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Exkurs 1: Mays Schreibverfahren vor 1900

Das Manuskript zu "Am Jenseits" ist, soweit die relativ wenigen erhaltenen Manuskripte aus dieser Zeit Rückschlüsse zulassen, typisch für die Werke vor 1900 und belegt auf den ersten Blick treffend Mays zwei Jahre zuvor, im Herbst 1896, veröffentlichte Selbstaussage in dem "Hausschatz"-Artikel von den "Freuden und Leiden eines Vielgelesenen" , er habe

keine Zeit, zu entwerfen, ein Konzept anzufertigen, zu feilen, zu streichen, zu verbessern und dann eine Reinschrift anzufertigen.(49)

Das häufig herangezogene Zitat erfordert allerdings zunächst eine Präzisierung: May behauptet hier nicht, wie manche Interpreten lesen, er schreibe ohne Plan, "beinahe wie im Trancezustand", ohne "Zensur"(50), sondern er weist nur darauf hin, daß er seine Texte ohne die Stütze eines schriftlichen Entwurfs zu Papier bringe, und daß er beim bzw. nach dem Schreiben selbst den Wortlaut nicht durch- oder überarbeite.

Dabei ist auch für die Werke vor 1900 Mißtrauen gegenüber diesen Worten des Autors angebracht: die Sorglosigkeit, mit der er die Manuskripte seiner Erzählungen dem im Buchdruckergewerbe üblichen Verschleißprozeß aussetzte und damit ihre faktische Vernichtung bewirkte, mahnt zur Vorsicht bei Aussagen über den materiellen Niederschlag seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Das Corpus des Erhaltenen ist äußerst zufällig zusammengesetzt; dies läßt


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den Rückschluß zu, daß - mehr noch als die Manuskripte selbst - Notizen, Merkzettel, Entwürfe und verworfene Textteile weitgehend als erledigt von May vernichtet oder anderweitig verwendet wurden (als Schmierzettel o. ä.), so daß die Spärlichkeit des Erhaltenen keineswegs die Folgerung erlaubt, derartige Materialien hätten nicht existiert. Zumindest für die letzten Jahre vor 1900 sind derartige Textzeugen nämlich erhalten, und ihnen kommt umso größere Bedeutung zu, je mehr sie als Belege die Arbeitstechnik Mays vor 1900 insgesamt dokumentieren müssen.

Daß May sich zu seinem Werk Notizen machte, die nicht nur dazu dienten, die bereits geschriebenen und an den Verlag geschickten Teile festzuhalten, sondern auch dazu, Handlungsentwürfe zu erproben, zeigen die Notizen zu den ersten beiden "Silberlöwen"-Bänden, die eindeutig vom späteren Figuren- und Handlungsrepertoire abweichen und ganz offenbar eine erste Skizzierung geplanter Erzählelemente darstellen (51). Angesichts der Tatsache, daß Mays Nachlaß noch nicht zureichend katalogisiert und ausgewertet ist, scheint es durchaus möglich, daß zu diesem Problemkreis in den nächsten Jahren noch weiteres Material zutage kommt, zumal die bereits genannten Notizen zu "Am Jenseits" durch die Differenzen zum endgültigen Erzähltext in die gleiche Richtung weisen.

Darüber hinaus ist es denkbar, daß May auch schon vor 1900 Korrekturvorgänge dadurch kaschierte, daß er Änderungen jeweils mit einem neuen Blatt begann, wobei er


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die ausgeschiedenen Blätter vernichtete, so daß die Korrektur im Manuskript nicht mehr erkennbar ist. Für die letzten beiden Bände von "Im Reiche des silbernen Löwen" läßt sich dieses Verfahren in den Manuskripten nachweisen; inwieweit es auch schon vor 1900 in Mays Schreibprozeß eine Rolle spielte, ist schwer zu entscheiden, solange nicht weitere Manuskripte exakt untersucht werden.

Die relativ lange Phase, (mindestens) von May bis September 1897, in der May offenbar die endgültige Gestalt des ihn bereits längere Zeit beschäftigenden "Weihnacht!"-Romans im Geiste konzipiert, ohne die eigentliche Niederschrift zu beginnen (52), zeigt, daß dem Schreiben selbst eine intensive Planung im Kopf des Autors vorausgehen konnte (nicht in jedem Fall mußte), die in der Regel durch keine (erhaltene?) schriftliche Aufzeichnung dokumentiert wurde. Das Manuskript ist bei May (vor 1900) offenbar nicht wie bei anderen Autoren der Ort der Werkgestaltung; die Textsteuerung beim Schreibvorgang beschränkt sich im Mikrobereich darauf, Wiederholungen im Bereich weniger Zeilen zu vermeiden, ohne den Text ästhetisch-stilistisch grundlegend zu bearbeiten. Dabei verläuft Mays Schreiben mit einem gewissen Automatismus; dieser folgt allerdings weitgehend dem durch eine Planungsphase vorgegebenen Handlungsrahmen.

Daß ein derartiges Verfahren keineswegs in dem Ausmaß, wie es die May-Forschung gern konstatiert, ein Spezifikum der Kreativität Mays ist, sei durch zwei Seitenblicke


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belegt: bekannt ist W.A. Mozarts vielfach bezeugte Fähigkeit, eine gedanklich durchgearbeitete Komposition innerhalb kürzester Zeit als vollständige Partitur zu Papier zu bringen (53), während Rolf Christian Zimmermann in einer eingehenden Analyse der 'Sturm und Drang'-Werke Goethes "die alte, hartnäckige Legende vom eruptiv dichtenden Genie der Jahre 1770 - 1775" mit dem Fazit verabschiedet, es sei angesichts zahlreicher Belege an der Zeit, den "Irrschein des Inspiratorischen und Improvisatorischen im Schaffen des jungen Goethe endlich verfliegen" zu lassen. Zimmermann weist an verschiedenen, akribisch dargestellten Beispielen nach, daß Texte, die im Manuskript als improvisierte erste Niederschrift und zugleich als endgültige Reinschrift erscheinen, von Goethe solange im Geist bearbeitet wurden, bis auf dem Papier endlich nur noch die abschließende Notierung des vollendeten Werks vorgenommen werden mußte (54).

Zuletzt ist schließlich auch Vorsicht geboten gegenüber Behauptungen über exorbitant kurze Entstehungszeiten von May-Werken: angesichts der anhand des Fehsenfeld-Briefwechsels und anderer Zeugnisse nachweisbaren Entstehungszeiten erscheint es sehr fragwürdig, ob er tatsächlich nur "drei Tage und drei Nächte" benötigte, um "meist [!] ein halbes Buch fertig"-zustellen (55).

Diese - noch jüngst von Hans Wollschläger vorgetragene - These kann sich zwar anscheinend auf Mays eigene Aussagen sowie auf Zeugnisse aus Mays Umgebung (insbesondere Klara Mays und Euchar Schmids) berufen, findet aber in


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der Chronologie der Werkentstehung keine Stütze. Zum einen hat Hans Wollschläger selbst den Wahrheitsgehalt von Klara Mays in extremem Ausmaß hagiographischen Erklärungen als "bedenkenlose Legenden-Fabrikation" (56) charakterisiert; Vorsicht dürfte damit auch gegenüber ihrer Beschreibung von Mays Produktionsprozeß am Platze sein, zumal alle Zeugnisse darauf verweisen, daß die literarische Dimension des Spätwerks (und nur dessen Entstehen hat sie miterlebt) insgesamt doch jenseits ihrer geistigen Kapazität lag. Überall dominieren bei ihr vorgegebene Klischees die Wiedergabe der Realität, wie auch die folgende, von trivialen Dichterbildern bestimmte Schwanen-(oder Schlittschuhläufer-)Metapher zeigt:

er pflegte satzweise zu schreiben; war ein Gedanke zu Ende gebracht, so wartete er, bis der nächste sich ihm enthüllte, und wie im Traum glitt die Feder übers Papier. (57)

Zum anderen trifft Mays eingangs ausschnittweise zitierte Schilderung der Schreibsituation zwar sicher zu, gibt aber keinerlei Auskunft über die produzierten Quantitäten, wenngleich er in der Zeit, als das folgende Zitat entstand (1896), gern mit Tausenderangaben bei den zu schreibenden Seiten um sich warf: (58)

Ich setze mich des Abends an den Tisch und schreibe, schreibe in einem fort, lege Blatt zu Blatt und stecke am andern Tag die Blätter, ohne sie wieder anzusehen, in ein Couvert, welches mit der nächsten Post fortgeht. An den Stil denke ich dabei gar nicht. (59)

Trotz dieser suggestiven Beschreibung literarischer Massenproduktion sind mit Sicherheit die meisten Aussagen über extraordinäre Schreibgeschwindigkeiten oder -quanten


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falsch; hier mußten in den letzten Jahren laufend allzu optimistische Annahmen aufgrund von Datenmaterial revidiert werden.

Die erste Ausgabe von Wollschlägers Monographie ließ beispielsweise "Weihnacht!" innerhalb einer Woche entstehen; in der zweiten Auflage wurde daraus "in kurzer Zeit" (60). Tatsächlich vergingen vom 12. Oktober, der Ankündigung der ersten Manuskriptsendung, bis zum Abschluß des Textes Anfang Dezember mindestens sechs bis acht Wochen; betrachtet man aber den ersten Grundriß des Romans im Brief an Fehsenfeld vom 13.8.1897, dem offenbar schon ein recht präzises Handlungskonzept zugrundelag, als Beginn der Arbeit, so kommt man auf eine reale Entstehungszeit von drei bis vier Monaten.

Ein anderes Beispiel bietet "Et in terra pax", das, wie Hainer Plaul bei seiner Edition der Verlagskorrespondenz minutiös nachgewiesen hat (61), weder innerhalb von vier Wochen "in der Weltabgeschiedenheit des Rigi Kulmgipfels" im Herbst 1901 (62) noch, wie Ekkehard Bartsch annahm, "im Frühjahr oder Frühsommer 1901" entstand (63), sondern dessen Entstehung von der ersten Manuskriptlieferung Ende Mai 1901 bis zur Schlußsendung Ende September sich immerhin über fünf Monate hinzog, wobei nach Mays eigenen Auskünften die Anfänge der Niederschrift bereits in die ersten Monate 1901 zurückreichen könnten. Außerdem ist zu berücksichtigen, daß der Text im Fehsenfeld-Satz keinen vollen Band, sondern nur etwa 500 Seiten ergibt (64)).


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Anmerkungen zu: Exkurs 1. Mays Schreibverfahren vor 1900

49 Deutscher Hausschatz, XXIII.Jg.(1896 f.), Nr.1 f.

50 H. Schmiedt, 1979, 12. - Vgl. aber auch Schmiedts Differenzierung im KMHb, 152 f.

51 vgl. F-R KMV "Am Jenseits" (XXV), N 38-42, sowie unten Anm. 22 zu Kap.IV. Der Roman der Krise (Silberlöwe I/II). Textzeugen dieser Art dürften sich weit eher in sachfremden Zusammenhängen (z.B. als Rückseiten anderweitig beschriebener Blätter) finden lassen als in thematisch geordneter Form, so daß ihre Identifizierung im KMA auch von Zufällen abhängt. Zum "Silberlöwen I/II" gibt es außer Mays Notizen auch Stichworteinträge in Mays Handexemplar der Erstausgabe mit Überlegungen zu einer evt. Überarbeitung des Romans in späteren Auflagen; vgl. dazu F-R KMV "Jenseits" (XXV), N 52 (mit Faksimile).

52 Auch Hans Wollschläger weist auf diese Vorbereitungsphasen hin; er klassifiziert sie als "seelische Ausnahmezustände, um in die Produktivität zu kommen" und beschreibt sie als "Zeiten bis zu einem halben Jahr, wo er (May) absolut unproduktiv war und sich auch dieser Unproduktivität fast vertrauensvoll abwartend überließ" (Wolllschläger [Wollschläger], in: Eggebrecht, 1987, 134). Ob Mays ziemlich pausenlose Schreibtätigkeit vor und nach 1900 allerdings derart lange Schaffenspausen aufwies, scheint mir von der Chronologie her eher fragwürdig (Hier zeigt sich deutlich das Desiderat einer exakten, möglichst dicht geführten Werkchronik).

53 W.Hildesheimer: Mozart. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, 248 ff. (auch als Suhrkamp-TB Nr. 598).

54 R.Chr.Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18.Jahrhunderts. Zweiter Band: Interpretation und Dokumentation. München: Fink 1979, S.19 ff. - Siegfried Scheibe unterscheidet in seinem Referat "Einige grundsätzliche Vorüberlegungen zur Vereinheitlichung von Editionen" (in: Edition et Manuscrits, 1983) "zwei unterschiedliche Autortypen": "Einerseits finden wir eine Gruppe von Autoren, die ihr Werk wesentlich 'im Kopf' ausarbeiten und bei denen es mit der Niederschrift schon eine relativ endgültige Form erreicht hat-; bei ihnen treten in der Regel wenige Korrekturen auf, und meist sind es solche, die bei späteren Überarbeitungen des Textes entstehen. Die andere Autorengruppe arbeitet dagegen wesentlich auf dem Papier [...]. Einem dieser beiden Grundtypen sind alle Autoren zuzurechnen [...]".

55 Wollschläger, wie Anm.52, 135.

56 Wollschläger, JbKMG 1970, 152.


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57 Klara May: Brief an Eduard Engel, undatiert. In: KM[Jb 1927, 68 f. - Weitere Zeugnisse für Mays Schreibprozeß bieten beispielsweise:

- Emma May: Brief an Agnes Seyler, 16.10.1897, in: Maschke, 1973, 220.

- Freuden und Leiden des Vielgelesenen, wie Anm. 49.

- Richard Plöhn (i.e.Karl May): Antwort an die "Frankfurter Zeitung", August 1899, in: JbKMG 1974, 1 134.

- Aussagen Fehsenfelds und der Schwester Mays, Karoline Selbmann, zit. bei Maschke, 1973, 34.

- E.A.Schmid: Eine Lanze für Karl May. Radebeul:KMV 21926, 30.

- H. Zerkaulen, in: KMJb 1928, 186 (basiert auf Auskünften Klara Mays).

- Klara May: Mit Karl May durch Amerika. Radebeul: KMV 1931, 26 f.

Eine kritische Sichtung dieser und anderer, meist ähnlicher Aussagen mahnt zu großer Skepsis, da alle diese Auskünfte (auch die Karl Mays selbst) sich ihr je eigenes May-Bild zurechtstilisieren und durchweg von apologetischen Interessen bestimmt sind, d.h. nicht objektive Beschreibung, sondern subjektive Tendenzen zum Ziel haben. Darüber hinaus zeigt sich Klara Mays Hilflosigkeit gegenüber dem Werk ihres Mannes nicht nur in dem entlarvenden Eingeständnis über den Nachlaß "Ich vermag mich nicht zurecht zu finden" ( Brief an Prinzessin Wiltrud von Bayern, JbKMG 1983, 131), sondern auch in der Unbedarftheit ihrer Aufsätze in den Kalrl-May-Jahrbüchern nach 1918, soweit sie Fragen von Karl Mays Werk betreffen.

58 Vgl. den Briefwechsel mit Seylers in Deidesheim; in: Maschke, 1973, 238: "6000 Seiten 'Silberner Löwe'" (Brief Mays vom 12.8.1897; weitere Zeugnisse dort noch mehrfach).

59 Deutscher Hausschatz, wie Anm.49, S.18.

60 Wollschläger, 1965, 67; Wollschläger 1976, 85.

61 JbKMG 1983, 146-196.

62 Max Finke, KMJb 1923, 19.

63 E.Bartsch, JbKMG 1972/73, 104.

64 Weitere Belege für die Entstehungszeiten etwa des Orientromans und eine näherungsweise exakte Chronologie von Mays Werken bietet R.Schmid in F-R KMV "Auf fremden Pfaden" (XXIII), A 21 - A 42.


Karl Mays Werk 1895-1905

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