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V. Über die Grenze: Mays Friedensroman

1. Die Orientreise als Einschnitt in Biographie und

Werkentwicklung

"Ich gehe nach Arabien zu Hadschi Halef, dann durch Persien und Indien nach China, Japan und Amerika zu meinen Apatschen." (1) Dieser Satz, begleitet von dem Hinweis des "Weltläufers", daß er "keiner Gefahr ausweichen" dürfe, verkündet dem Verleger mit kräftigem Auftrumpfen das Programm der -mehrfach verschobenen - Reise in den Orient, zu der May endgültig am Morgen des 26.März 1899 aufbrach.

Zurückkehren sollte er von dieser "Pilgerreise in das Morgenland" (2), wie er sie im ersten Titelentwurf seiner auf der Fahrt entstandenen Gedichtsammlung deklarierte, als ein tiefgreifend Verwandelter. Biographisch und werkgeschichtlich bildet die Orientreise einen tiefen Einschnitt; die Monate der Abwesenheit von Deutschland, von März 1899 bis Ende Juli 1900, erwiesen sich aber auch durch Vorgänge in der Heimat als höchst unheilvoller Zeitraum: Am 16. März 1899, kurz vor Mays Abreise, verkaufte Pauline Münchmeyer in aller Stille den KolportageVerlag ihres 1892 gestorbenen Mannes mit allen Verlagswerken, darunter Mays fünf Monumental-Heftromanen, an den "ehemaliger[n] Leipziger Verleger" (3) Adalbert Fischer. Dieser deklarierte Mays Texte in einem Brief an den


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Autor sogleich als den "Hauptwert des ganzen Verlags" (4) und ließ seine rücksichtslose Entschlossenheit erkennen, diese Werke und den inzwischen berühmt gewordenen Namen ihres Autors auszubeuten (5).

Gerade in dem Augenblick, als May die literarischen Qualitäten seines bisherigen Werks radikal in Frage stellte und verwarf, als er zu dem Entschluß kam, endgültig die Funktion als "Unterhaltungskarnickel der dummen Jungen und Mädels" (6) zu verweigern, holten ihn die Schatten der Vergangenheit ein.

Ein zweites kam zu der Gefahr aus dem Hause Münchmeyer: erstmals wurde massive Kritik an May und seinem bisherigen Werk in einem angesehenen Blatt, der "Frankfurter Zeitung", vorgetragen (7) , eine erste Einstimmung auf die lawinenartig anschwellende Pressekampagne, die May bevorstand und die weitgehend zu seiner physischen und psychischen (und letztlich auch literarischen) Vernichtung führte.

Dabei steckte diese erste Auseinandersetzung bereits die Frontlinien und auch ihre Schwachstellen ab. Nicht nur Mays Freunde, sondern auch der Autor selbst reagierten ungeschickt und unangemessen und vergrößerten den Schaden, statt ihn einzudämmen. Mays teilweise zu brillanter ironischer Polemik auflaufende Reaktionen und seine gültigste Antwort, die neu entstandenen Werke, wurden immer wieder durch seine auftrumpfende Rechthaberei, durch seinen Willen, das letzte Wort behalten zu wollen, und nicht


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zuletzt durch die ungeschickte Prozeßtaktik seiner Rechtsvertreter entwertet.

Allerdings waren es nicht die zunächst von ihm nicht besonders ernst genommenen Entwicklungen in der Heimat (8), die Mays Entwicklung im Orient bestimmten; Hans Wollschläger hat die Ursache der wiederholten Krisen auf der Reise anschaulich beschrieben (9):

Das äußere Bild ist durchaus tragischer Aspekte fähig: wie May da in Pose und Gewand seiner Ich-Ideale auf einmal mitten im Getriebe eines Weltlaufs steht, der über ihn hinweggeht wie über einen Anachronismust [...]

Die reale Konfrontation "Emir Hadschi Kara ben Nemsi Effendis " (10) mit den von ihm literarisch erträumten Wunsch- und Flucht-Räumen führte zu mehrfachen Krisen, die von Depressionen ("höchst elegische Stimmung" - "Schrecklichster Tag" (11)) bis zum katastrophenartigen Zusammenbruch des alten narzißtischen Ich-Ideals (des "früheren Karl", wie May selbst das Phänomen apostrophiert (12) ) in Padang auf Sumatra reichten. May hat diese "Wahnsinnsanfälle" (13) im ersten Erzählwerk nach der Orientreise, "Et in terra pax", ausführlich beschrieben, und Hans Wollschläger verdanken wir eine in jedem Sinn große Deutung dieses Romans als Geschichte einer seelischen Krankheit und ihrer Heilung, beides im doppelten Sinn: der Romanfigur Waller und des Autors Karl May (14).

Gleichzeitig sollte man aber nicht übersehen, daß das Erlebnis des Orients für May noch eine weitere Erfahrung bedeutete. Schon die Kolportageromane und (noch stärker) dann die für den "Deutschen Hausschatz" geschriebenen


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Reiseerzählungen bezogen große Teile ihrer Spannung für den zeitgenössischen Leser daraus, daß sie jeweils aktuelle politische Vorgänge in Romanform verarbeiteten. Spätestens seit "Winnetou Ill mündete diese zunächst eher oberflächliche Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte in eine dezidierte Stellungnahme gegen den inzwischen in ganz Europa herrschenden Imperialismus (15). Mays bewußt gesetztes Gegenprogramm, die Mahnung zur Aussöhnung der Rassen und Völker und zum Verzicht auf Gewalt, kreuzte sich biographisch allerdings in den Jahren vor 1900 mit den bombastischen Deklamationen der 'Old-Shatterhand-Legende' und kam deshalb den Lesern kaum zu Bewußtsein. Literarisch stand dieses Programm, wie gerade die letzten Werke vor 1900 zeigen, quer zur Struktur der Abenteuererzählung, was immer größere und unauflösbare Handlungsaporien mit sich brachte. Mays Haltung vor 1900, darin Spiegelbild der zugleich geduckt-angepaßten und andererseits aufsässig-oppositionellen Haltung des Vaters (16), schwankte zudem immer wieder zwischen Zügen betont staatstragender Gesinnung und deutlich distanzierten politischen Stellungnahmen (17).

Obwohl man bei den abenteuerlich akzentuierten Karten-Berichten der ersten Reisemonate 1899 (18) sicher Abstriche beim Realitätsgehalt machen und sie in erster Linie als literarische Produkte werten muß, lassen die erhaltenen Zeugnisse doch den Schluß zu, daß May nun, im "Morgenland", die Realität der imperialistischen


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Herrschaft als Augenzeuge kraß und drastisch miterlebte. Zumindest eine der schweren psychischen Krisen während der Reise, von denen Klara May (die die meisten Zeugnisse vernichtet hat (19)) bruchstückhaft berichtet (20), hatte "an einem Ort ihren Ursprung, "wo zu damaliger Zeit noch im Verborgenen der Mädchenhandel betrieben wurde." Uber den Zusammenbruch auf Sumatra fehlen nahezu alle Zeugnisse; Hans Wollschläger weist aber auf die Parallele zu Nietzsche hin (21), der "von einem Paroxysmus des Mitleids überwältigt auf der Straße zusammengebrochen sei. Seine Katastrophe habe "derselben Affekt sphäre" angehört wie die Mays.

Betrachtet man die Zeugnisse der Orientreise, so lassen sich immer wieder, selbst im befremdlichsten Münchhausiadenton der Postkartenserien (22), Hinweise auf die imperialistische Realität um 1900 entdecken, sei es der Kontakt mit "einem englischen Menschenhändler" auf dem Schiff (23) oder der Blick hinter die Fassaden des ceylonesischen Kolonialparadieses (24) :

Dieses Hötel ist das schönste, was ich auf Erden gesehen habe, leider aber nur zur gründlichen Ausbeutung des Menschen errichtet. Die Segnungen des Christenthums!

Derartige Erfahrungen, notiert auf einer Postkarte des "Mount Lavinia Hotel, Colombo", wurden von nun an zu einem zentralen Punkt des Mayschen Welt-Bilds, bis hin zur letzten Wiener Rede 1912, kurz vor seinem Tod, die - noch einmal - die utopische Vorstellung einer Menschheit "in brüderlicher Harmonie" entwickelte: "dann, aber auch erst dann ist die Schöpfung des Menschen, wie Gott ihn gewollt hat, vollendet." (25)


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Dazu kommt ein Weiteres: auch literarisch-künstlerisch bedeutete die Reise einen Neuanfang. Die Aufzeichnungen, besonders die im Nahen Osten und in Griechenland (26), kreisen immer wieder auch um Fragen der künstlerischen Qualität, wobei spätestens jetzt May unübersehbar die Absicht artikuliert, Anschluß an die Standards der Hochliteratur zu gewinnen.

Dabei orientierte er sich zunächst an der klassizistischepigonalen Literatur des 19.Jahrhunderts; bereits aus Ägypten, der ersten Reisestation, teilte er Fehsenfeld den Plan mit, als nächstes Buch unter dem Titel "Liebes- Palmen" eine Gedichtsammlung zu publizieren (27). Wie schon bei "Weihnacht!" betrafen die bereits sehr konkreten Vorstellungen, die er dem Verleger mitteilt, weniger den lyrischen Inhalt als vielmehr die äußere Aufmachung des Werks (28):

Innen eine Abbildung in schöner, feiner Zeichnung: Ein Engel, welcher Harfe spielt. Einband mitteldunkle Nuance von Blau, ja kein Bild, nur den Titel.

Zu diesem Zeitpunkt ist der Briefschreiber schon "das gerade Gegenteil vom früheren Karl" (29):

Der ist mit großer Ceremonie von mir in das Rothe Meer versenkt worden, mit Schiffssteinkohlen, die ihn auf den Grund gezogen haben.

Der Zusammenbruch des psychischen Ich-Ideals zog auch eine radikale schriftstellerische Selbstkritik nach sich, die zunächst an der Kunsterfahrung und am Kunstbegriff ansetzte (30):

[...] ich kann nichts groß, gewaltig und schön genug bekommen und habe doch kein ausgebildetes Kunstverständnis für das Schöne. Goethe würde ganz anders sehen, denken und empfinden als ich. Das ist nun leider hier im Leben nicht mehr nachzuholen.


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Die Begegnung mit dem antiken Griechenland verstärkte die Orientierung auf klassizistische Kunstvorstellungen; sie schlug sich nicht nur in der Goldschnitt-Lyrik der schließlich als "Himmels-Gedanken" erschienenen Poesie-Sammlung nieder, sondern auch beispielsweise im Plan eines Epos "Die beiden Inseln" ("Aber unter einem anderen Titel. Vielleicht 'Der Archipell" (31)). Der Vorsatz, den Weg zur literarischen Größe als Lyriker anzutreten, erwies sich allerdings trotz aller Mühen Mays um Wirkung beim Publikum als Sackgasse, so daß er sich schon 1901 wieder der 'Reiseerzählung' zuwandte (32), allerdings nun in einer radikal neuen Weise.

Seine weitgehende Unkenntnis der modernen Literatur und bildenden Kunst erschwerte ihm den ausdrücklichen Vorsatz, als Schriftsteller ganz neu zu beginnen, da er sich überwiegend an Mustern der Mitte des 19.Jahrhunderts orientierte (33), die allerdings gerade in der Wilhelminischen Epoche (mit deren Neigung zum nationalen Pathos und andererseits zur Butzenscheibenromantik) intensiv aufgewertet wurden. Mays literarischer Horizont erwies sich schon bei der Konzeption der letzten Bände vor der Orientreise als unzureichend: das vorhandene Form- und Gestaltungsrepertoire und die inhaltlichen Neuansätze traten immer weiter auseinander und kamen nur noch in seltenen Glücksfällen annähernd zur Deckung ("Weihnacht!"). Immer noch bezog er bis zur Reise seine Muster einerseits aus populärer Abenteuer-, andererseits aus der Erbauungsliteratur konfessioneller


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Prägung, wobei gerade seine heftigen Attacken gegen andere Indianererzählungen (34) die Parallelen nur um so deutlicher hervortreten ließen, zumal vor allem seine spektakulären Auftritte als Old Shatterhand sein Bild in der öffentlichkeit bestimmten.

Weder im Fehsenfeld-Briefwechsel, wo man sie wohl am ehesten vermuten würde, noch im Werk tauchen vor 1960 Literaturhinweise auf, die über den gängigsten bildungsbürgerlichen Kanon an Autoren (v.a. Schiller als Zitatquelle) hinausweisen (35), und Klara Mays treuherzige Aussage, ihr Mann habe "die Neuerscheinungen" der Belletristik im "Lesezirkel" verfolgt (36), "und da waren ihm die 'Fliegenden Blätter' das liebste", trifft, bei allem Hang Klaras zur Legendenbildung vom ‚einfachen Volksschriftsteller', sicher für Mays Lektüre Typisches.

Auch nach der Orientreise wurde er nicht zum "Poeta doctus", wobei er selbst seine Bildungsmängel immer wieder schmerzlich konstatierte (37): "auf eigentlich originales autoritätsloses Lernen hat er sich, auch im Alter, nur ganz selten verstanden." (38)

Aber er sucht nun ganz bewußt nach der Reise mit ihren vielfältigen Sinneseindrücken die Begegnung nicht nur mit alter Kunst, sondern auch mit der Moderne. Mit der Lösung von seiner ersten Frau Emma und nach der Heirat mit Klara Plöhn wurde er zum regelmäßigen Konzert- und Theaterbesucher (39), er interessierte sich rege für zeitgenössische Kunst, besuchte Ausstellungen und förderte junge Künstler (40).


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Seine Bibliothek, auf den Photos der neunziger Jahre noch dadurch ausgezeichnet, daß überwiegend die Freiexemplare seiner eigenen Bände die Regale zieren (41), wurde jetzt zwar nicht systematisch, so doch kontinuierlich ergänzt (42). Neben die länder-, völker- und sprachkundlichen Werke, bisher außer den Lexika die Hauptbestände, traten jetzt zunehmend (und oft auch zufällig) literarische, literatur- und kunsttheoretische und sogar philosophische Texte, nicht selten in größeren Themengruppen, wie etwa zu Nietzsche (43) oder zur Dramentheorie. (44)

Der neue Geist zeigte sich auch äußerlich: in der "Villa Shatterhand" wurden die abenteuerlichen "Weltläufer"-Requisiten mehr und mehr in den Flur oder in einen Gartenschuppen ausgelagert (45), und an ihre Stelle traten Gemälde und Plastiken zeitgenössischer Künstler, vor allem solcher, die - wie Sascha Schneider - Mays symbolischer Richtung entsprachen.

May selbst, so zeigen die Photos nach 1900, wurde zwar nach wie vor von seinen in Scharen in Radebeul einfallenden Besuchern genötigt, auf deren Kostümfotos zu posieren, aber er präsentierte sich nun nicht mehr wie in den neunziger Jahren im Westmanns- oder Orientalen-Kostüm, sondern trat in betont bürgerlicher Kleidung neben oder hinter die orientalisch oder indianisch maskierten Verehrer. (46)


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2. Die Reiseerzählung "Et in terra pax"(1901)

Wenige Tage vor Weihnachten, am 18.Dezember 1900, wurde die Gedicht- und Aphorismensammlung "Himmelsgedanken" im "Börsenblatt" als "erschienene Neuigkeit" angezeigt. Einen Tag zuvor hatte May sich in einem empörten Brief an Fehsenfeld vehement gegen Eigenmächtigkeiten der Drucker verwahrt. Dieses für den Briefstil Mays im Kontakt mit seinem Verleger nach 1900 typische Beispiel sei ausführlicher zitiert, weil hier das Beharren des Autors auf Selbstverständlichem, nämlich wortgetreuem Abdruck, mit geradezu messianischem Sendungsbewußtsein vorgetragen wird, sicher ein ganz wesentlicher Grund für die Differenzen nicht nur mit Fehsenfeld, sondern auch mit anderen Verlegern in der Folgezeit: während May vor 1900 die nicht buchstabentreue, aber im wesentlichen zuverlässige Textgestaltung der Druckerei Krais durchweg akzeptierte und nur sehr al fresco Korrektur las, mehrten sich nach 1900 die wortgewaltigen Proteste über "Verfälschungen" seines Werks (47). Die jede Ebene der sachlichen Mitteilung weit hinter sich lassende Aufgeregtheit löste bei den Partnern immer wieder Befremden oder amüsierte bis verärgerte Reaktionen aus (48), so daß sein eigentliches Problem eher an den Rand rückte (49):


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Radebeul, 17./12.00.

Lieber Herr Fehsenfeld!

Abermals eine Beschwerde betreffs der "Himmelsgedanken" ]...] [Es geht um eine "Aphorisme" über bewohnte Stern] Die Aphorisme lautet und hat zu lauten, wie ich sie Ihnen hier beilege und wie sie in allen Correcturen und Revisionen gestanden hat.

Nun ist aber noch im letzten Augenblicke der allerdümmste Ihrer Setzer, der sich trotzdem für klüger als May gehalten hat, über diese Aphorisme hergefallen und hat mir grad das herausgenommen, was die Hauptsache war, nämlich die Wiederholung der Worte "wenn es welche giebt ["] [...]

Aber nun kommt die Consequenz:

In meinen nunmehrigen Werken ist jedes Wort, jeder Buchstabe genau überlegt; es muß alles genau so gesetzt werden, wie ich schreibe. Es sind Werke, welche Bahn zu brechen haben. Die kleinste Aenderung kann schaden. Ich habe darum Sie und Herrn Krais gebeten, ja recht treu zu sein. Nun steckt aber unter den Setzern so ein Traugott Nudelmüller, der sich nicht nur für klüger als die Autoren hält, sondern sich sogar erdreistet, meine Arbeit durch eigenmächtiges Auswerfen eines ganzen Satzes total zu verschimpfiren. Denn hier liegt kein Versehen, kein Zufall sondern eine Absicht vor. [...]

Kann ich aber Werke, in denen jeder einzelne Satz seinen Werth, seine Absicht, seine Bedeutung hat, auf einem Wege veröffentlichen lassen, an welchem irgendwo versteckt so ein fataler Mensch sitzt, der sich für berechtigt hält, ohne vorherige Anfrage sogenannte Verbesserungen anzubringen, die aber nach der geistigen Stufe, auf weicher er steht, nur Verschlechterungen sein können? [...] [Krais soll] pag.208 ändern und die Geistesgröße zu entdecken suchen, die mich um meine Trics und besten Pointen bringt und wahrscheinlich auch später wieder "verbessern" würde, wenn ich ihr nicht vorsichtig aus dem Wege gehe.[...]

Der Brief indiziert ein neues Textbewußtsein des Autors. Zwar hatten schon die Jahre nach 1895 gezeigt (50), daß May seine schriftstellerischen Rechte entschlossen wahrnahm und nötigenfalls auch durchzusetzen wußte, aber dabei war es nie um die Mikrostruktur der Texte gegangen.


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Daß er nun in ganz anderer Weise als früher auf texttreue Wiedergabe seines Werks achtete, bekamen neben Fehsenfeld auch der Leipziger Verleger Hermann Zieger und sein Herausgeber Joseph Kürschner zu spüren. Beide planten im Frühjahr 1901 ein literarisch-politisches "Denkmal den Streitern und der Weltpolitik" (51) in Form von "Schilderungen aus Leben und Geschichte, Krieg und Sieg" (52): in einem Prachtband mit diesen Untertiteln sollten der chinesische Boxeraufstand von 1900 dargestellt und die Rolle des deutschen Expeditionskorps verherrlicht werden.

Als Autor des umfangreichsten Erzählbeitrags war Karl May vorgesehen; Kürschner, der schon in den achtziger und neunziger Jahren May-Beiträge in den von ihm herausgegebenen Zeitschriften veröffentlicht hatte (53) und eigenem Bekunden nach den Autor auch "einigemals [...] persönlich gesehen" hatte (54), erwartete ebenso wie Zieg er sicher eine abenteuerliche Story in der Art der "Hausschatz"-Erzählungen, wobei der Handlungsraum durch das China-Thema des Bandes vorgegeben war (55).

Daß der Roman von May bewußt als literarischer Neubeginn konzipiert wurde,und wie exakt kalkuliert der Autor seine humanitäre Botschaft an Verleger und Herausgeber vorbeischmuggelte, läßt sich dem inzwischen publizierten Briefwechsel Ziegers mit Kürschner entnehmen (56). Schon nach der ersten Manuskriptlieferung äußerte Zieger Bedenken wegen Mays Konzeption; das Befremden der beiden ersten Leser, Herausgeber und Verleger, sollte sich mit


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dem wachsenden Manuskript so sehr steigern, daß May mehrfach zu Änderungen oder Kürzungen aufgefordert wurde. Nach diesen wiederholten Protesten gegen die "philosophischen Auseinandersetzungen bezüglich der Religions-Anschauungen" (57) (sprich: gegen "Mays Friedensund Toleranzappelle" (58) ) kleidete der angegriffene Verfasser seinen Widerspruch in eine Parabel, die er unter dem Titel "Gleichnis für Zieger" an den Verleger sandte (59). Trotz der Anderungswünsche hat May

sein Konzept gegen alle Widerstände bis zuletzt voll durchgezogen, und zwar in bezug auf den Umfang, in bezug auf den Inhalt und auch in bezug auf den Schluß. (60)

Mißtrauisch und mit größter Sorgfalt überwachte er den buchstabengetreuen Druck seines Textes (ein absolutes Novum in der Druckgeschichte seines Werks), er ließ sich stets für die Fahnenkorrektur sein Manuskript zurückschicken, um die Texttreue zu überprüfen, und er protestierte prompt und heftig bei tatsächlichen oder vermeintlichen Änderungen (61). Darüber hinaus hielt er direkten Kontakt mit dem Illustrator Ferdinand Lindner und sprach mit ihm die auszuwählenden Bildthemen und ihre Plazierung ab; selbst bei Änderungen an den Illustrationen sah sich Zieger veranlaßt, mögliche Reaktionen des Autors ins Kalkül zu ziehen (62). Schließlich distanzierte sich Kürschner vorsichtig im Vorwort des fertigen Bandes von dem May-Beitrag, "der einen etwas anderen Inhalt und Hintergrund erhalten [hat], als ich geplant und erwartet hatte." (63).


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Nachdem May (spätestens bei einem persönlichen Besuch Ziegers in Radebeul am 12. Mai 1901 (64)) Genaueres über den geplanten Band und seine chauvinistisch-imperialistischen Absichten erfahren hatte, konzipierte er einen Beitrag, dessen der Tendenz des gesamten Werks diametral entgegengesetzte Zielsetzung schon im Titel "Et in terra pax" deutlichen Ausdruck findet.

Die Handlung greift zwar in manchen Zügen auf Strukturen älterer Romane zurück: so entspricht die Verwendung eines Gedichts als organisierendem Strukturelement und seine allmähliche Mitteilung an den Leser im Verlauf des Geschehens ebenso wie die Aufspaltung der Ich-Figurationen auf mehrere Personen der Struktur des "Weihnacht!"-Romans. Andererseits zeigt der "Pax"Text zahlreiche, erstaunlich anmutende Innovationen. May unterlegt dem Geschehen die geographischen Stationen und realen Eindrücke seiner Orientreise; damit nähert er sich einer realistischen Schreibweise, in der folgerichtig auch die sozialen und politischen Probleme der bereisten Länder eine handlungsbestimmende Rolle spielen. Die Kritik des Imperialismus geschieht nun nicht, wie in "Winnetou I", in einem Idealentwurf, dessen Grundstrukturen mit literarischen Formen wie der Legende überblendet sind, sondern tatsächlich in einer "Reise"-Erzählung mit zahlreichen Wirklichkeitselementen.


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Mehrfach läßt May in ausführlichen Textpassagen den Ich-Erzähler oder einzelne Figuren die Argumentation der europäischen Mächte in der China-Frage scharf ablehnen, indem er deren Aktionen mit ihrem christlich-abendländischen Selbstverständnis vergleicht. So setzt sich der Chinese Fang beispielsweise mit der auch von Wilhelm II. in seiner berüchtigten "Hunnenrede" vorgetragenen These auseinander, die Chinesen hätten durch den Boxeraufstand das Gastrecht verletzt (65):

Wir haben auch mit den Christen den Versuch gemacht. [...] Wie aber dankten sie uns? [...] sie, deren so laut ausposaunte Humanität nichts als der verkappte Egoismus ist [...], sie legen mit ihren Kanonen unsere Türme, Mauern und Häuser in Trümmer, um uns ihre bessere Bildung und Gesittung beizubringen; [...]sie muten uns die sträfliche Befangenheit zu, ihrer Versicherung zu glauben, daß sie es mit der Erfindung ihrer "Interessen sphären" und "offenen Thür" nur auf unser Heil abgesehen haben [...] (Pax, Sp.126 = Friede S.171 f.)

Passagen dieser Art zeigen sehr deutlich, daß May sich intensiv mit den Vorgängen des Jahrs 1900 in China und mit den offiziellen Verlautbarungen der europäischen Mächte befaßt hat; immer wieder finden sich wörtliche Bezüge zu Reden Wilhelms II. oder auch zu Parolen der deutschen Kolonialpropaganda, wie sie besonders seit 1897/98 durch Verbände wie den "Alldeutschen Verband" oder den "Deutschen Flottenverein" (gegründet 1898) mit großem publizistischem Aufwand in Deutschland vorgetragen wurden (66).

Auch die Rolle des Christentums und der Missionen als Wegbereiter der imperialistischen Eroberung wird von


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den Figuren und auch durch die Handlungsgestaltung scharf kritisiert:

Fallen Sie mir nicht mit 'Kulturaufgaben', 'civilisatorischen Pflichten' und 'Sendboten des Christentums' in die Rede! Das sind Fiktionen, mit denen ein Kenner der Verhältnisse nicht irrezumachen ist! Wer von seiner Religion und von seiner Kulturform behauptet, daß sie die allein seligmachende und er also ein Auserwählter Gottes sei, der ist eben ein Egoist in der höchsten Potenz, und Religion und Politik sind für ihn nur die Mittel, seine Selbstzwecke zu erreichen. (Pax, Sp.127 = Friede, S.174)

Die religiös verbrämte Aggressivität wird aber nicht nur verbal kritisiert, sondern bildet in der "geistigen Störung" des selbsternannten Missionars Waller, "auch auf dem Gebiete des Glaubens Herrscher sein" zu wollen, das entscheidende Handlungselement (Pax, Sp.28 = Friede S. 41 ). Er versteht sich selbst als einer der "kühnen Pioniere der geistlichen und infolgedessen auch der weltlichen Macht" (ebd.); in ihm "wohnte und wirkte" der "Dämon [ ... ] Aggressivität" (Pax, Sp.42 f. = Friede, S. 61 f.):

Dieser Teufel ist es, der Menschen, Korporationen und Völker immer vorwärts drängt, um neuen Raum zu gewinnen, dabei aber auf dem alten, wohlerworbnen keinen Frieden und keinen Segen aufkommen läßt. (ebd.)

Neben die reale Reiseroute des Ich-Erzählers, weitgehend den Stationen von Mays Orientreise nachgebildet, und ihre Schilderung treten zwei Handlungsstränge: die Krankheits- und Heilungsgeschichte des seelisch gespaltenen Missionars und die Wandlung des englischen Lords und Globetrotters Sir John Raffley (67) (einer der Frühformen aus Mays Figurenarsenal) durch die Heirat mit


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einer Chinesin. Als mit Raffley eng befreundet erweisen sich schließlich auch die beiden Chinesen, die vom Reisebeginn in Kairo an den Weg Wallers, seiner Tochter Mary und des Ich-Erzählers kreuzen.

Noch auf einer weiteren Ebene wird Mays Humanitätsideal personifiziert: der arabische Diener Sejjid Omar, der "stolz" den ersten Satz des Romans ausspricht, erfährt im Verlauf der Reise eine exemplarische "Erziehung des Menschengeschlechts" (68) . Am Anfang glaubensstolzer Moslem, wird er mehr und mehr zum Humanisten; in abgeklärter Heiterkeit läßt May diese Figur wesentliche Aspekte auch des gedanklichen Konstrukts vortragen:

So, das kommt heraus, wenn man einen Christen, einen Mohammedaner und einen Heiden zusammenrechnet und dann mit der Drei hineindividiert, nämlich ein Mensch.(69)

Mit der expliziten Imperialismuskritik unlösbar verbunden ist die zweite Handlungsebene, die Geschichte einer schweren psychischen Krise, auch sie aus dem realen Fundus der Reiseerfahrungen herstammend. Durch die vom Autor gesetzten Prämissen ist sie zunächst eine religiös-politische Krise: die christliche Liebesbotschaft, verstanden im Sinne aufklärerischer Humanität, steht im Widerstreit mit sozialdarwinistischen Theorien, mit Intoleranz und Menschenverachtung.

Aber die Beschreibung der seelischen Krise hat noch eine weitere, tiefere Schicht: sie liefert auch eine psychologische Studie der persönlichen Konflikte Mays, wie Hans Wollschläger in seiner umfangreichen analytischen


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Arbeit über "Friede auf Erden" nachgewiesen hat (70). Der Kampf zwischen dem väterlich bestimmten, narzißtisch starren Ich-Ideal der 'Old-Shatterhand-Legende' und der "Mutterliebe" hatte schon große Teile des Werks in den letzten Jahren vor der Orientreise bestimmt, wo die beiden gegensätzlichen Strebungen zu unauflöslichen Widersprüchen führten; auf der Reise zerbrach endgültig der in der Heimat noch mühsam bewahrte Charakterpanzer, so daß "das alte Ich-Ideal vollständig zerstört und durch das ältere, traumatisch gebundene der Mutterfixierung abgelöst" wurde (71).

Nirgends mehr in den Werken nach 1900 wird der Neuanfang so deutlich durch den so gut wie vollständigen Verzicht auf alle Abenteuer-Elemente betont wie im "Pax"-Roman. Der Ich-Erzähler tritt weder als Old Shatterhand noch als Kara ben Nemsi auf, vielmehr ausdrücklich als der Schriftsteller Karl May, dessen Bücher mehrfach Gesprächsstoff der Romanfiguren bilden (72). Äußerstenfalls Nebenfiguren wie Sejjid Omar sind noch spektakuläre Aktionen wie die Rettung des Missionars Waller bei den Pyramiden (73) oder des unvorsichtigen Dilke bei der Dampferfahrt nach Penang (74) gestattet. Der Anteil des Ich-Erzählers daran ist weitgehend passiv; er ermöglicht zwar durch sein Verhandeln Waller die Flucht, überläßt aber alle anderen Maßnahmen dann den Behörden, ohne selbst - wie früher als regelnde Instanz in Erscheinung zu treten. Es kommt schließlich weder zu spektakulären Gefangennahmen


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noch zu daraus resultierenden Befreiungsaktionen - unabdingbaren Handlungselementen selbst noch in "Am Jenseits". Sogar bei dem Selbstzitat aus Band XI der "Gesammelten Reiseerzählungen", das Sir John Raffley vorstellt, verzichtet May auf jeden Hinweis, welche Abenteuer er mit dem Engländer auf Ceylon erlebte, und begnügt sich damit, von "einem Erlebnisse mit Raffley" zu sprechen (75). Die einzige Episode, die einen schwachen Abglanz der alten Abenteuermuster erkennen läßt, spielt im Hotel in Point de Galle, wo der Ich-Erzähler zusammen mit seinem Diener Sejjid Omar sechs lärmende "Pioneers der Civilisation" (Pax, Sp.109=Friede, S.155 ) die Treppe hinabwirft. Erst bei der Überarbeitung des Romans 1903/04 werden wieder Abenteuer-Elemente in den Text aufgenommen, vor allem im neu geschriebenen fünften und letzten Kapitel (vgl.unten V.3.).

May selbst bestätigt ausdrücklich, daß dieser völlige Verzicht auf die vertrauten Schemata aus einem kalkulierten Schreiben gegen die Lesererwartungen herrührt, und daß er hier ganz bewußt eine neue, realistischpsychologische Handlungsgestaltung anstrebte:

Ich kann also über unsere Fahrt keine sogenannten "Reiseabenteuer" berichten, an welchen sich doch nur die Oberflächlichkeit ergötzt; wer aber einen Sinn für die unendlich gestalten- und ereignisreiche Seelenwelt des Menschen hat und ein Verständnis für die Tiefe besitzt, in welcher die äußeren Vorgänge des Menschen- und des Völkerlebens geboren werden, der wird nicht mißvergnügt, sondern ganz im Gegenteile mit mir einverstanden darüber sein, daß ich ihn in diese Tiefe führe, anstatt ihn für einen Leser zu halten, der nur nach der Kost der Unverständigen verlangt. (Pax, Sp.256 = Friede, S.451)


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3. Die Textrevision 1903/04: "Und Friede auf Erden!"

Die Umarbeitung des Romans "Et in terra pax" für die Buchausgabe bei Fehsenfeld wurde im Spätsommer 1903 begonnen, durch längere Krankheit unterbrochen und schließlich Mitte August 1904 fertiggestellt, so daß der Band am 19.September 1904 unter dem deutsch formulierten und zusätzlich durch ein Ausrufezeichen akzentuierten Titel "Und Friede auf Erden!" vorlag. (76) Diese Neufassung ist nicht allein um ein zusätzliches Kapitel erweitert, sondern stellt eine grundlegende Überarbeitung der Erstfassung dar. Neben zahlreichen Detailkorrekturen - auch der Wortlaut des handlungsbestimmenden Gedichts wurde verändert - gestaltete May den Handlungsablauf vor allem in den letzten Kapiteln entscheidend um. Die Varianten zeigen nicht nur, daß seine schriftstellerischen Möglichkeiten in der Zwischenzeit neue Dimensionen gewonnen hatten, und daß seine politisch-weltanschaulichen Ideen sich geklärt hatten, sondern auch, mit welcher Sorgfalt er die Chance der Umarbeitung nutzte, "um endlich, endlich mit der Lösung meiner Lebensaufgabe zu beginnen" (77), wie er am 27. Januar 1904 an Fehsenfeld schreibt:

Erst waren wir Raupe [...] Die Vergangenheit liegt hinter uns; die Zukunft will beginnen. Die Puppe platzt; wir fühlen schon die Schwingen. Die Leser werden sich wundern!


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Die damit angekündigte "Metamorphose" sollte sich auch auf die bisherigen Reiseerzählungen erstrecken. Da diese nicht "unerwachsenen Jungens als Unterhaltungskarnickel" dienen sollten, sei eine neue Aufmachung erforderlich; der "Jugendschriftenhabit" wirke "gradezu abstoßend". Damit wird die Fehsenfeld-Ausgabe der "Pax"-Erzählung zu einem Einschnitt in der Editionsgeschichte der "Gesammelten Reiseerzählungen": auch äußerlich wird die Distanz zu den bisherigen Bänden und ihren Abenteuerinhalten durch ein von dem Maler Sascha Schneider entworfenes Titelbild und einen grauen statt des bisher einheitlich grün-goldenen Einbands markiert.

Im Juni 1903, nach seiner Scheidung und Wiederverheiratung, war May zum ersten Mal persönlich mit dem Maler Sascha Schneider in Kontakt gekommen, als er ihn in dessen Atelier in Meißen besuchte (78). Schon über ein Jahr zuvor, am 5.März 1902, hatte der Schriftsteller in einer Dresdener Kunstausstellung tiefbeeindruckt Schneiders "zehnteiliges Wandbild - 12 m breit, 4 m hoch 'Um die Wahrheit'" (79) gesehen. In der zweiten Jahreshälfte 1903, nach dem ersten persönlichen Treffen, kam es zu verschiedenen Begegnungen der beiden, bis schließlich May im Oktober 1903 bei "Schneider eine Arbeit für 3000 Mk" (80) bestellte. Während Schneider wohl zunächst eher die Dankbarkeit für die finanzielle Zuwendung bewegte, May, nach Klaras Aussage, "wie einen Gott" zu verehren (81), auch ohne sein Werk genauer zu kennen, lernte er in den folgenden Monaten nicht nur die Romane (v.a. "Et


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in terra pax", dessen Neufassung gerade entstand), sondern auch ihren Verfasser genauer kennen. Der persönliche Kontakt intensivierte sich, und bei einem der weiteren Atelierbesuche kam am 8.März 1904 die Idee auf, der "liebe Schneider" solle (82)

Karls Bücher mit anderen Titelbildern versehen, damit man Karl endlich verstehen lerne und der alberne Name "Jugendschriftsteller" verschwinde.

Kurz nach dem Besuch kündigte May mit dem oben zitierten Brief seinem Verleger die neuen Einbände an, zunächst - außer für den geplanten "Friede"-Band - für die Bände, die jeweils zur Neuauflage anstanden. Wie sehr die Zusammenarbeit mit dem Maler und dessen wachsende Begeisterung für die Aufgabe auf "Karl" zurückwirkten und sein Selbstbewußtsein stärkten, lassen die Briefe an Fehsenfeld erkennen (83):

Es geht in diesem Frühjahr hier sehr stürmisch zu, nämlich in der geistigen Welt, deren Bürger ich bin. Altes wird vernichtet, Neues begonnen.

Intensiv arbeitete er nun ab März 1904 an der Umarbeitung von "Et in terra pax", nachdem die im Herbst 1903 bis zur Seite 397 der Buchausgabe fortgeschrittene Revision durch schwere Krankheit unterbrochen worden war.

Die neue Fassung zeigt aufgrund zahlreicher Änderungen ein neues Qualitätsniveau, das sich nicht zuletzt aus Mays veränderter Arbeitsweise ergab. War schon das Schreiben des dritten und vierten Bands von "Im Reiche des silbernen Löwen", wie noch zu zeigen sein wird, durch zunehmend intensivere Bearbeitungsvorgänge gekennzeichnet, so nahm er nun, kapitelweise vorgehend, immer


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umfangreichere Änderungen und Ergänzungen vor (84). Beispielhaft lassen sich die Tendenzen der Neufassung an dem handlungstragenden Gedicht zeigen.

Die ersten vier Zeilen wurden präziser als in der "Pax"-Fassung auf Wallers, des Missionars und Imperialisten, Absichten, "die Tempel der Heiden in aller Welt" (85) zu zerstören, bezogen:

Um aller Welt des Himmels Gruß zu bieten,
[ "Pax"]["Friede"]
Tragt euer Evangelium hinaus (Euer)
Doch ohne Kampf sei es der Welt beschieden,
Doch achtet jedes andre Gotteshaus; Und seht Ihr irgendwo ein Gotteshaus,
Ein wahrer Christ stört nicht den Völkerfrieden! So stehe es für Euch im Völkerfrieden!

Die Anrede an Waller und zugleich an den Leser bzw. die Europäer wird durch die Großschreibung ("Euch"/"Ihr" etc.) und durch die Wiederholung in der dritten und vierten Zeile intensiviert. Gleichzeitig verstärkt das neue Textsignal "ohne Kampf" in der zweiten, in der Erstfassung sehr blassen Zeile, die Akzentuierung gegen das europäische Expansionsbestreben, so daß ein Mißverständnis der ersten Zeile im Sinne einer kolonialistischen Mission ausgeschlossen wird.

Die anderen Änderungen sind vor allem ästhetisch bestimmt; Wiederholungen sollen vermieden werden (Zeile 12: "Engelsworte" statt "Liebesworte", da "Liebe" in Zeile 13 zweimal folgt) und die jeweiligen Schlußzeilen der Vierergruppen werden flüssiger gestaltet:


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("Pax")("Friede")
15 Dann wird ein Paradies die Erde sein, Dann wird die Erde Christi Kirche sein
16 Denn ihr habt ihr den Himmel zugetragen. Und wieder eins von Gottes Paradiesen!

Besonden deutlich ist die Verbesserung bei diesen letzten Zeilen, wo das harte "Dann/Denn" und die ungeschickte Wiederholung "ihr/ihr" in der Schlußzeile in der Neufassung vermieden werden. Der ursprüngliche Neueinsatz in der Schlußzeile wird durch den fließend angeschlossenen Utopieentwurf ersetzt, womit zugleich die Diesseitigkeit der Verheißung betont wird.

Die Bearbeitung des Gedichts enthält in nuce alle wesentlichen Tendenzen der Umarbeitung, mit Ausnahme der vertieften psychologischen Analyse: die Präzisierung der Imperialismuskritik ebenso wie die ästhetischen Verbesserungen.

Die Verschärfung der antikolonialistischen Aussagen erreicht May auf unterschiedliche Weise:

Er fügt wiederholt reflektierende Passagen des Ich-Erzählers wie der handelnden Figuren ein, so daß die materiellen Triebkräfte und die rechtfertigenden Ideologien der europäischen Expansion noch deutlicher hervorgehoben werden, wie beispielsweise in der neu eingefügten Aussage des Professors Garden:

Soll es etwa soweit kommen, daß schließlich der ganze Orient unter den Hufen des Okzidents liegt? Überall, wohin ich hier gekommen bin, habe ich zwei dunkle, unheilvolle Mächte an der Arbeit gesehen, diese nichts weniger als christliche Aufgabe zu vollenden, nämlich die religiöse Überhebung und den nationalen Hochmut. (Friede, S.134)


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Die arrogant auftretenden "Civilisatoren", in "Pax" eindeutig als Engländer angesprochen und charakterisiert (86), sind in "Friede" nur noch "Europäer", "Gentlemen", "Kerle" oder "Leute", so daß sie für alle europäischen Nationen stehen. Die Bezüge auf deutsch-englische Differenzen (Burenkrieg, Emser Depesche (87)) sind getilgt: das Geschehen wird zum allgemeingültigen Bild europäischen Auftretens in Übersee, jede nationalistische Vereinnahmung für die antienglische deutsche Kolonialpropaganda wird ausgeschlossen. Verschärft wird auch der Zusammenstoß eines Reitertrupps mit Ceylonesen in Colombo: nicht mehr (englische) "Kavalleristen" reiten rücksichtslos über nicht näher beschriebene "Fußgänger" hinweg (Pax, Sp. 93), sondern "eine Schar Europäer" galoppiert "lachend" durch einen "buddhistischen Pilgerzug", wobei es nicht nur, wie in der "Pax"-Fassung, einen Verletzten, sondern mehrere Schwerverletzte gibt (Friede, S. 124-127) .

Das Personal der Erzählung erhält 1903/04 durch zusätzliche Figuren eine größere Tiefenschärfe: fügt der "alte Malaienpriester", der "anerkannt größte der gegenwärtigen malaischen Dichter", der Reihe der positiven Gestalten eine weitere Rasse hinzu, und ergänzt sein Gedicht zugleich die religiös-psychologische Aussage um den von May ursprünglich als Schlußtableau vorgesehenen Weihnachtsaspekt (88), so übernimmt Dilke als Protagonist der "Civilisatoren" die Funktion, die sonst allzu verklärende Utopie von Raffley Castle um die dunklen, zerstörerischen Kräfte zu ergänzen und die Parallelen zu den historischen Vorgängen des 19.Jahrhunderts in China unmißverständlich zu verdeutlichen. "Seine Exzellenz der Europäer",


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Dilkes Schiff, dessen Name programmatisch gesetzt ist, präzisiert auch noch in anderer Weise Mays Programm: im Auftrag des Europäers betreibt sein chinesischer Kapitän den Opiumhandel, exakte Nachbildung der von den europäischen Mächten, vor allem von England, durchgesetzten Opiumeinfuhr nach China im 19.Jahrhundert, dem ersten Schritt der Unterwerfung und Aufteilung des Landes (89).

Mit der politischen Präzisierung gewann auch die psychologische Analyse neue Schärfe: Wallers Krankheitsgeschichte wird wesentlich ausführlicher als in der Erst-Fassung geschildert (90). Nicht so sehr das neu eingefügte Gleichnis "von der Taucherinsel 'Ti'", von Wollschläger zu den "allerbrüchigsten" unter den Parabeln des Spätwerks gerechnet (91), sondern vor allem die große "Bilderrede" im Schlußkapitel, eine symbolistisch gestaltete politische und psychologische Parabel zugleich, bezeichnet eine gegenüber "Pax" neue qualitative Dimension, die sich durchaus auf der Höhe des vierten "Silberlöwen"-Bandes bewegt. Der große Mythos, in der Bildwelt ganz offenbar beeinflußt von Sascha Schneiders Symbolfiguren, ruft, wie "überall in Mays Spätwerk, ins Menschheitliche überhöht, die verlorene Kindheit herauf" und weist zugleich voraus auf die Utopie des verlorenen und wiederzugewinnenden Paradieses (92). Auf erschütternde Weise kontrastiert May dabei die Paradies Beschreibung mit der Negativ-Gestalt Dilkes, einer


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Ich-Figuration, die im neuen fünften Kapitel ganz in den Vordergrund tritt (93):

Kein Zweifel: in Dilke rechnet May ein weiteresmal mit seiner Vergangenheit ab, und wenn wir der bösen Karikatur auch nicht zustimmen mögen, so haben wir sie doch zu akzeptieren: - so grell, 'so streng, fast wie unerbittlich' durfte sein einstiges Ich-Ideal nur einer zerstören, der es überwunden hatte.

Die Polyphonie des Schlusses, in dem der - scheinbar - glückliche Ausgang des Geschehens buchstäblich und bildlich in Dunkelheit getaucht wird, zeigt gegenüber dem spielerischen "Pax"-Schluß mit seiner "halb scherzend und halb ernst" (Pax, Sp.284) formulierten Schlußwendung eine Einbindung der Utopie in die Realität: von der Heiterkeit der Sejjid-Omar-Passagen zur blutig ernsten Ankündigung "Meine Brüder, es gibt --- Krieg!", vom großen Paradieses-Mythos zu Dilkes Höllensturz in die Turbine des Elektrizitätswerks zieht May in jähem Wechsel von Hell und Dunkel die unterschiedlichsten Bilder zusammen und erreicht damit eine weitaus größere ästhetische Vielfalt, als die ursprüngliche Fassung sie aufweist.

Nicht übersehen sei schließlich, daß er bis unmittelbar vor der Drucklegung bemüht war, die ästhetische Mikrostruktur durch "kleinere Änderungen meist stilistischer Art" zu verbessern, wobei er beispielsweise die allerletzten Schlußabsätze "erst ganz kurz vor Druckbeginn" (94) an den Text anfügte.

Ein Letztes: auch die Balance des Werks wurde durch


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die Umbenennung der früheren und die Einfügung des neuen Kapitels künstlerisch befriedigender. An die Stelle der gewaltsam anmutenden und mit den Kapitelinhalten wenig harmonierenden symmetrischen "Pax"-Anordnung

1. Am Thore des Orients3. Am Thore Chinas
2. Im Herzen des Islams4. Im Herzen von China

trat nun eine fünfteilige Gliederung, bei der die 'europäischen' Kapitel dem mit chinesischen Begriffen bezeichneten utopischen Friedensentwurf gegenübergestellt wurden, wodurch der Zusammenhang von imperialistischer Politik und psychischer Krankheit unterstrichen wurde:

1. Ein Eiferer
2. Zivilisatoren
4. Wahnsinn
3. Die "Shen"5. Der Shen-Ta-Shi


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Anmerkungen zu: V. Über die Grenze: Mays Friedensroman

1 Brief an Fehsenfeld, 13.3.1899.

2 Titelblatt von Mays auf der Orientreise (20.4.1899) konzipierter Gedichtsammlung; Abb. bei Wollschläger 196S, 76.

3 Plaul, L & Str, 434*, Anm.249.

4 Ebd., Anm. 250. Vgl. Wollschläger 1976, 96; Hoffmann, Nachwort "Waldröschen", 2631-2636.

5 Ebd.

6 Brief an Sascha Schneider, ohne Datum (1907). Zit. nach Hatzig, 1967, 122.

7 Vgl. Hatzig, JbKMG 1974, 109-130.

8 Vgl. Wollschläger, 1976, 96-104. Eine Dokumentation der Orientreise (Reisetagebücher, Briefe, Postkarten) veröffentlichten Hans Wollschläger und Ekkehart Bartsch im JbKMG 1971, 165-215.

9 Wollschläger, JbKMG 1972/73, 55.

10 So Halef am Tigris gegenüber Fremden (SL I, 427).

11 Einträge im Reisetagebuch der Orientreise, 24. und 26.8. 1899, zit. nach JbKMG 1971, 180.

12 Brief an Plöhns, 16.9.1899; zit. nach JbKMG 1971, 181.

13 Friede, 377.

14 Wollschläger, JbKMG 1972/73, 11-92.

15 In Deutschland erfolgte mit dem Regierungsantritt Wilhelms II., massiv verstärkt aber seit der Propagierung des Flottenausbaus 1897/98 die Wendung zu dezidiert imperialistischen Programmen, in denen die China-Politik eine herausragende Prestigerolle spielte.

16 Vgl. Plaul, JbKMG 1979, 67-88.

17 Einen überblick über die divergierenden politischen Haltungen Mays vor (und z.T. auch nach) 1900 gibt Lowsky, 1987, 86-92 (mit ausführlichen Literaturangaben).

18 Beispiele in JbKMG 1970, 173-176 ("Reisebrief in Ansichtskarten" an das "Prager Tagblatt"); ergänzend dazu MKMG Nr.18 (1973), 3 f.; Ausschnitte auch in JbKMG 1971, 167 ff.

19 Vgl. Wollschläger, JbKMG 1972/73, 55 f.

20 Ebd.

21 Ebd., 56.

22 Wie Anm. 18.


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23 Reisetagebuch 20.9.1899 (JbKMG 1971, 182).

24 Ansichtskarte "Mount Lavinia Hotel, Colombo", an Klara Plöhn, 10.10.1899 (JbKMG 1971,18S).

25 Presse-Unterlage Mays zur Wiener Rede; zit. nach JbKMG 1970, 68.

26 Vgl. JbKMG 1971, 196 ff.

27 Brief an Fehsenfeld, 15.10.1899 (JbKMG 1971, 187).

28 Ebd.

29 Brief an Plöhns, 15.9.1899 (JbKMG 1971, 181).

30 Reisetagebuch, 4.6.1900, "Baalbek"(Ebd., 199).

31 Reisetagebuch, 2.6.1900, "Beirut" (Ebd., 198).

32 Vgl. unten VI.2.

33 Hedwig Pauler hat in zwei Sonderheften der KMG unter dem Titel "Deutscher Herzen Liederkranz" die von May zitierten Gedichte zusammengestellt und ihre Herkunft eruiert; dabei zeigt sich eine breite Streuung der Zitate über das 19.Jahrhundert, wobei durchweg zweit- und drittklassige Autoren neben Volksliedern den Hauptbestand bilden, während etwa Storm, C.F.Meyer oder Mörike gänzlich fehlen (Sonderhefte KMG Nr.4l(1983)/Nr.60(1985)). Die Spitzenstellung Schillers in den Jugenderzählungen geht auf die Parodien des Hobble-Frank zurück, ist aber sonst eher untypisch.

34 Etwa in "Weihnacht!".

35 Neben Schiller nennt Hedwig Pauler (wie Anm.33, Nr.60, 7) noch Uhland, der "in auffallender Regelmäßigkeit" zu Wort komme.

36 Klara May: Die Lieblingsschriftsteller Karl Mays. In: JbKMG 1970, 151.

37 "Das Museum [Nationalmuseum, Athen] hat mich nicht erwärmt. Natürlich liegt das an mir. Meine Heimat war nichts weniger als ein Athen, und die dortigen Menschen sind keine Kallosbioten." Reisetagebuch, 11.7.1900, Athen (JbKMG 1971, 211). Einen Tag vorher die Notiz: "Tage, Wochen möchte man hier lernen."(Ebd.).

38 Wollschläger 1976, 80.

39 Hatzig, 1967, 233; Bartsch, JbKMG 1985, 367-376.

40 Diese Seite von Mays Leben nach 1900 ist mit Ausnahme der Beziehung zu Sascha Schneider noch kaum erforscht oder dokumentiert; Hatzigs ausgezeichnete Veröffentlichung der Briefe und Kontakte zu Sascha Schneider zeigt Mays Neuorientierung sehr deutlich (Hatzig, 1967).

41 Vgl. das Foto bei Wollschläger, 1965, 69; deutlich auch erkennbar in KM-Bildband, 141, Abb.318/319.

42 Vgl. das (völlig unzureichende) Verzeichnis im KMJb 1931, 212-291.


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43 Über Nietzsche besaß May - lt. Katalog (wie Anm.42) - neun Titel, alle zwischen 1899 und 1903 erschienen.

44 Die Arbeit an "Babel und Bibel" wurde begleitet von intensiver (durch Anstreichungen und Notizen z.T. noch rekonstruierbarer) Lektüre dramentheoretischer Werke, etwa von Berthold Litzmann, Georg Witkowski, Alfred Kerr u.a.

45 Vgl. Steinmetz, JbKMG 1981, 316 ff.

46 Vgl. die Fotos in KM-Bildband, 264, Abb.632/633.

47 Wesentliche Zeugnisse bieten die Korrespondenz des "Pax"-Verlegers Hermann Zieger mit dem Herausgeber Joseph Kürschner (JbKMG 1983, 146-196) sowie Mays Briefe an den Verlag Pustet und dessen Redakteur Otto Denk 1908/09 (JbKMG 1985, 15-62).

48 Vgl. bes. Ziegers Reaktionen und seine Berichte über den Besuch bei May (JbKMG 1983, 149 f.).

49 Brief an Fehsenfeld, 17.12.1900. - Bereits im August 1899 hatte May, in seiner von Richard Plöhn unterzeichneten und abgesandten Atwort an die "Frankfurter Zeitung", darauf hingewiesen, daß er keine Änderungen seiner Texte gestatte: "Jede redaktionelle Änderung zerschneidet den Faden zwischen mir und dem Leser [ ... ]" (JbKMG 1974, 134).

50 Etwa in der Auseinandersetzung mit Pustet um die Kürzungen in "Satan und Ischariot" oder bei Mays Vorgehen gegen den Prager Verleger Josef Vilimek (vgl. Hecker/ Steinmetz, JbKMG 1977, 218-242).

51 So der Untertitel von Kürschners "China"-Band.

52 Ebd.

53 Zu Kürschners Beziehung zu May vgl. Heinemann, JbKMG 1976, 191-206, sowie Plaul, JbKMG 1983, 146-151.

54 Brief Kürschners an Zieger, 15.5.1901 (wie Anm.48, 150).

55 May hatte vorher China noch kaum als Handlungsraum gewählt. Vgl. Koppen, JbKMG 1986, 69-88.

56 Wie Anm.48.

57 Brief Ziegers an Kürschner, 13.7.1901 (wie Anm.48, 163 f.).

58 So Hainer Plauls treffende Interpretation (ebd., 16S).

59 Vgl. zu dieser Parabel Plaul, ebd., 165-167.

60 Ebd., 167.

61 Belege ebd., 154 f., 161-169, 177-182.

62 Ebd., 178: "Jedenfalls sind die von Ihnen angebrachten Korrekturen (bei den Illustrationen des "China"-Bands) durchaus gerechtfertigt und wird May vielleicht gar nichts davon bemerken." (Zieger an Kürschner, 18.9.1901).

63 China, Vorwort, XI f.

64 Wie Anm.48, 149 f.


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65 "Ein Volk, das, wie die Chinesen, es wagt, tausendjährige alte Völkerrechte umzuwerfen und der Heiligkeit der Gesandten und der Heiligkeit des Gastrechts in abscheulicher Weise Hohn spricht, das ist ein Vorfall, wie er in der Weltgeschichte noch nicht vorgekommen ist [ ... ] Ihr könnt daraus ersehen, wohin eine Kultur kommt, die nicht auf dem Christentum aufgebaut ist. Jede heidnische Kultur, mag sie noch so gut und schön sein, geht zu Grunde, wenn große Aufgaben an sie herantreten. [...] Kommt Ihr vor den Feind, so wird er geschlagen, Pardon wird nicht gegeben; Gefangene nicht gemacht. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bekannt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen. [...] Gebt, wo es auch sei, Beweise Eures Mutes, und der Segen Gottes wird sich an Eure Fahnen heften und es Euch geben, daß das Christentum in jenem Lande seinen Eingang finde." So der "Kaiserliche Scheidegruß an das Expeditionskorps" für China in Bremerhaven, 27.Juli 1900, in der im "China"-Band wiedergegebenen Fassung (Zweiter Teil, Sp.196-198). Fürst Bülow, damals Staatssekretär, beurteilt sie in seinen "Denkwürdigkeiten" (I, 3S9 f.) als "die schlimmste Rede jener Zeit und vielleicht die schädlichste, die Wilhelm II. jemals gehalten hat". Die offiziell verbreitete Version war stark abgeschwächt und gekürzt, aber der Originaltext wurde, nachdem ihn ein Journalist mitstenographiert hatte, vielfältig nachgedruckt, wie das "China"-Buch zeigt. Wie konträr May zur ganzen Richtung dieses Bands und seiner Verfasser stand, zeigt der dortige Kommentar, "diese Ermahnungen des Kaisers" seien zwar "von vielen humanitär zu stark angehauchten Kreisen" angegriffen worden, aber die Grausamkeiten der Chinesen hätten den Kaiser bestätigt, so daß "jeder humanitäre Gedanke weit abgewiesen werden" müsse (China, II.Teil, Sp.198 f.).

(Zur Kaiser-Rede vgl.: Reden des Kaisers. Ansprachen, Predigten, Trinksprüche Wilhelms II. Hgg.v.Ernst Johann. München: dtv 1966 (dtv 354), 86-88, 90 f., 139-142).

66 Zum Hintergrund und chauvinistischen Inhalt des "China"Bands vgl. Bartsch, JbKMG 1972/73, 96-103; zum deutschen Imperialismus vgl. Hans-Ulrich Wehler: Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918. Göttingen: Vandenhoek und Ruprecht 1975, 171-181 (=Deutsche Geschichte 9, Kleine VandenhoekReihe 1380).

67 Zu Raffley ausführlich Bach, JbKMG 1975, 34-72.

68 Die Gedanken aus Lessings später Programmschrift spielen in Mays Werk von den frühen Anfängen an eine wesentliche Rolle; vgl. Stolte, JbKMG 1977, 23-32.


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69 Friede, 594 f. - Die Stelle findet sich im letzten, 1904 neu hinzugefügten Kapitel, ist also in "Pax" noch nicht enthalten.

70 JbKMG 1972/73, 11-92.

71 Ebd. , 57.

72 Besonders "Am Jenseits" (vgl. unten Kap.VI.2.).

73 Kara ben Nemsi "imponiert" (Friede, 81) hier zwar den zur Dschemma versammelten Beduinen und ermöglicht dadurch die Rettung Wallers, aber die eigentliche Fluchthilfe führt Sejjid Omar aus (ebd., 85-96).

74 Pax, Sp.135-139 Friede, 182-189.

75 Pax, Sp.163 f. Friede, 228-231.

76 Bartsch, JbKMG 1972/73, 107.

77 Brief an Fehsenfeld, 27.1.1904.

78 Hatzig, 1967, 51 f.

79 Ebd., 36.

80 Tagebuch Klara Mays, Eintrag zwischen dem 5. und 26.10. 1903 (ebd., 53).

81 Ebd.:"Wie dankbar ist Schneider meinem Herzensmanne. Er verehrt ihn wie einen Gott. Was Karl schriebe, sei ihm gleich, sagt er, er sähe nur den gewaltigen Geist, den großen Künstler. Karls Phantasie sei göttlich, außer Dante kenne er keinen, der ihn so mächtig angeregt hätte wie Karl May." (Bei der Würdigung dieser Tagebucheintragung Klaras ist - neben der Möglichkeit Schneiderscher Ironie - auch Klara Mays zu Verzerrungen neigende Filterfunktion zu berücksichtigen!).

82 Klara May, Tagebucheintrag, 8.3.1904 (wie Anm.78, 54).

83 Brief an Fehsenfeld, 20.4.1904. Ähnliche Aussagen in den Fehsenfeld-Briefen um diese Zeit mehrfach, etwa am 27.1.1904 oder am 11.3.1904. - Zur Textgeschichte der Umarbeitung von "Pax" vgl. R. Schmids Darstellung in F-R KMV "SL III"(XXIX), N18 - N28.

84 Die Varianten zwischen "Pax" und "Friede" stellte Hansotto Hatzig bereits im JbKMG 1972/73 (144-170) zusammen, ohne sie eingehend zu interpretieren.

85 Pax, Sp.29 = Friede, 41. - Hedwig Pauler hat in ihrer Zusammenstellung der Gedichtzitate in "Friede" fehlerhaft die "Pax"-Fassung mit der "Friede"-Fassung vermischt und dadurch für "Friede" eine dort nicht existierende dreistrophige Fassung konstruiert. Das Ge dicht wird in "Friede" wie folgt zitiert:

Strophe 1: Zeile 1-4 S.57 f.

Zeile 1-8 S. 133, 400-403

Strophe II: Zeile 1-8 S.219, 392, 445(Z.1-4), 469(Z.5-8).

Das ganze Gedicht: S.644-646. (Pauler, wie Anm.33, Heft 11=Nr.60).


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86 Pax, Sp.108-114 ("eine Anzahl von Engländern") = Friede, 182-189 ("eine Anzahl von Europäern"); Pax, Sp.133 ("einen der sechs Engländer") = Friede, 182 ("einen der sechs Gentlemen").

87 Pax, Sp.109 = Friede, 150 f.

88 Brief an Fehsenfeld (wie Anm.83), N 18: "Es wird ein wahrer Weihnachtsband, der auf der Flur von Bethlehem, wo die Engel sangen, endet. Das will ich Ihnen im Voraus verrathen. Ein lichtes, klares, schönes, hochbefriedigendes Pendant zu meinem "Weihnacht" im Urwalde."(Das Weihnachtsgedicht des alten Malaienpriesters in Friede, 388.)

89 Vgl. Franke/Trauzettel: Das chinesische Kaiserreich. Frankfurt am Main: Fischer 1968 (Fischer-Weltgeschichte Bd.19).

90 Vgl. Wollschläger(wie Anm.70), 66-82. Das letzte Kapitel der "Friede"-Fassung schildert Wallers Krankheit und Heilung weit ausführlicher als die "Pax"-Fassung, wobei die Figur nicht zuletzt durch den Doppelgänger Dilke eine vertiefte Kontur erhält (vgl. Wollschläger, ebd., 78-82).

91 Ebd., 60.

92 Ebd., 75. - Der Mythos wird (von Pfarrer Heartman und dem -fast genesenen - Waller) aufgrund der von Yin gemalten Bilder im "Gemäldesaal"(Friede, 634) dargestellt und erläutert (ebd., 635-639), wobei die Szene durch Dilkes plötzlichen Auftritt und die durch ihn ausgelöste psychische Krise Wallers in "eine eigenartige, beängstigende, für den Psychologen freilich hochinteressante Situation" umschlägt (ebd., 641).

93 Woll~chläger, JbKMG 1972/73, 79.

94 R. Schmid (wie Anm.83), N 27.


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