den farbenprächtigsten gibt, um sich darin zu veranschaulichen. In Mays vom Orient beeinflußter Weltanschauung schiebt sich die Kunst in das gewaltige Triptychon des Menschengeistes 'Wissenschaft-Kunst-Religion' als Mittelstück ein, das sich der Meditation nicht entschlagen kann und im Orient auch nicht entschlägt. Der Wissenschaft hat May seinen Tribut in den Geographischen Predigten gezollt; seine Strebepfeiler zum Glauben sind dort gegründet, auch die Synthese von Dorfgeschichten und Reiseerzählungen schon vorbereitet.

   In seiner Lebensbeschreibung wird May nicht müde, immer wieder auf den großen Eindruck zurückzukommen, den das Puppenspiel von Dr. Faust auf den neunjährigen Karl machte. Das Thema 'Gott, Mensch und Teufel' beherrschte ihn seither so vollständig, daß er sich sein ganzes Leben lang mit Dramenideen dieses Vorwurfs trug! Aber Babel und Bibel ist sein einziges Theaterstück geblieben7, und diesem gab er den Titel einer orientalischen Fantasia. In den Briefen über Kunst, die ihr folgten, heißt es mit einer prophetischen Wendung, die zur Feststellung nötigt, daß der betreffende vierte Brief vom 22. Januar 1907 (!) datiert ist8:

Nicht die wichtigste Aufgabe, aber doch die wirkungsvollste Taktik und die feinste Technik der Kunst ist es, den Ernst des Lebens lächeln und die menschlichen Narrheiten heimlich schluchzen zu lassen. Maskenscherz! Die Erde als einen belebten Tränentropfen zeichnen, der um den Mittelpunkt des Glücks kreist... Die Kunst hat in das Wesen der Dinge einzudringen, um die Wahrheit zu offenbaren. Sie darf keine


7Ahasver- und Cyrus-Fragmente fanden sich im Nachlaß (s. Bd. 34 S. 579f.).
8Ges. Werke Bd. 34 S. 258ff.


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Larve dulden. Sie ist immerwährend am Demaskieren. Sie läutet unausgesetzt an der Stunde, wo der Tag beginnt und der Trug ein Ende hat. Wenigstens in diesem Sinne möchte auch ich gern Künstler sein, möchte mitläuten, mitentdecken, mitentlarven. Wir stehen vor einer neuen und wahrscheinlich großen Zeit. Neue Zeiten erbauen sich aus neuen Gedanken... Es gibt unzählige Menschen, die das Leben so leicht nehmen, daß sie es als einen Fasching betrachten. Das tut mir wehe, denn ich weiß, daß dann für sie jenes fürchterliche Fasten beginnt, das alles, was sie zu besitzen scheinen, von ihnen herunterzehrt. Sie sind vor dieser ihrer Larve zu warnen, die nur nach außen belustigend, nach innen aber tragisch wirkt. Hier ist der Kunst fast noch mehr Macht gegeben als der Religion, denn sie richtet sich nicht nur auf das Innenleben, sondern auf die Harmonie zwischen innen und außen: "Die Larven weg, wir wollen Wahrheit haben!"

Weltliterarisch verdeutlicht: Mephisto, der, um seine Hölle zu füllen, alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeiten verschwendet, erscheint auf dem kaiserlichen Maskenball als - Geiz; der liebegirrende Romeo bei Capulets als - Mönch. May hat den Humor der Sache in den falschen Exzellenzen erfaßt; dann im verachteten Pimo den roten Gentleman gezeigt, im Führer eines kleinen Mescalerostammes den Genius der indianischen Rasse zu erfassen gesucht. Künstlerisch spontan läßt er da seinen 'Old Shatterhand', als ein Schlitten durch tiefen Schnee fortgebracht werden soll, sich in die Stränge werfen: "Ihn, den Herrlichen, ziehen oder schieben zu lassen, wäre mir unmöglich gewesen. "9 In der Gestalt Meltons gibt er dem Mißklang zwischen männlicher Schönheit und der seelischen Verkrüppelung eines Millionendiebes den Namen 'Satan'.

   Aber er hat noch mehr und vor allem um den Orient gerungen, wo die drei königlichen Weisen trotz Stall und Krippe einem Kinde opferten, weil sie "seinen Stern gesehen hatten". Er hat gerungen um das Morgenland, um sein Verstehen und Begreifen, um sein Erklären und Entschuldigen. Schon im ersten Bande seiner Gesammelten Werke findet er die 'Teufelsanbeter' besser als ihren Ruf. Im nächstfolgenden orientalischen Roman nach dem Schut, Im Lande des Mahdi, schreit die schwarze Handelsware um ihr Menschenrecht, das ihr unter der Maske des 'schwarzen Elfenbeins' abgelogen wird und nicht umsonst schließt das Buch10 mit einem Ausblick auf Marah Durimeh, die 'Menschheitsseele'. So wie May in allem und jedem heimatliche Selbsterlebnisse ins große exotische Gewand kleidet - was für die Zeitge-


9Ges. Werke Bd. 24 S. 580.
10Der dort zu Faschoda auftretende 'Vater der Fünfhundert' ist durch Junkers Reisen historisch beglaubigt.


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nossen [Zeitgenossen] wenigstens seines letzten Jahrzehnts leicht kontrollierbar ist -, so hat sich auch die Erzählerin seiner orientalischen Kindheitsmärchen11 unter der nachgestaltenden Erinnerung in seiner erzwungenen Einsamkeit zur Gestalt der hundertjährigen Marah Durimeh verdichtet, die auch als armes Kurdenweib die einstige Meleka (Königin) nicht verleugnet und am Schluß als gute Fee der ganzen armen leidenden Menschheit dasteht. Was May äußerlich im Orient sehen konnte, war nur Ruine verschwundener Pracht, war Schmutz und Trägheit, war Altersverknöcherung und Erstarrung. Unter dem Zeigefinger der Allegorie sieht er durch den Ruinenschleier die königliche Seele, im Scheintoten den wieder zu erweckenden Glanz.

   Der innerste Heimatsdrang lockt nach Osten in verschiedenerlei Gestalt. Dem Vorstoß des Persertums unter Xerxes folgte der Gegenstoß der Griechen unter Alexander. Die Teilung des römischen Weltreichs in ein westliches und ein östliches schien jede Möglichkeit einer Harmonisierung beider beendet zu haben. Alle befruchtenden Ströme des 'ex Oriente lux', von dem schon Tacitus und Sueton12 wissen, ergossen sich nach Westen; die Quelländer vertrockneten. Mit diesen suchte sich das Abendland durch die Kreuzzüge auseinanderzusetzen, aber das brachte nicht ausgleichende Gerechtigkeit, sondern Vergewaltigung und mußte scheitern. "Hätten sie" - schreibt Johannes von Casa-Maria an Bernhard von Clairvaux - "ihr Unternehmen in Ausführung gebracht wie es Christen geziemt, in Gerechtigkeit und Frömmigkeit, so wäre Gott mit ihnen gewesen und hätte durch sie Großes getan. Da sie aber in große Unordnung verfielen, benützte Gott ihre Bosheit, um seine Barmherzigkeit zu zeigen und schickte ihnen Trübsal." In den Fehler des Christentums des 11. und 13. Jahrhunderts verfiel der Islam des 15.-17. Jahrhunderts, den Ausgleich zwischen Ost und West auf dem Wege des Glaubenskrieges zu suchen, Byzanz in Istambul, den 'Wangenglanz des Weltantlitzes' verwandelnd. Jeden Zelotismus gegen andersartige Kulturen lehnt May in Friede auf Erden in der Gestalt Wallers ab, dessen letzte Konsequenzen im Niederbrennen fremder Tempel bestehen, wie es der Zarismus gegen die Vormacht des Orients immer wieder versucht hat, um zu versagen; auch im fernsten Orient, in Ostasien. Im genannten Buch wird auch der Verstän-


11Vgl. schon Ges. Werke Bd. l S. 172.
12Hist. V, 13. Vesp. 4.


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digungsweg [Verständigungsweg] mit der gelben Rasse in ihren Vertretern Fu, Tsi und Fang beschnitten, deren China einst seine Mauer durch die kluge Anpassungspolitik der Ordenspatres öffnete, um abendländischen Geist bei sich einzulassen, bis unduldsamere Verfügungen das gewonnene Gelände wieder aus der Hand gaben.

   Ein Versuch des Völkerzusammenlebens ist schon seit vier Jahrhunderten, bezeichnenderweise an der Schwelle des Orients, gemacht, nur nicht als solcher erkannt worden. Er heißt Österreich-Ungarn. Sein Bestand allein führt jede Überspitzung des Nationalitätenprinzips ad absurdum; sein längstregierender Kaiser-König stand ihm gerade unter dem Wahlspruch viribus unitis vor, mit Reibungen im Kleinen und einer Einigkeit im Großen, an der heute alle Spaltungspläne zerschellt daliegen, als das erwiesen, was René Grunard schon ein Vierteljahr vor Kriegsausbruch "une dangereuse Utopie" genannt hat.

   Gerade ihm und dem brüderlichen Deutschland blieb es vorbehalten, die weltbedeutende Linie von den Hanseatenstädten bis Bagdad in die Hände eines Freundesbundes zu legen; seine gallige Ironisierung durch Sasonow als 'Kalifat von Berlin' ist bezeichnend. Wie verschieden ist jene französische Orientpolitik des 17. Jahrhunderts, die ein Bündnis mit dem Islam nur zu ungestörtem Raubkrieg gegen die Habsburger schloß, von dem Daseinskampf, der das osmanische Reich an die Seite der Mittelmächte geführt hat! Dieser gemeinsame Aneinanderschluß hat die orientalische Frage endgültig gelöst und diese Art hat auch May immer gefördert: inniger Anschluß und Austausch auf dem Boden der Gleichberechtigung. Fühlt er sich doch 'in Damaskus' vor dem Antlitz des Orients stehen wie Lohengrin vor der Braut, wenn das Lied des Außenlebens verhallt... Er fühlt das gegenseitige Sehnen und Freien im alten Heim der Menschheit, den Trieb ins Ferne, Neue, von Unterlassungssünde Entsühnende, dorten Unrast und das bittere Heimweh nach einem versunkenen Vineta: Liebe und Gegenliebe. In der dritten Strophe ist das Bild von Zelt und Roß dichterisch glücklich gewählt, vielleicht in Anlehnung an ein mongolisches Sprichwort "Hue man tschan, ku man tschueng"13, das etwas drastischer die Gegensätze von Beharrung und Erscheinungsflucht mit der Feststellung "Ochsen im Osten, Pferde im Westen" ausdrückt.


13Ges. Werke Bd. 34 S. 48.


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   May ist nicht blind gegen Fehler und Schattenseiten der 'fremden Pfade', es eifert ihn nur an zur Mithilfe an ihrer Behebung und Vermeidung, zur Erweckung aus der Trümmernacht eines nur Entschlafenen. Der polygame Islam kennt nur Puppenheime. Die von ihm geleugnete Seele des Weibes, May läßt sie im Reich des silbernen Löwen in Hanneh (Szene am Krankenlager) und Schakara (Szene am Erlenstrauch) voll Sonnenschein aufleuchten und alle Haremsrosen von Kairwan bis Schiras sind mitbedacht.

   Alle diese Gefühlserrungenschaften finden sich ein halbes Jahrzehnt nach der Reise zur symbolischen Vermählung beider Welten, deren Gegensätze Sascha Schneider im Titelkarton zu Orangen und Datteln auf das Gestaltenpaar Isa Ben Marryam und Muhamed zusammendrängt, in Babel und Bibel ausgestaltet. Er selbst bleibt darin Hakawati: der Märchenerzähler...

   Diese Lösung ist auch Beantwortung eines Teiles der Menschheitsfrage überhaupt, die letzten Endes nichts als eine Friedensfrage ist. Aber nicht von außen kann die Friedensidee in die Massen hineingetragen werden, sondern muß den Weg von innen heraus nehmen, aus dem Herzen jedes einzelnen herauskeimen, bis, Pflanze an Pflanze, der Märchengarten des Friedens alle Länder durchzieht, das Antlitz der Erde verändernd. Der sozialen Erlösung des ganzen Geschlechts hat die Befreiung des inneren Menschen vorauszugehen, die May als himmelentstammende 'zweite Welt' in den Himmelsgedanken besingt.

   Den Anfang macht er folgerichtig bei sich, läßt sich in sein eigenes Ich hinab, das keine Lethe für erlittene Schmerzen kennt. Der Vorhang des Innern reißt und enthüllt Spaltungen, die nach außen emanieren. May hat die Harmonisierung seines Ichs erreicht, indem er seine überwundenen Entwicklungsstufen durch die "Kunst des Vergegenwärtigens", von dem er im zweiten seiner Kunstbriefe14 spricht, in verschiedene Gestalten faßt und wie eine Stationenreihe an uns vorübergehen läßt, in Halef, im Ustad, im Chodem, im Sennor Perdido, im Panther. "Ich", so heißt auch der Titel, unter dem die Nachlaßschriften zusammengefaßt und als 34. Band der Gesammelten Werke den 33 Bänden der Reiseerzählungen angeschlossen sind.

   Der Band enthält die schon für verschollen gehaltenen und erst vier Jahre nach dem Ableben des Verfassers wieder aufgefundenen, ganz auf das 'Erde und Überhimmelsspur' der alten Hel-


14Ges. Werke Bd. 34 S. 246.


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densage [Heldensage] gestellten Geographischen Predigten, die Briefe über Kunst, eine für die Buchform noch neue Novelle Auferstehung und die Selbstbiographie von 1910. Also Programm und Fazit.

   Der Briefe über Kunst waren zwölf vorgesehen, um einen ganzen Jahresring auszuschreiben; aber nur fünf - für die Monate November bis März - sind erschienen. Was der sechste, der Osterbrief, theoretisch zu sagen gehabt hätte, kann in der brasilianischen Erzählung Auferstehung als praktisch verwirklicht gelten, die zugleich durch ihren Handlungsgang wie prologisch zur Lebensbeschreibung hinüberleitet. Der Rat Henrys an das Greenhorn15: "Steckt Eure Nase erst so fünfzig Jahre ins Leben hinein; dann werdet Ihr, aber auch nur vielleicht, erfahren, worin die richtige Klugheit besteht", wurde befolgt. Fast auf das Jahr genau hat Karl May diese Bilanz gezogen. Welle um Welle läßt er da aus den verschiedensten Quellen der Tragödie seines Lebens zusammenfließen, an dessen Schluß man ihm für sein Bekenntniswort 'Mein Wollen ist gut und rein gewesen' die Unterschrift nicht gut mehr wird verweigern dürfen.

   Zeitgeschichtlich interessant ist das Streiflicht auf das Revolutionsjahr 1848, das in Mays Heimat eine etwas krähwinkelige Gegenrevolution sah, mit seinem Vater als Schützenhauptmann. 1858 schon schickte der Proseminarist eine Indianergeschichte an die neugegründete 'Gartenlaube'.* Ernst Keil erkannte das sich offenbarende Talent des Sechzehnjährigen und suchte auf seine fernere Entwicklung brieflich einzuwirken.

   Was diese Memoiren, die literarisch auf dem selbstbiographischen Roman Im Reiche des silbernen Löwen fußen, an Positivem, weit über den gewöhnlichen Anekdotenwert Hinausgehendem bieten, ist die Erkenntnis, daß, mögen Umwelt, Vererbung und Erziehung noch so sehr an unserem 'Kismet' mörteln, persönliche Anlage und Wille über die allerungünstigsten Voraussetzungen am Schlusse den leuchtenden Sieg erfechten. In der von Ahne zu Enkel sich vererbenden Fabuliergabe ist das bekannte 'Überspringen einer Generation' auch an Mays Familie sichtbar. Aber was Rosegger - in dessen philosophisch-ästhetischer Linie er stellenweise liegt - von sich sagen konnte: "Ich hatte in meiner Jugend das Glück, meist mit guten Menschen zusammen zu sein", May war es nicht beschieden. Er rang fürchterlich nach


15Ges. Werke Bd. 7 S. 11.
*Eine Fiktion Mays.


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außen und innen, auch mit jenen "Kräften zum Bösen in sich", von denen Schelling sagt, daß, wer sie nicht habe, auch zum Guten untüchtig sei. Diese Biographie weiß nichts von der glücklichen Kindheit eines Klinger, nichts von der harmonischen Ehe eines Hebbel, nur von einem Tieflandsdasein, aus dem sich May beispielgebend herausgearbeitet hat, nicht nur in seinem äußeren Leben, sondern auch literarisch; er ist kein Familienblattautor Gerstäckerscher Art geblieben, er hat manches Gedankengestein losgeschrämt, dessen Behauung und Verarbeitung ihm nicht ganz gegönnt war, aber doch seinen Namen zur Problemstellung gebracht hat.

   In diesem Leben ist die große Orientreise mit die markanteste Zäsur. Von 1898-1908 begegnen wir nur Schriften orientalischen Inhalts von ihm, die kaum ein Drittel des Schaffens des vorhergegangenen Jahrzehnts ausmachen; dieses Sinken der Vielheit ist die künstlerisch selbstverständliche Begleiterscheinung einer größeren Verinnerlichung und Reife, wie sie mit den Lehrgedichten und Aphorismen der Himmelsgedanken heimgebracht wurde. Am deutlichsten zu verfolgen ist dies an dem vierbändigen Werk Im Reiche des silbernen Löwen, das, halb vor und halb nach der Reise geschrieben, sich in den abschließenden Teilen immer völliger mit dem üppigen Bilderreichtum einer apokalyptisch angeglimmten Gleichniswelt durchdringt. Kara Ben Nemsi wechselt die Pferde und besteigt Syrr, den mystischen Wunderrappen des Schah-in-Schah...

   Auch die letzte Steigerung seines Symbolismus, der in Ardistan und Dschinnistan Tiefland und Hochland gegenüberstellt und - den Reiseschriftsteller gänzlich abstreifend - jede geographische Ortsbestimmung bereits verschmäht, bedient sich noch arabischer Namen.

   Wollte man seinen ganzen Sinn in zwei Worte einfangen, so wären es die, die May in seinem Orient von allen zuerst und zuletzt gehört hat: Salem aaleikum - Friede sei mit dir!



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